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(Beck - Wissen) Wirsching, Andreas - Deutsche Geschichte Im 20. Jahrhundert
(Beck - Wissen) Wirsching, Andreas - Deutsche Geschichte Im 20. Jahrhundert
Zum einen offenbart die Tabelle die Kontinuität des langfristigen Strukturwandels, dessen
Bewegungsrichtung auch die schweren Kriegseinwirkungen nicht veränderten; zum anderen verbirgt
sich hinter ihr die Tatsache, daß längst nicht alle Sektoren von der Ölkrise der siebziger Jahre
gleichermaßen betroffen waren: Während das produzierende Gewerbe sich zu weitgehenden
Rationalisierungsmaßnahmen genötigt sah, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu wahren,
erwiesen sich die Dienstleistungsbranchen als weitgehend unabhängig von den konjunkturellen Zyklen.
Die Krise verschärfte somit den langfristigen Trend.
Angesichts des Problemstaus, der sich Ende der siebziger Jahre abzeichnete, vermochte sich der seit
1974 amtierende, sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt vor allem als kompetenter
Krisenmanager zu profilieren. Aber der erneute Sieg bei den Bundestagswahlen vom 5. Oktober 1980
konnte nur kurzfristig überdecken, daß die sozialliberale Koalition zunehmend unter Spannungen litt.
Schon 1981, immer offensichtlicher aber im Verlauf des Jahres 1982 drängte sich der Eindruck auf, daß
die sozialliberale Koalition ihre Gemeinsamkeiten verbraucht hatte; nach mehr als zwölf
Regierungsjahren lag ein neuer „Machtwechsel“ in der Luft, der am 1. Oktober 1982 erstmals in der
Geschichte der Bundesrepublik durch ein erfolgreiches konstruktives Mißtrauensvotum erfolgte. Die
von Außenminister Hans–Dietrich Genscher und Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff geführte
FDP vollzog einen Koalitionswechsel und eröffnete damit eine lange, schließlich sechzehn Jahre
währende Periode der bürgerlich–liberalen Koalitionsregierung. Mit Helmut Kohl, dem früheren
rheinland–pfälzischen Ministerpräsidenten, wurde ein stark in der Provinz verhafteter Politiker
Bundeskanzler. Während er schon 1976, dann 1983 und auch 1987 konstant gute Wahlergebnisse
erzielte, fand er bei den Intellektuellen kaum Beifall. Insbesondere sein durch eine Reihe symbolhafter
Gesten geförderter Drang zur Bildung geschichtlichen Bewußtseins und „vaterländischer“ Identität
wurde von einem Großteil der Medien und der öffentlichen Meinung abgelehnt.
Die Frage, ob es 1982/83 tatsächlich eine „Wende“ in Kultur und Politik der Bundesrepublik gegeben
habe, ist noch nicht abschließend geklärt und bedarf weiterer Erforschung. Unbestritten ist wohl, daß
eine wiederum neue Generation Abschied vom Reformoptimismus der frühen siebziger Jahre nahm.
Diese Absage an frühere Modelle gesellschaftlichen Fortschritts vollzog sich in einer doppelten Form.
Auf der einen Seite etablierte sich mit den Grünen, die aus der ökologischen Bürger– und
Friedensbewegung hervorgingen, eine neue Partei im politischen Spektrum der Bundesrepublik. Den
lange Zeit gültigen Paradigmen militärischen Gleichgewichts, wirtschaftlichen Wachstums und
politischer Steuerung begegneten sie mit Skepsis und Ablehnung. Auf der anderen Seite standen jene,
die in der sich dynamisch ausdifferenzierenden Gesellschaft auch neue Chancen erkannten. Die
Spannung zwischen einer Tendenz zur „postindustriellen“, „individualisierten“ Gesellschaft, zu einer
„neuen“ Moderne, und der fortbestehenden Grundsatzkritik an der modernen Industriewirtschaft
prägte die ganzen achtziger Jahre.
Begünstigt wurde der beschleunigte Strukturwandel durch denjenigen Politikbereich, in dem am
ehesten eine „Wende“ zu beobachten war: Mit einer angebotsorientierten Wutschafts– und
Sozialpolitik bemühte sich die Regierung Kohl/Genscher erfolgreich um eine Senkung der Staatsquote.
Begleitet wurde dieses Ziel von intensiven Debatten, in denen beständig von der „Krise“ des
Sozialstaats und der Notwendigkeit die Rede war, die Leistungskraft und Verantwortlichkeit des
Einzelnen wieder stärker zur Geltung kommen zu lassen. Auch wenn die Veränderungen in der
Haushalts–, Steuer– und Sozialpolitik nicht überschätzt werden dürfen, so schien es doch gegen Ende
der achtziger Jahre, als ob sich ein dauerhafter wirtschaftspolitischer Erfolg eingestellt habe. Erstmals
seit den siebziger Jahren wurden wieder Zuwachsraten von über drei Prozent erzielt, und erstmals
gelang auch wieder die leichte Reduzierung der Arbeitslosenquote.
Trotz der sich erholenden Konjunktur geriet der Kanzler selbst zu Beginn des Jahres 1989 in seine
schwerste Krise. Mehrfach wurde im Verlauf der ersten Jahreshälfte darüber spekuliert, ob die CDU
ihren ersten Mann auswechseln könne, um sich für die kommenden Bundestagswahlen bessere
Aussichten zu sichern. Vor dem Versuch, Kohl durch einen offenen Aufstand zu stürzen, schreckten
die innerparteilichen Gegner um den baden–württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth und
den entlassenen Generalsekretär Heiner Geißler jedoch zurück. Nach dem Bundesparteitag der CDU in
Bremen im September 1989 saß Kohl wieder fest im Sattel, und binnen kurzem stellten die sich
überschlagenden Ereignisse in der DDR alles andere in den Schatten.
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