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Alexander George

Daniel J. Velleman

Zur Philosophie
der Mathematik
Logizismus, Intuitionismus, Finitismus,
Gödel’sche Unvollständigkeitssätze
Zur Philosophie der Mathematik
Alexander George  Daniel J. Velleman

Zur Philosophie der


Mathematik
Logizismus, Intuitionismus, Finitismus,
Gödel’sche Unvollständigkeitssätze

Aus dem Amerikanischen übersetzt von


Deborah Kant und Thomas Bedürftig
Alexander George Daniel J. Velleman
Dept of Philosophy Dept of Mathematics and Statistics
Amherst College Amherst College
Amherst, USA Amherst, USA

ISBN 978-3-662-56236-9 ISBN 978-3-662-56237-6 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-662-56237-6

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Vorwort der Übersetzerin und des Übersetzers

Wir haben die Arbeit der Übersetzung dieses Buches übernommen, da es ein ver-
gleichbares Buch im deutschen Sprachraum nicht gibt.
Es geht um drei maßgebende Richtungen in der Mathematik und der Philosophie
der Mathematik, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausbildeten: Um den Lo-
gizismus, den Intuitionismus und den Formalismus. Sie entstanden in einer Zeit der
fundamentalen Wende der Mathematik zu einer „reinen“, arithmetisierten Mathe-
matik, die sich löste von der alten Anschauung und der philosophischen Bindung.
Was sollten die neuen mathematischen Grundlagen sein? Um diese Frage kreisten
und stritten die drei Strömungen. Die Auseinandersetzungen, aus denen die heutige
Gestalt der Mathematik hervorging, wurden von Mathematikern geführt. Denn es
ging um die mathematischen Fundamente ihrer mathematischen Arbeit.
Von Logizismus, Intuitionismus und Formalismus, der im englischen Sprach-
raum und auch hier in diesem Buch deutlicher „Finitismus“ heißt, ist in der mathe-
matikphilosophischen Literatur oft die Rede. Aber es fehlt in den Publikationen in
der Regel der Raum, in die Ansätze und Konzeptionen dieser Richtungen elementar
einzuführen, sie anfänglich anzuwenden und bis in den jeweils eigenen mathema-
tischen Ansatz zu verfolgen. Das genau geschieht hier in diesem Buch – aus der
Darstellung und Diskussion der philosophischen Ideen heraus.

Thomas Bedürftig
Deborah Kant

V
Vorwort der Autoren

Eine Philosophie der Mathematik scheint auf den ersten Blick ein ziemlich unge-
wöhnliches Vorhaben zu sein. Philosophie wird bisweilen wie eine Art Reparatur-
werkstatt für Wissenschaften angesehen. Mathematik aber benötigt ganz offenbar
keine Reparatur. Denn Mathematik erfreut sich des einzigartigen Rufes, der Inbe-
griff von Klarheit und Sicherheit zu sein. Was kann ihr die Philosophie bieten?
Müssen Philosophen sich nicht vielmehr darum kümmern, ihr eigenes Haus in Ord-
nung zu bringen – eben nach dem Vorbild einer meisterhaften Mathematik?
Es ist so, dass Philosophen dauernd über das Wesen ihrer Philosophie „streiten“,
während bei Mathematikern vergleichsweise wenig Unstimmigkeit zu herrschen
scheint. Das ist leicht zu erklären. Mathematiker nämlich machen gewöhnlich Ma-
thematik, statt darüber nachzudenken, was sie eigentlich tun. Bemerkenswert aber
ist es, dass immer dann, wenn Mathematiker innehalten und über ihr Tun sprechen,
ziemlich wenig Übereinstimmung herrscht. Die letzte solche Phase mit Folgen his-
torischer Dimension begann Ende des 19. Jahrhunderts und hielt an bis in die 1930er
Jahre. In dieser Zeit bemühten sich Mathematiker durchgehend und engagiert, das
Wesen ihres mathematischen Unternehmens zu klären. Dies führte zu gravierenden
Disharmonien und Streit bis zu Feindschaften, und brachte zugleich faszinierende
und fruchtbare Ergebnisse hervor, mathematisch wie philosophisch. Es war eines
der aufregendsten intellektuellen Abenteuer des 20. Jahrhunderts auf einem au-
ßergewöhnlich scharfsinnigen und kreativen Niveau. Die Debatte über die Dinge
versiegte allmählich, und relative Ruhe ist wieder eingekehrt in die Gemeinde der
Mathematiker. Zentrale philosophische Fragen, die damals die Protagonisten spal-
teten, blieben unbeantwortet. Aus den Versuchen aber ist ein reicher Schatz von
philosophischen und mathematischen Ideen entstanden, mit denen die Suche nach
dem Wesen der Mathematik weitergeht.
Das Erbe besteht im Prinzip aus drei originellen, detailliert ausformulierten Pro-
grammen, die jeweils die Mathematik ins richtige Licht zu stellen versuchen. Sie
gehören zu den drei Richtungen Logizismus, Intuitionismus und Formalismus1 . In

1
oder „Finitismus“, wie der Formalismus in der anglo-amerikanischen Philosophie deutlicher
heißt. Im Folgenden wird zumeist vom Finitismus die Rede sein. Anm. d. Übers.

VII
VIII Vorwort der Autoren

jeder dieser Richtungen beobachten wir eine innige Symbiose von philosophischer
Vision und mathematischer Arbeit. Die philosophischen Ideen erhalten jeweils ih-
re Substanz durch ihre speziellen mathematischen Ausführungen, die umgekehrt
Gewicht gewinnen durch ihre philosophische Reflexion.
Die drei Projekte sind eng aufeinander bezogen, und in gewisser Weise kann
keine von ihnen ganz gewürdigt werden, ohne vor dem Hintergrund der anderen
gesehen zu werden. Sie sind zudem eng verbunden mit anderen bedeutenden Bei-
trägen aus der Philosophie der Mathematik, die in ihren Einflussbereich kamen. Ihre
Leistungen können angemessen nur in der Umgebung der damaligen Auffassungen
bewertet werden, zu denen diese drei bedeutenden historischen Versuche gehören,
das Phänomen „Mathematik“ zu „bändigen“.
Als Lehrer am College stufen wir dieses faszinierende Material als interessant
ein, da es für jeden Studenten mit einem gewissen logischen Hintergrund durchaus
zugänglich ist. Kein aufwendiges philosophisches oder mathematisches Training
ist nötig. Nur eine gewisse Bekanntschaft mit der Prädikatenlogik ist vonnöten,
die man aber in einer Einführung oder einem Studienbuch erkunden kann, – und
ein Sinn für die betreffenden Probleme und Ansätze. Folglich waren wir begierig,
diese aufregende intellektuelle Kost ins Amherst College zu bringen, das mit einem
stetigen Strom von Studenten mit dem richtigen Appetit gesegnet ist.
Zu unserer Überraschung entdeckten wir, dass kein Buch existierte, das eine
angemessene Einführung in die philosophischen und mathematischen Details die-
ses Kapitels der Geistesgeschichte gegeben hätte. Natürlich gibt es fortgeschrittene
Abhandlungen und viele grundlegende Texte, mathematische wie philosophische.
Wir fanden aber wenig oder gar keine neueren einführende Texte, die vorsichtig
die Philosophien und die mathematischen Projekte entwickeln und ihre komple-
xen Beziehungen untereinander darstellen. Wir hoffen, dass es uns gelungen ist, ein
solches Buch zu schreiben. Wie dem auch sei, das war es, was wir machen wollten.
Man weiß, dass einer der Anlässe, die im 19. Jahrhundert zur Klärung der Grund-
lagen der Analysis führten, offenbar die Tatsache war, dass Mathematiker sich selbst
zunehmend in einer peinlichen Position vorfanden, nämlich etwas zu lehren, was sie
selbst nicht ganz verstanden. Wir haben in analoger Weise entdeckt, dass die akti-
ve Lehre über die von uns betrachteten Mathematikphilosophien auch uns zwang,
sowohl unser Verständnis zu vertiefen als auch ein Urteil für das zu entwickeln,
was wir hier als philosophisches und technisches Material präsentieren. Natürlich,
die Lektüre von Sekundärliteratur war schon nützlich. Gleichwohl haben wir für
unseren Ansatz entschieden, dass wir uns nicht ausdrücklich irgendeiner Deutung
dieser Philosophien anschließen oder einsteigen in irgendeine gelehrte Debatte. Es
gibt sicherlich Raum für Arbeiten, die „ökumenischer“ sind, oder die offen „kon-
fessionell“ sind. Aber dort liegt nicht das Genre von Buch, das wir versucht haben
zu schreiben.
Es sei schließlich bemerkt, dass dieses Buch die hier vorgestellten mathemati-
schen und philosophischen Projekte nicht durch die Augen des Historikers sieht.
Wir haben nicht vorgehabt, die historische Entwicklung der Ideen genau zu ver-
folgen. Wir werden im Folgenden auch nicht in jedem Fall bemüht sein, die alten
Ideen historisch getreu wiederzugeben. Unser Anliegen ist es, die zentralen Posi-
Vorwort der Autoren IX

tionen und Argumente in der klarsten und strengsten Form zu präsentieren mit dem
Ziel, das jeweilige konzeptionelle Interesse herauszuarbeiten. Wenn wir meinen,
dass ein Anachronismus helfen kann, dann haben wir keine Skrupel, ihn in der Dar-
stellung des jeweiligen Ansatzes zu begehen. Wir vertrauen aber darauf, dass das
Folgende eine treue und gründliche Wiedergabe der tiefen Ideen in der Debatte ist,
die den Geist und die Textur der nachhaltigen Beiträge für unser Denken erfasst.
Wir danken dem Amherst College und der National Endowment for the Huma-
nities (der Nationalen Stiftung für Geisteswissenschaften) für ihre Unterstützung.
Wir danken unseren Lehrern und Studenten, und unseren Familien und Freunden.

Mai 2001 Alexander George


Daniel J. Velleman
Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

2 Logizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

3 Mengenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

4 Intuitionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

5 Intuitionistische Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113


Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

6 Finitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

7 Die Unvollständigkeitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159


Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

8 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

XI
Kapitel 1
Einleitung

Die Verbindungen zwischen Philosophie und Mathematik sind alt und komplex.
Beide Disziplinen sind eigentlich Zeitgenossen: Es waren die alten Griechen, die
beiden Systematik und Strenge lehrten und die zentrale Bedeutung ihrer Ausübung
betonten. Platon hatte an das Tor seiner Akademie geschrieben, dass niemand ein-
treten sollte, der keine Mathematik versteht1 . Seitdem hat es wenige große Philo-
sophen in der westlichen Tradition gegeben, die sich nicht intensiv bemüht hätten,
das Phänomen der Mathematik zu verstehen.
Es mag jedoch auf den ersten Blick überraschen, dass eine Philosophie, die sich
selbst mit ihren fundamentalen Themen aus dem alltäglichen Leben ableitet, sich
derart fixiert auf die vielleicht abstrakteste Disziplin, eine Disziplin, deren Gegen-
stände und Methoden, wie wir bald sehen werden, weit von jeder gewöhnlichen
Erfahrung entfernt zu sein scheinen. Während es dafür sicher keine Erklärung gibt
und sicherlich keine abschließende Antwort, die ohne Schwächen wäre, sollten wir
doch eine Anmerkung dazu machen.
Man glaubt, unsere mathematische Erkenntnis basiere allein auf rein rationalen
Folgerungen, ohne dass dabei Wahrnehmungen und unsere fünf Sinne irgendwie
notwendig oder auch nur relevant wären. Weil mathematisches Wissen von Erfah-
rungen unbeeinflusst zu sein scheint und allein von der Reflexion berührt in die
Welt eintritt, verspricht seine Analyse, Bedeutsames über das rationale Denken
selbst zu enthüllen. Da die Natur des Rationalen schon immer die philosophische
Phantasie angeregt hat, ist es dann kein Mysterium, dass Philosophen regelmäßig
ihre Aufmerksamkeit der Mathematik schenken. Mathematik ist das reinste Pro-
dukt begrifflichen Denkens, das charakteristisch für den Menschen ist, sein Leben
durchgehend strukturiert und es aus allem anderen hervorhebt.
Andere Gründe für das philosophische Interesse an der Natur der Mathematik
werden sich zeigen, wenn wir weiter voranschreiten. Es dürfte aber nützlich sein,
innezuhalten und zu fragen, was das philosophische Interesse eigentlich unterschei-
det von anderen Arten der Betrachtung. Die Frage, was zu einem solchen Interesse

1
„Kein der Geometrie Unkundiger soll hier eintreten.“ Dass es eine solche Inschrift gegeben hat,
wird allgemein bezweifelt. (Anm. d. Übers.)

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 1


A. George, D.J. Velleman, Zur Philosophie der Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56237-6_1
2 1 Einleitung

gehört, erlaubt keine kürzere oder einfachere Antwort als auf die, was denn Philo-
sophie überhaupt sei. Es mag dennoch hilfreich sein, ihr indirekt zu begegnen und
zu sagen, an welcher Art von Studien über Mathematik wir nicht interessiert sind.
Zuerst: Wir werden keine Untersuchung der historischen Entwicklung der Ma-
thematik unternehmen. Auch wenn sie interessant wäre, eine solche Erforschung
der Herkunft mathematischer Ideen könnte nicht viel über die Struktur des Den-
kens sagen. Denn die Herkunft und die Entwicklung mathematischer Ideen sind in
der Regel einfach zu sehr von irrelevanten Einflüssen abhängig. Das Gleiche gilt
für soziologische Untersuchungen über die Rolle der Mathematik und ihrer Mathe-
matiker in der Gesellschaft und der Kräfte, die Forschungsinteressen bestimmen
und professionelle Aktivitäten strukturieren, und so weiter. Kurz: Die Aspekte ma-
thematischer Tätigkeit sind durch zahllose unterschiedliche Faktoren bestimmt. Es
ist schwierig, wenn nicht unmöglich, aus solchen Untersuchungen Auskünfte zu
erhalten, die philosophisch relevant sind.2
Da philosophische Interessen sich auf die Natur des rationalen Denkens richten,
mag es befremden, dass wir keinerlei psychologische Untersuchungen des mathe-
matischen Denkens und seiner Entwicklung heranziehen. Solche Untersuchungen
nehmen in der Regel einen Begriff des Denkens als gegeben an – gewöhnlich ohne
ihn zu explizieren – und stellen Fragen wie „Welche Hirn- oder neuronale Akti-
vität, oder welche kognitive Struktur machen mathematisches Denken möglich?“
oder „Welche Art von Umgebung braucht es, um die Entwicklung der Fähigkeit
für solches Denken zu ermöglichen?“ Trotz ihrer Bedeutung: Solche Studien rich-
ten sich auf Phänomene, die der Natur des mathematischen Denkens fremd sind.
Wir wiederholen: Solche Untersuchungen verlaufen oft, ohne sich ein klares Bild
davon zu machen, was solche Gedanken sind. Sie konzentrieren sich vielmehr auf
neuronale Zustände, die irgendwie das Denken befördern, oder auf periphere oder
genetische Faktoren, die solche Zustände erzeugen können. Philosophen dagegen
sind an der Natur des Denkens selbst interessiert, an den Inhalten solcher neuro-
nalen „Vehikel“ (wenn das ein geeignetes Bild ist). Eine philosophische Studie ist
interessiert an der Analyse der Gedanken, auf die die Tätigkeiten des Verstandes
den Zugang gewähren. Sie ist nicht interessiert an der Beschreibung der Bedingun-
gen – als umweltbedingt, genetisch oder neurophysiologisch –, deren Einfluss und
Wirkung wir den Zugang zu solchem Denken verdanken.
Schließlich sollten wir anmerken, dass eine philosophische Untersuchung von
Mathematik sich von einer mathematischen unterscheidet. (Es ist interessant, dass
es neben der Philosophie wohl nur eine Disziplin gibt, die so offen für eine Selbstre-
flexion und so geeignet ist, ihre eigenen Methoden und Probleme zum Gegenstand
der eigenen Untersuchung zu machen: die Mathematik.) Was genau Anwendung
von Mathematik auf sich bedeuten könnte, werden wir später ansprechen. Und
obwohl wir diese Selbstanwendung dann hochinteressant finden, ist ihre Rolle phi-
losophisch nicht leicht zu durchschauen. Vielleicht stellt sie, wir werden es sehen,
Einzelheiten für eine angemessene philosophische Analyse bereit, aber ersetzen
kann sie sie nicht.

2
Eine andere Auffassung wird in Bedürftig und Murawski (2015) vertreten und verfolgt. (Anm. d.
Übers.)
1 Einleitung 3

Wir wenden uns nun einer konkreteren Charakterisierung des philosophischen


Zugangs zur Mathematik zu. Dazu wird es hilfreich sein, sich Beispiele wirklicher
Mathematik vorzunehmen. Wir sehen uns einige wenige mathematische Sätze und
ihre Beweise an und betrachten dann Kategorien typisch philosophischer Fragen,
die diese aufwerfen.
Die ersten beiden Sätze erfordern die Unterscheidung von rationalen und irra-
tionalen Zahlen. Eine rationale Zahl kann man als Bruch schreiben. Zum Beispiel
5 ,  12 und 1 sind alle rational. Eine irrationale Zahl – z. B.  – ist eine Zahl,
3 9 8

die nicht als Bruch geschrieben werden kann. Unser erster Satz geht auf die alten
Griechen zurück. Er wird gewöhnlich einem Mitglied der pythagoreischen Schu-
le zugeschrieben, auch wenn man nicht genau weiß, wer ihn zuerst bewiesen hat.
Der Englische Mathematiker G. H. Hardy (1877–1947) nannte ihn einen „Satz vom
höchsten Rang. [Er] ist so frisch und bedeutend wie bei seiner Entdeckung – zwei-
tausend Jahre haben nicht eine Runzel hinterlassen“.3
p
Satz 1.1 2 ist irrational.
p
Beweis (durch Widerspruch) Wir nehmen an, dass 2 D ab für zwei natürliche
Zahlen a; b ist. Wenn nötig kürzen wir ab . Wir nehmen also an, dass a und b keinen
2
gemeinsamen Teiler haben. Es folgt 2 D . ab /2 , d. h. 2 D ab 2 , also 2b 2 D a2 . Dann
ist a2 gerade. Weil das Quadrat einer ungeraden Zahl immer ungerade ist, ist daher
a gerade, z. B. a D 2c für ein c und damit a2 D 4c 2 . Daraus folgt, dass b 2 D 2c 2
ist. Also ist b gerade. Das aber widerspricht unserer Annahme, dass a und b keinen
gemeinsamen Teiler p haben. (Da beide gerade sind, haben sie den gemeinsamen
p Tei-
ler 2.) Deswegen ist 2 ¤ ab für alle natürlichen Zahlen a; b. Also ist 2 irrational.


Das zeigt, dass nicht alle Größen – hier speziell die Länge der Diagonale im
Einheitsquadrat (oder: der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks mit Seite und
Höhe der Länge 1) – in der Theorie der Verhältnisse natürlicher Zahlen dargestellt
werden kann, auf der die Mathematik der alten Griechen aufbaute. Das muss damals
eine Art von Revolution bedeutet haben.
Unser zweites Beispiel ist jüngeren Datums.4

Satz 1.2 Es gibt irrationale Zahlen a; b, sodass ab rational ist.


p p2
Beweis (Fallunterscheidung) Entweder ist 2 rational oder nicht.
p p2 p p
Fall 1: 2 ist rational. Nach Satz 1 ist 2 irrational. Seien also a D b D 2.
Dann sind a; b irrational und ab rational, wie gewünscht.
p p2 p p2 p
Fall 2: 2 p ist irrational. Seien a D 2 und b D 2. Dann ist ab D
p 2 p2 p p2p2 p 2
. 2 / D 2 D 2 D 2 rational.
In beiden Fällen ist die Aussage des Satzes nachgewiesen. 

3
Hardy (1967, S. 92).
4
Die erste veröffentlichte Quelle, die uns bekannt ist, ist Jarden (1953).
4 1 Einleitung

Schließlich geben wir ein Beispiel eines Beweises, der die vollständige Induktion
verwendet. Die vollständige Induktion ist eine wichtige mathematische Methode,
um allgemeine Aussagen über natürliche Zahlen zu beweisen, über die Zahlen
1; 2; 3 und so weiter. Um Aussagen von der Form „Für alle natürliche Zahlen n
gilt P .n/.“ durch Induktion zu beweisen, beweist man zuerst P .0/ – das ist der In-
duktionsanfang –, und dann beweist man für eine frei gewählte Zahl k, dass, wenn
P .k/ wahr ist, dann auch P .k C 1/ wahr ist. Die Annahme im Induktionsschritt,
nämlich dass P .k/ wahr ist, heißt Induktionsvoraussetzung. Um einzusehen, warum
das Verfahren die gewünschte Aussage „Für alle natürliche Zahlen n gilt P .n/.“ er-
gibt, bemerken wir, dass gemäß Induktionsschritt mit k D 0, also wenn P .0/ wahr
ist, dann P .1/ wahr ist. Nach dem Induktionsanfang aber – P .0/ ist wahr – ist dann
auch P .1/ wahr. Beginnen wir den Induktionsschritt jetzt bei 1, so sehen wir, dass
P .2/ ebenfalls wahr ist. Denn wir haben gerade gezeigt, dass P .1/ wahr ist, also
gilt auch P .2/. Setzen wir das fort, können wir Schritt für Schritt P .k/ für jede
einzelne natürliche Zahl k bestätigen. Mit anderen Worten, die Aussage „Für alle
natürlichen Zahlen n gilt P .n/.“ ist wahr.
n.nC1/
Satz 1.3 Für jede Zahl n ist 0 C 1 C 2 C 3 C : : : C n D 2
.

Beweis (durch vollständige Induktion)


Induktionsanfang Wenn k D 0 ist, dann steht auf beiden Seiten der Gleichung 0.

Induktionsschritt Wir nehmen


k.k C 1/
0C1C2 C3C:::Ck D
2
als Induktionsvoraussetzung an. Es ist

0 C 1 C 2 C 3 C : : : C k C 1 D .0 C 1 C 2 C 3 C : : : C k/ C .k C 1/:

Nach unserer Induktionsvoraussetzung und mit etwas Rechnen gilt

k.k C 1/
.0 C 1 C 2 C 3 C : : : C k/ C .k C 1/ D C .k C 1/
2
k.k C 1/ C 2.k C 1/ .k C 1/..k C 1/ C 1/
D D : 
2 2
Diese drei Beispiele sind in gewisser Weise paradigmatisch für Mathematik. Um
zweifelsfrei zu sein, ist Mathematik durchzogen von Beweisen, die in der Regel
viel länger und komplizierter sind, und mit Sätzen, die Begriffe beinhalten, die weit
komplexer sind als in den obigen Beispielen. Die meisten philosophischen Fragen
über Mathematik aber entstehen schon bei den einfachen Beispielen. Wir werden
das der Reihe nach kurz prüfen.
Wir bemerken zuerst, dass wir, wenn wir denn diese Beweise nicht schon vorher
gesehen haben, drei neue Wahrheiten wissen, die wir wenige Augenblicke zuvor
1 Einleitung 5

nicht wussten. Wie haben wir dieses Wissen erworben? Ein Weg, auf dem wir es
bestimmt nicht erworben haben, ist die Beobachtung. Es ist wahr, dass wir unsere
Augen gebrauchen, um die Sätze der Beweise zu lesen. Aber das war keinesfalls
notwendig. Wir hätten uns schließlich die Beweise selbst erdacht haben können –
so wie diejenigen, die sie zuerst gefunden haben. Jedenfalls spielt es keine Rolle,
wie die Tinte über die Seite verteilt ist, um die Wahrheit der Sätze zu zeigen. Die
Sätze handeln ja nicht von der Verteilung der Tinte auf dem Papier.
Hierher gehört, dass Philosophen oft das Wissen nach a priori und a posteriori
unterscheiden. A posteriori-Wissen benötigt für seine Begründung die Sinneswahr-
nehmung. Das a priori-Wissen braucht sie nicht. Mathematische Wahrheiten, an-
p z. B. als Wahrheiten über die Natur, werden a priori gewusst. Wir wissen, dass
ders
2 irrational ist, nicht auf der Grundlage von Messungen oder Beobachtungen, p
sondern allein durch reine Reflexion. Das Wissen über die Irrationalität von 2 ist
ganz anders als das, das weiß, dass dieses Buch hier weniger wiegt als sein Leser.
Letzteres wissen wir a posteriori, da es nicht möglich ist, es ohne einen Rückbezug
auf Beobachtungen zu begründen.
Um sicher zu gehen: Es könnte ja der Fall sein, dass wir Sinneserfahrung benö-
tigen, um uns die Sprache anzueignen, durch die wir die Gedanken verstehen, die
in den obigen Sätzen und Beweisen vorkommen. Wir müssen jedoch unterschei-
den zwischen dem, was wir benötigen, um den Inhalt der Sätze zu erfassen und
dem, was relevant ist für ihre Begründung. Die vorliegende Unterscheidung zwi-
schen a priori- und a posteriori-Wissen betrifft nur die letztere. Stellen wir uns vor,
dass wir Satz 1.1 nicht kennen, weil z. B. Seite 3 dieses Buches fehlt – unter der
Voraussetzung, dass wir ihm hier zum ersten Mal begegneten. Dann ist Sinneser-
fahrung, hier speziell die Interaktion mit der entsprechenden Seite, notwendig für
die Aneignung des Wissens dieses Satzes. Die reale Seite aber und ihre Eigenschaf-
ten sind irrelevant für die Begründung unseres Vertrauens, dass Satz 1.1 wahr ist.
Dagegen ist die Tatsache, dass jeder Bruch bis zu kleinsten Zählern und Nennern
gekürzt werden kann, etwas, von der unsere Begründung abhängt. Man kann das so
ausdrücken, indem man sagt: Sollte eine solche Kürzung von Brüchen nicht mög-
lich sein, dann würden wir nicht wissen, dass Satz 1.1 wahr ist. Man kann diese
Situation nicht vergleichen mit der fehlenden Seite. Letztere ist ein Hindernis der
Wissensaneignung, erstere ein Hemmnis für die Begründung. Um festzustellen, ob
eine Behauptung a priori ist oder nicht, müssen wir die Art der Evidenz prüfen,
auf der die Begründung der Behauptung beruht. Wir müssen insbesondere feststel-
len, ob irgendetwas daraus auf Sinneserfahrung beruht. Satz 1.1 ist ein Beispiel von
a priori-Wissen. Denn trotz der Tatsache, dass Sinneserfahrung benötigt wird, um
den Satz zu wissen, hängt seine Begründung nicht von irgendeiner Erfahrungsbe-
hauptung ab. Das Gleiche gilt für die Sätze 1.2 und 1.3.
Die Sätze oben also wissen wir a priori. Diese Eigenart mathematischen Wissens,
dass sich Begründung nicht auf Tatsachen aus der Beobachtung bezieht, scheint auf
den ersten Blick zu kollidieren mit dem Empirismus, einer sehr einflussreichen und
alten Doktrin, nach der unser ganzes Wissen letztlich auf unserer Sinneserfahrung
beruht. Natürlich, wenn „beruht auf“ nur „wäre nicht möglich ohne“ heißt, dann
kann der Empirismus so wenig geleugnet werden wie jede andere evidente Wahr-
6 1 Einleitung

heit. Das ist nicht sofort offensichtlich, da es nicht absurd ist anzunehmen, dass
ein Lebewesen Sprache und Wissen ohne die Grundlage der Erfahrung erwerben
könnte. Aber schon die oberflächlichste Prüfung, wie es beim Menschen ist, wird
zeigen, dass „wäre nicht möglich ohne“ wahr ist. Wenn Empirismus also mehr als
diese Selbstverständlichkeit bedeutet, dann muss „beruht auf“ anders verstanden
werden.
In der Tat, die empiristische Doktrin wird gewöhnlich strenger interpretiert, näm-
lich dass alles Wissen zuletzt auf der Grundlage der Sinneserfahrung gegründet
ist. Und es ist diese Interpretation der Doktrin, mit der die Natur des mathemati-
schen Wissens in Konflikt gerät. Die Kollision ist ernst, umso mehr, als die Doktrin
plausibel ist. Und es ist leicht zu sehen, weshalb viele das so sehen. Denn es ist ver-
nünftig, unser Wissen in weiten Teilen aus Beobachtungen der Welt zu begründen.
Es ist schwer einzusehen, wie man vernünftigerweise Wissen von der äußeren Welt
haben sollte, ohne ihre Einwirkung in irgendeiner Weise anzunehmen. Da unsere
einzigen Kanäle für die Information von außen die fünf Sinne sind, scheint es so,
dass alles Wissen der Welt letztlich aus Daten begründet ist, die diese vermitteln.
Und dennoch, für das Wissen der obigen Sätze ist es nicht so.
Eine Möglichkeit, den empiristischen Druck etwas zu verringern, ist es, anzu-
nehmen, dass die drei Sätze nicht von der empirischen Welt handeln. Empirismus
scheint vor allem von der Überlegung her motiviert zu sein, wie das Wissen der äu-
ßeren Welt gerechtfertigt werden kann. Vielleicht kann der ganze Konflikt vermie-
den werden, wenn man verneint, dass Mathematik irgendetwas über die wirkliche
Welt sagt. Aber wenn es nicht um die wirkliche Welt geht, wovon handeln dann
ihre Behauptungen? Eine überzeugende Antwort ist, Mathematik handele von einer
Welt, die gänzlich unabhängig von uns existiert, so wie die natürliche Welt, nur dass
sie nicht in Raum und Zeit lokalisiert ist. Hardy beschreibt diese Doktrin eloquent
wie folgt:
Mit physischer Realität meine ich die materielle Welt, die Welt von Tag und Nacht, Erdbe-
ben und Finsternissen, diejenige Welt, die die Physik versucht zu beschreiben.
Ich glaube kaum, dass bis hierher irgendein Leser irgendwelche Probleme mit meinen
Ausführungen hatte, und dennoch stehe ich ganz nah an schwierigerem Gelände. Für mich,
und ich glaube für die meisten Mathematiker, gibt es eine andere Realität, die ich „mathe-
matische Realität“ nennen will. . . . Ich glaube, dass die mathematische Realität außerhalb
von uns liegt, dass unsere Aufgabe es ist, sie zu entdecken und zu beobachten, und dass
die Sätze, die wir beweisen und die wir großartig als unsere „Schöpfungen“ beschreiben,
einfach nur Anmerkungen über unsere Beobachtungen sind.5

Diese Auffassung von Mathematik wird oft Platonismus genannt.


Der Platonismus, wie eben beschrieben, beinhaltet eigentlich zwei unterschied-
liche Weisen, die Wirklichkeit zu charakterisieren. Die erste ist ontologischer Na-
tur, d. h., der Platonismus versucht, das Wesen der „Entitäten“, der Gegenstände
im untersuchten Bereich, zu bestimmen. Mathematischer Platonismus besteht ge-
wöhnlich darauf, dass mathematische Gegenstände abstrakt sind, nicht raumzeitlich
lokalisiert sind und daher keine kausale Potenz haben. Wenn wir über diesen Aspekt

5
Hardy (1967, S. 122–124).
1 Einleitung 7

im Zusammenhang mit unseren drei Sätzen nachdenken, können wir nicht anders,
als seine Plausibilität
p anzuerkennen. Beispielsweise wäre es ziemlich seltsam sich
vorzustellen, 2 wäre lokalisier- oder datierbar.
p Das Ansinnen einer räumlichen
oder zeitlichen Festlegung, wo und wann 2 zu existieren beginnt, lässt keine Ant-
wort zu, die nicht Zahlzeichen (z. B. Tintenspuren auf Papier, Hirnzustände von
Menschen) und Zahl vertauscht. Ebenso scheint es wenig plausibel zu sein, die Un-
endlichkeit der Menge der natürlichen Zahlen als eine ungelöste Frage anzusehen,
bis die Physik einmal festgestellt hat, dass das Universum unendlich ist, da wir dar-
auf insistieren, jede der unendlich vielen natürlichen Zahlen wäre ein raumzeitlich
lokalisiertes Materieteilchen. Das wäre genau das, was wir dann akzeptieren müss-
ten.
Platonismus charakterisiert den Bereich der Mathematik auf eine weitere Wei-
se, die wir in einem philosophischen Sinn „doxastisch“6 nennen können. Hier be-
schreibt er die Beziehung zwischen den Wahrheiten über den betroffenen Bereich
einerseits und andererseits dem, was wir glauben. In dieser Gegenüberstellung be-
steht der Platonismus darauf, dass Mathematik unabhängig vom Verstand ist, d. h.,
dass eine mathematische Aussage gültig ist unabhängig von dem, was wir glauben
und denken. Wir können uns Bereiche vorstellen, in denen in der Tat Überzeugun-
gen von Beobachtern regeln, was wahr ist und was nicht. Mathematik aber, so die
Platonisten, ist nicht von dieser Art: Die Wahrheit oder Falschheit mathematischer
Behauptungen ist nicht dadurch bestimmt, was irgendjemand über ihre Wahrheit
glaubt. Auch dies ist wieder eine plausible Position, wenn wir an die Sätze oben
denken. Zum Beispiel ist die Quadratwurzel von 2 irrational ohne Rücksicht dar-
auf, was
p irgendjemand glaubt oder wie er es gerne hätte. In der Tat, die Irrationalität
von 2 ist ganz und gar unabhängig von irgendwelchen Überzeugungen. Ein ma-
thematisches Resultat gilt, darauf besteht Hardy, „nicht weil wir so denken oder
weil unsere Gedanken in dieser oder jener Weise sind, sondern weil es so ist, weil
die mathematische Realität so gemacht ist.“7
Es gibt noch eine andere Art der Verstandesunabhängigkeit, mit der die eben
dargestellte nicht verwechselt werden darf. Man könnte sagen, dass Mathematik
unabhängig vom Verstand darin ist, dass ihre Gegenstände verschieden sind von
denen des Verstandes. (Ob das bedingt ist durch die ontologische Seite des Plato-
nismus, hängt davon ab, ob mentale Elemente raumzeitlich lokalisiert sind.) Anders
ausgedrückt: Mathematische Objekte sind verstandesunabhängig dadurch, dass ihre
Existenz nicht die Existenz des Verstandes voraussetzt. (Diese letztere Konzeption
von Verstandesunabhängigkeit zieht natürlich die vorherige nach sich, aber nicht
umgekehrt. Denn jemand könnte behaupten, dass so, wie ein Kunstwerk, obwohl
getrennt vom Künstler, abhängig ist von dessen Aktivitäten, auch mathematische
Gegenstände, obwohl selbst nicht mental, gleichwohl nicht existieren würden, es
sei denn wegen des Verstandes.)

6
Anm. d. Übers.: „doxastisch“ ist, wie wir meinen, eine wenig glückliche Bezeichnung, da im
Folgenden die Bedeutung „meinungsorientiert“ gerade widerlegt wird. „doxastisch“ kann hier nur
die Metabedeutung „die Meinungen betreffend“ haben.
7
Hardy (1967, S. 130).
8 1 Einleitung

Wir werden auf einige dieser Bemerkungen später zurückkommen. Jetzt sollten
wir einfach nur feststellen, dass beide Auffassungen unterschieden werden müssen
in der Art der Verstandesunabhängigkeit, die wir als einen Teil des Platonismus an-
nehmen. Denn selbst wenn mathematische Entitäten identisch sind mit mentalen
Entitäten, kann man weiter behaupten, dass Wahrheiten über diese Entitäten unab-
hängig von unserem Dafürhalten sind: Es gibt keinen Grund, dass Tatsachen über
unseren Verstand irgendwie für uns erreichbar sind. Wir bemerken schließlich, dass
eine Verallgemeinerung der letzten Beobachtungen zeigt, dass die zwei Grundzüge
des Platonismus, die wir isoliert haben, verschieden sind: dass die Wahrheiten in
der Mathematik unabhängig von unserem Erkennen sind, das sie erkennt, kann die
ontologische Natur der Entitäten in diesen Wahrheiten nicht klären.
Wir versuchten zuerst, dem mathematischen Platonismus in einer Weise zu be-
gegnen, die den Konflikt mit dem Empirismus entschärft. Aber ist das wirklich
gelungen? Man kann sich fragen, ob die Rede von abstrakten Gegenständen we-
niger eine Lösung des empiristischen Problems des a priori-Wissens als vielmehr
ein Hinweis darauf ist. Denn es bleibt zu klären, wie wir, Kreaturen in Raum und
Zeit, Informationen über Gegenstände erhalten können, die nicht raumzeitlich sind.
Weil sich Letztere außerhalb jeder Kausalität befinden und uns so in keiner Weise
affizieren können, scheint es ein Rätsel zu sein, wie wir überhaupt Kenntnis von
ihnen bekommen können. Zu sagen, dass das Denken gerade darin besteht, direkten
Zugang zu dieser unabhängig existierenden Welt – trotz ihrer kausalen Isolierung
– zu erlauben, scheint wieder weniger eine Lösung als mehr eine schillernde Be-
schreibung einer originär rätselhaften Situation zu sein.
Darüber hinaus: Selbst wenn man zugibt, dass Mathematik von einer nichtphysi-
schen Realität handelt, es bleibt die Tatsache, dass mathematisches Wissen anwend-
bar auf die physische Realität ist. Mathematik, von der bescheidensten Arithmetik
bis zur tiefsten Theorie, ist effektiv in der Beschreibung und Prognose natürlicher
Phänomene. Physiker sind sich dessen bewusst. Albert Einstein (1879–1955) sprach
von einem Rätsel, „das Forscher aller Zeiten soviel beunruhigt hat. Wie ist es mög-
lich, dass die Mathematik, die doch ein von aller Erfahrung unabhängiges Produkt
des menschlichen Denkens ist, auf die Gegenstände der Wirklichkeit so vortrefflich
passt? Kann denn die menschliche Vernunft ohne Erfahrung durch bloßes Den-
ken Eigenschaften der wirklichen Dinge ergründen?“8 Oder wie der amerikanische
Physiker Steven Weinberg (*1933) es sagt: „Es ist wirklich gespenstisch, dass der
Physiker den Mathematiker vorfindet, bevor er oder sie da ist.“9 Johannes Kepler
(1571–1630), der deutsche Astronom und Mathematiker, sagte: „So war Gott selbst
zu freundlich, um müßig zu bleiben, und er fing an, das Spiel der Signaturen zu
spielen, er zeichnete sein Ebenbild in die Welt. Deshalb wage ich zu denken, dass
die ganze Natur und der ganze Himmel in der Kunst der Geometrie symbolisiert
sind.“ Wenn man versucht, die Anwendbarkeit der Mathematik zu erklären, dann
vertieft sich das Geheimnis nur, wenn man annimmt, dass Mathematik von einer
Welt handelt, die disjunkt ist zur natürlichen Welt.

8
Aus: Einstein (1921, S. 1).
9
Weinberg (1986).
1 Einleitung 9

Wegen dieser anfänglichen Hürden für den Platonismus könnte man versucht
sein, die Strategie zu überdenken, um den Empirismus mit der a priori-Natur ma-
thematischer Erkenntnis zu versöhnen. Es gibt in der Tat einen anderen Versuch,
nämlich den Vorschlag, dass entgegen allem Anschein mathematische Wahrheiten
doch a posteriori gewusst sind. Obwohl einige Philosophen versucht haben, ei-
ne solche Auffassung auszuarbeiten, ist schwer zu erkennen, wie sie die Tatsache
überwinden können, die wir oben betont haben: dass mathematische Argumente
offenbar nicht durch irgendwelche empirische Beobachtungen begründet sind. Zu-
dem: Die spezielle Natur der Begründung in der Mathematik, nämlich der Beweis,
ist offenbar ganz verschieden davon, wie man gewöhnlich Argumente in Schlüssen
über die natürliche Welt verwendet. Solche Schlüsse sind oft induktiv oder sta-
tistisch begründet und daher unsicher. Die Wahrheit der Voraussetzungen garantiert
nicht die Wahrheit der Schlüsse, sondern machen diese nur zu einem gewissen Grad
wahrscheinlich. Im Gegensatz dazu sind die Folgerungen in mathematischen Be-
weisen gültig: Die Wahrheit der Voraussetzungen in einer Folgerung erzwingt die
Wahrheit der Schlüsse. Es bleibt dabei, dass mathematische Wahrheiten nicht nur
nicht auf der Basis empirischer Evidenz gewusst werden, sondern genauso nicht
begründet werden durch Folgerungen der Art, wie sie typischer Weise verwendet
werden, um über die natürliche Welt zu urteilen. – Der obige Vorschlag erscheint
nur wie ein Akt der Verzweiflung.
Der letzte Punkt richtet unsere Aufmerksamkeit auf eine ganz andere Eigenart
von Mathematik, die Philosophen verblüfft: die Gültigkeit der Folgerungen, die in
ihren Deduktionen liegen. Wir betrachten die Form der Folgerung in Satz 1.1. Die
Analyse zeigt die folgende Struktur:10
(1) A ! :A,
also
(2) :A.
Dieses Argument, bekannt als reductio ad absurdum, hat die besondere Eigen-
schaft, dass wenn (1) wahr ist, (2) genauso wahr sein muss.11 Die Behauptung ist
nicht nur, dass die Wahrheit von (2) sehr wahrscheinlich ist, da (1) wahr ist, sondern
vielmehr, dass sie notwendig ist. Obwohl der Beweis von Satz 1.2 logisch anders
vor sich geht, teilt er diese Eigenschaft. Die Struktur dieses Beweises ist
(3) A _ :A,
(4) A ! B,
(5) :A ! B,

10
In diesem Buch verwenden wir die folgenden logischen Zeichen: „:P “ bedeutet „nicht P “,
„P ^ Q“ bedeutet „P und Q“, „P _ Q“ bedeutet „P oder Q“, „P ! Q“ bedeutet „wenn P ,
dann Q“, „P $ Q“ bedeutet „P genau dann, wenn Q“, „8xP “ bedeutet „für alle x gilt P “,
„9xP “ bedeutet „es gibt wenigstens ein x, für das P gilt“.
11
Hardy sagte einen denkwürdigen Satz über diese Form der Folgerung: „Sie ist eine der schärfs-
ten Waffen der Mathematiker. Sie ist besser als jede Schacheröffnung, in der ein Schachspieler
einen Bauern oder einen andere Figur anbietet. Der Mathematiker bietet das ganze Spiel an.“
(Hardy 1967, S. 94).
10 1 Einleitung

also
(6) B.
Die besondere Kraft von „also“ hier ist diese: Sind (3) bis (5) wahr, dann ist notwen-
dig auch (6) wahr. Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951)
nannte dies „die Härte des logischen Müssens“12 , und viele fanden ihre Herkunft
sehr mysteriös. Der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) argumentier-
te, dass eine solche notwendige Verbindung zwischen Situationen illusorisch sei, da
uns nichts Vergleichbares durch Erfahrung gegeben sei. Bestenfalls beobachten wir,
dass eine Situation regelmäßig zeitlich der anderen folgt, aber eine Notwendigkeit
der Verbindung zwischen ihnen sei nirgendwo zu erkennen.13 Die Notwendigkeit
aber macht gerade die besondere Faszination der Mathematik aus. Der englische
Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) erzählte einmal eine Geschichte, die das
illustriert:
Mein Freund G. H. Hardy, der Professor für reine Mathematik war, genoss dieses Vergnü-
gen in hohem Maße. Er sagte mir einmal, dass, wenn er einen Beweis finden könnte dafür,
dass ich in 5 Minuten sterben würde, er natürlich traurig wäre mich zu verlieren, diese
Sorge aber ganz und gar aufgewogen würde durch das Vergnügen über den Beweis. Ich
stimmte vollständig mit ihm überein und war keineswegs beleidigt.14

Die zauberhaft geheimnisvolle Notwendigkeit mathematischer Beweise zeigt noch


auf einen weiteren Aspekt von Mathematik, der nur schwer mit einer empirischen
Perspektive vereinbar ist.
Es gibt noch eine letzte Eigenart der Mathematik, die notwendig schon angedeu-
tet war, aber hier noch einen Kommentar verdient. Es geht darum, dass Wissen, das
durch einen mathematischen Beweis begründet wird, oft einen Aspekt der Unend-
lichkeit besitzt. Inhaltlich ist das Wissen bezogen auf einen unendlichen Bereich
von Objekten. Schauen wir uns z. B. Satz 1.1 an. Sein infiniter Charakter ist viel-
leicht nicht auf den ersten Blick erkennbar, da es so aussieht, als ginge es exakt um
ein einzelnes Element, nämlich die Wurzel aus 2. Es ist aber so, dass die Eigenschaft
der Irrationalität, wenn sie explizit
p dargestellt ist, sich auf eine unendliche Menge
bezieht. Denn um zu sagen, dass 2 irrational ist, muss man sich so ausdrücken:
p
:9x9y .x ist eine ganze Zahl ^ y ist eine ganze Zahl ^ 2 D xy /:

Und das ist logisch äquivalent zu


p
8x8y .x ist eine ganze Zahl ^ y ist eine ganze Zahl ! 2 ¤ yx /:

Wir sehen, dass der Wirkungsbereich der Quantorenpüber die Gesamtheit der ganzen
Zahlen reicht. Die Aussage der Irrationalität von 2 hat also einen infiniten Hin-
tergrund. Diese Eigenart von Mathematik scheint verwunderlich zu sein. Wir sind,

12
Wittgenstein (2014).
13
vgl. z. B. Hume (1748).
14
Russell (1956, S. 14).
1 Einleitung 11

soviel man weiß, endliche Kreaturen: Unsere Fähigkeiten wie unser Gedächtnis
oder unsere Rechengeschwindigkeit sind endlich. Die Zeit, die uns zur Verfügung
steht und in der wir unsere Fähigkeiten ausüben können, ist unsere endliche Lebens-
zeit. Folglich können wir nicht mehr als endliche Beweissituationen überschauen.
Wie aber können wir dann ein Wissen von infinitem Charakter erreichen? Man
könnte es schon für mysteriös halten, dass wir als endliche Wesen Aussagen über
einen unendlichen Bereich von Objekten überhaupt verstehen können. Wie der fran-
zösische Schriftsteller Voltaire (1694–1778) sagte, das Unendliche „überrascht die
Dimension unseres Hirns, das nur etwa sechs Inches lang, fünf breit und sechs tief
ist – im größten Kopf.“15
Kurz: Mathematik scheint eine Disziplin zu sein, in der wir Wissen über un-
endlich viele Dinge gewinnen, mit denen wir in keiner Weise interagieren können.
Wir erreichen dieses Wissen zudem mit den Mitteln endlicher Folgerungen, die
keinen Gebrauch von empirischen Voraussetzungen machen und ihre Schlüsse mit
Notwendigkeit vollziehen. Wir hatten am Anfang die Bemerkung gemacht, dass
es überraschend sei, dass Mathematik das Objekt so großer philosophischer Auf-
merksamkeit wäre. Vielleicht aber, was verwundern sollte, gibt es auch manche
Darstellung intellektuellen Gleichmuts dem Phänomen der Mathematik gegenüber.
Philosophen waren nicht allein bei dem Versuch, das Phänomen „Mathematik“
zu verstehen, typisch vielleicht jedoch waren ihre Ratlosigkeit und ihre Versuche.
Mathematiker haben auf ihre Weise versucht, zu einem tieferen Verständnis der
Grundlagen ihrer Disziplin zu kommen – getrieben von ihrer eigenen Unzufrie-
denheit über das mangelhafte Verständnis der Analysis, derjenigen Mathematik,
die dem Infinitesimalkalkül zugrunde liegt. Entschlossen ging man im 19. Jahrhun-
dert ans Werk, auch wenn der Ärger schon vorher da war. Der irische Bischof und
Philosoph Berkeley (1685–1753) beschwerte sich in seinem The Analyst, or a Dis-
course Addressed to an Infidel Mathematician (1734) über den Infinitesimalkalkül
bei Newton. Er spottete: „Der, der ein zweites oder drittes Fluxion verdauen kann
und ein zweites oder drittes Differential, der braucht, dünkt mir, nicht an irgendwel-
chen Punkten der Gottheit herumzunörgeln.“16 Obwohl so viele sich bemühten, die
Probleme zu klären, klagte der Mathematiker N.H. Abel (1802–1829) noch 1826,
fast ein Jahrhundert später, über „die überraschende Dunkelheit, die man zweifellos
in der heutigen Analysis findet. Es fehlt jeder Plan und jede Einheitlichkeit. Das
Schlimmste ist, dass nichts mit Strenge betrieben wird. Es gibt nur sehr wenige Sät-
ze in höherer Analysis, die in voller Strenge bewiesen sind.“17 In dieser Zeit fehlten
den Mathematikern noch die Definitionen grundlegender Begriffe der Analysis wie
die des Grenzwertes, der Stetigkeit und der Ableitung sowie die Unterscheidung
von punktweiser und gleichmäßiger Konvergenz.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam konzeptionelle Klarheit in die Grund-
lagen der Analysis. Die Strenge, über deren Abwesenheit Abel klagte, war nun da
und ermöglichte nicht nur das tiefere Verständnis früherer Ergebnisse (oder Irr-

15
zitiert nach Moritz (1958, S. 336).
16
Nachdruck in Ewald (1996, vol 1, S. 62–92, S. 65, Absatz 7).
17
Abel (1902, S. 23), zitiert in Sieg (1984).
12 1 Einleitung

tümer), sondern erlaubte neue, früher undenkbare Wege in der Forschung. Das
erweiterte mathematische Umfeld, speziell der Kalkül, erlebte eine systematische
Rückführung in die Sprache der elementaren natürlichen Zahlen und ihrer alltäg-
lichen Operationen. In diesem Zusammenhang ist eine Leistung besonders her-
vorzuheben, die an erster Stelle dem deutschen Mathematiker Richard Dedekind
(1831–1916) zuzuschreiben ist, nämlich die ganzen, die rationalen und die reellen
Zahlen definiert zu haben, allein auf der Basis der natürlichen Zahlen.
Schließlich sei gesagt, dass manche die Klärung der mathematischen Grundla-
gen als abgeschlossen ansehen, mit der Begründung, es gäbe nichts Tieferliegendes,
welches nicht umgekehrt auf die natürlichen Zahlen zurückgeführt werden könnte.
In dieser Haltung machte der deutsche Mathematiker Leopold Kronecker die be-
rühmte Aussage „Die natürlichen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere
ist Menschenwerk“. Diese Haltung sagt nicht, dass kein weiterer Fortschritt im Ver-
ständnis der Grundlagen der Mathematik erzielt werden könne, sondern nur, dass
wir in der Mathematik selbst nicht nach tieferer Erleuchtung zu suchen brauchen. In
den natürlichen Zahlen ist der mathematische Grund erreicht. Sollten doch tiefere
Einsichten durch eine philosophische Analyse der natürlichen Zahlen möglich sein,
so könnte jemand mit dieser Haltung warnen, dass wir uns nicht einbilden dürfen,
dass sie irgendetwas von mathematischer Relevanz beitragen könnten.
In Kap. 2 werden wir sehen, wie manche tatsächlich versuchten, beides zugleich
– tiefere Einsicht und mathematische Relevanz – zu erreichen.
Kapitel 2
Logizismus

Der deutsche Mathematiker Gottlob Frege (1848–1925), der außerdem in Physik


und Philosophie bewandert war und sein gesamtes Arbeitsleben an der Universität
Jena verbrachte, entwickelte und vertrat als Erster den heute unter dem Namen Lo-
gizismus bekannten Ansatz zur Mathematik. Bevor wir beschreiben, worin dieser
Ansatz besteht, erläutern wir kurz, in welcher Hinsicht Frege mit den zu seiner Zeit
vorherrschenden Ansichten über die Natur der Mathematik nicht einverstanden war.
Zu Freges Zeit waren bereits viele Zusammenhänge zwischen den verschiedenen
Zahlensystemen bekannt. Insbesondere wusste man, wie Konzepte die reellen, ra-
tionalen oder ganzen Zahlen betreffend über Eigenschaften der natürlichen Zahlen
(die Zahlen 0; 1; 2 und so weiter) definiert werden konnten, und man wusste eben-
falls, wie Wahrheiten über die erste Art Zahlen ausgehend von wahren Prinzipien
über die natürlichen Zahlen aufgestellt werden können. In Kap. 3 werden wir auf
diese Arithmetisierung der Analysis näher eingehen.
Wenig überraschend wandte sich Frege dementsprechend zuerst der Natur der
natürlichen Zahlen zu. Sein Werk Die Grundlagen der Arithmetik (1884) beginnt
mit der Frage, was die Zahl Eins sei.1 In diesem Werk macht Frege deutlich, dass
die vorherrschenden Ansichten über die Natur der natürlichen Zahlen und die Natur
der arithmetischen Begründung seiner Meinung nach deswegen fehlschlagen, weil
sie sich auf die Erfahrung beziehen, entweder auf deren Inhalt oder deren Form.
Unter dem Inhalt der Erfahrung verstehen wir die einzelnen Sinneseindrücke, die
die Menschen durch die Benutzung ihrer Sinnesorgane erhalten. Wie wir in Kap. 1
gesehen haben, sind einige – wie der englische Philosoph John Stuart Mill (1806–
1873) – versucht gewesen zu behaupten, dass die mathematischen Wahrheiten im
Allgemeinen in unserer Erfahrung endgültig begründet sind.2 Frege verwirft jedoch
die Ansicht, dass der Inhalt unserer Erfahrung überhaupt für die Wahrheit arithme-
tischer Behauptungen relevant sei. Unter der Form der Erfahrung verstehen wir die
Struktur, der alle menschliche Erfahrung entsprechen muss, so wie beispielsweise
Ereignisse oder Gegenstände immer in der Zeit lokalisiert und räumlich angeordnet

1
Frege (1884, S. 3).
2
Mill (1843).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 13


A. George, D.J. Velleman, Zur Philosophie der Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56237-6_2
14 2 Logizismus

sind. Solche strukturellen Einschränkungen liegen den meisten unserer Intuitionen


zugrunde, z. B. unterliegen sie den räumlichen Intuitionen, auf die wir häufig zu-
rückgreifen, wenn wir bestimmte geometrische Probleme lösen. Während einige,
wie der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804), meinten, dass die Arith-
metik in irgendeiner Weise letztlich auf solchen Intuitionen beruht,3 besteht Frege
darauf, dass sie, insofern es um die Begründung der Arithmetik geht, keine Rolle
spielen. Dass unsere Erfahrungen in einer bestimmten Weise strukturiert sind, mag
relevant für das Verständnis davon sein, wie wir dazu kommen, bestimmte Wahrhei-
ten zu entdecken, oder warum wir einige Wahrheiten leichter begreifen als andere;
diese Form der Erfahrung kann uns aber keinen rationalen Grund für die arithmeti-
sche Wahrheit liefern.
Wenn aber weder Sinneseindrücke noch Intuitionen dazu imstande sind, was lie-
fert uns dann eine Begründung für arithmetische Wahrheit? Für Frege lag keine
Antwort griffbereit vor, und so musste er selbst eine erfinden. 1879 veröffentlich-
te Frege seine Begriffsschrift; einen dünnen Band, in dem die Prädikatenlogik mit
Quantoren das erste Mal auftaucht.4 Für Frege ist die Logik eine genaue Syste-
matisierung der Vernunftgesetze. Die Logik befasst sich ohne Beachtung der In-
halte einzelner Aussagen mit den gültigen Schlüssen.5 Durch die Verwendung der
Quantoren- und Variablennotation und durch die Ersetzung der grammatikalischen
Subjekt-Verb-Form durch eine funktionsgemäßere macht Freges logisches System
den verborgenen Aufbau von Aussagen sichtbar, und so werden die Behauptun-
gen der Aussagen und wie diese Aussagen durch Schlüsse miteinander verbunden
sind, klar herausgestellt. Laut Frege beschreibt die Logik die Gesetze der Gedan-
ken. Diese sollten nicht mit den Gesetzen des Denkens verwechselt werden, mit
den psychologischen Prozessen, die eventuell stattfinden, während man denkt und
argumentiert. Vielmehr sind sie diejenigen Gesetze, die bestimmen, was rational ge-
dacht werden kann. Das Ziel der Logik ist es nicht zu beschreiben, wie Menschen
denken, sondern anzugeben, wie sie notwendigerweise denken müssen, wenn ihre
Gedanken innerhalb der Grenzen der Vernunft bleiben sollen.6
Außerdem wird dies in einer äußerst systematischen Art ausgeführt. Indem Frege
eine solche systematische Darstellung der Logik ausarbeitete, leistete er den größten
Beitrag zur Entwicklung des axiomatischen Systems seit den alten Griechen. Sorg-
fältig stellte er für sein System die grundlegenden Prämissen heraus und beschrieb
die Schlussregeln. Er sah zwar sein logisches System nicht als uninterpretierten Kal-
kül an, dennoch legte er Wert darauf, dass es ein formales System sei, in welchem
jeder mutmaßliche Beweis gründlich und formal überprüft werden könnte. Die Be-
weise selbst einfachster Aussagen können sehr länglich werden (Studierende der
Logik kennen das), als Ausgleich gibt es aber eine überschaubare Anzahl an Axio-
men und Schlussregeln. Die Beweise sind vielleicht lang, aber sie sind nachweislich

3
Siehe beispielsweise Kant (2001).
4
Siehe van Heijenoort (1967, S. 1–82).
5
Siehe beispielsweise seine Logik (1897), unveröffentlicht, nachgedruckt in Frege et al. (1969,
S. 137–163).
6
Siehe beispielsweise Der Gedanke (siehe Frege 1918–1919).
2 Logizismus 15

lückenlos, sodass kein Zweifel darüber bestehen bleibt, ob es sich tatsächlich um


Beweise handelt.7 Die Bedeutung von Freges System wird eigentlich falsch ver-
standen, wenn man sagt, dass die geringe Anzahl an Axiomen und Schlussregeln
ein Ausgleich zur Länge der Beweise in Freges logischem System sei: Freges Sys-
tem war nicht als Werkzeug für den arbeitenden Mathematiker und seine alltägliche
Arbeit gedacht, sondern vielmehr als ein Beitrag zu unserem Verständnis des lo-
gischen Schließens und zu unserer Fähigkeit, irgendein gegebenes Wissensgebiet
zu erläutern und zu ordnen, indem die systematische, begründende Struktur, die
die einzelnen Behauptungen miteinander in Beziehung setzt, vollständig sichtbar
wird.8
Mithilfe der Logik gab es nun einen Weg, das Problem der Grundlagen der Arith-
metik zu lösen. Unter Verwendung der logischen Prinzipien setzte man an, das
gesamte arithmetische Wissen logisch zu ordnen. In diesem System ist es dann mög-
lich, die Schlusswege so weit zurückzuverfolgen, bis man zu einer Ansammlung
von Annahmen oder Denkprinzipien kommt, die nicht weiter begründet werden
müssen. Diese Ansammlung würde den Ursprung der Begründung für die Arith-
metik darstellen, von dem aus gemeinsam mit der Logik alles arithmetische Wis-
sen herleitbar wäre. Die eigentliche Natur der Arithmetik könnte dann letztendlich
durch eine Analyse der Elemente ihres Ursprungs bestimmt werden.9 Diese Pro-
zedur macht deutlich, warum Frege darauf besteht, dass die Logik einen Weg zur
Konstruktion lückenloser Beweise zur Verfügung stellen muss. Ohne diese Zusi-
cherung gäbe es für uns keinen Grund zu glauben, dass die endgültige Begründung
einer Wissenschaft nur von den Prinzipien abhängt, die durch diese Prozedur her-
ausgestellt werden, und so keinen Grund zu glauben, dass eine Analyse dieser
Prinzipien irgendetwas Grundlegendes über die Natur dieser Wissenschaft sichtbar
machen würde.
Frege behauptet, diese ganze Prozedur für die Arithmetik durchgeführt zu haben,
und legt eine mutige und verblüffende These über die Ansammlung von Annah-
men und Prinzipien, von denen die gesamte Arithmetik logisch hergeleitet werden
kann, vor: Sie ist leer. Anders gesagt argumentiert Frege, dass zur Begründung
unseres arithmetischen Wissens nichts weiter als die logischen Axiome und die
logischen Schlussregeln gebraucht wird. Es gibt keine klar mathematischen Postu-
late oder Schlussregeln, die angenommen werden müssten; diejenigen der Logik,
diejenigen, die bereits explizit im logischen System formuliert sind, reichen aus.
Frege argumentiert also, dass die Arithmetik letztendlich auf der Logik beruht: Alle
arithmetischen Wahrheiten könnten durch die Verwendung rein logischer Konzepte
analysiert und von logischen Axiomen unter Verwendung logischer Schlussregeln
bewiesen werden. Obwohl die Arithmetik an der Oberfläche nicht logisch scheint,
ist sie tatsächlich eine direkte Entwicklung der Wissenschaft des logischen Schlie-

7
Siehe Booles rechnende Logik und die Begriffsschrift (1881), unveröffentlicht, nachgedruckt in
Frege et al. (1969, S. 9–52).
8
Siehe seine Logik in der Mathematik (1914), unveröffentlicht, nachgedruckt in Frege et al. (1969,
S. 219–270).
9
Ebenda.
16 2 Logizismus

ßens; sie hängt in ihrer Wahrheit nur von den Gesetzen des rationalen Denkens im
allgemeinsten Sinne ab. Diese These wurde bekannt als Freges Logizismus.
In der Logik findet Frege also den gesuchten Gegenspieler zur Erfahrung. Ob-
wohl er mehrere Argumente dafür liefert, dass die Erfahrung für die Grundlagen der
Arithmetik keine Rolle spielt, weder ihre Form noch ihr Inhalt,10 steht hinter die-
sen negativen Argumenten ein zentrales, positives Argument für die Zurückweisung
jeglicher, grundlegender Relevanz der Erfahrung: Die Realisierbarkeit des logizis-
tischen Programms. Diese Realisierbarkeit zeigt direkt, so behauptet Frege, dass
für die Begründung der Arithmetik weder empirische Wahrheiten über die natürli-
che Welt noch irgendwelche, durch eine Art Intuition erfassten Wahrheiten benötigt
werden. Seine negativen Argumente heben die unbefriedigende Natur des erfah-
rungsbezogenen Ansatzes hervor, während die Realisierbarkeit des logizistischen
Programms offenbart, dass solche Vorschläge eigentlich überflüssig sind.
An dieser Stelle wollen wir die zentrale Rolle der Logik für Freges Ansatz noch-
mals betonen. Natürlich und offensichtlich ist sie die Antwort auf die Frage, die
er fest entschlossen ist zu stellen: „Was sind die Grundlagen der Arithmetik, d. h.,
von welchen Wahrheiten hängen die Wahrheiten der Arithmetik ab?“ Hierbei ist
zu beachten, dass die Logik den genauen Inhalt dieser Frage mit ausformt. Freges
Verständnis eines Ursprungs der Begründung für die Arithmetik ist durchweg durch
seine Auffassung der Logik geprägt: Als ein solcher Ursprung würde nur dasjenige
zählen, woraus die gesamte Arithmetik durch sorgfältige Ableitungen, die von der
Logik genehmigt werden, herleitbar ist. In diesem Sinne hätte Freges zentrale Fra-
ge vor seinen logischen Entdeckungen, nicht nur nicht beantwortet, sie hätte noch
nicht einmal gestellt werden können.
Wir haben gerade gesehen, dass eine erfolgreiche Ausführung des logizistischen
Programms zu einer größeren Klarheit über die Grundlagen der Arithmetik füh-
ren würde. Frege betont insbesondere, dass diese Zurückführung der Arithmetik
auf die Logik zeigen würde, dass die Begründung der Arithmetik keinerlei Bezug
zur Psychologie bedarf. Dies setzt natürlich voraus, dass die Logik, auf die die
Arithmetik vermeintlich vollständig zurückgeführt werden kann, nicht selbst von
irgendwelchen psychologischen Prinzipien abhängt. Frege besteht darauf, dass dies
tatsächlich der Fall ist: Die Logik ist die Wissenschaft der wahrheitserhaltenden
Schlüsse und zu denken, dass sie sich eventuell auf die Psychologie beziehen muss,
ist ganz einfach ein Missverständnis des Wortes „‚wahr‘, das jeden Bezug zu einem
wissenden Subjekt ausschließt.“11
Freges Antwort bringt deutlich zum Vorschein, dass die philosophische Erkennt-
nis, die von einer erfolgreichen, logizistischen Zurückführung erwartet werden
kann, von der Auffassung der Logik abhängt: Die Zurückführung der Arithmetik
auf die Logik wandelt die Fragen, die in Kap. 1 angesprochen wurden, in Fragen
über die Logik um. Wenn die Logik einfach ein weiterer Forschungszweig wäre,
würde man denken, dass diese mit nicht weniger Härte auch an sie gestellt werden
könnten. Aber Frege stellt sich die Logik so nicht vor. Obwohl die Logik mit der-

10
Siehe besonders Teil I seiner Grundlagen (Frege 1884).
11
Logik (1897), unveröffentlicht, nachgedruckt in Frege et al. (1969, S. 137–163).
2 Logizismus 17

selben Systematik und Sorgfalt wie jede andere Wissenschaft betrieben wird, steht
sie nicht auf derselben Stufe der Allgemeinheit wie die anderen. Sie untersucht
nicht, wie die anderen Disziplinen, einen spezifischen Gegenstandsbereich oder be-
stimmte Phänomene und sucht nach Wahrheiten hierüber. Ihr Fokus liegt vielmehr
auf der Wahrheit im Allgemeinen: Die Logik strebt keine Definition des Prädikates
‚wahr‘ an (wovon Frege glaubt, dass es unmöglich sei), aber sie strebt die Bestim-
mung der Bedingungen an, unter denen Wahrheit von Proposition zu Proposition
übertragen wird. Die Gesetze der Logik regeln alles rationale Denken, ungeachtet
seines besonderen Inhalts: Die Logik „[missachtet] die besonderen Charakteristika
von Gegenständen, [und] hängt ausschließlich von denjenigen Gesetzen ab, auf
denen alles Wissen basiert“.12 Die Gesetze der Logik sind das, was es möglich
macht, einen Satz von einem anderen abzuleiten oder eine Behauptung durch die
Berufung auf eine andere zu rechtfertigen. Folglich wäre die Forderung nach einer
allgemeinen Begründung der Logik selbst irgendwie unangebracht. Zu argumentie-
ren heißt, sich auf bestimmte Formen der Argumentation zu verlassen, was bereits
die Akzeptanz eines logischen Systems voraussetzt. Eine Begründung der Logik
anzugeben sei, wie Frege sagt, „urtheilen, ohne zu urtheilen, den Pelz waschen,
ohne ihn nass zu machen.“13 Damit würde sich eine logizistische Rückführung, in
dem Sinne wie Frege sie beabsichtigt, von den Fragen über die Begründung der
Mathematik im Allgemeinen verabschieden.
Es gibt weitere Punkte, die dafür sorgen, dass der Logizismus einige der rät-
selhaften Fragen über die Mathematik, die wir in Kap. 1 angesprochen haben,
klärt. Wir haben gesehen, dass man sich schnell fragen kann, wie das arithme-
tische Wissen einzig durch Nachdenken erworben werden kann. Wie kann man,
nur indem man denkt, etwas über die natürlichen Zahlen herausfinden? Aber wenn
der Logizismus korrekt ist, dann ist eine arithmetische Wahrheit letztendlich ei-
ne logische Wahrheit, also eine Wahrheit über die Regeln des rationalen Denkens.
Und vielleicht steckt dann gar nicht so viel Schwierigkeit darin zu sehen, wie die
arithmetischen Wahrheiten für das reine Denken erreichbar sein könnten: Diese
Wahrheiten betreffen dem Logizismus nach die Gesetze, die das Funktionieren des
Denkens bestimmen und keinen davon getrennten Bereich. „Wir beschäftigen uns in
der Arithmetik“ sagt Frege, „mit Gegenständen, die uns nicht als etwas Fremdes von
aussen durch Vermittelung der Sinne bekannt werden, sondern die unmittelbar der
Vernunft gegeben sind, welche sie als ihr Eigenstes völlig durchschauen kann.“14
Wir brachten auch die rätselhafte Frage zur Anwendbarkeit der Mathematik auf.
Aber wenn Mathematik Logik ist und Logik die allgemeinste aller Disziplinen, die-
jenige, die unabhängig vom Inhalt das gesamte rationale Denken betrifft, dann ist
es nicht verwunderlich, dass die Mathematik so breit anwendbar ist.
Frege meint, dass eine erfolgreiche Zurückführung nicht nur von philosophi-
schem Wert wäre, sondern auch von mathematischem. Der mathematische Wert
bestünde im Wesentlichen aus zwei Teilen. Erstens würde eine solche Zurückfüh-

12
Begriffsschrift (Frege 1879, S. 5).
13
Frege (1884, S. 41).
14
Frege (1884, S. 104).
18 2 Logizismus

rung die Beziehungen der logischen Abhängigkeit zwischen den arithmetischen


Wahrheiten vollständig und klar offenlegen. Zum Beispiel könnte es passieren,
dass wir sehen, dass ein Satz, von dem wir dachten, dass er von einer Ansamm-
lung von Hypothesen abhängt, eigentlich von einer echten Teilmenge abhängt: Eine
oder mehrere der Hypothesen spielen eventuell gar keine Rolle für die Begründung
der Wahrheit des Satzes. Oder man könnte erkennen, dass eine Ansammlung von
Hypothesen, von der wir dachten, dass sie für die Wahrheit einer Behauptung hin-
reichend ist, tatsächlich nicht hinreichend ist. Solche Situationen würden durch eine
Zurückführung mithilfe von Freges System der Logik herausgestellt, und deren Ent-
deckung dürfte als mathematischer Fortschritt zählen.
Es gibt einen zweiten Punkt, wonach Frege denkt, dass eine erfolgreiche Zurück-
führung von mathematischem Wert wäre. Das logizistische Programm würde nicht
nur Klarheit über die logischen Beziehungen zwischen den Behauptungen bringen,
sondern es würde auch zu einem größeren Verständnis der mathematischen Begriffe
führen, die der Inhalt dieser Behauptungen sind. Wie immer ist Frege hier nicht an
psychologischen Dingen interessiert: Da er sich gerade nicht damit befasst, wie wir
dazu kommen, arithmetische Wahrheiten zu erkennen oder zu entdecken, sondern
vielmehr die Begründungsbeziehungen untersucht, die zwischen ihnen gelten, gilt
sein Interesse nicht den psychologischen, biologischen oder physikalischen Vorbe-
dingungen, um tatsächlich zu den Begriffen zu gelangen. Er betrachtet stattdessen
die Begriffe selbst und deren Anordnung, die sie unabhängig von uns und unseren
Überzeugungen besitzen. Die Begriffe der Arithmetik weisen insbesondere einen
extremen Reichtum und einen „feineren Bau . . . als [die] meisten Begriffe andrer
Wissenschaften“15 auf, dessen Analyse schwierig sein kann und doch notwendig
für den mathematischen Fortschritt. „Durch grosse geistige Arbeit“, macht Frege
klar, „die Jahrhunderte hindurch andauern kann, gelingt es oft erst, einen Begriff in
seiner Reinheit zu erkennen, ihn aus den fremden Umhüllungen herauszuschälen,
die ihn dem geistigen Auge verbargen.“16 Das Ergebnis einer solchen Anstrengung
kann die Erweiterung des mathematischen Wissens und allgemein ein vertieftes
Verständnis von dem sein, was wir wissen.
Nun, ebenso wie Freges Idee der Begründungsabhängigkeit zwischen Wahrhei-
ten eng an seine Vorstellung der Logik gebunden ist, ist es auch seine Idee eines
Begriffs. Begriffe sind für Frege die ontologischen Gegenstücke der prädikativen
Ausdrücke. Das Wort Name benutzen wir für alle Ausdrücke wie Eigennamen (zum
Beispiel „Frege“) und bestimmte Beschreibungen (zum Beispiel „der Mann, der die
Begriffsschrift schrieb“). Wir nennen das, worauf sich die Namen beziehen, genau
wie Frege, Gegenstände. Wenn ein Name aus einem Aussagesatz entfernt wird, ist
das Ergebnis ein prädikativer Ausdruck, der einen Begriff bezeichnet; Begriffe sind
einfach das, was prädikative Ausdrücke bezeichnen. Zum Beispiel, wenn wir den
Namen „Kant“ aus folgendem Satz entfernen:
(1) Kant wurde vor Frege geboren,

15
Frege (1884, S. iv).
16
Frege (1884, S. 8).
2 Logizismus 19

erhalten wir das Prädikat „ wurde vor Frege geboren.“ Dieses Prädikat ist für ei-
nige Gegenstände wahr (wie für Plato) und für andere falsch (wie für Frege). Wir
sagen, dass die Gegenstände, für die das Prädikat wahr ist, unter den Begriff fal-
len, den das Prädikat bezeichnet. Wir können aus (1) auch einen anderen Namen
entfernen und erhalten ein anderes Prädikat; zum Beispiel könnten wir stattdessen
das Prädikat „Kant wurde vor geboren“ formen. Dies ist ein weiteres einstelli-
ges Prädikat, weil es durch das Entfernen eines einzelnen Namens gebildet wurde.
Begriffe, die durch solche Prädikate bezeichnet werden, können als Eigenschaf-
ten von Gegenständen angesehen werden; der Begriff, der dem Prädikat „ wurde
vor Frege geboren“ entspricht, ist beispielsweise einfach die Eigenschaft, vor Frege
geboren worden zu sein. Außerdem können wir jede beliebige Anzahl an Namen
entfernen und dadurch Prädikate mit verschiedener Anzahl von Argumentstellen
bilden; zum Beispiel können wir aus (1) das zweistellige Prädikat „ wurde vor
geboren.“ bilden. Dieses bezeichnet ebenfalls einen Begriff, und zwar einen,
unter den Gegenstandpaare (wie hPlato, Wittgensteini) fallen. Solche zweistelligen
Begriffe werden auch Relationen genannt.
Bevor wir uns Freges Untersuchung der Arithmetik zuwenden, sind drei weite-
re Beobachtungen über Begriffe an der Reihe. Erstens ist ein Begriff einfach das,
was durch einen Ausdruck bezeichnet wird, welcher gebildet wurde, indem ein
Name aus einem Satz entfernt wurde; deswegen sind Begriffe von Gegenständen
verschieden, weil Erstere von Natur aus unvollständig sind. Im Unterschied zu Ge-
genständen enthalten Begriffe eine Lücke, die eine Ergänzung erfordert, so wie eine
Funktion immer einen Argumentplatz mit sich trägt, der gefüllt werden muss, be-
vor sich ein Wert ergibt. Tatsächlich sieht Frege Begriffe schlicht als Funktionen
von Gegenständen (oder von Gegenstandpaaren und so weiter) auf Wahrheitswerte
an – von denen gibt es zwei: wahr und falsch.17 Beispielsweise ergibt der Begriff,
der durch „ ist deutsch“ bezeichnet wird, wenn er Frege als Argument bekommt,
den Wahrheitswert wahr, aber wenn er Hume bekommt, dann ergibt sich der Wert
falsch. In der Mathematik werden Funktionen teilweise mit dem identifiziert, was
Frege als Gegenstände betrachten würde. Zum Beispiel könnte die reelle Funk-
tion f .x/ D x 2 für manche Zwecke als die Menge fhx; x 2 i W x ist eine reelle
Zahlg18 angesehen werden. (Wir werden über diese Identifikation in Kap. 3 mehr
sagen.) Frege würde jedoch darauf bestehen, dass wir genau zwischen dem Begriff
F und der Menge von Gegenständen, die unter F fallen, unterscheiden müssen.
Diese Menge nennt er den Umfang des Begriffs; dieser ist ein Gegenstand, was da-
durch klar wird, dass wir einen Namen („der Umfang des Begriffs F “) benutzen,
um uns darauf zu beziehen.19 Obwohl F und sein Umfang eng miteinander ver-
bunden sind, können sie nicht identifiziert werden. Auch wenn sich herausstellen

17
Siehe Funktion und Begriff (Frege 1891).
18
Anm. d. Übers.: Wir schreiben hier Paare und Tupel wie im englischen Original in spitzen
Klammern. Im Deutschen werden hierfür teilweise auch runde Klammern verwendet.
19
Der Leser mag sich fragen, ob Frege mit dieser Definition der Begrifflichkeit behaupten muss,
dass „der Begriff, der durch ‚ ist deutsch‘ bezeichnet wird“ nicht eigentlich einen Begriff be-
zeichnet. Tatsächlich ist dies genau die Schlussfolgerung, die er zieht. Dem Anschein entgegen
enthält das Objekt, das dieser Ausdruck bezeichnet, keine Lücke in der Art wie das Objekt, das
20 2 Logizismus

sollte, dass nur ein einziger Gegenstand unter einen Begriff fällt, müssen wir im-
mer noch zwischen dem Begriff, unter den der Gegenstand fällt, und dem Umfang
dieses Begriffs, welcher eine Menge ist, die nur den einen Gegenstand enthält, un-
terscheiden. Beispielsweise fällt nur ein Gegenstand unter den Begriff, der durch
„ ist ein himmlischer Körper, der die Erde umkreist“ bezeichnet wird, dennoch
müssen die zwei klar unterschieden werden: Der Begriff ist ein unvollständiges Ob-
jekt, wobei der Mond ein vollständiges Objekt ist. Und beide müssen wiederum von
dem Umfang des Begriffs, d. h. von der Menge, die als einziges Element den Mond
enthält, unterschieden werden: Diese Menge ist nicht identisch zu ihrem einzigen
Element, und weil sie ein Gegenstand ist, ist sie genauso wenig identisch zu dem
Begriff, von dem sie der Umfang ist.
Zweitens können wir nun einige Worte zur Klärung unserer früheren Bemer-
kung verlieren, dass Freges Idee eines Begriffs untrennbar mit seiner Vorstellung
der Logik verknüpft ist. Frege ist der Meinung, dass Sätze in Namen und Prädikate
zerlegt werden sollten, weil genau mit dieser Analyse eine Erklärung der Folge-
rungsbeziehungen zwischen Sätzen gegeben werden kann. Freges Hervorhebung
der Bedeutung von Gegenstand und Begriff beruht darauf, dass sie die ontologi-
schen Gegenstücke dieser Art Ausdrücke sind: Ein Gegenstand wird durch einen
Namen bezeichnet und ein Begriff durch ein Prädikat. Einer von Freges größten
Beiträgen ist seine Erkenntnis, dass nur, wenn wir einen Satz in Namen und Prädi-
kate zerlegen, die Schlüsse erklärt werden können, in denen der Satz auftaucht. Um
beispielsweise zu sehen, warum (1) Folgendes nach sich zieht,
(2) Jemand wurde vor Frege geboren,
oder warum (1) eine Folgerung von
(3) Kant wurde vor jemandem geboren,
ist, müssen wir zuerst erkennen, dass beide Sätze (1) und (2) aus dem Prädikat „
wurde vor Frege geboren“ gebildet werden können (und dass der Schluss von (1)
auf (2) eine Instanz existenzieller Generalisierung ist) und dass die Sätze (1) und (3)
aus dem Prädikat „Kant wurde vor geboren“ aufgebaut sind (um zu sehen, dass
der Schluss von (3) auf (1) eine Anwendung von universeller Spezialisierung ist).
Die Zerlegung von Sätzen in Prädikate, die Begriffe bezeichnen, hat zum Ziel, die
Folgerungsbeziehungen zwischen ihnen darzustellen.20 Wenn wir diese Idee eines
Begriffs im Blick behalten, können wir erkennen, warum Frege meint, dass wir
durch eine logische Zurückführung der Arithmetik etwas über die Begriffe, die in
den arithmetischen Wahrheiten enthalten sind, lernen müssen.
Schließlich stellen wir noch fest, dass die Begriffe, die bis hierher betrachtet
wurden, allesamt solche sind, unter die Gegenstände fallen können; diese Begriffe
nennen wir Begriffe erster Stufe. Wir haben gesehen, dass ein erststufiger Begriff
durch einen Ausdruck bezeichnet wird, der durch das Entfernen eines Namens aus

durch „ ist deutsch“ bezeichnet wird; das erste Objekt, anders als das zweite, kann nichts als
Argument bekommen. Für weitere Diskussion, siehe Über Begriff und Gegenstand (Frege 1892).
20
Siehe beispielsweise Frege (1879, §9).
2 Logizismus 21

einem Aussagesatz erhalten wurde. Solch einen Ausdruck nennen wir ein Prädi-
kat erster Stufe: Es ist ein Prädikat mit einer Lücke, in die ein Name eingesetzt
werden kann. In erststufiger Quantorenlogik beschränkt man sich auf solche erst-
stufigen Prädikate; darin ist ausschließlich Quantifikation über Gegenstände erlaubt.
Beginnen wir mit einem vollständigen Satz, können wir aber nicht nur einen Na-
men, sondern auch ein erststufiges Prädikat entfernen. Der erhaltene, unvollständige
Ausdruck ist ein zweitstufiges Prädikat; es bezeichnet einen Begriff zweiter Stufe,
unter den Begriffe erster Stufe fallen können. Wir können die Begriffe zweiter Stu-
fe als Eigenschaften von Eigenschaften von Gegenständen ansehen. So kann man
weitergehend auch Prädikate und Begriffe höherer Stufen definieren. Für Frege ist
die Logik nicht nur erststufig: Sie enthält Prädikate höherer Stufen und auch Quan-
tifikation über Begriffe höherer Stufen. In Freges Logik kann man nicht nur über
Gegenstände quantifizieren, sondern auch über Begriffe erster Stufe, Begriffe zwei-
ter Stufe und so weiter. Betrachten wir beispielsweise folgende Aussage:
(4) Alle Hunde sind Säugetiere.
Der logische Aufbau dieses Satzes ist:
(5) 8x.x ist ein Hund ! x ist ein Säugetier).
Wenn wir das erststufige Prädikat „ ist ein Hund“ wegnehmen, erhalten wir
(6) 8x.: : :x: : : ! x ist ein Säugetier).
Dies ist ein zweitstufiges Prädikat. Abhängig von dem erststufigen Prädikat, das wir
benutzen, um diese Lücke zu füllen, erhält man einen wahren oder einen falschen
Satz. Wenn wir beispielsweise das erststufige Prädikat „ ist ein Delfin“ einsetzen,
erhalten wir einen wahren Satz, und zwar „8x.x ist ein Delfin ! x ist ein Säuge-
tier)“. Wenn wir „Frege schrieb “ einsetzen, erhalten wir einen falschen Satz, und
zwar „8x.Frege schrieb x ! x ist ein Säugetier)“.21 Damit ist (6) ein Prädikat, das
einen Begriff zweiter Stufe bezeichnet, also einen, unter den Begriffe erster Stufe
fallen.
Mit diesen Überlegungen wird klar, dass eine Existenzbehauptung ebenfalls
einen zweitstufigen Begriff beinhaltet. Wir erhalten einen Existenzquantor, indem
wir mit einer Existenzbehauptung beginnen – zum Beispiel „Etwas ist ein schwar-
zes Loch“ – und ein erstufiges Prädikat wegnehmen, in diesem Fall „ ist ein
schwarzes Loch“. Der Existenzquantor „Es gibt mindestens ein x, sodass : : :x: : :“
kann nun als zweitstufiges Prädikat gesehen werden; dieses Prädikat ist für genau
die erststufigen Begriffe wahr, unter die mindestens ein Gegenstand fällt (beispiels-
weise der Begriff, der durch „ ist ein Philosoph“ bezeichnet wird“). Den Beitrag
eines Quantors zu den Wahrheitsbedingungen der Sätze, in denen er vorkommt,
kann nicht hinreichend erklärt werden, wenn er als etwas anderes als ein zweitstufi-
ges Prädikat behandelt wird, beispielsweise als ein Name. Dies zu tun, würde eine

21
Nachdem wir „ ist ein Hund“ von (5) weggenommen haben, bleibt eine gebundene Variable
übrig, da die Variable nicht Teil des Prädikats ist. Wenn wir ein erststufiges Prädikat in (6) einset-
zen, füllt diese Variable die Lücke des Prädikats, unabhängig davon, wo sich die Lücke befindet.
22 2 Logizismus

Darstellung von Quantoren durchkreuzen, die ihre Funktionsweise in logischen


Schlüssen genau erklärt.
Wir sind nun imstande Freges Analyse der natürlichen Zahlen zu untersuchen.
Frege bemerkt, dass Zahlwörter („ein/e“, „zwei“ und so weiter) häufig als Adjek-
tive auftauchen, wie zum Beispiel, wenn wir sagen, dass es zehn biblische Plagen
gibt. Solche Behauptungen scheinen eine Eigenschaft zuzuschreiben – aber eine Ei-
genschaft wovon? Die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen „Die biblischen Plagen
sind tödlich“ – dabei wird jeder der Plagen die Eigenschaft tödlich zu sein zuge-
schrieben – und „Die biblischen Plagen sind zehn“ suggeriert, dass die Eigenschaft
den Gegenständen zugeschrieben werden könnte, den Plagen selbst. Das kann je-
doch nicht korrekt sein: Eine Heuschreckenplage kann zwar tödlich sein, aber es
ergibt keinen Sinn zu sagen, die Plage sei zehn.
Frege argumentiert, dass ein Zahladjektiv, wie es in „Es gibt zehn biblische Pla-
gen“ vorkommt, Teil eines Prädikates zweiter Stufe ist, das eine Ergänzung durch
ein erststufiges Prädikat benötigt, in diesem Fall „ ist eine biblische Plage“.22
Dieses zweitstufige Prädikat ist daher vom selben Typ wie der Existenzquantor,
und wir kennzeichnen dies, indem wir dieses Prädikat einen Zahlquantor nennen,
den wir auch als „Es gibt genau 10 x, sodass : : :x: : :“ schreiben können. Der Be-
griff zehn an der Zahl zu sein, ist deswegen tatsächlich ein zweitstufiger Begriff,
unter den erststufige Begriffe fallen können (so wie biblisches Gebot, aber nicht
U.S.-Präsident).23 Frege war der Erste, der diesen logischen Aufbau zweitstufiger
Begriffe, der zu der adjektivischen Verwendung von Zahlwörtern passt, deutlich
machte. Seine Definition der Zahlquantoren ist rekursiv, d. h., sie wird in einzelnen
Schritten angegeben, wobei sich jeder Schritt auf den vorhergehenden bezieht:24
(7a) 90 xF x („Es gibt keine F s“) steht für :9xF x,
(7b) 9nC1 xF x („Es gibt genau n C 1 F s“) steht für 9x.F x ^ 9n y.F y ^ x ¤ y//.
Zum Beispiel besitzt der Satz
(8) „Es gibt genau zwei Könige“
den logischen Aufbau
(9a) 92 x.x ist ein König).
Wenden wir (7b) mit n D 1 an, erhalten wir, dass dies wiederum für
(9b) 9x.x ist ein König ^91 y.y ist ein König ^x ¤ y//
steht. Eine weitere Anwendung von (7b), dieses Mal mit n D 0, erzeugt
(9c) 9x.x ist ein König ^9y.y ist ein König ^x ¤ y ^
90 z.z ist ein König ^x ¤ z ^ y ¤ z///.

22
Für Freges Darstellung, siehe Frege (1884, §51–53).
23
Als Konvention schreiben wir teilweise „biblisches Gebot“, wenn wir über den Begriff, der
durch „ ist ein biblisches Gebot“ bezeichnet wird, sprechen; analog für andere Begriffe.
24
Siehe Frege (1884, §55).
2 Logizismus 23

Schließlich können wir die Klausel (7a) anwenden und erhalten eine vollständige,
logische Analyse von (8):
(9d) 9x.x ist ein König ^9y.y ist ein König ^x ¤ y ^
:9z.z ist ein König ^x ¤ z ^ y ¤ z///.
Dies ist logisch äquivalent zu
(10) 9x9y.x ist ein König ^y ist ein König ^x ¤ y ^
8z.z ist ein König ! z D x _ z D y///,
was vielleicht etwas verständlicher ist. Wenn wir aus (10) jedes Auftreten des Prä-
dikates „ ist ein König“ wegnehmen, erhalten wir einen Zahlquantor: einen prä-
dikativen Ausdruck, der einen Begriff zweiter Stufe bezeichnet. Unter diesen Be-
griff, zwei an der Zahl, fallen einige erststufige Begriffe (zum Beispiel Spieler im
Schach), aber andere nicht (zum Beispiel Einwohner von Amherst). Er kann als Ei-
genschaft angesehen werden, nicht von Gegenständen, aber von Eigenschaften von
Gegenständen: Es ist die Eigenschaft, die alle Eigenschaften besitzen, die auf ge-
nau zwei Gegenstände zutreffen. Freges rekursive Definition (7) erlaubt uns, in der
Sprache der Logik für jedes n den vollständigen Aufbau des Zahlquantors „Es gibt
genau n x, sodass : : :x: : :“ zu artikulieren.
Weiterhin ermöglicht uns Freges Analyse nicht nur den logischen Aufbau von
Behauptungen über Zahlen zu erkennen, sondern ebenfalls unter ausschließlicher
Verwendung logischer Mittel arithmetische Wahrheiten herzuleiten. Beispielsweise
kann der Leser überprüfen, dass die folgende Aussage mit den üblichen Gesetzen
der Logik herleitbar ist:

Œ95 xF x ^ 97 xGx ^ :9x.F x ^ Gx/ ! 912 x.F x _ Gx/:

Da diese Aussage intuitiv ausdrückt, dass 5 C 7 D 12, sehen wir, dass diese Gleich-
heit in diesem Sinne eine logische Wahrheit ist.
Zählt diese Definition der Zahlquantoren nun als logizistische Zurückführung
der Arithmetik? Frege argumentiert dagegen, weil dieses Vorgehen nicht ausreicht,
um den Inhalt von Behauptungen wie
(11) Die Anzahl der biblischen Plagen ist gleich der Anzahl der biblischen Gebote
auszudrücken. Zwar fallen beide Begriffe biblische Plage und biblisches Gebot un-
ter denselben zweitstufigen Begriff, der durch den Zahlquantor „Es gibt genau 10x,
sodass : : :x: : :“ bezeichnet wird, und folglich ist es wahr, dass es einen zweitstufi-
gen Begriff gibt, unter den sie beide fallen. (Dies kann nicht in erststufiger Logik
ausgedrückt werden, in Freges logischem System jedoch schon, da es, wie oben
bemerkt, Quantifikation über Begriffe höherer Stufe erlaubt.) Aber diese Folgerung
entspricht nicht dem Inhalt von (11): Schließlich fallen zwei erststufige Begriffe,
unter die irgendwelche Gegenstände fallen – und nicht notwendigerweise dieselbe
Anzahl der Gegenstände –, immer beide unter irgendeinen zweitstufigen Begriff,
beispielsweise unter den der Existenz.
24 2 Logizismus

Wir könnten natürlich sagen, dass es genau zehn biblische Plagen und genau
zehn biblische Gebote gibt:
(12) 910 x.x ist eine biblische Plage) ^910 x.x ist ein biblisches Gebot).
Das erfasst aber nicht genau die in (11) ausgedrückte Gleichheit der Zahlen. Man
könnte sagen, dass (12) zeigt, dass diese Gleichheit gilt, aber dass (12) es nicht
schafft, dies zu sagen.
Die Gleichheit in (11) kann auch als die Behauptung angesehen werden, dass es
eine Zahl gibt, die gleichzeitig die Anzahl der biblischen Plagen und die Anzahl der
biblischen Gebote ist:
(13) 9n.n D Anzahl der biblischen Plagen ^ n D Anzahl der biblischen Gebote).
Nun besteht eine große Versuchung „910 x.x ist eine biblische Plage)“ als „10 D
die Anzahl der biblischen Plagen“ zu lesen. Wenn wir uns diese Lesart erlauben,
könnten wir (13) ausdrücken und damit unseren ursprünglichen Satz (11), indem
wir (12) existenziell abquantifizieren:
(14) 9n.9n x.x ist eine biblische Plage) ^ 9n x.x ist ein biblisches Gebot)).
Das Problem ist, dass wir keine Möglichkeit haben, diese Aussage zu verstehen,
wenn wir die Definition des Zahlquantors aus (7) benutzen. Wenn der Ausdruck
„910 x.x ist eine biblische Plage)“ durch seine Definition ersetzt wird, verschwindet
das Zahlzeichen „10“, und deshalb gibt es gar keine Position, über die der äußerste
Quantor aus (14) quantifizieren könnte. Dieser Versuchung sollten wir also nicht
nachgeben: Die in (7) verwendete Notation suggeriert, dass wir einen komplexen
Ausdruck „910 “ definiert haben, dessen einer Bestandteil das Zahlzeichen „10“ ist.
Wenn wir aber die logische Darstellung näher betrachten, sehen wir, dass dies nicht
der Fall ist, und dass der indizierte Quantor als ein zusammenhängendes, logisches
Zeichen behandelt werden muss. In (7) werden die Ausdrücke „90 x“, „91 x“, „92 x“
und so weiter definiert, aber es wird nicht „9n x“ definiert, wobei n eine Variable
ist.
Frege sagt, dass (7) uns nicht ermöglicht, (11) auszudrücken, weil in (11) Zah-
len als Gegenstände behandelt werden, während das in (7), dem ersten Anschein
entgegen, nicht geschieht. Für Frege ist (7) keine zufriedenstellende Definition der
Zahl, weil die natürlichen Zahlen in dieser Definition nicht als Gegenstände charak-
terisiert werden. Im täglichen Leben, und insbesondere in der Mathematik, bezieht
man sich mithilfe von Namen auf Zahlen, entweder beschreibend (zum Beispiel
„die Anzahl der Kreuzkarten in einem Kartenspiel“) oder indem kanonische Eigen-
namen verwendet werden (zum Beispiel „13“). Der Mathematiker denkt und spricht
über Zahlen üblicherweise so, als wenn sie individuelle Gegenstände wären, Zahl-
gegenstände mit individuellen Eigenschaften. Frege sagt, dass dies ein Argument
ist, Zahlen als „selbständige, wiedererkennbare Gegenstände“25 zu behandeln, und

25
Frege (1884, §56).
2 Logizismus 25

er ist der Meinung, dass jede zufriedenstellende Zurückführung der Arithmetik auf
die Logik genau erklären müsste, was diese Gegenstände seien.26
Aus diesem Grund schlägt Frege vor, dass wir, bevor wir irgendeine Definiti-
on angeben, den Satz „Es gibt genau 10 biblische Plagen“ so umformulieren, dass
die gegenständliche Natur der Zahl klar wird. Wir beginnen hierfür mit der Be-
merkung, dass die Bedeutung dieser Aussage dieselbe ist wie die Bedeutung von
„Die Anzahl der biblischen Plagen ist 10“, wobei das „ist“ nicht für eine Prädikat-
zuschreibung, sondern für eine Gleichheitsbehauptung steht. „Die Anzahl der F s“
besitzt die Form eines Namens und damit die richtige Form, um einen Gegenstand
zu bezeichnen. Der Aufbau ist genauer: Die Anzahl der x, sodass F x. Wir können
weiterhin „die Anzahl der x, sodass : : :x: : :“ als einen funktionalen Ausdruck anse-
hen, sodass, wenn wir ein erststufiges Prädikat einsetzen, ein Name herauskommt.
Unsere Aufgabe ist es nun, eine logische Analyse der Bedeutung dieses strukturell
komplexen Ausdrucks anzugeben. Aber wie gehen wir dafür vor?
Dieser Weg, den Frege hier geht, entspricht stark der Philosophie des zwan-
zigsten Jahrhunderts: Er formte eine Frage über die Natur spezieller Objekte –
in diesem Fall über die natürlichen Zahlen, als Gegenstände angesehen – in eine
Frage über die Bedeutung spezieller Ausdrücke um – in diesem Fall die Namen
der Form „die Anzahl der F s“. Freges Antwort auf diese Frage beruht auf einem
Ansatz, der die auf ihn folgenden Überlegungen über Sprache dominieren sollte.
Denn Frege schlug vor, dass wir die Bedeutung dieser Ausdrücke nicht für sich ge-
nommen untersuchen sollten. Jegliche isolierte Untersuchung der Bedeutung eines
Ausdrucks ist durch die Gefahr belastet, dass seine Bedeutung mit den mentalen
Bildern identifiziert wird, die der Ausdruck in uns heraufbeschwören mag; da-
her werden viele Leute, wenn sie nach der Bedeutung von, sagen wir, dem Wort
„Hund“, gefragt werden, über die Bilder sprechen, die ihnen in den Sinn kommen.
Durch eine solche Gleichsetzung riskiert man, sich auf die Art psychologische Spe-
kulation einzulassen, bezüglich der Frege sagt, dass sie hier gänzlich irrelevant sei.
Noch tiefgehender meint Frege, dass in einem solchen Vorgehen die Bedeutung ei-
nes Ausdrucks missverstanden würde. Nach ihm ist die grundlegende Einheit der
Bedeutung die des ganzen Satzes. Nur durch einen vollständigen Satz kann man
einen Gedanken ausdrücken. Aus diesem Grund besteht er darauf, dass es weiter
nichts über die Bedeutung eines Ausdrucks zu sagen gibt, als dass man angibt, wie

26
Beide Teile der Konjunktion in (12) enthalten als einen Bestandteil den zweitstufigen Zahlquan-
tor „Es gibt genau 10 x, sodass : : :x: : :“. Für Frege ist es daher möglich, in diese Prädikatposition
einen drittstufigen Ausdruck hineinzuquantifizieren. Angenommen, dass „M—“ ein drittstufiges
Prädikat ist, welches für genau alle zweitstufigen Begriffe wahr ist, die durch einen Zahlquantor
bezeichnet werden. Dann könnte Frege (12) ausdrücken, indem er sagt, dass es einen zweitstufigen
Begriff gibt, für den „M—“ wahr ist und unter den beide Begriffe biblische Plage und biblisches
Gebot fallen. Dieser Ansatz gibt Frege jedoch keine Erklärung für Zahlen als Gegenstände, et-
was, worauf er besteht. Unten werden wir einen strukturelleren Grund sehen, der erklärt, warum
es für Frege so wichtig ist, dass Zahlen Gegenstände sind. Für eine sehr sinnvolle Besprechung
hiervon und über viele andere Aspekte von Freges Arbeit zur Mathematik siehe Dummett (1991,
insbesondere S. 131–134).
26 2 Logizismus

er zu der Bedeutung der Sätze beiträgt, in denen er vorkommt. Wir sollten hier
bemerken, dass es irreführend wäre, Freges Vorgehen als eine indirekte Analyse
der Bedeutung eines Ausdrucks zu charakterisieren. Dies könnte den Gedanken er-
wecken, dass es etwas gibt, die Bedeutung eines Ausdrucks, was aus irgendeinem
Grunde nicht für eine direkte Bestimmung verfügbar ist. Aber für Frege ist eine
Erklärung davon, wie ein Ausdruck zur Bedeutung vollständiger Sätze beiträgt, in
denen er vorkommt, bereits eine direkte und erschöpfende Erklärung der Bedeu-
tung eines Ausdrucks. Durch diese Schwerpunktlegung auf den Vorrang des Satzes
stellte Frege die Weichen für viele der Überlegungen in der Sprachphilosophie des
zwanzigsten Jahrhunderts.
Ein sofortiges Problem, das in einem solchen Vorgehen auftaucht, ist, dass je-
der Ausdruck Teil von unendlich vielen Sätzen von ganz unterschiedlichem Aufbau
ist. Es ist nicht möglich, jeden dieser Sätze zu überprüfen, um herauszufinden, wie
der Ausdruck, um den es geht, zur Bedeutung jedes einzelnen Satzes beiträgt. Im
Falle der Namen, schlägt Frege vor, gibt es eine bestimmte Teilklasse von Sätzen,
die es insbesondere zu untersuchen gilt. Diese Sätze nennt Frege „Wiedererken-
nungssätze“27 ; das sind Gleichheitsaussagen, in denen auf einer der Seiten neben
dem Gleichheitszeichen die Art Name steht, dessen Bedeutung man versucht zu
bestimmen.28 In unserem Fall haben Wiedererkennungssätze folglich die Form
(15) Die Anzahl der F s D k,
wobei „k“ ein beliebiger Name ist. Wenn wir herausfinden wollen, was die Be-
deutung von Ausdrücken der Form „die Anzahl der F s“ ist, dann müssen wir die
Bedeutung von (15) erklären, um zu zeigen, wie das Auftreten von Ausdrücken
dieser Form zum Inhalt einer solchen Gleichheitsaussage beiträgt.
Bevor wir weitergehen, sollten wir ein paar Worte darüber verlieren, warum
Frege es für notwendig erachtet, insbesondere die Bedeutung der Wiedererken-
nungssätze zu untersuchen. Frege möchte, wie wir gesehen haben, eine Analyse
der natürlichen Zahlen angeben, in der diese als Gegenstände behandelt werden.
Wir können etwas nur als einen Gegenstand betrachten, wenn wir es im Prinzip von
anderen Gegenständen unterscheiden können. Für eine solche Unterscheidung müs-
sen wir fähig sein, es wiederzuerkennen. Denn, falls man unfähig ist zu erkennen,
wann man den Gegenstand o vor sich hat, dann kann man genauso wenig erken-
nen, ob man nicht ein anderes Objekt als o vor sich hat – und diese Unfähigkeit
verrät, dass man nicht über eine gegenständliche Beschreibung von o verfügt. Auf
die Sprache übertragen bedeutet diese Beobachtung, dass wir die Bedeutung eines
Ausdrucks, der ein echter Name ist, nur verstehen können, wenn wir die Bedeutung
der Wiedererkennungssätze, in denen der Ausdruck vorkommt, verstehen.
Frege beginnt, indem er vorerst nur Wiedererkennungssätze der Form
(16) Die Anzahl der F s D die Anzahl der Gs

27
Frege (1884, §62, 106).
28
Natürlich gibt es unendlich viele Wiedererkennungssätze, in denen ein gegebener Name vor-
kommt. Aber die Hoffnung ist, dass man allgemein herausfindet, wie der Ausdruck zur Bedeutung
all dieser Aussagen beiträgt.
2 Logizismus 27

betrachtet. Und seine Analyse dieser Gleichheit ergibt, dass sie zu folgender Aus-
sage äquivalent ist:
(17) Es existiert eine eineindeutige Zuordnung zwischen F und G,
d. h., es gibt eine Relation R, sodass jeder Gegenstand, der unter F fällt, durch R
einem eindeutigen Gegenstand, der unter G fällt, zugeordnet wird, und umgekehrt.
Wenn (17) gilt, dann sagen wir F und G sind gleichzahlig. Das ist eine zwingende
Schlussfolgerung: Es ist klar, dass die Anzahl der Männer in einem Raum genau
dann gleich der Anzahl der Frauen ist, wenn wir aus den Frauen und Männern auf
eine Art Paare bilden können, dass niemand übrig bleibt. Eine solche Zuordnung ist
eine Relation zwischen Gegenständen, und damit ist es eine Relation erster Stufe.
Die Existenz dieser erststufigen Relation mit den gewünschten Eigenschaften kann
mit den Mitteln der höherstufigen Logik artikuliert werden:

9RŒ8x.F x ! 91 y.Rxy ^ Gy// ^ 8y.Gy ! 91 x.Rxy ^ F x//:

Damit gehört diese Definition für Frege nach wie vor „der reinen Logik an.“29 Diese
Analyse ist keine explizite Definition von „die Anzahl der F s“, d. h., sie gibt keinen
Ausdruck an, der anstelle von „die Anzahl der F s“, wo auch immer er auftaucht,
eingesetzt werden kann (wie beispielsweise „weiblicher Fuchs“ für „Füchsin“ oder
„Fähe“). Stattdessen ist dies eine partielle, kontextbezogene Definition von „die
Anzahl der F s“: Sie zeigt, wie der Ausdruck in situ analysiert wird, indem ein
vollständiger Satz einer bestimmten Form, in dem der Ausdruck vorkommt, durch
einen anderen Satz, in dem der Ausdruck nicht mehr vorkommt, ersetzt werden
kann.
Wie wir gleich sehen werden, reicht die Analyse von (16) aus, um die Arithmetik
aus der Logik herzuleiten. Frege gibt jedoch zu bedenken, dass dies noch keine
vollständige Analyse aller Wiedererkennungssätze, die einen Ausdruck der Form
„die Anzahl der F s“ enthalten, liefert. Da (17), wie er feststellt, nur verwendet
werden kann, wenn die Namen auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens von der
Form „die Anzahl der F s“ sind, d. h., (17) kann auf Wiedererkennungssätze der
Form (16) angewendet werden, aber nicht auf allgemeinere Sätze der Form (15).
Um Freges Beispiel zu nehmen, sagt uns (17) nicht, wie die Aussage „Die Anzahl
der F s D Julius Cäsar“ ausgewertet werden soll. Natürlich wissen wir, dass diese
Aussage für jeden Begriff F falsch ist, aber, wie Frege deutlich macht, erkennen
wir dies nicht dank der Definition (17).
Diese Überlegung führt Frege schließlich dazu, eine explizite Definition von „die
Anzahl der F s“ anzugeben:
(18) Die Anzahl der F s D der Umfang des Begriffs gleichzahlig zu F .
Der Umfang eines solchen Begriffs ist eine Menge erststufiger Begriffe, nämlich
derjenigen, die gleichzahlig zu F sind. Zum Beispiel wird die Anzahl der Asse in
einem Kartenspiel mit der Menge derjenigen Begriffe gleichgesetzt, die gleichzah-
lig zu dem Begriff Ass in einem Kartenspiel sind, d. h., sie ist eine Begriffsmenge,

29
Frege (1884, S. 79).
28 2 Logizismus

die unter anderem die Begriffe Ass in einem Kartenspiel, Apokalyptischer Reiter,
Jahreszeit, Turm in einem Schachspiel und so weiter enthält, da zwischen jedem die-
ser Begriffe und Ass in einem Kartenspiel eine eineindeutige Zuordnung existiert.
Frege kann mit dieser expliziten Definition zeigen, dass (16) äquivalent zu (17) ist,
mit anderen Worten ist seine partielle, kontextbezogene Definition von „die Anzahl
der F s“ eine Folgerung seiner expliziten Definition (siehe Übung 2.2).30
Wir wollen uns für eine Bemerkung zu Freges definitorischem Mittel einen Mo-
ment Zeit nehmen. Die Relation der Gleichzahligkeit, die in (17) definiert wird,
hat die interessante Eigenschaft, dass sie eine Zerlegung des Begriffsuniversums
in verschiedene Zusammenfassungen zur Folge hat: Alle Begriffe, unter die genau
ein Gegenstand fällt, werden zusammengefasst; alle Begriffe, unter die genau zwei
Gegenstände fallen, werden zusammengefasst, und so weiter. Begriffe in derselben
Zusammenfassung sind gleichzahlig, während Begriffe verschiedener Zusammen-
fassungen nicht gleichzahlig sind. Da zwei Begriffe genau dann dieselbe Anzahl
haben, wenn sie gleichzahlig sind, können wir uns Freges Aufgabe so vorstellen,
dass er jeder dieser Zusammenfassungen eine einzelne Zahl zuordnen muss, um ei-
ne explizite Definition der Zahlen anzugeben. Seine Lösung ist in ihrer Einfachheit
brillant: Er definiert die Zahlen direkt als diese Zusammenfassungen!
Relationen, die solche Zerlegungen zur Folge haben, kommen in der Mathematik
häufig auf. Sie werden Äquivalenzrelationen genannt, und die Zusammenfassungen,
die durch sie entstehen, heißen Äquivalenzklassen. In Kap. 3 werden wir Äquiva-
lenzklassen ausführlicher behandeln, hier bemerken wir einfach, dass Frege einer
der Ersten war, der ihren Nutzen erkannte und sie selbstbewusst für seine Definition
verwendete. (Für einen Ausblick auf die Ideen, die hinter den Äquivalenzrelationen
stehen, siehe Übung 2.1.)
Trotz ihrer Wichtigkeit kommen im Zusammenhang mit Freges expliziter De-
finition (18) exegetische sowie begriffliche Fragen auf. Erstens ist unklar, warum
Frege, nachdem er die Vorzüge kontextbezogener Definitionen gepriesen hat, es für
nötig erachtet, zusätzlich eine explizite Definition von „die Anzahl der F s“ an-
zugeben. Außerdem, wenn er letztendlich eine explizite Definition angibt, warum,
könnte man fragen, bemüht er sich dann um eine solch lange Ausführung der kon-
texbezogenen Analyse? Vielleicht dachte Frege, dass der Umweg über die Analyse
von (16) durch (17) notwendig war, um die Grenzen einer expliziten Definition auf-
zuzeigen; vielleicht funktionierte das Erfassen der Äquivalenz von (16) und (17)
für Frege als Adäquatheitsbedingung für eine explizite Analyse von „die Anzahl
der F s“. Dies könnte erklären, warum Frege, unter der Annahme, dass er eine ex-
plizite Definition angeben wollte, dennoch von diesem Weg abkommt, um vorerst
eine partielle, kontextbezogene Definition von „die Anzahl der F s“ darzulegen.
Jedenfalls kommen wir damit wieder zu der ersten, exegetischen Frage zurück,
warum Frege es als notwendig erachtet, überhaupt eine explizite Definition anzu-
geben. Diese Frage wird verschärft durch die Tatsache, dass, nachdem die explizite
Definition benutzt wurde, um die Äquivalenz von (16) und (17) zu zeigen, sie nicht
länger verwendet wird: Der Rest der Zurückführung findet einzig auf Basis dieser

30
Frege (1884, §73).
2 Logizismus 29

Äquivalenz statt. Frege sagt, wir haben es gerade gesehen, dass wir die explizite De-
finition brauchen, um Wiedererkennungssätze, in denen nur ein Name die Form „die
Anzahl der F s“ hat, auszuwerten; mit der Äquivalenz von (16) und (17) könnten
wir den Wahrheitswert von, sagen wir, „Die Anzahl der Karten in einem Karten-
spiel ist gleich Julius Cäsar“ nicht bestimmen. Und unsere Unfähigkeit dies zu tun
würde unsere Behauptung untergraben, wir hätten eine gegenständliche Analyse der
natürlichen Zahlen gefunden.
Damit seine explizite Definition dieses Problem löst, muss Frege voraussetzen,
dass wir hingegen einen Wiedererkennungssatz, in dem nur ein Name die Form
„der Umfang von G“ hat, auswerten können. Wenn Frege nicht angenommen hätte,
dass wir den Wahrheitswert von, sagen wir, „Der Umfang des Begriffs, bezeich-
net durch ‚gleichzahlig zum Begriff Karte in einem Kartenspiel‘ ist gleich Julius
Cäsar“ auswerten können, dann wäre durch seine explizite Definition nichts ge-
wonnen. Dennoch sagt er an dieser Stelle lediglich: „[Wir] setzten . . . den Sinn des
Ausdruckes ‚Umfang des Begriffes‘ als bekannt voraus.“31 Dieses Fehlen einer Er-
klärung, wie Wiedererkennungssätze, die Ausdrücke der Form „der Umfang von G“
beinhalten, ausgewertet werden, könnte man als Lücke in Freges Theorie ansehen.
Und tatsächlich scheint Frege dies selbst so zu sehen, da er in seiner späteren Veröf-
fentlichung Grundgesetze der Arithmetik32 , in der er ansetzt, den Plan, den er in Die
Grundlagen der Arithmetik erarbeitet hat, im Detail auszuführen, zu diesem Thema
zurückkommt und versucht, diese Lücke zu füllen. Wir werden am Ende des Kapi-
tels mehr dazu sagen. Im Moment jedoch folgen wir Freges ursprünglichem Ansatz
und setzen voraus, dass Umfänge keiner weiteren Erklärung bedürfen. Insbeson-
dere setzen wir genau wie Frege voraus, dass jeder Begriff einen Umfang besitzt;
da Frege die Theorie der Umfänge als Teil der Logik ansieht, ist diese Annahme
ein weiteres Beispiel für die allgemeine Anwendbarkeit der Logik. Die Existenz ei-
nes Umfanges für jeden Begriff gewährleistet schließlich, dass mit Freges expliziter
Definition (18) jedem erststufigen Begriff erfolgreich eine Anzahl zugeordnet wird.
Frege ist nun in der Lage, eine Definition für Kardinalzahlen anzugeben:
(19) n ist genau dann eine Kardinalzahl, wenn es einen Begriff F gibt, sodass n D
die Anzahl der F s.
Diese Definition ist nicht zirkulär: „die Anzahl der F s“ wurde explizit und ohne
die Verwendung des Wortes Zahl definiert. Wir bemerken zudem, dass diese Defi-
nition nicht die endlichen oder natürlichen Zahlen definiert, stattdessen definiert sie
die allgemeineren Kardinalzahlen. Betrachten wir beispielsweise „die Anzahl der
natürlichen, geraden Zahlen“. Da diese Zahl die Elemente in einer Menge zählt, ist
dies eine Kardinalzahl, dennoch ist es keine natürliche Zahl (0, 1, 2, und so weiter);
es ist ein Beispiel einer unendlichen Zahl. Der nächste Schritt besteht darin, dieser
wichtigen Unterscheidung verschiedener Kardinalzahlen gerecht zu werden, indem
„natürliche (oder endliche) Zahl“ definiert wird, und genau diesem Unterfangen
widmet sich Frege als Nächstes.

31
Frege (1884, §107).
32
Frege (1893 und 1903).
30 2 Logizismus

Zuerst legt Frege fest, dass „0“ die Zahl sei, die dem Begriff zu sich selbst nicht
identisch zukommt. Da alles zu sich selbst identisch ist, fällt nichts unter diesen
Begriff. Als Nächstes wendet er sich der Nachfolgerrelation zu; er erklärt „Nach-
folger“ mit „um eins größer“ und definiert wie folgt:33
(20) Die Anzahl der F s ist genau dann ein Nachfolger der Anzahl der Gs, wenn
es ein x gibt, das unter F fällt, sodass die Anzahl der Gs D die Zahl, die dem
Begriff fällt unter F und ist ungleich x zukommt.
Wir können nun sagen, dass n genau dann ein Nachfolger von m ist, wenn es einen
Begriff F gibt, sodass n die Anzahl der F s ist, und es ein x gibt, das unter F fällt,
sodass m die Anzahl der Objekte ist, die unter F fallen, die aber ungleich x sind.
Grundsätzlich ist n genau dann ein Nachfolger von m, wenn n die Anzahl eines
Begriffs ist, unter den ein Objekt mehr fällt als unter einen Begriff, von dem m die
Anzahl ist.
Welche Zahl ist dann der Nachfolger der 0? Frege definiert die 1 als die Zahl, die
dem Begriff identisch zu 0 zukommt. Es gibt einen Gegenstand, die 0, der unter den
Begriff identisch zu 0 fällt. Außerdem ist die Zahl, die dem Begriff identisch zu 0,
aber nicht identisch zu 0 zukommt, mit der Äquivalenz von (16) und (17) dieselbe
Zahl, die dem Begriff nicht zu sich selbst identisch zukommt, da nichts unter einen
der beiden Begriffe fällt. Daher ist mit Definition (20) die Zahl 1 (die Zahl, die dem
Begriff identisch zu 0 zukommt) der Nachfolger der 0 (die Zahl, die dem Begriff
nicht zu sich selbst identisch zukommt). Genauso folgt aus Freges Definition, wenn
wir die 2 als die Zahl, die dem Begriff identisch zu 0 oder 1 zukommt, definieren,
dass die 2 der Nachfolger der 1 ist. Und es zeigt sich, dass wir so immer weiter
machen können: Ausgehend von einer definierten Zahl erhalten wir einen neuen
Begriff, und dann können wir mit der Zahl, die diesem Begriff zukommt, etwas
bekommen, wovon wir zeigen können, dass es der Nachfolger der ersten Zahl ist.
Wir sollten hier beachten, dass dieses Vorgehen, immer weiter neue, natürliche
Zahlen ad infinitum zu generieren, nur unter den Voraussetzungen funktioniert, dass
jedem erststufigen Begriff eine Zahl zukommt und dass diese Zahlen außerdem Ge-
genstände sind. Wenn alle Zahlen bis zu einer Zahl n generiert wurden, wird die
nächste Zahl als Anzahl eines bestimmten erststufigen Begriffs F , definiert. Wenn
die so definierte Zahl der Nachfolger von n sein soll, muss der Begriff F natürlich
sorgfältig gewählt werden: F muss ein Begriff sein, unter den genau n C 1 Gegen-
stände fallen. Freges Strategie ist es, diesen Begriff F zu definieren, indem er die
n C 1 Gegenstände, die darunter fallen sollen, direkt angibt; und damit diese Stra-
tegie gelingt, braucht er Zugriff auf n C 1 Gegenstände, die er für diese Definition
verwenden kann. Die Tatsache, dass Zahlen Gegenstände sind, garantiert ihm diese
Verfügbarkeit: Die Gegenstände, die er benutzt, sind die Zahlen von 0 bis n, die
wir als bereits definiert voraussetzen können und die zusammen glücklicherweise
genau n C 1 viele sind. Für Freges Vorgehen zur Definition der natürlichen Zahlen
müssen Zahlen also Gegenstände sein.

33
Frege (1884, §76).
2 Logizismus 31

Freges Errungenschaften mit diesen Definitionen, obwohl es unendlich viele


sind, ergeben noch keine Zurückführung der Arithmetik auf die Logik. Sie kön-
nen zwar zusammen zeigen, dass einzelne natürliche Zahlen in ihrer Natur logisch
sind, aber die Definitionen sagen noch nicht, was an den natürlichen Zahlen ge-
nau das ist, was sie zu natürlichen Zahlen macht, was sie also logisch formuliert
auszeichnet. Frege muss nun noch den Begriff natürliche Zahl definieren.
Zuerst können wir feststellen, dass Nachfolger, wenn sie existieren, eindeutig
sind. Seien F und G Begriffe, denen die Zahlen y und z zukommen. Wenn y und z
beide Nachfolger von x sind, dann gibt es Gegenstände a und b, die unter F , bzw.
G fallen, sodass die Zahlen, die den Begriffen fällt unter F und ist ungleich a und
fällt unter G und ist ungleich b zukommen, beide x sind. Aber dann gibt es eine
eineindeutige Zuordnung zwischen diesen zwei Begriffen. Indem wir nun den Ge-
genstand a dem Gegenstand b zuordnen, können wir diese zu einer eineindeutigen
Zuordnung zwischen F und G erweitern, also sind die Anzahlen dieser Begriffe, y
und z, gleich. Wenn „Sxy“ für y ist der Nachfolger von x steht, dann können wir
diese Tatsache wie folgt ausdrücken:34

8x8y8zŒ.Sxy ^ Sxz/ ! y D z:

Dies legitimiert unsere Sprechweise von dem Nachfolger einer natürlichen Zahl.
Wir können also sagen, dass die natürlichen Zahlen einfach die 0, der Nachfolger
der 0, der Nachfolger des Nachfolgers der 0, und so weiter sind. Unsere Aufgabe
besteht nun darin, anzugeben, wie dieses „und so weiter“ mit nur logischen Mitteln
erfasst werden kann. Betrachten wir diejenigen Begriffe F , sodass: (i) die 0 fällt
unter F und (ii) wenn x unter F fällt und Sxy, dann fällt auch y unter F . Statt der
Formulierung in (ii) wird häufig gesagt: Der Begriff F ist unter Nachfolgerbildung
abgeschlossen.

Erste Beobachtung: Wenn k eine natürliche Zahl ist, dann fällt k unter jedes F ,
für das (i) und (ii) gilt. Warum? Sei F ein beliebiger Begriff mit (i) und (ii). Dann
fällt die 0 unter F , wegen (i), also fällt auch der Nachfolger der 0 unter F , wegen
(ii), also fällt auch der Nachfolger des Nachfolgers der 0 unter F , wieder wegen
(ii), und so weiter. Wir können dann sehen, dass, wenn k tatsächlich eine natürli-
che Zahl ist – d. h., etwas, dass wir bekommen, indem wir bei 0 anfangen und die
Nachfolgerbildung wiederholt anwenden –, dann fällt k auch unter F . Dies ist eine
Begründung der ersten Beobachtung.

Zweite Beobachtung: Wenn k unter jeden Begriff F fällt, der (i) und (ii) erfüllt,
dann ist k eine natürliche Zahl. Warum? Weil genau einer dieser Begriffe F der
Begriff natürliche Zahl ist. Wenn also k unter jeden Begriff F mit (i) und (ii) fällt,
dann (da natürliche Zahl (i) und (ii) erfüllt) fällt k auch unter den Begriff natürliche
Zahl, und damit ist k offensichtlich eine natürliche Zahl. Dies begründet die zweite
Beobachtung.

34
Das folgt aus Frege (1884, §78, 5. Proposition), die Frege ohne Beweis angibt.
32 2 Logizismus

Unsere erste Beobachtung besagt, dass es eine notwendige Bedingung ist, unter
jeden Begriff F mit (i) und (ii) zu fallen, um eine natürliche Zahl zu sein. Unsere
zweite Beobachtung besagt, dass es eine hinreichende Bedingung ist, unter jeden
Begriff F mit (i) und (ii) zu fallen, um eine natürliche Zahl zu sein. Nehmen wir
die zwei Beobachtungen zusammen, erhalten wir, dass k genau dann eine natürliche
Zahl ist, wenn k unter jeden Begriff F fällt, der (i) und (ii) erfüllt. In logischer
Schreibweise wird dies wie folgt ausgedrückt:
(21) k ist genau dann eine natürliche Zahl, wenn 8F Œ.F 0^8x8y..F x ^Sxy/ !
F y// ! F k:
Dies ist eine explizite Definition von natürliche Zahl, die nichts als die 0, die Nach-
folgerrelation und grundlegende Logik enthält.35
In Bezug auf diese Definition sind einige Bemerkungen angebracht. Erstens ent-
hält die Definition einen zweitstufigen Quantor: Es wird über Gegenstände, aber
auch über Begriffe quantifiziert.
Als Nächstes erkennen wir mit dieser Beobachtung, dass die Definition nur ad-
äquat ist, wenn der Begriff natürliche Zahl selbst im Bereich dieses zweitstufigen
Quantors liegt: Gegenstände, die keine natürlichen Zahlen sind, werden sonst nicht
notwendigerweise ausgeschlossen. Warum ist zum Beispiel Julius Cäsar nach dieser
Definition keine natürliche Zahl? Weil er nicht unter jeden Begriff fällt, unter den
die 0 fällt und der unter Nachfolgerbildung abgeschlossen ist; insbesondere fällt er
nicht unter den Begriff natürliche Zahl selbst. Wenn dieser Begriff nicht im Bereich
des Quantors liegen würde, könnten wir nicht sicher sein, dass allein die natürli-
chen Zahlen als solche von der Definition bestimmt werden. Das ist nicht zirkulär:
Das Prädikat „natürliche Zahl“ wird in der Definition (21) nicht verwendet. Statt-
dessen muss vorausgesetzt werden, dass der zu definierende Begriff im Bereich des
zweitstufigen Quantors der Definition liegt.
Wenn eine Definition einen Quantor enthält, dessen Bereich genau das Objekt
beinhaltet, das definiert wird, dann nennen wir diese Definition imprädikativ. Die
Imprädikativität von (21) störte Frege aber nicht: In seiner Logik liegen im Bereich
der Quantoren alle existierenden Objekte der entsprechenden Stufe, und da der Be-
griff natürliche Zahl existiert, liegt er offensichtlich im Bereich des zweitstufigen
Quantors. Allerdings muss man zugeben, dass (21) jemandem, der kein Verständ-
nis von dem Begriff natürliche Zahl besitzt, nicht helfen würde, dieses Verständnis
zu entwickeln. Wenn wir uns jemanden vorstellen, der versucht diese Definition
anzuwenden, um zu bestimmen, ob ein gegebenes Objekt tatsächlich eine natür-
liche Zahl ist oder nicht, dann setzt die Imprädikativität von (21) voraus, dass er
bereits mit dem Begriff natürliche Zahl (oder einem anderen Begriff mit demselben
Umfang) vertraut sein muss und dass er weiß, welche Gegenstände genau darunter
fallen, damit die Anwendung ein korrektes Ergebnis liefert. Aber, wie wir früher
bemerkt haben ist Freges Programm kein psychologisches, in dem eine Definiti-
on formuliert werden soll, die von heuristischem Wert für Mathematiker oder von
pädagogischem Wert für Lehrende wäre. Freges Interesse liegt vielmehr in dem

35
Frege (1884, §83).
2 Logizismus 33

logischen Aufbau der Begriffe, durch dessen Untersuchung die arithmetischen Be-
hauptungen auf reine Logik zurückgeführt werden können. Dies ist das Ziel, wofür
Frege die Definition (21) angibt, und nichts weiter, weswegen ihre Imprädikativität
für Frege kein Hindernis darstellt.
Dass (21) erfolgreich ihre Aufgabe erfüllt, wird auch durch unsere dritte Beob-
achtung bestätigt: Diese Definition hat die Gültigkeit der vollständigen Induktion
zur Folge. Um zu zeigen, dass die Gültigkeit der Induktion schnell aus Freges De-
finition folgt, nehmen wir einen Begriff F , für den die Prämissen der vollständigen
Induktion gelten; mit anderen Worten, wir nehmen an, dass die 0 unter F fällt (der
Induktionsanfang) und dass F unter Nachfolgerbildung abgeschlossen ist (der In-
duktionsschritt). Wenn k nun eine beliebige, natürliche Zahl ist, dann muss sie unter
F fallen, da sie mit (21) unter jeden solchen Begriff fällt. Somit fällt jede natürli-
che Zahl unter F – was genau die Schlussfolgerung der vollständigen Induktion
ist. Diese Schlussfolgerung ist so naheliegend, dass man manchmal sagt, (21) de-
finiert die natürlichen Zahlen als diejenige Menge von Gegenständen, für die die
vollständige Induktion gilt.
Schließlich bemerken wir noch, dass sich Freges Definition zu einer Methode
verallgemeinern lässt, die für jede Relation Rxy eine neue Relation R xy defi-
niert, die genau dann für zwei Gegenstände a und b gilt, wenn es eine endliche
Kette o1 ; o2 ; : : : ; on von Gegenständen gibt, sodass a D o1 und b D on und
Ro1 o2 ; Ro2 o3 ; : : : ; Ron1 on . Diese neue Relation R ist der reflexive, transitive
Abschluss von R.36 Ein anschauliches Beispiel ist die Vorfahrenrelation unter den
Verwandtschaftsverhältnissen „x ist ein Vorfahre von y“, die aus der Relation „x
ist ein Elternteil von y“ entsteht. Wir können R xy wie folgt explizit definieren:
8F Œ.F x ^ 8z8w..F z ^ Rzw/ ! F w// ! F y. Wir beachten, dass nach die-
ser Definition immer auch R xx gilt; in Bezug auf unser Beispiel sehen wir also
nicht nur die Eltern, die Großeltern, und so weiter von x als Vorfahren von x an,
sondern auch x selbst. Mit dieser Schreibweise sagt Freges Definition, dass k ge-
nau dann eine natürliche Zahl ist, wenn S  0k. (Für mehr über diese Relation siehe
Übung 2.5.)
Kann Frege nun, nachdem er das Prädikat „natürliche Zahl“ logisch definiert hat,
behaupten, dass er sein Ziel, die Arithmetik auf die Logik zurückzuführen, erreicht
hat? Wir hatten bereits angesprochen, dass nicht ganz klar ist, was genau zur reinen
Logik zählt und was nicht. Und da, wie oben bemerkt, Freges Vorstellung dieser Zu-
rückführung auf seiner Vorstellung der Logik beruht, ist auch nicht vollständig klar,
was als logische Zurückführung zählt und was nicht. Auf diese Fragen werden wir
in Kap. 4 zurückkommen. Für die folgenden Überlegungen nehmen wir jedoch den
Begriff der reinen Logik als genügend klar an und untersuchen, ob es hingegen noch
Unklarheiten darüber gibt, was alles für eine logische Zurückführung der Arithmetik
getan werden müsste. Anscheinend gibt es solche Unklarheiten, da wir keine expli-
zite Beschreibung davon haben, was genau eine solche Zurückführung alles leisten
müsste. Wir wissen, dass wir dafür all unser arithmetisches Wissen ausgehend von
der Logik begründen können müssen. Es gibt aber unendlich viele arithmetische

36
Frege (1884, §79).
34 2 Logizismus

Wahrheiten, also können wir unser Ziel nicht erreichen, indem wir sie alle eine nach
der anderen logisch herleiten. Wir müssen grundlegende, arithmetische Wahrheiten
finden, auf denen alle anderen beruhen, und dann zeigen, dass diese grundlegen-
den Wahrheiten wiederum aus Freges Definition hergeleitet werden können. In Die
Grundlagen der Arithmetik gibt Frege keine solche Menge grundlegender, arith-
metischer Wahrheiten an, was eine Lücke entstehen lässt, die gefüllt werden muss,
bevor wir den Erfolg seines Programms bewerten können.
Diese Lücke wurde eigentlich zuerst von Dedekind gefüllt, als dieser seine Axio-
me für die Arithmetik vorstellte.37 Wir können diese Axiome, die heutzutage unter
dem Namen Peano-Axiome38 bekannt sind, wie folgt formulieren:
(22) (i) 0 ist eine natürliche Zahl.
(ii) Für jedes x und y, wenn x eine natürliche Zahl ist und y ein Nachfolger
von x, dann ist y eine natürliche Zahl.
(iii) Jede natürliche Zahl hat einen eindeutigen Nachfolger.
(iv) 0 ist kein Nachfolger einer natürlichen Zahl.
(v) Wenn x und y natürliche Zahlen sind und x ¤ y, dann ist der Nachfol-
ger von x nicht gleich dem Nachfolger von y.
(vi) Für jedes F gilt, wenn F 0 und F unter Nachfolgerbildung abgeschlos-
sen ist und wenn k eine natürliche Zahl ist, dann F k.
Dedekinds Definition gibt weder an, was die 0 ist, noch was die Nachfolgerrelation
ist, noch welche Gegenstände die natürlichen Zahlen sind. Eine solche Angabe von
Bedeutungen für die Wörter „0“, „Nachfolger“ und „natürliche Zahl“ wird Modell
der Peano-Axiome genannt, wenn die Aussagen (22)(i)–(vi) unter den angegebe-
nen Bedeutungen wahre Aussagen ergeben. Obwohl diese Axiome kein konkretes
Modell bestimmen und in ihnen kein bestimmter Weg, diese Ausdrücke zu inter-
pretieren, angegeben ist, charakterisieren sie doch vollständig den Aufbau jedes
solchen Modells: In jedem Modell muss die Menge von Gegenständen, auf die das
Prädikat „natürliche Zahl“ zutrifft, aus einem ersten Element (dasjenige, was von
der „0“ bezeichnet wird), einem zweiten Element (zu dem das erste Element durch
die Nachfolgerrelation in Beziehung steht), und so weiter, bestehen. Wir wollen dies
etwas genauer erläutern und betrachten hierfür zwei beliebige Modelle der Peano-
Axiome. Angenommen, in dem ersten sei die Menge von Gegenständen, auf die
das Prädikat „natürliche Zahl“ zutrifft, die Menge N , der Ausdruck „0“ bezeichne
das feste Element a aus N und das Wort „Nachfolgerrelation“ eine feste Relation
S. Nehmen wir außerdem an, dass in dem zweiten Modell die Menge der natürli-
chen Zahlen die Menge N 0 ist, dass der Gegenstand, der durch „0“ bezeichnet wird,
a0 ist und dass die Nachfolgerrelation S 0 ist. Obwohl N 0 , a0 und S 0 nicht gleich

37
Im Jahr 1888 veröffentlicht (Dedekind 1888). Siehe auch Dedekinds Brief an Keferstein (1890),
engl. in van Heijenoort (1967), S. 98–103. Frege selbst bietet Axiome für die Arithmetik in Band
1 von Frege (1893 und 1903) an, eine Untersuchung von Freges Axiomatisierung findet sich in
Heck (1995).
38
Diese Axiome sind nach dem italienischen Mathematiker Giuseppe Peano (1858–1932) be-
nannt, der Axiome für die Arithmetik in The principles of arithmetic, presented by a new method
(1889) entwickelte, engl. in van Heijenoort (1967).
2 Logizismus 35

N , a und S sein müssen, muss es doch eine eineindeutige Zuordnung zwischen


N und N 0 geben, sodass diese Zuordnung a auf a0 abbildet, und wenn x und y
zwei Elemente von N sind und x 0 und y 0 die Elemente von N 0 , auf die sie abge-
bildet werden, dann gilt Sxy genau dann, wenn S 0 x 0 y 0 gilt. Diese eineindeutige
Zuordnung kann konstruiert werden, indem a auf a0 abgebildet wird, dann wird das
eindeutige Element b aus N , für das Sab gilt, auf das eindeutige Element b 0 aus N 0 ,
für das S 0 a0 b 0 gilt, abgebildet, und so weiter. Mathematiker sagen in dieser Situati-
on, dass die zwei Modelle, obwohl sie nicht gleich sind, isomorph sind. Somit sind
zwei beliebige Modelle der Peano-Axiome immer isomorph; die Axiome werden
aus diesem Grund kategorisch genannt. Die mathematischen Eigenschaften der na-
türlichen Zahlen, wird häufig gesagt, beziehen sich eher auf die Struktur der Zahlen
statt auf die tatsächliche Identität der Zahlen. Es folgt, dass eine Behauptung über
eine solche Eigenschaft, die in einem der Modelle der Peano-Axiome wahr ist, in
allen Modellen wahr ist und sie damit eine logische Folgerung aus den Axiomen
ist.
Wir können nun die Frage, ob Frege in seiner Zurückführung der Arithmetik
auf die Logik erfolgreich war, konkretisieren: Denn nun können wir fragen, ob
Frege mit seiner Definition der Zahl 0, der Nachfolgerrelation und des Prädikats
„natürliche Zahl“ die Peano-Axiome herleiten kann, indem er ausschließlich logi-
sche Mittel verwendet. Wenn dies gelingt – und sollten wir akzeptieren, dass diese
drei Definitionen nur logische Begriffe benutzen, und auch dass (22) unsere Auffas-
sung der natürlichen Zahlen erfasst –, dann ist Freges Ziel, die gesamte Arithmetik
auf die Logik zurückzuführen, erreicht.
Wir haben bereits gesehen, dass (22)(vi), eine Formulierung der vollständigen
Induktion, direkt aus Freges Definition der natürlichen Zahlen folgt. Offensichtlich
folgt auch (i), da 8F Œ.F 0 ^ 8x8y..F x ^ Sxy/ ! F y// ! F 0 logisch wahr
ist. Um Axiom (ii) zu beweisen, nehmen wir an, dass x eine natürliche Zahl ist, y
ein Nachfolger von x und F ein beliebiger Begriff, unter den die 0 fällt und der un-
ter Nachfolgerbildung abgeschlossen ist: Mit (21) fällt x unter F ; also, da F unter
Nachfolgerbildung abgeschlossen ist, fällt auch y unter F , und somit ist y mit (21)
eine natürliche Zahl. Der Beweis des Axioms (iv) geht genauso schnell: Wenn die
Anzahl der F s der Nachfolger einer Zahl ist, dann sehen wir direkt mit der Defini-
tion der Nachfolgerrelation, dass etwas unter F fällt und somit die Anzahl der F s
nicht 0 ist. Axiom (v) erhalten wir, indem wir zeigen, dass Freges Nachfolgerrela-
tion eindeutig ist: 8x8y8zŒ.Sxz ^ Syz/ ! x D y (siehe Übung 2.3).39
Damit ist nur noch Axiom (iii) übrig, dessen Status als logische Wahrheit am
problematischsten scheint. Wir haben gesehen, dass für Frege eine der kennzeich-
nenden Merkmale der Logik ihre vollständige Allgemeinheit ist. Ihre Aufgabe ist
es nicht, Wahrheiten über einen bestimmten Gegenstandsbereich zu formulieren.
Ihr Untersuchungsgegenstand ist vielmehr die Natur der Wahrheit im Allgemeinen.
Aber wenn dies der Fall ist, warum sollte die Logik die Existenz unendlich vie-
ler Gegenstände behaupten? Denn das folgt aus (iii) zusammen mit den anderen
Axiomen von (22). Der Vorbehalt ist hier nicht, dass diese Gegenstände natürliche

39
Dies folgt aus Frege (1884, §78, Proposition 5).
36 2 Logizismus

Zahlen sind, also mathematische Gegenstände, und somit nicht die Art Gegenstän-
de, zu deren Existenz sich die Logik verpflichten sollte. Denn wenn deren Existenz
von der Logik behauptet wird, dann würde dies zeigen, dass es letztendlich logi-
sche Gegenstände sind. Wir können hier nicht irgendeine intuitive Vorstellung eines
logischen Gegenstandes benutzen; wir erkennen, was logisch ist, indem wir unter-
suchen, was auf die allgemeinsten Schlussgesetze zurückgeführt werden kann. Der
Vorbehalt ist stattdessen die Frage, warum es überhaupt irgendwelche logischen
Gegenstände geben sollte. Wenn die Logik das ist, was am allgemeinsten anwend-
bar ist, sollte es dann nicht auf alle ontologischen Behauptungen verzichten, auf
alle Behauptungen darüber, was existiert? Wird der eigene Status als Logik nicht in
Zweifel gezogen durch die existenziellen Voraussetzungen, die sie enthält?
Dieser Vorbehalt ist letztendlich nichtig. Er scheint stark zu sein, weil man an-
nehmen könnte, dass eine Welt ohne Gegenstände, oder eine, in der nur endlich
viele Gegenstände existieren, eine mögliche Welt ist. Mit dieser Sichtweise ste-
hen die offensichtlich unendlich vielen, ontologischen Behauptungen der Logik in
klarem Konflikt zu deren Anspruch, universell anwendbar zu sein. Aber diese Sicht-
weise ist nicht mehr als eine Sichtweise. Es mag so aussehen, dass keine logische
Inkohärenz darin liegt, sich eine Welt ohne Gegenstände p vorzustellen, genauso wie
es einmal kohärent erschien, sich vorzustellen, dass 2 rational sei. Aber unsere
Intuitionen und Vorstellungenp können sich ändern. Wir wissen jetzt, dass es keine
Welt geben könnte, in der 2 rational ist, oder eine, in der es nur endlich viele
Primzahlen gibt. Genauso gilt, wenn die Gesetze des Denkens enthalten, dass es
unendlich viele, logische Gegenstände gibt, dann ist die Möglichkeit, dass es nicht
so sein könnte, damit als illusorisch und endgültig undenkbar nachgewiesen.
Nun schauen wir uns noch an, wie Frege Axiom (iii) zeigt.40 Der Beweis benutzt
den reflexiven, transitiven Abschluss S  xy der Nachfolgerrelation Sxy. Wir erin-
nern uns, dass, per Definition, S  xy genau dann gilt, wenn 8F Œ.F x^8z8w..F z^
Szw/ ! F w// ! F y. Die Idee ist hier, dass für natürliche Zahlen x und y die
Relation S  xy genau dann gilt, wenn x  y.
Es lässt sich schnell zeigen, dass S  00 wahr ist, aber für jedes x ¤ 0 ist S  x0
falsch. Mann könnte auch sagen, dass das Prädikat „S  0“ einen Begriff bezeich-
net und dass der einzige Gegenstand, der unter diesen Begriff fällt, die 0 ist. Es folgt,
dass die Anzahl der Gegenstände, die unter den Begriff fallen, der durch „S  0“
bezeichnet wird, 1 ist, was der Nachfolger der 0 ist. Genauso sind die einzigen Ge-
genstände, die unter den Begriff fallen, der durch „S  1“ bezeichnet wird, die 0
und die 1, und damit ist die Anzahl der Gegenstände, die unter diesen Begriff fal-
len, 2, der Nachfolger der 1. Diese Überlegung ist natürlich analog zu derjenigen,
die Freges Definition der 1 und 2 motiviert hat.
Diese Beispiele enthalten die Idee für Freges Beweis von Axiom (iii). Frege be-
weist mit vollständiger Induktion, dass für jede natürliche Zahl n die Anzahl der
Gegenstände, die unter den Begriff fallen, der durch „S  n“ bezeichnet wird, ein
Nachfolger von n ist; da wir früher nachgewiesen haben, dass Nachfolger, wenn

40
Frege (1884, §82).
2 Logizismus 37

sie existieren, eindeutig sind, folgt, dass jede natürliche Zahl n einen eindeutigen
Nachfolger hat. Wir haben bereits gesehen, dass die Anzahl der Gegenstände, die
unter den Begriff fallen, der durch „S  0“ bezeichnet wird, der Nachfolger der 0
ist, was der Induktionsanfang ist. Für den Induktionsschritt nehmen wir an, dass
m der Nachfolger von n ist und dass die Anzahl der Gegenstände, die unter den
Begriff fallen, der durch „S  n“ bezeichnet wird, m ist. Wir müssen nun zeigen,
dass die Anzahl der Gegenstände, die unter den Begriff fallen, der durch „S  m“
bezeichnet wird, der Nachfolger von m ist. Wir werden nicht jedes Detail erläu-
tern, der Kerngedanke ist jedoch zu zeigen, dass die Gegenstände, die unter den
Begriff fallen, der durch „S  m“ bezeichnet wird, genau diejenigen sind, die un-
ter den Begriff fallen, der durch „S  n“ bezeichnet wird, zusammen mit m. Die
gewünschte Schlussfolgerung lässt sich dann leicht aus Freges Definition der Nach-
folgerrelation herleiten (siehe Übung 2.9).
Dieser Beweis von Axiom (iii), genau wie Freges Definition der 1 und 2 und
sein Vorgehen, immer größere natürliche Zahlen zu generieren, basiert auf der Vor-
aussetzung, dass jedem erststufigen Begriff eine Zahl zukommt. Und, wie wir oben
gesehen haben, diese Voraussetzung lässt sich begründen, wenn jeder Begriff einen
Umfang besitzt. Somit läuft die Frage, ob die Existenz eines Nachfolgers für jede
natürliche Zahl mit logischen Mitteln gezeigt werden kann, letztendlich auf die Fra-
ge hinaus, ob die Aussage, dass jeder Begriff einen Umfang besitzt, eine logische
Wahrheit ist.
Natürlich ist Mathematik mehr als Arithmetik. Mathematiker benutzen heutzuta-
ge nicht nur natürliche Zahlen, sondern auch die unendliche Menge aller natürlichen
Zahlen und viele weitere unendliche Mengen. Wir werden dies in Kap. 3 ausführlich
behandeln. Hier reicht es, festzustellen, dass Frege bereits die Mittel zur Verfügung
hatte, um auch mit der Zurückführung dieses Teils der Mathematik zu beginnen.
Denn, erinnern wir uns, er hat den Begriff natürliche Zahl definiert. Deswegen kann
er von dem Umfang dieses Begriffs sprechen, der unendlich ist. Intuitiv scheint das
offensichtlich, da 0, 1, 2 und unendlich viele, weitere Gegenstände unter den Be-
griff natürliche Zahl fallen. Aber kann Frege das auch beweisen? Er kann es, indem
er zeigt, dass die Anzahl der natürlichen Zahlen selbst keine natürliche Zahl ist. Das
ist der Fall, weil eine natürliche Zahl nie mit ihrem Nachfolger identisch ist, die An-
zahl der natürlichen Zahlen jedoch schon! (Siehe Übung 2.10.) Auf diese Themen
werden wir in Kap. 3 zurückkommen. An dieser Stelle wollen wir nur bemerken,
dass eine allgemeine Theorie der Umfänge auch für die weiterführenden Entwick-
lungen wichtig sein wird. Da Frege annahm, dass jeder Begriff einen Umfang hat,
konnte er sorglos auf die Anzahl der natürlichen Zahlen Bezug nehmen. Für die
Entwicklung der reellen Zahlen werden Umfänge auch eine wichtige Rolle spielen.
Daher ist es keine Überraschung, dass Frege das Bedürfnis empfand, Umfänge in
viel größerer Ausführlichkeit in seinem Buch Grundgesetze der Arithmetik zu be-
handeln. Hierin möchte Frege die Bedeutung des Ausdrucks „der Umfang von F “
für jeden Begriff F mit einer Methode erläutern, die ähnlich der kontextbezogenen
Definitionsmethode ist, die er anfänglich für seine Definition der Kardinalzahlen
verwendet und dann als ungenügend empfunden hatte. Ein wichtiger Teil dieses Un-
38 2 Logizismus

terfangens ist sein Grundgesetz (V), wonach für alle Begriffe F und G der Umfang
von F genau dann gleich dem Umfang von G ist, wenn genau dieselben Gegen-
stände unter F und G fallen. (Dieses Gesetz erinnert stark an die Äquivalenz von
(16) und (17), welche Freges partielle, kontextbezogene Definition von „die An-
zahl der F s“ darstellte.) Für eine bestimmte Zeit glaubte er, dass er es geschafft
hätte, jeden Zweifel über die logische Natur der Umfänge auszuräumen, indem er
mit vollständig allgemeinen Mitteln die Existenz von Umfängen für alle Begriffe
zeigte. Das Ziel der Zurückführung der Arithmetik auf die Logik schien in Sicht.
Doch dann geschah die Katastrophe, da seine Methode, wie wir gleich sehen wer-
den, für den Nachweis, dass jeder Begriff einen Umfang besitzt, nicht korrekt war
– tatsächlich hätte sie es gar nicht sein können. In Kap. 3 werden wir diese Kata-
strophe besprechen, die über Freges Programm der Zurückführung der Arithmetik
und letztendlich der gesamten Analysis auf eine gänzlich allgemeine Theorie her-
einbrach. Wir werden weiterhin in einiger Ausführlichkeit einen modernen Ansatz
mit seiner Ausführung vorstellen, der, soweit wir wissen, der Antinomie entgeht,
von dem Freges System betroffen ist. Dann, in Kap. 4, werden wir diskutieren, ob
dieser Ansatz Freges philosophischen Zielen genügt hätte.

Übungen

2.1 Zeige, dass die Relation der Gleichzahligkeit folgende Eigenschaften besitzt:
(a) Für jeden Begriff F ist F gleichzahlig zu F .
(b) Für alle Begriffe F und G gilt: Wenn F gleichzahlig zu G ist, dann ist G
gleichzahlig zu F .
(c) Für alle Begriffe F , G und H gilt: Wenn F gleichzahlig zu G ist und G gleich-
zahlig zu H , dann ist auch F gleichzahlig zu H .

2.2 Zeige, dass Freges partielle, kontextbezogene Definition von „die Anzahl der
F s“ aus seiner expliziten Definition folgt. Anders gesagt, benutze die explizite De-
finition, um zu zeigen, dass für alle Begriffe F und G gilt: Die Anzahl der F s D
die Anzahl der Gs genau dann, wenn F und G gleichzahlig sind.

2.3 Zeige, dass für alle Zahlen a; b und c aus Sac und Sbc folgt: a D b. Dies
zeigt das Peano-Axiom (22)(v). (Hinweis: Angenommen, a, b und c sind jeweils
die Anzahlen der Begriffe F , G und H . Mit der Definition der Nachfolgerrelation
muss es Gegenstände p und q geben, die unter H fallen, sodass F gleichzahlig zu
dem Begriff fällt unter H und ist ungleich p und G gleichzahlig zu dem Begriff
fällt unter H und ist ungleich q ist. Nun ist zu zeigen, indem p auf q abgebildet
wird, dass die Begriffe fällt unter H und ist ungleich p und fällt unter H und ist
ungleich q gleichzahlig sind.)

2.4 Beweise, dass für jede natürliche Zahl n gilt :Snn. (Hinweis: Verwende voll-
ständige Induktion. Im Induktionsschritt könnte Übung 2.3 hilfreich sein.)
Übungen 39

2.5 Beweise, dass der reflexive, transitive Abschluss R der Relation R folgende
Eigenschaften hat:
(a) Für alle a und b, wenn Rab, dann R ab.
(b) Für jedes a gilt R aa.
(c) Für alle a, b und c, wenn R ab und R bc, dann R ac.

2.6 Beweise, dass für jede Zahl a aus S  a0 folgt: a D 0. (Hinweis: Angenommen,
S  a0, aber a ¤ 0. Stehe „F x“ für „x ¤ 0“, mit anderen Worten, sei F ein Begriff,
unter den alles bis auf die 0 fällt. Zeige nun, dass F a und dass F unter Nachfolger-
bildung abgeschlossen ist, aber :F 0, im Widerspruch zur Definition von S  a0.)

2.7 Beweise, dass für alle Zahlen n und m aus Snm folgt: 8v..S  vm^v ¤ m/ !
S  vn/. (Hinweis: Angenommen, Snm; S  vm und v ¤ m. Um S  vn zu beweisen,
sei F ein Begriff mit F v, der unter Nachfolgerbildung abgeschlossen ist, und nun
muss F n gezeigt werden. Angenommen, :F n. Stehe „Gx“ für „F x ^ x ¤ m“.
Überprüfe nun, dass Gv und dass G unter Nachfolgerbildung abgeschlossen ist,
dass aber :Gm, was der Annahme S  vm widerspricht.)

2.8 Beweise, dass für alle natürlichen Zahlen n und m aus Snm folgt: 8v.S  vn !
.S  vm ^ v ¤ m//. (Hinweis: Verwende Induktion über n. Mit anderen Worten
nimm für den Induktionsanfang an, dass S0m, und beweise, dass 8v.S  v0 !
.S  vm ^ v ¤ m//, dafür sind die Übungen 2.4, 2.5 und 2.6 hilfreich. Dann nimm
für den Induktionsschritt Snm, Smp und 8v.S  vn ! .S  vm ^ v ¤ m// an und
beweise, dass 8v.S  vm ! .S  vp ^ v ¤ p//. Dafür sind die Übungen 2.4, 2.5
und 2.7 hilfreich.)

2.9 Beweise das Peano-Axiom (22)(iii): Jede natürliche Zahl hat einen Nachfolger.
(Hinweis: Beweise über vollständige Induktion, dass für jede natürliche Zahl n die
Anzahl der x mit S  x n der Nachfolger von n ist. Für den Induktionsanfang wende
Übung 2.5 und 2.6 an. Für den Induktionsschritt kombiniere Übung 2.7 und 2.8, um
zu schließen, dass aus Snm folgt: Die Anzahl der x mit S  x m ist der Nachfolger
der Anzahl der x mit S  x n.)

2.10 Sei a die Zahl, die dem Begriff natürliche Zahl zukommt. Beweise Saa. Mit
Übung 2.4 folgt, dass die Anzahl der natürlichen Zahlen selbst keine natürliche Zahl
ist. (Hinweis: Zeige, dass die Nachfolgerrelation S eine eineindeutige Zuordnung
zwischen dem Begriff natürliche Zahl und dem Begriff natürliche Zahl ungleich 0
ist.)
Kapitel 3
Mengenlehre

Wie wir in Kap. 2 gesehen haben, basierte Freges Ansatz, die Mathematik auf die
Logik zurückzuführen, auf der Voraussetzung, dass jeder Begriff einen Umfang be-
sitzt. Daher war es ein gewaltiger Rückschlag für Freges Programm, als Bertrand
Russell im Jahr 1901 entdeckte, dass diese Voraussetzung zu einem Widerspruch
führt. Dieser Widerspruch ist heute unter dem Namen Russell’sche Antinomie be-
kannt. Russell informierte Frege über den Widerspruch in einem Brief am 16. Juni
1902, kurz vor der Veröffentlichung des zweiten Bandes von Freges Die Grundla-
gen der Arithmetik. Frege erkannte sofort, dass seine Untersuchung der Umfänge
fehlerhaft sein musste und dass insbesondere sein Grundgesetz (V) nicht vollstän-
dig allgemein gelten konnte. In einem hastig verfassten Anhang zum zweiten Band
schlug er eine Einschränkung des Grundgesetzes (V) vor, aber er realisierte letzt-
endlich, dass der Vorschlag das Problem nicht löste. Der geplante dritte Band wurde
nie veröffentlicht.
Um zu sehen wie die Russell’sche Antinomie hergeleitet wird, bemerken wir
zuerst, dass einige Begriffe auf Mengen zutreffen und dass die Umfänge solcher Be-
griffe Mengen sind, die Mengen als Elemente enthalten. Betrachten wir beispiels-
weise den Begriff endliche Menge. Sein Umfang E ist die Menge aller Mengen mit
endlich vielen Elementen. Mit anderen Worten
(1) E D fx W x ist eine endliche Mengeg.
Dies wird gelesen als „E ist die Menge aller x mit x ist eine endliche Menge“. Zu
den Elementen von E gehören beispielsweise die Menge aller biblischen Plagen
und die Menge aller Sterne unserer Galaxie, aber nicht die Menge aller natürlichen
Zahlen. Diese letzte Menge fällt unter den Begriff unendliche Menge und ist daher
ein Element in dessen Umfang, der Menge
(2) U D fx W x ist eine unendliche Mengeg.
Die Elemente von E sind zwar endliche Mengen, E selbst ist aber eine unend-
liche Menge, da zu ihren Elementen all die Mengen aus der unendlichen Liste
f0g; f1g; f2g; : : : gehören. Also ist E kein Element von sich selbst, sie ist aber ein
Element von U . Hierfür schreiben wir auch E … E und E 2 U . Weiterhin gehören
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 41
A. George, D.J. Velleman, Zur Philosophie der Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56237-6_3
42 3 Mengenlehre

zu den Elementen von U die unendlich vielen Mengen f0; 1; 2; : : :g, f1; 2; 3; : : :g,
f2; 3; 4; : : :g, : : :, also ist U eine unendliche Menge, und deswegen gilt U 2 U . Die
Mengen E und U veranschaulichen, dass entsprechend der Mengenkonzeption, die
Frege benutzte, einige Mengen Elemente von sich selbst sind und andere nicht. Rus-
sell schlug vor, den Begriff Menge, die sich nicht selbst enthält zu betrachten. Sei
R der Umfang dieses Begriffs:
(3) R D fx W x ist eine Menge und x … xg.
Dann zeigen die oben gegebenen Argumente, dass E 2 R, aber U … R. Was
passiert aber, wenn wir uns nun fragen, ob R 2 R oder nicht. Entsprechend der
Definition von R ist R genau dann ein Element der Menge R, wenn sie unter den
Begriff Menge, die sich nicht selbst enthält fällt. Mit anderen Worten gilt
(4) R 2 R genau dann, wenn R … R.
Das ist aber unmöglich: Entweder ist R ein Element von sich selbst oder nicht, (4)
kann also nicht wahr sein. Somit führt die Voraussetzung, dass der Begriff Menge,
die sich nicht selbst enthält einen Umfang besitzt, zu einem Widerspruch.1
Viele finden die Russell’sche Antinomie überraschend, weil sich schwer sagen
lässt, was an der Definition von R als der Umfang des Begriffs Menge, die sich nicht
selbst enthält falsch sein soll. Dieser Begriff scheint durch ein unmissverständliches
Kriterium bestimmt zu sein, welches auf einige Mengen zutrifft, auf andere aber
nicht. Warum können wir nicht alle Mengen in jene aufteilen, auf die das Kriterium
zutrifft, und jene, auf die es nicht zutrifft, und anschließend all die Mengen zusam-
menfassen, auf die es zutrifft, um die Menge R zu bilden? Aber die Behauptung,
dass R gebildet werden kann, führt nicht sofort zur Russell’schen Antinomie. Die
Antinomie entsteht nur, wenn wir voraussetzen, dass R eine der Mengen ist, die
entsprechend dem Begriff Menge, die sich nicht selbst enthält, eingeteilt werden
sollen. Mit anderen Worten müssen wir, um die Antinomie zu erzeugen, R als ein
Objekt ansehen, das bereits existiert, noch bevor wir die Einteilung der Mengen
vornehmen, die in der Bildung von R betrachtet werden.
Daher kann man sich vorstellen, dass die Russell’sche Antinomie durch die
folgende Annahme entsteht: Wenn bestimmte Objekte zu einer Menge zusammen-
gefasst werden können, dann ist dieses Zusammenfassen eigentlich überflüssig,
denn die Menge, die die Objekte enthält, existiert bereits. Aus Sicht des Platonis-
mus’ ist diese Annahme natürlich, da im Platonismus die mathematischen Objekte
unabhängig von uns und unseren Aktivitäten existieren und damit unabhängig von
irgendeinem Zusammenfassen von Objekten, das wir durchführen könnten. Die-
se Annahme führt zu einem Kreisschluss, denn die Menge R spielt in ihrer eigenen
Bildung eine Rolle und dieser Kreisschluss führt dann zur Antinomie. Russell mein-
te, dass zur Vermeidung dieser Antinomie (und weiterer, ähnlicher Antinomien)

1
Wie die Russell’sche Antinomie mit den formalen Regeln aus Freges Die Grundlagen der Arith-
metik hergeleitet wird und insbesondere welche Rolle das Grundgesetz (V) in der Herleitung spielt,
kann der Leser in Boolos (1986/87, S. 173) nachlesen.
3 Mengenlehre 43

solche Kreisschlüsse unterdrückt werden müssten, und er schlug das sogenann-


te „Teufelskreisprinzip“ (Engl.: vicious-circle principle) vor, um die Kreisschlüsse
zu verbieten: „Wenn etwas alles aus einer Zusammenfassung enthält, darf es nicht
selbst Teil der Zusammenfassung sein.“2 Gemeinsam mit dem amerikanischen Phi-
losophen Alfred North Whitehead (1861–1947) machten sie sich daran, Freges
Werk zu überarbeiten und zu erweitern, indem sie die Mathematik auf einer Logik
aufbauten, die das Teufelskreisprinzip enthielt und dadurch die Antinomien ver-
mied.
Russell und Whitehead präsentierten ihre Theorie, bekannt unter dem Namen
verzweigte Typentheorie, in dem dreibändigen Werk Principia Mathematica, wel-
ches in den Jahren 1910–1913 veröffentlicht wurde. Um ihre Theorie zu erklären,
ist es wahrscheinlich leichter, mit der einfacheren unverzweigten Typentheorie zu
beginnen. In der unverzweigten Typentheorie werden alle Objekte in eine Typen-
hierarchie eingeordnet. Die unterste Stufe der Hierarchie besteht aus bestimmten
Objekten, den sogenannten Individuen, die keine Mengen sind. Als Nächstes kom-
men Mengen, deren Elemente Individuen sind, dann Mengen von Mengen von
Individuen und so weiter. Die Variablen der Theorie stehen nicht für alle Objek-
te, sie stehen immer nur für Objekte eines bestimmten Typs.
Betrachten wir beispielsweise eine Menge A, die als die Menge aller x, für die
eine Aussage P .x/ wahr ist, definiert wird:
(5) A D fx W P .x/g.
Die Typentheorie fordert, dass die Variable x in dieser Definition nur für Objekte
eines bestimmten Typs stehen darf, und der Typ der Menge A, die definiert wird,
ist dann in der Typenhierarchie eine Stufe höher. Wenn die Variable x zum Beispiel
für Individuen steht, dann ist die Menge A eine Menge von Individuen, oder wenn
x für Mengen von Individuen steht, dann ist die Menge A eine Menge von Mengen
von Individuen. Daher ist A kein möglicher Wert für x, also kommt A als Element
in sich selbst nicht infrage. Daraus folgt, dass der Schritt von (3) nach (4) in der
Herleitung der Russell’schen Antinomie blockiert ist und die Antinomie somit ver-
mieden wird. In der Typentheorie ist die Definition (3) tatsächlich gar nicht erlaubt,
da x nicht vom richtigen Objekttyp ist, um ein Element von sich selbst zu sein,
weswegen der Ausdruck „x … x“, der in (3) vorkommt, fehlerhaft ist.
Russell und Whiteheads verzweigte Typentheorie ist etwas komplizierter, weil
sie nicht mit Mengen gearbeitet haben, sondern mit, wie sie es nannten, propositio-
nalen Funktionen, die Freges Begriffen sehr ähnlich sind. Außerdem sind Russell
und Whiteheads Regeln in Bezug auf die Zuweisung von Typen auf Variablen re-
striktiver als die Regeln der unverzweigten Typentheorie. In der unverzweigten
Typentheorie muss in Definition (5) der Typ der Variable x, die als freie Varia-
ble in dem Ausdruck P .x/ vorkommt, niedriger sein als der Typ der Menge A,
die definiert wird. Russell und Whitehead verlangten aber, dass nicht nur die freien

2
Mathematical logic as based on the theory of types, nachgedruckt in van Heijenoort (1967,
S. 150–182). Das Zitat befindet sich auf S. 155.
44 3 Mengenlehre

Variablen, sondern auch die gebundenen Variablen, die in der Definition einer pro-
positionalen Funktion verwendet werden, einen niedrigeren Typ haben müssten als
der Typ der propositionalen Funktion, die definiert wird. Somit kann insbesonde-
re die Definition einer propositionalen Funktion keine Quantifikation über Objekte
beinhalten, zu denen auch die propositionale Funktion, die definiert wird, gehört.
Mit anderen Worten, es werden imprädikativ definierte, propositionale Funktionen
ausgeschlossen. Diese Einschränkung führte zu einem weiteren Ausbau der Kate-
gorisierung in ihrer Hierarchie propositionaler Funktionen.
Das Verbot imprädikativer Definitionen hinderte Russell und Whitehead daran,
die gesamte Mathematik in ihrer Typentheorie so herzuleiten, wie wir es bis hier-
her beschrieben haben, weil einige der wichtigen Definitionen in der Mathematik
imprädikativ sind. Zum Beispiel ist, wie wir in Kap. 2 gesehen haben, Freges De-
finition der natürlichen Zahlen imprädikativ. Aus diesem Grund fanden es Russell
und Whitehead notwendig, ein Axiom, das sie Axiom der Reduzierbarkeit nannten,
in ihr logisches System mit aufzunehmen. Ohne ins Detail zu gehen, was genau die-
ses Axiom besagt, bemerken wir an dieser Stelle einfach, dass es die Möglichkeit
imprädikativer Definitionen wiederherstellte.
Ein Merkmal der Typentheorie, welches als unglücklich betrachtet werden könn-
te, ist, dass sie nicht nur Mengen ausschließt, die zu Antinomien führen, darunter
Russells Menge, sondern auch Mengen, die harmlos erscheinen. Nehmen wir zum
Beispiel an, dass a ein Individuum ist und b eine Menge von Individuen. Dann kön-
nen wir in der Typentheorie nicht über die Menge fa; bg sprechen, da sie weder ein
Individuum, noch eine Menge von Individuen, noch eine Menge von Mengen von
Individuen, noch irgendein anderer Objekttyp ist, der in der Typentheorie erlaubt
ist. Dennoch ist schwer zu sehen, welchen Schaden es anrichten sollte, wenn a und
b in einer Menge zusammengefasst werden.
Ein zweites Problem in der Typentheorie ist Folgendes: Wenn es nur endlich
viele Individuen gibt, dann gibt es auch nur endlich viele Mengen von Individuen,
nur endlich viele Mengen von Mengen von Individuen und so weiter. Dadurch,
obwohl die gesamte Typenhierarchie unendlich sein würde, wäre jede Stufe der
Hierarchie endlich. Da jede Variable nur für Objekte eines bestimmten Typs stehen
darf, heißt das, dass keine Variable für unendlich viele Objekte stehen kann. Aus
diesem Grund fanden Russell und Whitehead, dass sie, um die Mathematik in der
Typentheorie zu entwickeln, ein Axiom aufnehmen müssen, was dafür sorgt, dass
es unendlich viele Individuen gibt. Aber, wie wir in Kap. 2 gesehen haben, es ist
nicht unumstritten, dass ein Axiom mit einer solchen ontologischen Behauptung als
logisches Prinzip betrachtet werden kann.
Heutzutage ziehen die meisten Mathematiker eine Mengentheorie vor, die die
Antinomien vermeidet, ohne dass sie eine Kategorisierung aller Objekte in Typen
erfordert, imprädikative Definitionen verbietet oder Existenzannahmen über irgend-
etwas anderes als Mengen macht. Die beliebteste solche Theorie ist die Zermelo-
Fraenkel-Mengentheorie, normalerweise durch ZFC abgekürzt. (Das „C“ steht für
Axiom of Choice (Auswahlaxiom), ein leicht strittiges Axiom, das später in diesem
Kapitel noch besprochen wird.) Die meisten der ZFC-Axiome wurden von dem
3 Mengenlehre 45

deutschen Mathematiker Ernst Zermelo (1871–1953) im Jahr 1908 formuliert,3 auf-


bauend auf früheren Ideen des Mathematikers Georg Cantor (1845–1963).4 Im Jahr
1922 erläuterte und erweiterte Abraham Fraenkel (1891–1965) Zermelos System
und brachte es in seine heutige Form. (Ähnliche Verbesserungen wurden unab-
hängig zu derselben Zeit von dem norwegischen Mathematiker Thoralf Skølem
(1887–1963) vorgeschlagen.) Für den Rest dieses Kapitels werden wir uns mit der
Theorie ZFC beschäftigen und zeigen, wie sie als Grundlage der Mathematik die-
nen kann.
Die von Frege und auch von Russell und Whitehead entwickelten Theorien soll-
ten zeigen, wie die Logik auf Aussagen mit beliebigem Inhalt angewendet werden
kann. Im Unterschied dazu befasst sich die Theorie ZFC ausschließlich mit Men-
gen. Sogar die Elemente all der Mengen, die in ZFC betrachtet werden, sind wieder
Mengen (deren Elemente auch Mengen sind und so weiter). Man könnte denken,
dass eine Untersuchung solch reiner Mengen direkt unendlich viele Rückschrit-
te erfordern würde: Wenn alle Elemente einer reinen Menge auch reine Mengen
sind und all deren Elemente reine Mengen etc., wie können wir jemals anfan-
gen, eine reine Menge aufzuschreiben? Eine erste reine Menge zu benennen, ist
jedoch ganz einfach: die leere Menge, bezeichnet durch ;. Die leere Menge ent-
hält nichts, was keine reine Menge ist, weil sie gar nichts enthält! Nun können wir
aber, indem wir ; als ein Element benutzen, eine andere reine Menge aufschrei-
ben: f;g. Es ist zu beachten, dass f;g und ; verschieden sind; die letztere Menge
hat keine Elemente, wohingegen die erste ein Element hat, und zwar ;. Von diesen
zwei Mengen ausgehend können wir weitere reine Mengen bilden, zum Beispiel
f;; f;gg und ff;gg. ZFC ist als Theorie dieser und ähnlicher Mengen gedacht. Für
den verbleibenden Teil des Kapitels meinen wir „reine Menge“, wenn wir „Menge“
schreiben.5
ZFC ist eine formale, axiomatische Theorie. Damit meinen wir, dass es erstens
eine formale Sprache gibt, die wir die Sprache der Mengentheorie nennen und in
der all unsere Aussagen über Mengen aufgeschrieben werden können, dass es zwei-
tens bestimmte Aussagen in dieser formalen Sprache gibt, die Axiome der Theorie

3
Investigations in the foundations of set theory I, nachgedruckt in van Heijenoort (1967, S. 199–
215).
4
Cantor wurde in Russland geboren, während seiner Kindheit und später lebte er aber in Deutsch-
land. Seine Arbeit in der Mengenlehre wurde durch seine Untersuchungen trigonometrischer
Reihen und bestimmter Mengen reeller Zahlen angestoßen, deren Betrachtung er für seine Un-
tersuchung als notwendig erachtete. Mehr zur Geschichte der Mengenlehre findet sich in Dauben
(1979) und Hallett (1984).
5
Es ist möglich, ZFC so zu verändern, dass wir eine Theorie erhalten, in der Nichtmengen und
andere Mengen, die keine reinen Mengen sind, existieren können. Solch eine veränderte Theorie
würde den Theorien, die von Frege und von Russell und Whitehead entwickelt wurden, ähnlicher
sein, und sie könnte nützlicher sein, um zu erklären, wie Mathematik auf Phänomene der realen
Welt angewandt wird. Aber mit dem Ziel, die reine Mathematik zu entwickeln, haben Mathemati-
ker herausgefunden, dass nichts weiter als reine Mengen gebraucht wird, und daher ist es üblich,
in der Mengenlehre nur reine Mengen zu untersuchen. Wir haben entschieden, uns dieser Tradition
anzupassen, und stellen die Theorie ZFC in ihrer gewöhnlichen Form dar.
46 3 Mengenlehre

genannt werden, und dass es drittens formale Schlussregeln gibt, mit denen alle
Sätze von ZFC aus den Axiomen hergeleitet werden können.
Die Sprache der Mengentheorie benutzt die üblichen Zeichen der Logik („^“,
„_“, „:“, „!“, „$“, „8“, „9“, „.“, „/“ und „D“) zusammen mit dem Zeichen „2“
(„ist ein Element von“) und Variablen (die immer für Mengen stehen). Hier folgen
einige Beispiele sinnvoller Ausdrücke in der Sprache der Mengentheorie:

Ausdruck Bedeutung
9x8y:.y 2 x/ Es gibt eine Menge, die keine Elemente hat,
d. h., die leere Menge existiert
8z.z 2 x ! z 2 y/ Jedes Element von x ist ein Element von y. Das wird normalerweise
ausgedrückt, indem man sagt, dass x eine Teilmenge von y ist,
bezeichnet durch x  y

Die Axiome von ZFC bestehen aus den üblichen Axiomen der Logik erster Stufe,
zusammen mit bestimmten Aussagen über Mengen, deren Wahrheit von den meis-
ten Mathematikern als intuitiv offensichtlich angesehen wird. Die Schlussregeln
sind einfach die üblichen Schlussregeln der Logik erster Stufe.
Alles, was noch bleibt, um die Theorie ZFC anzugeben, ist die Auflistung der
mengentheoretischen Axiome der Theorie. Das erste dieser Axiome ist eine der
grundlegendsten Eigenschaften von Mengen: die Tatsache, dass eine Menge durch
ihre Elemente vollständig bestimmt ist. Mit anderen Worten, wenn zwei Mengen
genau dieselben Elemente haben, dann sind sie gleich:

Extensionalitätsaxiom Für alle Mengen x und y, wenn x und y dieselben Ele-


mente haben, dann x D y. Oder in der Sprache der Mengentheorie: 8x8y.8z.z 2
x $ z 2 y/ ! x D y/.

Nehmen wir zum Beispiel A als die Menge aller Lösungen der Gleichung x 2 D 2x,
und B als die Menge aller Lösungen der Gleichung .x  1/2 D 1. Dann kann man,
indem man die Gleichungen löst, zeigen, dass A und B genau dieselben Elemente
besitzen, und zwar die Zahlen 0 und 2. Daher gilt mit dem Extensionalitätsaxiom
A D B.
Bevor wir weitere ZFC-Axiome von ZFC einführen, ist es hilfreich, das mengen-
theoretische Universum, das durch die Axiome beschrieben werden soll, ein wenig
ausführlicher darzustellen. Damit wir Teufelskreise vermeiden, die zu Antinomien
führen könnten, stellen wir uns vor, dass diese Mengen in Stufen gebildet werden,
sodass Mengen, die in einer bestimmten Stufe gebildet werden, als Elemente nur
Mengen enthalten, die in vorigen Stufen gebildet wurden. Natürlich erinnert diese
Idee der Mengenhierarchie an die Typentheorie. Die Zusammenfassung aller Men-
gen, die in der Stufe n gebildet werden, nennen wir Vn . Ganz zu Beginn wurden
noch keine Mengen gebildet, also ist:
(6) V0 D ;.
Um die Mengen zu beschreiben, die in den folgenden Stufen gebildet werden, hilft
uns folgende Terminologie:
3 Mengenlehre 47

Definition 3.1 Die Menge aller Teilmengen von A heißt Potenzmenge von A und
wird mit P .A/ bezeichnet. Mit anderen Worten:
(7) P .A/ D fB W B  Ag.

Wenn zum Beispiel A D f1; 2g, dann hat A vier Teilmengen, und zwar ;, f1g, f2g
und f1; 2g. Daher gilt P .A/ D f;; f1g; f2g; f1; 2gg. Die Bedeutung dieser Idee für
die Beschreibung des Mengenuniversums ist, dass man sich die Potenzmenge von
A als die Zusammenfassung aller Mengen, die aus den Elementen von A gebildet
werden können, vorstellen kann.
Kommen wir nun zu unserer Mengenbildung in einzelnen Stufen zurück und
erinnern uns kurz, dass Vn die Zusammenfassung aller Mengen ist, die in Stufe n
gebildet werden, und dass wir, um eine Menge in der nächsten Stufe zu bilden,
als Elemente nur Mengen aus Vn verwenden wollen. Mit anderen Worten ist jede
Menge, die in der nächsten Stufe gebildet wird, eine Teilmenge von Vn . Tatsächlich
nehmen wir an, dass in der nächsten Stufe jede Teilmenge von Vn gebildet wird
(wenn sie nicht bereits gebildet wurde). Somit besteht die Zusammenfassung aller
Mengen, die in Stufe n C 1 gebildet werden, aus allen Mengen in Vn zusammen mit
allen Teilmengen von Vn :
(8) VnC1 D Vn [ P .Vn /.
Dies ist eine rekursive Definition, die wir benutzen können, um V1 , V2 und so weiter
nacheinander zu definieren. Zum Beispiel:
(9) V1 D V0 [ P .V0 / D ; [ P .;/ D ; [ f;g D f;g,
V2 D V1 [ P .V1 / D f;g [ P .f;g/ D f;g [ f;; f;gg D f;; f;gg,
V3 D V2 [ P .V2 / D f;; f;gg [ P .f;; f;gg/
D f;; f;gg [ f;; f;g; ff;gg; f;; f;ggg D f;; f;g; ff;gg; f;; f;ggg
und so weiter.
(Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass in jedem der bisherigen Fälle
Vn  P .Vn / gilt, somit könnte (8) durch die einfachere Gleichung VnC1 D P .Vn /
ersetzt werden. Tatsächlich ist es nicht schwer, mit vollständiger Induktion zu zei-
gen, dass sich dieses Muster fortsetzt.)
Alle Mengen in den Stufen, die wir bisher beschrieben haben, sind endliche
Mengen. Aber die Mathematik benötigt auch unendliche Mengen, also können wir
hier noch nicht aufhören. Um zu sehen, wie die Mengenbildung fortgesetzt wird,
fassen wir vorerst alle Mengen, die bisher gebildet wurden, in einer neuen Men-
ge, genannt V! , zusammen. (Für unsere Belange kann der Index ! als ein Zeichen
gedacht werden, wodurch diese Stufe von den vorherigen unterschieden wird.)
(10) V! D V0 [ V1 [ V2 [ : : :
Zur Fortsetzung dieser Konstruktion gehen wir einfach wie bisher vor und bilden
aus den Elementen von V! neue Mengen.
(11) V!C1 D V! [ P .V! /,
V!C2 D V!C1 [ P .V!C1 /,
und so weiter.
48 3 Mengenlehre

Die ersten unendlichen Mengen tauchen in V!C1 auf. Zum Beispiel enthält V! al-
le Mengen ;; f;g; ff;gg und so weiter, also enthält V!C1 die unendliche Menge
f;; f;g; ff;gg; : : :g.
Natürlich sind wir immer noch nicht fertig, weil wir noch weitere Mengen bilden
können:
(12) V!C! D V0 [ V1 [ V2 [ : : : [ V! [ V!C1 [ V!C2 [ : : :,
V!C!C1 D V!C! [ P .V!C! /,
V!C!C2 D V!C!C1 [ P .V!C!C1 /
und so weiter.
Es ist schwer zu sagen, wie lange dieser Prozess weitergehen wird. Zu sagen, dass
er „für immer“ weitergehen wird, wäre nicht passend, da der Prozess, als wir V!
erreicht hatten, bereits für immer weitergegangen war und wir ihn dennoch fortge-
setzt haben. Wenn unsere Beschreibung dieses Mengenbildungsprozesses dadurch
etwas vage erscheint, braucht man sich nicht zu beunruhigen, unsere Absicht mit
dieser Beschreibung ist lediglich die Motivation der übrigen ZFC-Axiome. Die
ZFC-Axiome sind Sätze über Mengen, von denen wir, sogar auf Grundlage unse-
rer etwas vagen Beschreibung des Mengenuniversums, sehen werden, dass sie wahr
sind. In den Axiomen selbst wird keine Vagheit zu finden sein, und, wie bereits
angekündigt, die gesamte Theorie wird dann von den Axiomen hergeleitet.
Wir sind nun so weit, um zur Auflistung der ZFC-Axiome zurückzukehren. Die
meisten der übrigen Axiome behaupten die Existenz von Mengen, die auf bestimm-
te Weise aus bereits gegebenen Mengen gebildet werden. Zum Beispiel besagt unser
nächstes Axiom, dass aus zwei gegebenen Mengen x und y die Menge fx; yg ge-
bildet werden kann, deren Elemente genau diese zwei Mengen x und y sind:

Paarmengenaxiom Für alle Mengen x und y gibt es eine Menge z, die x und
y enthält und nichts weiter. Formal ausgedrückt: 8x8y9z8w.w 2 z $ .w D
x _ w D y//.

Hier wollen wir Folgendes bemerken: Wenn x D y, dann enthält die Menge z,
deren Existenz das Paarmengenaxiom absichert, nur x und nichts anderes, d. h. z D
fxg.
Um zu sehen, dass das Paarmengenaxiom in dem Mengenuniversum, wie wir es
gerade beschrieben haben, wahr ist, nehmen wir an, wir haben zwei Mengen x und
y. Jede dieser Mengen muss in einer bestimmten Stufe gebildet worden sein, also
muss es eine Stufe ˛ geben, in der beide Mengen x und y bereits gebildet wurden.
Somit gilt x; y 2 V˛ , also ist fx; yg eine Teilmenge von V˛ und wird in der nächsten
Stufe gebildet.
Unser nächstes Axiom besagt, dass wir für eine gegebene Menge x die Potenz-
menge von x bilden können. Das ist wahr, weil, wenn x in Stufe ˛ gebildet wurde,
dann müssen alle Elemente von x in vorigen Stufen gebildet worden sein, da x nur
bereits gebildete Mengen enthalten kann. Aber dann wird jede Teilmenge von x
auch in Stufe ˛ gebildet (wenn nicht schon vorher), somit können all diese Teil-
mengen in Stufe ˛ C 1 zur Potenzmenge von x zusammengefasst werden.
3 Mengenlehre 49

Potenzmengenaxiom Für jede Menge x gibt es eine Menge y, deren Elemente


alle Teilmengen von x sind. Formal ausgedrückt: 8x9y8z.z 2 y $ 8w.w 2
z ! w 2 x//.

Eine andere grundlegende mengentheoretische


S Operation ist die Vereinigung von
Mengen. Wenn x eine Menge ist, dann ist x die S Vereinigung aller Mengen aus
x. Wenn zum Beispiel xSD fa; b; c; d g, dann ist x D a [ b [ c [ d . Genauer
sind die Elemente von S x diejenigen Mengen, die Elemente von mindestens ei-
nem Element von x sind. x ist eine Menge, weil, wenn die Menge x in Stufe ˛
gebildet wurde, dann wurden
S all ihre Elemente vorher gebildet. All deren Elemente,
d.
S h. die Elemente von x, wurden also noch weiter vorher gebildet. Daher kann
x auch in Stufe ˛ gebildet werden.
S
Vereinigungsmengenaxiom Für alle Mengen x ist x auch eine Menge. Formal
ausgedrückt: 8x9y8z.z 2 y $ 9w.w 2 x ^ z 2 w//.

Als ein Beispiel dafür, wie mit diesen Axiomen Sätze hergeleitet werden können,
beweisen wir jetzt, dass für drei beliebige, gegebene Mengen eine Menge existiert,
die diese drei Mengen und nichts anderes enthält. (Dies erklärt außerdem, warum
wir nicht zusätzlich zum Paarmengenaxiom noch ein „Dreiermengenaxiom“ einge-
führt haben.) Wir werden den Beweis auf Deutsch formulieren, aber Lesende, die in
formaler Logik geübt sind, werden unseren Beweis in eine Herleitung umwandeln
können, die vollständig in der Sprache der Mengentheorie geschrieben ist und in
der jedes Schließen durch eine logische Regel begründet ist.

Satz 3.2 Für alle Mengen x; y und z gibt es eine Menge w, die x; y und z und
nichts weiter enthält.

Beweis Mit dem Paarmengenaxiom sei u D fx; yg, v D fzg und tS


D fu; vg. Dann
können wir mit dem Vereinigungsmengenaxiom die Menge w D t D u [ v D
fx; yg [ fzg D fx; y; zg wie gewünscht bilden. 

Was passiert nun mit Freges Voraussetzung, dass jeder Begriff einen Umfang
besitzt? Wenn P .x/ eine Aussage mit freier Variable x ist, wird dann die Menge
fx W P .x/g je gebildet? In jeder Stufe ˛ könnten wir diejenigen Mengen heraus-
suchen, die in Stufe ˛ gebildet wurden und für die sich, wenn sie in P .x/ für x
eingesetzt werden, eine wahre Aussage ergibt, und diese Mengen könnten wir in
der nächsten Stufe zu einer Menge zusammenfassen. Mit anderen Worten können
wir die Menge z D fx 2 V˛ W P .x/g bilden, die eine Teilmenge von V˛ ist und
daher ein Element von V˛C1 . Es könnte jedoch Mengen geben, die, wenn sie für
x eingesetzt werden, die Aussage P .x/ wahr machen, die aber erst später gebil-
det werden; solche Mengen wären dann nicht in z enthalten. Außerdem würden
wir eventuell auch gern Mengen mit allgemeineren Aussagen P .x; w1 ; w2 ; : : : ; wn /
definieren, die x zu anderen Mengen w1 ; w2 ; : : : ; wn in Beziehung setzt. Wir könn-
ten für alle Mengen y; w1 ; w2 ; : : : ; wn , wenn y einmal gebildet wurde, die Menge
50 3 Mengenlehre

fx 2 y W P .x; w1 ; w2 ; : : : ; wn /g bilden, aber es kann passieren, dass es nie eine Stu-


fe geben wird, in der wir tatsächlich die Menge fx W P .x; w1 ; w2 ; : : : ; wn /g bilden
können. Aus diesem Grund enthält ZFC nur eine beschränkte Version von Freges
grundlegender Voraussetzung.

Komprehensionsaxiom Für eine Formel P .x; w1 ; w2 ; : : : ; wn / in der Sprache


der Mengentheorie, deren einzige, freie Variablen x; w1 ; w2 ; : : : ; wn sind, für alle
Mengen w1 ; w2 ; : : : ; wn und für jede Menge y gibt es eine Menge, die genau
die Elemente von y enthält, die, wenn sie für x eingesetzt werden, die For-
mel P .x; w1 ; w2 ; : : : ; wn / wahr machen. Formal ausgedrückt: Für jede Formel
P .x; w1 ; w2 ; : : : ; wn / in der Sprache der Mengentheorie, deren einzige freie Varia-
blen x; w1 ; w2 ; : : : ; wn sind, ist folgende Aussage ein ZFC-Axiom:
(13) 8w1 8w2 : : :8wn 8y9z8x.x 2 z $ .x 2 y ^ P .x; w1 ; w2 ; : : : ; wn ///.
Das Komprehensionsaxiom ist eigentlich ein sogenanntes Axiomenschema. Das
bedeutet, dass es eine unendliche Liste von Axiomen ist; für jede Formel
P .x; w1 ; w2 ; : : : ; wn / aus der Sprache der Mengentheorie gibt es ein Axiom. Zum
Beispiel sehen wir, wenn wir für P .x; w1 ; w2 / die Formel „:.w1 2 x ^ w2 2 x/“
nehmen, dass folgende Aussage ein ZFC-Axiom ist:
(14) 8w1 8w2 8y9z8x.x 2 z $ .x 2 y ^ :.w1 2 x ^ w2 2 x///.
Dieses Axiom besagt, dass wir für alle Mengen w1 ; w2 und y die Menge z D
fx 2 y W x enthält nicht beide Mengen w1 und w2 als Elementeg bilden können.
Genauso führt jede andere Wahl für P .x; w1 ; w2 ; : : : ; wn / zu einem weiteren ZFC-
Axiom. In Freges höherstufiger Logik könnten wir das Komprehensionsaxiom als
ein einziges Axiom beginnend mit „8P “ aufschreiben. Aber die Logik von ZFC
ist erststufig, und Quantifikation über Begriffe ist somit nicht erlaubt, deswegen
benötigen wir hier ein Axiomenschema.
An dieser Stelle sollte bemerkt werden, dass das Komprehensionsaxiom imprä-
dikative Definitionen zulässt. Das heißt, die Aussage P .x; w1 ; w2 ; : : : ; wn / kann
Quantifikation über alle Mengen enthalten, also Quantifikation über eine Zusam-
menfassung, die auch die Menge z enthält, die definiert wird. Die Akzeptanz des
Komprehensionsaxioms hängt von der Voraussetzung ab, dass in jeder Stufe ˛ in
der Bildung des Mengenuniversums alle möglichen Teilmengen von V˛ in V˛C1
enthalten sind. Mit anderen Worten wird vorausgesetzt, dass, sobald es möglich
ist, bestimmte Elemente aus V˛ zusammenzufassen – auch wenn dies durch eine
Definition geschieht, die auf Mengen Bezug nimmt, die in dieser Stufe noch nicht
gebildet wurden –, diese Zusammenfassung in V˛C1 enthalten ist.
Diese Annahme ist ziemlich ähnlich zu der Annahme, die zur Russell’schen An-
tinomie führte, sodass sich der Leser fragen könnte, ob die Russell’sche Antinomie
nicht in ZFC hergeleitet werden könnte. Das Komprehensionsaxiom erlaubt uns
nicht die Russell’sche Menge R D fx W x … xg zu bilden, aber es garantiert uns
für jede Menge A die Existenz der Menge RA D fx 2 A W x … xg. In Analo-
gie zur Herleitung der Russell’schen Antinomie fragen wir uns nun, ob RA 2 RA
gilt oder nicht. Wenn RA 2 A gilt, dann können wir wie zuvor schließen, dass
3 Mengenlehre 51

RA 2 RA $ RA … RA , was nicht sein kann. Aber dies ist nicht länger eine An-
tinomie, es ist einfach ein Beweis per reductio ad absurdum, dass RA … A. Da
dieses Vorgehen für jede Menge A verwendet werden kann, haben wir gezeigt, dass
für jede Menge A eine Menge existiert, die kein Element von A ist. Mit anderen
Worten wurde die Russell’sche Antinomie in einen Beweis des folgenden Satzes
umgewandelt:

Satz 3.3 Es gibt keine universelle Menge, d. h., es gibt keine Menge, die alle Men-
gen als Elemente enthält.

Es ist wichtig zu erkennen, dass Satz 3.3 nicht besagt, dass es keine Zusam-
menfassung aller Mengen gibt; tatsächlich nehmen wir implizit, indem wir die
ZFC-Axiome als wahre Aussagen akzeptieren, an, dass es eine solche Zusammen-
fassung gibt. Wir benutzen sie als das Universum aller Objekte, für die die Variablen
in der Sprache der Mengentheorie stehen. Was Satz 3.3 besagt, ist, dass die Zusam-
menfassung aller Mengen nicht selbst wieder eine Menge ist. Somit zwingen uns
die ZFC-Axiome anzuerkennen, dass nicht jede Zusammenfassung eine Menge ist.
Mengentheoretiker nennen Zusammenfassungen von Mengen Klassen und Zusam-
menfassungen von Mengen, die selbst keine Mengen sind, echte Klassen. Somit ist
die Zusammenfassung aller Mengen eine echte Klasse. Es ist zu beachten, dass,
da die Variablen der Mengentheorie für die Objekte aus dem Mengenuniversum
stehen, diese Variablen immer für Mengen und nicht für echte Klassen stehen.
Wir können ein besseres Verständnis dieses Phänomens erhalten, wenn wir auf
unsere anfängliche Mengenkonzeption zurückkommen. Dieser Konzeption entspre-
chend ist das Wort „Menge“ für Zusammenfassungen von Mengen reserviert, die in
einer Stufe der Mengenhierarchie gebildet werden. Der Grund, warum die Zusam-
menfassung aller Mengen keine Menge ist, besteht darin, dass es keine Stufe gibt, in
der die Zusammenfassung aller Mengen gebildet werden könnte. Man kann in jeder
Stufe die Zusammenfassung aller Mengen bilden, die bereits gebildet wurden, aber
es gibt dann immer Mengen, die in späteren Stufen gebildet werden und in einer sol-
chen Zusammenfassung nicht enthalten wären. Somit kann die Zusammenfassung
aller Mengen nie gebildet werden und ist daher keine Menge.
Obwohl die Russell’sche Antinomie in ZFC anscheinend nicht hergeleitet wer-
den kann, ist dies keine Garantie dafür, dass die Theorie frei von Antinomien ist.
Sicherlich wäre es wünschenswert einen Beweis zu haben, dass in ZFC keine Wi-
dersprüche hergeleitet werden können, d. h., dass ZFC konsistent ist. Wir werden in
den Kap. 6 und 7 noch wesentlich mehr über die Möglichkeit eines solchen Konsis-
tenzbeweises sagen. Im Moment werden wir es bei der Bemerkung belassen, dass,
obwohl noch niemand einen Widerspruch in ZFC gefunden hat, wir keine Garantie
dafür haben, dass solche Widersprüche in Zukunft nicht doch auftreten könnten.
Es gibt noch einige andere Axiome in ZFC, aber die Liste, die wir bisher ange-
geben haben, reicht bereits aus, um mit der Arbeit, die ganze Mathematik in ZFC
herzuleiten, zu beginnen. Wir werden einige der weiteren Axiome einführen, wenn
wir sie benötigen.
52 3 Mengenlehre

Wir wollen nun sehen, ob wir Freges Ansatz, die natürlichen Zahlen zu de-
finieren, nachmachen und diese Argumentation auf den ZFC-Axiomen aufbauen
können. Ein Kernbestandteil von Freges Definition ist die Idee einer eineindeu-
tigen Zuordnung, was eine Paarung von Objekten einer Menge mit denen einer
anderen beinhaltet. Um dies in der Sprache der Mengentheorie auszudrücken, be-
nötigen wir den Ausdruck geordnetes Paar ha; bi. Da die einzigen Objekte, die in
ZFC betrachtet werden, Mengen sind, müssen wir ha; bi als eine bestimmte Men-
ge ausgehend von a und b definieren. Die Menge fa; bg, deren Existenz durch
das Paarmengenaxiom garantiert ist, können wir hier leider nicht benutzen, weil
diese Menge keine Ordnung der Mengen a und b angibt; fa; bg und fb; ag sind
(mit dem Extensionalitätsaxiom) dieselben Mengen, aber wenn a ¤ b, dann muss
ha; bi ¤ hb; ai gelten. Es gibt viele Möglichkeiten, dem ungeordneten Paar fa; bg
zusätzliche Informationen hinzuzufügen, sodass die Ordnung mit angegeben wird.
Die heutzutage am häufigsten verwendete Möglichkeit wurde von dem polnischen
Logiker Kazimierz Kuratowski (1896–1980) im Jahr 1921 vorgeschlagen:

Definition 3.4 Für alle Mengen a und b ist das geordnete Paar ha; bi die Menge
ffa; bg; fagg. (Die Existenz dieser Menge wird durch dreimalige Anwendung des
Paarmengenaxioms garantiert.)

Es ist nicht schwer zu zeigen, dass damit für alle Mengen a; b; c und d gilt:
ha; bi D hc; d i genau dann, wenn a D c und b D d .
Für zwei beliebige Mengen A und B heißt die Menge aller geordneten Paare
ha; bi mit a 2 A und b 2 B kartesisches Produkt von A und B und wird mit A  B
bezeichnet. Mit anderen Worten
(15) A  B D fx W 9a9b.a 2 A ^ b 2 B ^ x D ha; bi/g.
Wenn zum Beispiel A D fp; qg und B D fx; y; zg, dann ist AB D fhp; xi; hp; yi;
hp; zi; hq; xi; hq; yi; hq; zig.
Aber garantieren uns die ZFC-Axiome, dass für alle Mengen A und B eine sol-
che Menge A  B existiert? Wir bemerken, dass wir die Definition (15) aus dem
Komprehensionsaxiom leider nicht ableiten können. Dennoch kann die Existenz
von A  B gezeigt werden:

Satz 3.5 Für alle Mengen A und B gibt es eine Menge, deren Elemente genau alle
geordneten Paare ha; bi mit a 2 A und b 2 B sind.

Beweis Für jedes a 2 A und b 2 B gilt fa; bg  A [ B, also fa; bg 2 P .A [ B/.


Genauso ist fag 2 P .A [ B/, und damit ist ha; bi D ffa; bg; fagg 2 P .P .A [ B//.
Daher ist die Definition von A  B in (15) äquivalent zu folgender Definition, die
zwar schwerer zu verstehen ist als (15), aber den Vorteil hat, dass die Existenz der
angegebenen Menge durch das Komprehensionsaxiom (zusammen mit dem Paar-,
Vereinigungs- und Potenzmengenaxiom) garantiert wird:
(16) A  B D fx 2 P .P .A [ B// W 9a9b.a 2 A ^ b 2 B ^ x D ha; bi/g. 
3 Mengenlehre 53

Definition 3.6 Eine Menge R  A  B heißt Relation von A nach B. Sie heißt
Funktion von A nach B, wenn es für jedes a 2 A genau ein b 2 B gibt, sodass
ha; bi 2 R. Sie heißt eineindeutige Zuordnung zwischen A und B, wenn sie eine
Funktion von A nach B ist und es zusätzlich für jedes b 2 B genau ein a 2 A
gibt, sodass ha; bi 2 R. Zwei Mengen A und B sind gleichmächtig, wenn es eine
eineindeutige Zuordnung zwischen ihnen gibt.

Häufig wird der Buchstabe f verwendet, um eine Funktion zu bezeichnen. Wir


schreiben f W A ! B um anzugeben, dass f eine Funktion von A nach B ist. Wenn
f W A ! B, dann sagen wir, dass A der Definitionsbereich von f ist, und für jedes
a 2 A schreiben wir f .a/ für das eindeutige b 2 B mit ha; bi 2 f . Wenn zum
Beispiel A D fp; qg, B D fx; y; zg und f D fhp; zi; hq; xig, dann f W A ! B,
f .p/ D z und f .q/ D x; f ist jedoch keine eineindeutige Zuordnung zwischen A
und B, da kein Element von A mit y als geordnetes Paar in f enthalten ist. Häufig
wird eine Funktion von A nach B durch eine spezifische Regel angegeben, die
benutzt werden kann, um f .a/ für jedes a 2 A zu bestimmen. Ausgehend von einer
solchen Regel kann die Menge f bestimmt werden, indem wir benutzen, dass f D
fha; bi 2 A  B W b D f .a/g. Wenn N zum Beispiel die Menge aller natürlichen
Zahlen ist, dann können wir eine Funktion f W N ! N mit der Regel f .n/ D 2n,
für jede natürliche Zahl n, definieren. Entsprechend der Schreibweise, die in diesem
Paragrafen eingeführt wurde, erhalten wir f D fh0; 0i; h1; 2i; h2; 4i; h3; 6i; : : :g.
Angelehnt an Frege sollte in unserem nächsten Schritt die Anzahl der Elemente
einer Menge A als der Umfang des Begriffs gleichmächtig zu A definiert werden,
oder mit anderen Worten als die Menge aller zu A gleichmächtigen Mengen. Da
f;g zum Beispiel ein Element hat, sollte die Zahl 1 folgende Menge sein:
(17) fx W x ist gleichmächtig zu f;gg.
Aber genau wie für unsere Definition von A  B in (15) müssen wir zuerst über-
prüfen, ob die Existenz dieser Menge in ZFC bewiesen werden kann. Im Fall von
A  B war es uns möglich, Definition (15) zu begründen, indem wir ihre Äquiva-
lenz zu (16) gezeigt haben und dann das Komprehensionsaxiom anwenden konnten.
Bedauerlicherweise definiert (17) aber keine Menge.

Satz 3.7 Es gibt keine Menge, die alle zu f;g gleichmächtigen Mengen enthält.
Anders gesagt ist die Klasse aller zu f;g gleichmächtigen Mengen eine echte Klasse.

Beweis Angenommen, A ist eine Menge, die alle zu f;g gleichmächtigenSMengen


S Menge x die Menge fxg 2 A, also ist x 2
enthält. Dann ist für jede A. Mit
anderen Worten enthält A alle Mengen, was Satz 3.3 widerspricht. 

Zum Glück ist es nicht sehr schwer, dieses Problem zu lösen. Statt die Anzahl
der Elemente einer Menge A als die Zusammenfassung aller zu A gleichmächtigen
Mengen zu definieren, definieren wir sie als eine bestimmte Menge aus dieser Zu-
sammenfassung. So wird die Zahl 0 eine Menge ohne Elemente sein, die Zahl 1
54 3 Mengenlehre

wird eine Menge mit einem Element sein und so weiter. Im Fall der Zahl 0 haben
wir keine Wahl: Es gibt nur eine Menge ohne Elemente, und zwar ;, also definieren
wir die Zahl 0 als ;. Aber welche einelementige Menge sollten wir für die Zahl 1
nehmen? Die am häufigsten benutzte Möglichkeit wurde zuerst von dem ungari-
schen Mathematiker John von Neumann (1903–1957) vorgeschlagen, obwohl die
Idee dafür bereits in Freges Arbeit zu finden ist. Wir erinnern uns, dass Frege, um
nachzuweisen, dass jede natürliche Zahl n einen Nachfolger hat, zeigte, dass die
Anzahl der Elemente der Menge f0; 1; 2; : : : ; ng der Nachfolger von n ist. Warum
definieren wir den Nachfolger von n nicht direkt als die Menge f0; 1; 2; : : : ; ng?
Diese Definition ist rekursiv, und wir können sie wie folgt verwenden, um alle na-
türlichen Zahlen zu generieren:
(18) 0 D ;,
1 D f0g D f;g,
2 D f0; 1g D f;; f;gg,
3 D f0; 1; 2g D f;; f;g; f;; f;ggg
und so weiter.
Es ist zu beachten, dass wenn n0 der Nachfolger von n ist, dann ist n D f0; 1;
2; : : :; n  1g und n0 D f0; 1; 2; : : :; n  1; ng, also ist n0 D n [ fng. Dies stellt
uns eine einfache, allgemeine Definition der Nachfolgerbildung zur Verfügung. Die
Kombination mit Freges Definition des reflexiven, transitiven Abschlusses erlaubt
uns nun, die natürlichen Zahlen zu definieren:

Definition 3.8 Für jede Menge x definieren wir den Nachfolger von x als die Men-
ge S.x/ D x [ fxg. Eine Menge F heißt unter Nachfolgerbildung abgeschlossen,
wenn 8x.x 2 F ! S.x/ 2 F /. Eine Menge x heißt natürliche Zahl, wenn für jede
Menge F mit ; 2 F , die unter Nachfolgerbildung abgeschlossen ist, gilt x 2 F .

Die Existenz des Nachfolgers jeder Menge x wird durch das Paar- und das Ver-
einigungsmengenaxiom garantiert. Wenn wir diese Tatsache wiederholt anwenden,
können wir die Existenz jeder Menge, die in (18) aufgelistet wurde, zeigen. Aber
was ist mit der Menge aller natürlichen Zahlen? Es stellt sich heraus, dass die
Existenz dieser Menge mit den Axiomen, die wir bisher eingeführt haben, nicht be-
wiesen werden kann. Tatsächlich kann die Unbeweisbarkeit der Existenz der Menge
der natürlichen Zahlen bewiesen werden! Die Idee dieses Beweises ist, dass, wenn
wir unsere Konstruktion des Mengenuniversums mit V! beendet hätten, dann wür-
den alle Axiome, die bisher genannt wurden, in diesem Mengenuniversum gelten.
Aber dieses Universum würde keine unendliche Menge enthalten und daher auch
nicht die Menge der natürlichen Zahlen. Formaler sagen wir, V! ist ein Modell der
bisher genannten Axiome, in dem es keine Menge der natürlichen Zahlen gibt. So-
mit ist die Existenz der Menge der natürlichen Zahlen keine Folgerung aus den
bisher genannten Axiomen. Wir benötigen ein weiteres Axiom:
3 Mengenlehre 55

Unendlichkeitsaxiom Es gibt eine Menge, bezeichnet durch N, deren Elemente


genau alle natürlichen Zahlen sind.

Da sich unsere Definition der natürlichen Zahlen an Freges Definition orientiert, ist
es nicht überraschend, dass wir mit unserer Definition die Peano-Axiome beweisen
können:

Satz 3.9
(i) 0 ist eine natürliche Zahl.
(ii) Für jede natürliche Zahl x ist S.x/ eine natürliche Zahl.
(iii) 0 ist kein Nachfolger einer natürlichen Zahl.
(iv) Für alle natürlichen Zahlen x und y, wenn x ¤ y, dann S.x/ ¤ S.y/.
(v) Für jede Menge F , wenn 0 2 F und F unter Nachfolgerbildung abgeschlos-
sen ist, dann enthält F alle natürlichen Zahlen.

Beweis Siehe Übung 3.1. 

Mit den Peano-Axiomen können wir nun fortfahren, die Theorie der natürlichen
Zahlen zu entwickeln. Wir werden dieses Vorhaben hier zwar nicht sehr weit, aber
doch genügend ausführen, um dem Leser einen Eindruck zu geben, wie es in Gänze
aussehen würde. Wir beginnen mit der Definition der Addition natürlicher Zahlen.

Definition 3.10 Für jedes m 2 N ist


(i) m C 0 D m, und
(ii) für jedes n 2 N ist m C S.n/ D S.m C n/.

Es könnte der Eindruck entstehen, dass Definition 3.10 einen Kreisschluss ent-
hält, da in der Formel für m C S.n/ in Klausel (ii) die Addition wieder auftaucht; es
ist aber tatsächlich eine rekursive Definition, mit der die Werte von m C 0, m C 1,
m C 2 und so weiter einer nach dem anderen bestimmt werden können. Hier folgt
ein Beispiel, wie mit dieser Definition die Summe 3 C 2 berechnet wird:
(19) (a) 3 C 0 D 3 (mit 3.10(i))
(b) 3 C 1 D 3 C S.0/
D S.3 C 0/ (mit 3.10(ii))
D S.3/ (mit (a))
D 4:
(c) 3 C 2 D 3 C S.1/
D S.3 C 1/ (mit 3.10(ii))
D S.4/ (mit (b))
D 5:
56 3 Mengenlehre

Dasselbe Vorgehen kann für jede Additionsaufgabe verwendet werden, um mit De-
finition 3.10 dessen Antwort zu berechnen. Tatsächlich kann man beweisen, dass
es eine eindeutige Operation auf den natürlichen Zahlen gibt, die der Beschreibung
der Addition, die in Definition 3.10 gegeben wurde, entspricht. Genauer kann man
in ZFC beweisen, dass es eine eindeutige Funktion P W N  N ! N gibt, sodass,
wenn wir m C n als P .hm; ni/ definieren, dann die Gleichungen (i) und (ii) der
Definition 3.10 erfüllt sind (siehe Übung 3.2).
Alle üblichen Eigenschaften der Addition natürlicher Zahlen können mit Defi-
nition 3.10 bewiesen werden. Da diese Definition rekursiv ist, überrascht es nicht,
dass für die meisten dieser Beweise die Methode der vollständigen Induktion ver-
wendet werden muss. Beispielsweise folgt hier der Beweis, dass die Addition na-
türlicher Zahlen assoziativ ist:

Satz 3.11 Für alle natürlichen Zahlen m; n und k gilt m C .n C k/ D .m C n/ C k.

Beweis Seien m und n zwei natürliche Zahlen. Wir zeigen nun per Induktion
über k, dass 8k.m C .n C k/ D .m C n/ C k/.
Induktionsanfang: Sei k D 0, dann gilt

m C .n C k/ D m C .n C 0/
DmCn (mit 3.10(i))
D .m C n/ C 0 (mit 3.10(i))
D .m C n/ C k:

Induktionsschritt: Sei k eine beliebige natürliche Zahl und gelte m C .n C k/ D


.m C n/ C k. Dann gilt

m C .n C S.k// D m C S.n C k/ (mit 3.10(ii))


D S.m C .n C k// (mit 3.10(ii))
D S..m C n/ C k/ (mit Induktionsvoraussetzung)
D .m C n/ C S.k/ (mit 3.10(ii)). 

Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll zu erläutern, wie die Verwendung der
vollständigen Induktion in diesem Beweis durch die Klausel (v) des Satzes 3.9 be-
gründet wird. Sei F D fk 2 N W m C .n C k/ D .m C n/ C kg, dann zeigt
der Induktionsanfang, dass 0 2 F , und der Induktionsschritt zeigt, dass F unter
Nachfolgerbildung abgeschlossen ist. Deswegen enthält F mit Satz 3.9(v) alle na-
türlichen Zahlen, also gilt 8k.m C .n C k/ D .m C n/ C k/.
Für die anderen üblichen Eigenschaften der Addition können ähnliche Beweise
gegeben werden, wie beispielsweise für die Kommutativität .m C n D n C m/ und
die Kürzungsregel (wenn m C k D n C k, dann m D n) (siehe Übungen 3.3–3.5).
Die Definitionen der anderen Operationen auf den natürlichen Zahlen sind ebenfalls
sehr ähnlich. Die Multiplikation wird beispielsweise wie folgt definiert:
3 Mengenlehre 57

Definition 3.12 Für jedes m 2 N ist


(i) m  0 D 0, und
(ii) für jedes n 2 N ist m  S.n/ D .m  n/ C m.

Um zu veranschaulichen, wie mit dieser Definition einfache Eigenschaften der


Multiplikation natürlicher Zahlen nachgewiesen werden, zeigen wir hier das Distri-
butivgesetz:

Satz 3.13 Für alle natürlichen Zahlen m; n und k gilt: m.nCk/ D .mn/C.mk/.

Beweis Seien m und n zwei natürliche Zahlen. Wir zeigen nun per Induktion
über k, dass 8k.m  .n C k/ D .m  n/ C .m  k//.
Induktionsanfang: Sei k D 0, dann gilt

m  .n C k/ D m  .n C 0/
Dmn (mit 3.10(i))
D .m  n/ C 0 (mit 3.10(i))
D .m  n/ C .m  0/ (mit 3.12(i))
D .m  n/ C .m  k/:

Induktionsschritt: Sei k eine beliebige natürliche Zahl und gelte m  .n C k/ D


.m  n/ C .m  k/. Dann gilt

m  .n C S.k// D m  S.n C k/ (mit 3.10(ii))


D .m  .n C k// C m (mit 3.12(ii))
D ..m  n/ C .m  k// C m (mit Induktionsvoraussetzung)
D .m  n/ C ..m  k/ C m/ (mit 3.11)
D .m  n/ C .m  S.k// (mit 3.12(ii)). 

Als letzten Schritt in unserer Darstellung der Entwicklung der Theorie der natür-
lichen Zahlen wollen wir folgende Definition für die Ordnung auf den natürlichen
Zahlen angeben:

Definition 3.14 Für alle natürlichen Zahlen m und n sagen wir, m ist kleiner n,
und schreiben m < n, wenn es eine natürliche Zahl k ¤ 0 gibt, sodass m C k D n.

Mit dieser Definition können wir alle gewöhnlichen Eigenschaften der Ordnung
auf den natürlichen Zahlen wie die Trichotomie 8m8n.m < n _ m D n _ n < m/
zeigen (siehe Übung 3.8).
Hauptsächlich werden die natürlichen Zahlen dafür verwendet, die Anzahl der
Elemente in einer Menge zu zählen. Wenn n eine natürliche Zahl ist, sagen wir,
eine Menge A hat n Elemente, wenn A zu n gleichmächtig ist. Eine Menge A heißt
58 3 Mengenlehre

endlich, wenn sie n Elemente hat, für irgendeine natürliche Zahl n, und sonst heißt
A unendlich.
Natürlich gibt es auch Verwendungen von Zahlen, für die die natürlichen Zahlen
ungeeignet sind; manchmal benötigen wir andere Zahlen, wie zum Beispiel nega-
tive Zahlen oder Brüche. Daher müssen wir Zahlensysteme definieren, die diese
anderen Arten Zahlen enthalten. Drei weitere Zahlensysteme werden definiert: die
ganzen Zahlen, die rationalen Zahlen und die reellen Zahlen. Bevor wir aber die for-
malen Definitionen geben, ist eine informelle Beschreibung dieser Zahlensysteme
sicherlich hilfreich.
Die Menge aller ganzen Zahlen, bezeichnet mit Z, enthält alle positiven und
negativen, ganzen Zahlen:
(20) Z D f: : :; 3; 2; 1; 0; 1; 2; 3; : : :g.
Die Menge aller rationalen Zahlen, bezeichnet mit Q, enthält alle Zahlen, die als
Brüche ausgedrückt werden können. Dies beinhaltet alle ganzen Zahlen, da eine
ganze Zahl immer als Bruch mit Nenner 1 geschrieben werden kann (zum Beispiel
17 D 17=1):
(21) Q D f pq W p und q sind ganze Zahlen, q ¤ 0g D f 12 ;  53 ; 17; : : :g.
Die Menge der reellen Zahlen, bezeichnet mit R, kann man sich als die Menge aller
Punkte auf einer Zahlengeraden
p vorstellen. Sie enthält alle rationalen Zahlen und
außerdem Zahlen wie 2 und , die nicht als Brüche geschrieben werden können.
Wir können uns nun der formalen Definition der ganzen Zahlen und der Herlei-
tung ihrer Grundeigenschaften aus den ZFC-Axiomen zuwenden. Als Motivation
für unsere Definition stellen wir uns die ganzen Zahlen als Ergebnisse von Subtrak-
tionsaufgaben aus Paaren natürlicher Zahlen vor. Die Zahl 3 ist beispielsweise das
Ergebnis der Subtraktionsaufgabe 4  7, welche wir durch das Paar h4; 7i repräsen-
tieren können. Hier ist zu beachten, dass wir geordnete Paare verwenden müssen;
das Paar h7; 4i repräsentiert die Subtraktionsaufgabe 7  4, deren Ergebnis 3 und
nicht 3 ist. Nun könnte man meinen, dass ganze Zahlen einfach als Paare natür-
licher Zahlen definiert werden könnten. Die Zahl 3 würde beispielsweise als das
Paar h4; 7i definiert werden.
Leider funktioniert dieser Ansatz nicht, weil verschiedene Subtraktionsaufgaben
teilweise dasselbe Ergebnis haben. 8  11 ist beispielsweise eine weitere Aufgabe
mit Ergebnis 3. Welches geordnete Paar sollte die ganze Zahl 3 sein, h4; 7i oder
h8; 11i? Unsere Lösung dieser Schwierigkeit ist die Zusammenfassung aller ge-
ordneten Paare, die Subtraktionsaufgaben mit demselben Ergebnis repräsentieren.
Nach der Definition, die wir schließlich geben werden, ist die Zahl 3 die Menge
fh4; 7i; h8; 11i; h2; 5i; : : :g, deren Elemente alles geordnete Paare natürlicher Zah-
len sind, die jeweils eine Subtraktionsaufgabe mit dem Ergebnis 3 repräsentieren.
Die Idee Objekte zusammenzufassen, die alle eine bestimmte Eigenschaft be-
sitzen, ist in der Mathematik sehr üblich. Frege benutzte in seiner Definition der
Kardinalzahlen, in der er gleichzahlige Begriffe zusammenfasste, eigentlich die-
selbe Methode. Bevor wir erklären, wie diese Methode verwendet wird, um die
3 Mengenlehre 59

ganzen Zahlen zu definieren, ist es sinnvoll etwas allgemeiner zu erläutern, wie wir
üblicherweise solche Zusammenfassungen erhalten können. Wie bereits in Kap. 2
erwähnt, werden für diese sehr häufig verwendete, mathematische Technik Äquiva-
lenzrelationen benötigt. Wir beginnen unsere Erläuterung daher mit der Idee einer
Relation auf einer Menge.

Definition 3.15 Für eine Menge A heißt eine Menge R  A  A Relation auf A.
Anders formuliert ist eine Relation auf A mit der Sprechweise aus Definition 3.6
eine Relation von A nach A. Wenn x; y 2 A, schreiben wir teilweise xRy statt
hx; yi 2 R.

Sei A beispielsweise die Menge aller deutschen Wörter, sei R D fhx; yi 2


A  A W x und y beginnen mit demselben Buchstabeng und S D fhx; yi 2 A  A W
x und y haben einen gemeinsamen Buchstabeng. Dann sind R und S beide Relatio-
nen auf A. Mit der Kurznotation, die in Definition 3.15 eingeführt wurde, könnten
wir „ApfelRAprikose“ schreiben, da „Apfel“ und „Aprikose“ beide mit einem „A“
beginnen und deswegen hApfel, Aprikosei 2 R. Analog können wir, da die Wörter
„Apfel“ und „Beere“ beide den Buchstaben „e“ enthalten, aber mit verschiedenen
Buchstaben beginnen, „ApfelSBeere“ schreiben, aber nicht „ApfelRBeere“.
Eine interessante Eigenschaft der Relation R ist, dass sie die Elemente von A
in 26 Zusammenfassungen einteilt: Die Wörter, die mit „A“ beginnen, die Wörter,
die mit „B“ beginnen,. . . , die Wörter, die mit „Z“ beginnen. Geordnete Wortpaa-
re aus derselben Zusammenfassung sind Elemente von R, während Wortpaare aus
verschiedenen Zusammenfassungen keine Elemente von R sind. Die Zusammen-
fassungen bilden eine sogenannte Zerlegung von A: eine Menge nichtleerer Teil-
mengen von A mit der Eigenschaft, dass jedes Element von A zu genau einer dieser
Teilmengen gehört. Andererseits bestimmt die Relation S auf diese Weise keine
Zerlegung von A. Was ist für diesen Unterschied verantwortlich?
Es ist zu bemerken, dass die Relation R folgende Eigenschaften besitzt: Da je-
des Wort x mit demselben Buchstaben wie es selbst beginnt, haben wir immer xRx.
Wenn xRy für Wörter x und y gilt, dann beginnen x und y mit demselben Buch-
staben, also yRx. Und wenn xRy und yRz gilt, dann müssen x, y und z alle mit
demselben Buchstaben beginnen, also haben wir auch xRz. Die Relation S besitzt
die ersten beiden Eigenschaften, aber nicht die dritte. Es ist nützlich, für diese drei
Eigenschaften Namen zu haben.

Definition 3.16 Sei R eine Relation auf A.


(i) R heißt reflexiv, wenn für alle x in A gilt xRx.
(ii) R heißt symmetrisch, wenn für alle x und y in A gilt, wenn xRy, dann yRx.
(iii) R heißt transitiv, wenn für alle x; y und z in A gilt, wenn xRy und yRz, dann
xRz.
(iv) Eine reflexive, symmetrische und transitive Relation R heißt Äquivalenzrela-
tion auf A.
60 3 Mengenlehre

Daher ist die „gleicher erster Buchstabe“-Relation eine Äquivalenzrelation auf


der Menge der deutschen Wörter. Tatsächlich ist es nicht schwer zu sehen, dass jede
Relation, die eine Zerlegung einer Menge wie oben beschrieben in einzelne Zusam-
menfassungen bestimmt, eine Äquivalenzrelation ist. Und es kann gezeigt werden,
dass auch die Umkehrung gilt: Jede Äquivalenzrelation auf einer Menge bestimmt
eine Zerlegung dieser Menge in einzelne Zusammenfassungen (siehe Übung 3.9).
Wenn R eine Äquivalenzrelation auf A ist und x 2 A, dann heißt die Menge der
Elemente von A, die durch die Relation R mit x gepaart werden, Äquivalenzklasse
von x bezüglich R und wird mit ŒxR bezeichnet, oder einfach Œx, wenn R im
Kontext klar ist. Mit anderen Worten:
(22) ŒxR D fy 2 A W xRyg.
Für die oben besprochene „gleicher erster Buchstabe“-Relation R würde ŒApfelR
beispielsweise die Menge aller Wörter sein, die mit einem „A“ beginnen. Allgemein
ist ŒxR die Menge der Elemente von A, die in derselben Zusammenfassung sind wie
x. Die Menge, deren Elemente all diese Äquivalenzklassen sind, heißt A mod R
und wird mit A=R bezeichnet. Also
(23) A=R D fŒxR W x 2 Ag D fX 2 P .A/ W für ein x 2 A ist X D ŒxR g.
Im „gleicher erster Buchstabe“-Beispiel ist A=R beispielsweise eine Menge mit
26 Elementen. Jedes dieser Elemente ist selbst eine Menge, die alle Wörter, die
mit einem bestimmten Buchstaben beginnen, enthält. Mit anderen Worten A=R D
ffApfel, Aprikose, . . . g; fBeere, Blase, . . . g; : : : ; fZebra, Zoo, . . . gg.
Mit diesem Hintergrund können wir nun zur formalen Definition der ganzen
Zahlen zurückkehren. Erinnern wir uns, dass wir vorhatten, uns die ganzen Zahlen
als Ergebnisse von Subtraktionsaufgaben vorzustellen, die wiederum von geordne-
ten Paaren repräsentiert werden. Wir beginnen also, indem wir die Menge N  N
aller geordneten Paare natürlicher Zahlen bilden. Um die Paare natürlicher Zahlen,
die dieselbe Subtraktionsaufgabe repräsentieren, zusammenzufassen, definieren wir
nun eine Äquivalenzrelation auf N  N. In der Mathematik werden Äquivalenzrela-
tionen häufig durch Symbole statt durch Buchstaben dargestellt. Wir nennen unsere
Äquivalenzrelation ; anders gesagt schreiben wir ha; bi  hc; d i um anzuzeigen,
dass die Paare ha; bi und hc; d i in eine Zusammenfassung gehören.
Es ist verlockend ha; bi  hc; d i als ab D cd zu definieren, aber das können
wir leider nicht machen, weil wir die Subtraktion noch nicht definiert haben. Zum
Glück kann die Gleichung a  b D c  d jedoch als a C d D b C c geschrieben
werden, also als eine Gleichung, die nur die Addition natürlicher Zahlen beinhaltet,
und diese haben wir bereits definiert. Somit definieren wir die Relation  wie folgt:

Definition 3.17 Für alle natürlichen Zahlen a; b; c und d meint ha; bi  hc; d i,
dass a C d D b C c.

Satz 3.18 Die Relation  ist eine Äquivalenzrelation auf N  N.


3 Mengenlehre 61

Beweis Wir werden die Beweise, dass  reflexiv und symmetrisch ist, dem Leser
überlassen (siehe Übung 3.10). Um die Transitivität nachzuweisen nehmen wir an,
dass ha; bi  hc; d i und hc; d i  he; f i. Dann gilt mit Definition 3.17 a C d D
b C c und c C f D d C e. Wenn wir diese beiden Gleichungen addieren, erhalten
wir a C d C c C f D b C c C d C e oder mit der Assoziativität und Kommutativität
der Addition .a C f / C .c C d / D .b C e/ C .c C d /. Mit der Kürzungsregel für
die Addition gilt dann a C f D b C e, also ha; bi  he; f i. 

Da  eine Äquivalenzrelation auf N  N ist, zerlegt sie N  N in einzel-


ne Zusammenfassungen. Wenn eine Zusammenfassung das geordnete Paar ha; bi
enthält, ist sie die Äquivalenzklasse von ha; bi und wird mit Œha; bi bezeichnet.
Diese Äquivalenzklassen definieren wir als die ganzen Zahlen. Zum Beispiel ist
Œh4; 7i D fhc; d i 2 N  N W h4; 7i  hc; d ig D fhc; d i 2 N  N W d C 4 D
c C 7g D fh4; 7i; h8; 11i; h2; 5i; : : :g. Dies ist die Menge, von der wir angekündigt
hatten, dass sie die ganze Zahl 3 sei.

Definition 3.19 Die Äquivalenzklassen Œha; bi, für a; b 2 N, werden ganze Zah-
len genannt. Die Menge aller ganzen Zahlen wird mit Z bezeichnet. Mit anderen
Worten ist Z D N  N= .

Angenommen, x und y sind ganze Zahlen. Wie sollten wir x C y definieren? Da


x und y mit Definition 3.19 Mengen von Paaren natürlicher Zahlen sind, scheint
folgendes Vorgehen sinnvoll. Wir wählen Paare natürlicher Zahlen ha; bi 2 x und
hc; d i 2 y. Intuitiv heißt das, x ist das Ergebnis von a  b und y von c  d . Aber
dann sollte x Cy die Zahl .a b/C.c d / D .a Cc/.b Cd / sein, was wiederum
das Ergebnis einer Subtraktionsaufgabe ist. Dies legt nahe, dass wir x C y als die
ganze Zahl Œha C c; b C d i definieren sollten.
Mit dieser Definition gibt es ein eventuelles Problem. Der erste Schritt in unse-
rem Vorgehen, um x und y zu addieren, war es, Paare ha; bi 2 x und hc; d i 2 y
auszuwählen. Daher könnte es sein, dass nach unserer Definition x C y nicht wohl-
definiert ist, weil das Ergebnis von der Wahl der Paare abhängen könnte. Was
wäre, wenn wir eine andere Wahl getroffen hätten – sagen wir ha0 ; b 0 i 2 x und
hc 0 ; d 0 i 2 y? Dann hätten wir x C y als Œha0 C c 0 ; b 0 C d 0 i berechnet. Ist das
dasselbe wie unsere ursprüngliche Antwort Œha C c; b C d i? Zum Glück ist es
das, aber dies erfordert einen Beweis. Um mit dem Beweis zu beginnen, beach-
ten wir zuerst, dass wir, da ha; bi und ha0 ; b 0 i aus derselben Zusammenfassung x
kommen, ha; bi  ha0; b 0 i haben, und genauso hc; d i  hc 0 ; d 0 i. Und um zu zei-
gen, dass Œha C c; b C d i D Œha0 C c 0 ; b 0 C d 0 i gilt, reicht es zu zeigen, dass
ha C c; b C d i  ha0 C c 0 ; b 0 C d 0 i. Somit beweist der folgende Satz, dass die
Addition ganzer Zahlen wohldefiniert ist:

Satz 3.20 Angenommen, ha; bi  ha0 ; b 0 i und hc; d i  hc 0 ; d 0 i. Dann gilt ha C


c; b C d i  ha0 C c 0 ; b 0 C d 0 i.
62 3 Mengenlehre

Beweis Da ha; bi  ha0 ; b 0 i und hc; d i  hc 0 ; d 0 i, erhalten wir mit Definition 3.17
aCb 0 D bCa0 und c Cd 0 D d Cc 0 . Wenn wir diese Gleichungen addieren, erhalten
wir a C c C b 0 C d 0 D b C d C a0 C c 0 , also ha C c; b C d i  ha0 C c 0 ; b 0 C d 0 i. 

Da ha; bi 2 x, haben wir x D Œha; bi und genauso y D Œhc; d i. Deswegen
können wir unsere Definition der Addition wie folgt umschreiben:

Definition 3.21 Für alle natürlichen Zahlen a; b; c und d definieren wir


(24) Œha; bi C Œhc; d i D Œha C c; b C d i.

Als ein Beispiel dafür, wie diese Definition verwendet wird, berechnen wir
Œh4; 7i C Œh3; 2i D Œh7; 9i. In üblicherer Schreibweise besagt diese Gleichung
3 C 1 D 2.
Es könnte so aussehen, als ob Definition 3.21 einen Kreisschluss enthält, da in
der Definition der Addition wiederum die Addition auftaucht. Aber das ist nicht der
Fall, weil das „C“ auf der linken Seite von (24) für die Addition ganzer Zahlen
steht, das „C“ auf der rechten Seite aber für die Addition natürlicher Zahlen. Daher
ist die Addition ganzer Zahlen über die Addition natürlicher Zahlen definiert und
Letztere haben wir bereits definiert. Deshalb folgen viele der Grundeigenschaften
der Addition ganzer Zahlen aus den entsprechenden Eigenschaften der Addition
natürlicher Zahlen. Zum Beispiel:

Satz 3.22 Die Addition der ganzen Zahlen ist kommutativ, d. h., für alle ganzen
Zahlen x und y gilt x C y D y C x.

Beweis Angenommen, x D Œha; bi und y D Œhc; d i. Dann gilt

x C y D Œha; bi C Œhc; d i


D Œha C c; b C d i (mit Definition 3.21)
D Œhc C a; d C bi (mit Kommutativität von C für natürliche Zahlen)
D Œhc; d i C Œha; bi (mit Definition 3.21)
D y C x: 

Die Definition der Multiplikation ganzer Zahlen ist sehr ähnlich. Wenn x D
Œha; bi und y D Œhc; d i, dann stellen wir uns x und y intuitiv als die Ergebnisse der
Subtraktionsaufgaben ab und cd vor. Daher sollte xy die Zahl .ab/.cd / D
ac  ad  bc C bd D .ac C bd /  .ad C bc/ sein. Deswegen definieren wir die
Multiplikation ganzer Zahlen wie folgt:

Definition 3.23 Für alle natürlichen Zahlen a; b; c und d definieren wir


(25) Œha; bi  Œhc; d i D Œhac C bd; ad C bci.
3 Mengenlehre 63

Wie für die Addition benötigen wir auch hier einen Satz um zu zeigen, dass die
Multiplikation ganzer Zahlen wohldefiniert ist. Wir überlassen den Beweis dieses
Satzes als Übung dem Leser (siehe Übung 3.11).

Satz 3.24 Angenommen, ha; bi  ha0 ; b 0 i und hc; d i  hc 0 ; d 0 i. Dann gilt hac C
bd; ad C bci  ha0 c 0 C b 0 d 0 ; a0 d 0 C b 0 c 0 i.

Da es eines unserer Ziele in der Definition der ganzen Zahlen war, Ergebnisse
von Subtraktionsaufgaben anzugeben, sollten wir ebenfalls zeigen, dass wir nun die
Subtraktion ganzer Zahlen definieren können. Die Definition beruht auf der alge-
braischen Gleichung .a  b/  .c  d / D .a C d /  .b C c/.

Definition 3.25 Für alle natürlichen Zahlen a; b; c und d definieren wir


(26) Œha; bi  Œhc; d i D Œha C d; b C ci.

Auch hier muss gezeigt werden, dass die Subtraktion ganzer Zahlen wohldefi-
niert ist (siehe Übung 3.12).
Nun können wir auch zwischen positiven und negativen, ganzen Zahlen unter-
scheiden und diese Unterscheidung benutzen, um die Ordnung der ganzen Zahlen
zu definieren. Es ist zu beachten, dass sich das „<“ in (27) unten auf die Ordnung
der natürlichen Zahlen bezieht, die bereits definiert wurde, und die Definition folg-
lich keinen Kreisschluss enthält.

Definition 3.26 Die Menge der positiven, ganzen Zahlen ist die Menge
(27) ZC D fŒha; bi W b < ag.6
Wir sagen für ganze Zahlen x und y, dass x < y meint, y  x ist positiv.

Es gibt einen Aspekt unserer Definition der ganzen Zahlen, der den Leser an
dieser Stelle irritieren könnte. Gewöhnlicherweise stellen wir uns die natürlichen
Zahlen als eine Teilmenge der ganzen Zahlen vor, aber so, wie wir sie definiert
haben, ist das nicht der Fall. Beispielsweise ist die natürliche Zahl 2 keine gan-
ze Zahl, obwohl es eine ganze Zahl gibt, an die wir sofort denken, nämlich das
Ergebnis der Subtraktionsaufgabe 2  0, also die ganze Zahl Œh2; 0i. Genauso
könnten wir für jede natürliche Zahl a an die entsprechende ganze Zahl Œha; 0i
denken, aber die natürliche Zahl und die ganze Zahl sind nicht gleich. All die Eigen-
schaften und Operationen, die wir für natürliche Zahlen definiert haben, stimmen
mit den entsprechenden Eigenschaften und Operationen auf den entsprechenden
ganzen Zahlen überein. Zum Beispiel gilt mit der Definition der Addition natürli-
cher Zahlen 2 C 3 D 5, und mit der Definition der Addition ganzer Zahlen gilt
Œh2; 0i C Œh3; 0i D Œh5; 0i. In Fachsprache ausgedrückt sagen wir, dass es eine

6
Anm. d. Übers.: Im Deutschen verwenden wir statt der Menge ZC üblicherweise die Menge
N C D fn 2 N W 0 < ng. Dementsprechend sprechen wir im Folgenden auch von (positiven,)
natürlichen Zahlen, wenn im englischen Original von positiven, ganzen Zahlen die Rede ist.
64 3 Mengenlehre

Teilmenge von Z gibt, die zu N isomorph ist, aber dass N selbst keine Teilmenge
von Z ist.
Mathematiker gehen mit dieser Schwierigkeit üblicherweise so um, dass sie die
natürliche Zahl a mit der ganzen Zahl Œha; 0i „identifizieren“. Von außen betrach-
tet scheint dieser Vorschlag absurd; wie kann es korrekt sein, von zwei ungleichen,
mathematischen Objekten zu behaupten, sie seien gleich? Vielleicht ist es hier eine
bessere Interpretation zu sagen, dass Mathematiker bewusst den Unterschied zwi-
schen a und Œha; 0i ignorieren. Dies spiegelt die Tendenz der Mathematiker wider,
den Unterschied zwischen isomorphen Strukturen als unbedeutend zu betrachten.
Die Menge N und die Menge der ganzen Zahlen der Form Œha; 0i sind isomorph,
also sind die Unterschiede zwischen ihnen mathematisch unbedeutend.
Eine andere Möglichkeit wäre zu erklären, dass die Elemente von N nicht wirk-
lich die natürlichen Zahlen sind, sondern vielmehr „provisorische, natürliche Zah-
len“. Sie wurden nur definiert, damit wir die ganzen Zahlen definieren konnten, und
können nun wieder vergessen werden. Die „echten“, natürlichen Zahlen seien die
ganzen Zahlen der Form Œha; 0i. Dies würde die Schwierigkeit lösen, indem wir die
natürlichen Zahlen zu einer Teilmenge der ganzen Zahlen machen, aber wenn wir
diesen Ansatz wählen, werden wir bald sehen, dass, sobald wir zur Definition der
rationalen Zahlen kommen, unsere ganzen Zahlen „provisorische, ganze Zahlen“
genannt werden müssten.
So wie die ganzen Zahlen Ergebnisse von Subtraktionsaufgaben natürlicher Zah-
len sind, können wir uns die rationalen Zahlen als Ergebnisse von Divisionsaufga-
ben ganzer Zahlen vorstellen. Daher stellen wir uns für die Definition der rationalen
Zahlen eine rationale Zahl als geordnetes Paar ganzer Zahlen hx; yi vor, das den
Bruch x=y repräsentiert, und wir werden die Paare hx; yi und hu; vi zusammen-
fassen, wenn x=y D u=v beziehungsweise xv D yu. Natürlich darf der Nenner
eines Bruchs nie null sein, also betrachten wir nur Paare ganzer Zahlen, in denen
die zweite ganze Zahl ungleich null ist. Da die Definition rationaler Zahlen der De-
finition ganzer Zahlen so ähnlich ist, werden wir die meisten Details überspringen
und nur kurz die Hauptpunkte auflisten.

Definition 3.27 Sei F D fhx; yi W x; y 2 Z; y ¤ 0g. Für hx; yi; hu; vi 2 F


definieren wir hx; yi hu; vi als xv D yu.

Satz 3.28 Die Relation ist eine Äquivalenzrelation auf F .

Beweis Siehe Übung 3.15. 

Definition 3.29 Die Äquivalenzklassen Œhx; yi von Paaren hx; yi 2 F heißen
rationale Zahlen. Die Menge der rationalen Zahlen wird mit Q bezeichnet. Mit
anderen Worten ist Q D F = .

Zum Beispiel ist die rationale Zahl 1=2 die Menge Œh1; 2i D fh1; 2i; h2; 4i;
h3; 6i; : : :g, wobei die Zahlzeichen in dieser Gleichung für ganze Zahlen stehen.
Die rationale Zahl 3 ist die Menge Œh3; 1i D fh3; 1i; h6; 2i; h9; 3i; : : :g. Es ist zu
3 Mengenlehre 65

beachten, dass die rationale Zahl 3 von der ganzen Zahl 3 verschieden ist. Analog
zu unserer vorigen Definition identifizieren wir jede ganze Zahl x mit der entspre-
chenden rationalen Zahl Œhx; 1i.
Der folgenden Definition liegen die üblichen Rechenregeln aus der Schule für
Brüche zugrunde. Wie zuvor muss für jede dieser Operationen gezeigt werden, dass
sie wohldefiniert ist (siehe Übung 3.16).

Definition 3.30 Für alle hx; yi; hu; vi 2 F definieren wir Folgendes:
(i) Œhx; yi C Œhu; vi D Œhxv C yu; yvi.
(ii) Œhx; yi  Œhu; vi D Œhxv  yu; yvi.
(iii) Œhx; yi  Œhu; vi D Œhxu; yvi.
(iv) Wenn u ¤ 0, dann ist Œhx; yi W Œhu; vi D Œhxv; yui.
(v) Die Menge der positiven, rationalen Zahlen ist die Menge QC D fŒhx; yi W
entweder ist x > 0 und y > 0 oder x < 0 und y < 0g. Für rationale Zahlen p
und q meint p < q, dass q  p positiv ist.

Mit 3.30(i) haben wir beispielsweise Œh1; 2i C Œh2; 3i D Œh1  3 C 2  2; 2  3i D
Œh7; 6i. In üblicherer Schreibweise besagt dies 1=2 C 2=3 D 7=6. Man kann auf
direktem, aber langwierigem, Wege überprüfen, dass aus diesen Definitionen alle
üblichen Rechenregeln rationaler Zahlen folgen.
Wir kommen nun endlich zu der Definition der reellen Zahlen. Wir haben die
ganzen Zahlen als Ergebnisse von Subtraktionsaufgaben und die rationalen Zah-
len als Ergebnisse von Divisionsaufgaben eingeführt. Die Aufgabe, die diepreellen
Zahlen lösen, ist etwas schwieriger. Wie wir in Satz 1.1 gesehen haben, ist 2 eine
irrationale Zahl, damit ist ein Grund für die Einführung reeller Zahlen die Lösung
von Wurzelproblemen. Aber viele andere irrationale Zahlen, wie zum Beispiel ,
sind keine Quadratwurzeln rationaler Zahlen. Worin genau besteht die Unzuläng-
lichkeit der rationalen Zahlen, die durch die Einführung der reellen Zahlen behoben
wird?
Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, ist sich vorzustellen, dass alle ra-
tionalen Zahlen auf einer Zahlengeraden markiert wurden. Wenn diese Gerade nur
die Punkte der rationalen Zahlen und sonst nichts enthält, werden auf dieser Gera-
den zahlreiche Lücken bleiben. Zum Beispiel sind die Quadrate einiger p positiver,
rationaler Zahlen kleiner als 2 und andere sind größer als 2, aber da 2 irrational
ist, gibt es keinen Punkt auf der rationalen Zahlengerade auf der Grenze zwischen
diesen beiden Mengen rationaler Zahlen. Dieser Grenzpunkt ist daher eine Lücke
auf der Zahlengeraden. Genauso gilt, obwohl es rationale Zahlen sehr nah an  gibt,
dass kein Bruch genau gleich  ist, also ist dort, wo  hingehört, auf der rationalen
Zahlengeraden eine Lücke. Das Ziel der Definition der reellen Zahlen ist es, die-
se Lücken auf der rationalen Zahlengeraden zu schließen, um eine kontinuierliche
Zahlengerade ohne Lücken zu erhalten. Die Eigenschaft der reellen Zahlengerade,
die garantiert, dass sie keine Lücken hat, heißt Vollständigkeit (siehe Definition 3.40
und Satz 3.41 unten). Die Vollständigkeit der reellen Zahlen ist für viele Beweise in
der Analysis wesentlich.
66 3 Mengenlehre

Wie bestimmt man den Ort einer Lücke auf der rationalen Zahlengeraden? Die
Betrachtung der üblichen Dezimaldarstellung reeller Zahlen gibt uns eine Vorstel-
lung davon, wiepman dafür vorgeht. Betrachten wir zum Beispiel die Dezimaldar-
stellungen von 2 und :
p
(28) 2 D 1;41421356 : : : ;
 D 3;14159265: : :
Das „. . . “ am Ende dieser Dezimaldarstellungen gibt an, dass die Liste der Zif-
fern für immer weitergeht. Tatsächlich besitzt keine irrationale Zahl eine endliche
Dezimaldarstellung, weil solche Dezimaldarstellungen immer rationale Zahlen dar-
stellen. Zum Beispiel ist 1;414 gleich der rationalen
p Zahl 1414=1000, also kann es,
obwohl es eine
p ziemlich gute Annäherung an 2 ist, nicht genau gleich der irratio-
nalen Zahl 2 sein. Wir können eine bessere Annäherung bekommen, indem wir
mehr Ziffern hinzufügen
p – zum Beispiel ist 1;4142 D 14:142=10:000 eine bessere
Annäherung anp 2 als 1;414 –, aber keine endliche Dezimaldarstellung kann genau
den Wert von 2 angeben. Da die Liste der Ziffern in (28) unendlich lang ist, kön-
nen wir auch dieses Verfahren unendlich fortführen, um immer bessere, rationale
Annäherungen anzugeben.
Dies deutet darauf hin, dass wir den Ort einer Lücke auf der rationalen Zahlenge-
raden finden können, indem wir eine unendliche Folge rationaler Zahlenpangeben,
die immer näher und näher an der Lücke liegen. Zum Beispiel könnten 2 und 
von folgenden, unendlichen Folgen herausgesucht werden:
p
(29) 2W 1I 1;4I 1;41I 1;414I 1;4142I 1;41421I : : :
W 3I 3;1I 3;14I 3;141I 3;1415I 3;14159; : : :
Wir bemerken hier, dass jede Zahl in diesen Folgen rational ist, da sie durch eine
endliche Dezimaldarstellung angegeben wird.
Bevor wir weiter fortfahren, sollten wir angeben, wie wir in ZFC über un-
endliche Folgen rationaler Zahlen reden können. Da uns die Sprache der Men-
gentheorie nur erlaubt, über Mengen zu sprechen, müssen wir Folgen als Men-
gen darstellen. Wir werden die unendliche Folge a1 ; a2 ; a3 ; : : : als die Menge
fh1; a1 i; h2; a2 i; h3; a3 i; : : :g definieren. Entsprechend der Definition 3.6 ist diese
Menge eine Funktion mit Definitionsbereich N C . Daher können wir die Definition
einer Folge genauer wie folgt geben:

Definition 3.31 Sei A eine Menge. Dann ist eine unendliche Folge von Elementen
aus A eine Funktion S W N C ! A. Für jedes n 2 N C heißt S.n/ n-tes Folgenglied.

Mit der üblichen Schreibweise aus der Analysis schreiben wir fan g1 nD1 oder
einfach fan g, um eine Folge zu bezeichnen, deren n-tes Folgenglied an ist. Mit
anderen Worten fan g1nD1 D fh1; a1 i; h2; a2 i; h3; a3 i; : : :g. Etwas informeller schrei-
ben wir eine Folge fh1; a1 i; h2; a2 i; h3; a3 i; : : :g auch teilweise in Form einer Liste
a1 ; a2 ; a3 ; : : :
Wegen der Beispiele in (29) könnte man nun auf die Idee kommen, die reel-
len Zahlen als unendliche Folgen rationaler Zahlen zu definieren, aber bei diesem
Vorschlag gibt es zwei Probleme. Erstens gibt es mehr als eine unendliche Folge
3 Mengenlehre 67

rationaler Zahlen, die den Ort irgendeiner Lücke auf der rationalen Zahlengeraden
immer besser annähert. Die Lösung dieses Problems ist leicht: Wir definieren auf
den unendlichen Folgen rationaler Zahlen eine Äquivalenzrelation, fassen unter-
schiedliche Folgen, die denselben Ort auf der rationalen Zahlengeraden annähern,
zusammen und definieren reelle Zahlen als die Äquivalenzklasse der Folgen.
Es gibt aber ein zweites Problem, mit dem wir uns ebenfalls befassen müssen.
Nicht jede unendliche Folge rationaler Zahlen nähert einen bestimmten Ort auf der
rationalen Zahlengeraden an. Betrachten wir zum Beispiel diese Folgen:
(30) 1I 3I 1;4I 3;1I 1;41I 3;14I 1;414I 3;141I : : :
1; 2; 3; 4; 5; 6; : : :
p
Die erste Folge scheint sich nicht zwischen 2 und  entscheiden zu können, und
die Folgenglieder der zweiten werden immer größer und größer und nähern sich
überhaupt keinem bestimmten Ort auf der Zahlengeraden an. Keine dieser Folgen
kann verwendet werden, um eine reelle Zahl zu bestimmen.
Bevor wir die Äquivalenzrelation auf den unendlichen Folgen rationaler Zahlen
definieren, müssen wir uns daher auf Folgen beschränken, die einen bestimmten Ort
auf der Zahlengeraden annähern. Wir können leider nicht einfach sagen, dass wir
nur die Folgen benutzen, für die es einen Ort auf der Zahlengeraden gibt, den die
Folge annähert. Um diese Eigenschaft zu formulieren, müssten wir genau sagen,
was mit dem Ausdruck „Ort auf der Zahlengeraden“ gemeint ist, und das ist genau
der Begriff, den wir über die unendlichen Folgen versuchen zu definieren. Wir müs-
sen stattdessen eine Eigenschaft der Folge selbst definieren, ohne über Orte auf der
Zahlengeraden zu sprechen, die solche Folgen, die einen Ort auf der Zahlengeraden
annähern, von Folgen, die dies nicht tun, unterscheidet.
Betrachten wir eine Folge rationaler Zahlen fan g1nD1 . Der Schlüssel zur Lösung
unseres Problems liegt in der Beobachtung, dass, wenn der Abstand zwischen den
Folgengliedern und einem Ort auf der Zahlengeraden immer kleiner wird, dann
wird auch der Abstand der Folgenglieder untereinander immer kleiner. Wie nah
müssen sie letztendlich aneinander liegen? Darf der Abstand letztendlich nur 1=10
sein? Oder 1=100? Wenn die Folge zu einem konkreten Ort auf der Zahlengera-
den konvergieren soll, dann muss die Antwort auf diese Fragen natürlich „Ja“ sein.
Tatsächlich darf der Abstand zwischen den Folgengliedern letztendlich für jede
positive, natürliche Zahl k höchstens 1=k sein. Indem wir diese Aussage Stück
für Stück genauer fassen, können wir die exakte Charakterisierung der Folgen, die
wir brauchen, entwickeln. Die folgenden Aussagen beschreiben immer genauer die
Idee, die wir versuchen zu erfassen:
(31) 8k 2 N C (der Abstand der Folgenglieder ist letztendlich höchstens 1=k).
8k 2 N C (ab einem bestimmten Punkt ist der Abstand der Folgenglieder
höchstens 1=k).
8k 2 N C 9N 2 N C (ab dem N -ten Folgenglied ist der Abstand der Folgen-
glieder höchstens 1=k).
8k 2 N C 9N 2 N C 8m; n > N (der Abstand zwischen am und an ist höchs-
tens 1=k).
68 3 Mengenlehre

Schließlich benutzen wir die Tatsache, dass der Abstand zwischen am und an als
jam  an j geschrieben werden kann, um die Eigenschaft zu definieren, die wir brau-
chen. Folgen mit diesen Eigenschaften sind nach dem französischen Mathematiker
Augustin Cauchy (1789–1857) benannt, der als Erster die Bedeutung solcher Fol-
gen erkannte.

Definition 3.32 Eine Folge rationaler Zahlen fan g heißt Cauchyfolge, falls
(32) 8k 2 N C 9N 2 N C 8m; n > N .jam  an j < 1=k/.

Da diese Definition etwas kompliziert ist, könnte es hilfreich sein, ein Beispiel zu
betrachten. Nehmen wir die Folge fan g, deren Folgenglieder durch die Formel an D
1 C 3=n gegeben sind. Die ersten Folgenglieder dieser Folge sind 4I 5=2I 2I 7=4I : : :
Der einfachste Weg zu zeigen, dass diese Folge eine Cauchyfolge ist, besteht darin,
für jede positive, natürliche Zahl k eine ganze Zahl N anzugeben, deren Existenz
in (32) gefordert wird. Es stellt sich heraus, dass die Wahl N D 3k funktioniert,
wie der folgende Beweis zeigt.

Beweis (fan g ist eine Cauchyfolge) Sei k eine beliebige, positive, natürliche Zahl.
Sei N D 3k. Angenommen, m; n > N .

Fall 1: m  n. Dann ist 3=m 3=n, also gilt


ˇ   ˇ ˇ ˇ
jam  an j D ˇ 1 C m3  1 C n3 ˇ D ˇ m3  n3 ˇ D 3
m
 3
n
< 3
m
< 3
N
D 3
3k
D k1 :
Fall 2: m > n. Dann ist 3=m < 3=n, also gilt
ˇ   ˇ ˇ ˇ
jam  an j D ˇ 1 C m3  1 C n3 ˇ D ˇ m3  n3 ˇ D 3
n  3
m < 3
n < 3
N D 3
3k D k1 :
Da diese Fälle alle Möglichkeiten abdecken, können wir schließen, dass 8m; n >
N .jam  an j < 1=k/. Da k eine beliebige, positive, natürliche Zahl war, folgt wie
gewünscht 8k 2 N C 9N 2 N C 8m; n > N .jam  an j < 1=k/. 

Es kann gezeigt werden, dass Folgen, die durch Dezimaldarstellungen generiert


werden, wie diejenigen in (29), immer Cauchyfolgen sind (siehe Übung 3.21). An-
dererseits ist keine der Folgen in (30) eine Cauchyfolge. Der Abstand zwischen den
aufeinanderfolgenden Gliedern beider Folgen ist größer als 1=2. Wenn also k D 2,
dann gibt es für keine der Folgen ein solches N , wie in der Definition der Cauchy-
folge gefordert wird.
Sei C die Menge aller Cauchyfolgen rationaler Zahlen. Nun definieren wir ei-
ne Äquivalenzrelation auf C , indem wir diejenigen Folgen zusammenfassen, die
denselben Ort auf der Zahlengeraden annähern. Wir können wieder eine Definition
formulieren, ohne über „Orte auf der Zahlengeraden“ zu sprechen, indem wir aus-
nutzen, dass Folgenglieder zweier Folgen, die beide nah an demselben Ort liegen,
auch nah beieinander liegen müssen.

Definition 3.33 Seien fan g und fbn g Cauchyfolgen rationaler Zahlen. Dann defi-
nieren wir fan g fbn g, falls
(33) 8k 2 N C 9N 2 N C 8n > N .jan  bn j < k1 /.
3 Mengenlehre 69

Satz 3.34 Die Relation ist eine Äquivalenzrelation auf C .

Beweis Wie überlassen den Beweis, dass reflexiv und symmetrisch ist, dem
Leser (siehe Übung 3.22), aber wir geben den Beweis der Transitivität an, weil
er einige der üblichen Tricks veranschaulicht, die in Beweisen mit Cauchyfolgen
häufig verwendet werden. Insbesondere werden wir in einem Schritt des Beweises
benutzen, dass für alle rationalen Zahlen a und b gilt ja C bj  jaj C jbj. Diese
Ungleichung heißt Dreiecksungleichung.
Angenommen, fan g fbn g und fbn g fcn g. Um zu zeigen, dass fan g fcn g,
sei k eine beliebige, positive, natürliche Zahl. Dann ist 2k ebenfalls eine positive,
natürliche Zahl; also gibt es wegen fan g fbn g eine positive, natürliche Zahl N1
mit
(34) 8n > N1 .jan  bn j < 1
2k
/.
Genauso gibt es wegen fbn g fcn g ein N2 mit
(35) 8n > N2 .jbn  cn j < 1
2k /.

Sei N D maxfN1 ; N2 g D die größere der Zahlen N1 und N2 , dann gilt N N1


und N N2 . Sei nun n > N . Dann ist n > N1 und n > N2 , mit (34) und (35)
erhalten wir
(36) jan  bn j < 1
2k
und jbn  cn j < 1
2k
.
Daher gilt

jan  cn j D j.an  bn / C .bn  cn /j


 jan  bn j C jbn  cn j (mit der Dreiecksungleichung)
1 1 1
< C D (mit (36)).
2k 2k k

Also ist 8n > N .jan  cn j < k1 /. Da k beliebig war, folgt 8k 2 N C 9N 2 N C


8n > N.jan  cn j < k1 /, was zeigt, dass fan g fcn g. 

Definition 3.35 Die Äquivalenzklassen Œfan g von Folgen fan g 2 C heißen reelle
Zahlen. Die Menge der reellen Zahlen wird mit R bezeichnet. Mit anderen Worten
ist R D C = .7

7
Diese Definition der reellen Zahlen wurde zuerst von Cantor im Jahr 1872 veröffentlicht. Ei-
nige Lesende mögen eine andere Definition gewohnt sein, die auf der Zerlegung der rationalen
Zahlen in zwei Mengen basiert, sodass alle Zahlen der einen Menge kleiner sind als alle Zahlen
der anderen. Diese alternative Definition wurde zuerst von Dedekind, ebenfalls im Jahr 1872, ver-
öffentlicht, und die Zerlegungen der rationalen Zahlen, die in dieser Definition benutzt werden,
heißen Dedekind’sche Schnitte. Es kann gezeigt werden, dass die beiden Definitionen äquivalent
sind in dem Sinne, dass die reellen Zahlen, die wir definiert haben, zu den reellen Zahlen, die
durch die Dedekind’schen Schnitte definiert werden, isomorph sind. Weitere Details zu Dedekinds
Definition und ein Beweis, dass die zwei Definitionen äquivalent sind, finden sich in Strichartz
(1995, S. 59–63).
70 3 Mengenlehre

Beispielsweise ist  D Œfbn g, wobei fbn g die Folge 3I 3;1I 3;14I 3;141I : : : ist.
Die reellen Zahlen, so wie wir sie definiert haben, enthalten zwar die rationalen
Zahlen nicht als Teilmenge, sie enthalten aber Zahlen, die wir mit den rationalen
Zahlen identifizieren können. Die reelle Zahl 3 ist beispielsweise Œfcn g, wobei fcn g
die Folge 3I 3I 3I 3I : : : ist. Allgemein können wir jede rationale Zahl r mit der reel-
len Zahl Œfdn g identifizieren, wobei fdn g durch die Formel dn D r gegeben ist. Es
ist leicht nachzuweisen, dass diese konstanten Folgen Cauchyfolgen sind.
Die Definitionen der arithmetischen Operationen auf den reellen Zahlen sind
sehr natürlich. Um zwei reelle Zahlen zu addieren, addieren wir einfach die ent-
sprechenden Folgenglieder der Cauchyfolgen, die die reellen Zahlen repräsentieren.
Sei beispielsweise fan g die Folge, die durch die Gleichung an D 1 C 3=n definiert
wird, von der wir oben gezeigt haben, dass sie eine Cauchyfolge ist, und sei fbn g
die Folge, die wir oben benutzt haben, um die reelle Zahl  zu definieren. Die Sum-
me der reellen Zahlen Œfan g und Œfbn g ist die Zahl, die von der Folge fan C bn g
repräsentiert wird, deren n-tes Folgenglied an C bn ist:
(37) fan g W 4I 2;5I 2I 1;75I : : :
fbn g W 3I 3;1I 3;14I 3;141I : : :
fan C bn g W 7I 5;6I 5;14I 4;891I : : :
Es folgt die allgemeine Definition:

Definition 3.36 Wenn fan g und fbn g Cauchyfolgen sind, dann definieren wir
(38) Œfan g C Œfbn g D Œfan C bn g.

Es gibt zwei Dinge, die wir überprüfen müssen, um diese Definition zu recht-
fertigen. Erstens müssen wir sicherstellen, dass fan C bn g eine Cauchyfolge ist, da
die Schreibweise Œfan C bn g sonst keinen Sinn ergibt. Und zweitens müssen wir,
da wir mit Äquivalenzklassen arbeiten, wie üblich zeigen, dass die Addition reeller
Zahlen damit wohldefiniert ist.

Satz 3.37
(i) Wenn fan g und fbn g Cauchyfolgen sind, dann gilt dies ebenfalls für fan C bn g.
(ii) Wenn fan g fan0 g und fbn g fbn0 g, dann ist fan C bn g fan0 C bn0 g.

Beweis Siehe Übung 3.23. 

Die Definition der Multiplikation reeller Zahlen erfolgt analog:

Definition 3.38 Wenn fan g und fbn g Cauchyfolgen sind, definieren wir
(39) Œfan g  Œfbn g D Œfan  bn g.

Der Leser sollte einen Satz analog zu Satz 3.37 formulieren können, welches
diese Definition rechtfertigt (siehe Übung 3.25). Mit diesen Definitionen können
3 Mengenlehre 71

die grundlegenden, algebraischen Eigenschaften der reellen Zahlen direkt gezeigt


werden.
Um die Ordnung der reellen Zahlen zu definieren, betrachten wir zwei Cauchy-
folgen fan g und fbn g. Wir würden gern sagen, dass Œfan g < Œfbn g, wenn der Ort,
den fan g annähert, auf der Zahlengeraden links von dem Ort liegt, den fbn g an-
nähert. Es ist reizvoll einfach zu sagen, dass dies der Fall ist, wenn an < bn für
alle n, aber das ist leider aus zwei Gründen falsch. Erstens, auch wenn der Ort,
den fan g annähert, links von dem Ort liegt, den fbn g annähert, könnte es passieren,
dass die Zahlen an und bn nur dann nahe an diesen Orten liegen, wenn n sehr groß
ist; daher könnte es für kleine n sein, dass an < bn gar nicht gilt. Zweitens, selbst
wenn an < bn für alle n, muss der Ort, den fan g annähert, nicht notwendigerweise
links von dem Ort liegen, den fbn g annähert. Sie könnten denselben Ort annähern,
fan g von links und fbn g von rechts. Um dies auszuschließen, müssen wir fordern,
dass für große n das Folgenglied an wesentlich kleiner ist als bn . Dies führt uns zu
folgender Definition:

Definition 3.39 Angenommen, fan g und fbn g sind Cauchyfolgen rationaler Zah-
len. Dann definieren wir, dass Œfang < Œfbn g, falls
(40) 9k 2 N C 9N 2 N C 8n > N .an C 1
k
< bn /.

Wie gewöhnlich ist es möglich zu zeigen, dass die <-Relation hier wohldefiniert
ist (siehe Übung 3.26).
Alle gewohnten Eigenschaften der Ordnung auf den reellen Zahlen können mit
dieser Definition bewiesen werden. Zum Beispiel können wir die Trichotomie be-
weisen, die besagt, dass für alle reellen Zahlen x und y entweder x < y, x D y
oder x > y gilt (siehe Übung 3.27). Wir können auch zeigen, dass die reelle Zahlen-
gerade, im Unterschied zur rationalen Zahlengeraden, eine kontinuierliche Gerade
ohne Lücken ist. Um dies präzise zu formulieren, benötigen wir den Begriff der
oberen Schranke einer Menge reeller Zahlen.

Definition 3.40 Sei X  R. Eine reelle Zahl b heißt obere Schranke von X, falls
8x 2 X.x  b/. Wenn es ein kleinstes solches b gibt, dann heißt dieses b kleinste,
obere Schranke von X und wird mit sup.X/ bezeichnet.

Satz 3.41 (Vollständigkeit der reellen Zahlen) Jede nichtleere Menge reeller
Zahlen, für die es eine obere Schranke gibt, besitzt eine kleinste, obere Schranke.

Beweisskizze Angenommen, X  R, X ¤ ; und X besitze eine obere Schranke.


Sei b eine obere Schranke von X und a ein Element aus X. Sei dann a1 eine ra-
tionale Zahl mit a1 < a und sei b1 eine rationale Zahl mit b1 > b. (Es ist nicht
schwer zu zeigen, dass solche rationalen Zahlen existieren.) Dann ist a1 keine obe-
re Schranke von X (da a1 < a und a 2 X) und b1 ist eine obere Schranke von X
(da b1 > b und b ist eine obere Schranke). Die kleinste, obere Schranke, die wir
suchen, liegt zwischen a1 und b1 .
72 3 Mengenlehre

Abb. 3.1 Konstruktion der Elemente von X


Folgen fan g, fbn g und fcn g

a1 c1 b1
a2 c2 b2
a3 c 3 b3

Sei c1 D .a1 C b1 /=2, dann ist c1 rational und liegt genau in der Mitte zwischen
a1 und b1 . Wenn c1 eine obere Schranke von X ist, dann sei b2 D c1 und a2 D a1 .
Wenn nicht, dann sei a2 D c1 und b2 D b1 . In beiden Fällen ist b2 eine obere
Schranke von X und a2 nicht. Die kleinste, obere Schranke von X liegt zwischen
a2 und b2 und, da b2  a2 D .b1  a1 /=2, bedeutet dies, dass wir die Suche auf ein
Intervall der halben Länge des Intervalls, mit dem wir begonnen haben, eingegrenzt
haben.
Sei c2 D .a2 C b2 /=2. Wenn c2 eine obere Schranke von X ist, dann sei b3 D c2
und a3 D a2 . Wenn nicht, dann sei a3 D c2 und b3 D b2 . Wie zuvor ist b3 eine
obere Schranke von X, a3 nicht und b3  a3 D .b2  a2 /=2. In dieser Weise fahren
wir fort und erzeugen drei unendliche Folgen rationaler Zahlen fan g, fbn g und fcn g
(siehe Abb. 3.1).
Obwohl wir hier nicht jedes Detail durchgehen werden, ist es nicht schwer zu
zeigen, dass alle drei Folgen Cauchyfolgen sind und fan g fbn g fcn g. Sei
x D Œfan g D Œfbn g D Œfcn g. Dann kann man zeigen, dass x die kleinste obere
Schranke von X ist (siehe Übung 3.28). 

Die Vollständigkeit der reellen Zahlen ist in vielen Beweisen von Sätzen aus der
Analysis essentiell. Als ein Beispiel hierfür betrachten wir einen Satz über stetige
Funktionen von R nach R. Intuitiv heißt eine Funktion f W R ! R stetig an einer
Stelle x, falls gilt: Wenn die reelle Zahl w nahe an x liegt, dann liegt auch f .w/
nahe an f .x/. Diese Aussage formalisieren wir Schritt für Schritt, um die Idee in
eine präzise Definition umzuwandeln:
(41) Wenn die Zahl w nahe an x liegt, dann liegt f .w/ nahe an f .x/.
8k 2 N C .wenn die Zahl w genügend nahe an x liegt, dann jf .x/  f .w/j <
1
k /.
8k 2 N C 9j 2 N C .wenn w eine Zahl ist, für die jx  wj < j1 gilt, dann
jf .x/  f .w/j < k1 /.
Dies führt uns zu folgender Definition der Stetigkeit:

Definition 3.42 Sei f W R ! R eine Funktion. Für jede reelle Zahl x heißt f
stetig an x, wenn
(42) 8k 2 N C 9j 2 N C 8w 2 R .jx  wj < 1
j
! jf .x/  f .w/j < k1 /.
Wir sagen f ist stetig, wenn f an jedem x 2 R stetig ist.
3 Mengenlehre 73

Abb. 3.2 Beweisidee des


Zwischenwertsatzes f(v)
m
f(u)

u w v

Man kann sich die Stetigkeit einer Funktion f auch gut mithilfe des Graphen
von f vorstellen. Genau wie die reellen Zahlen durch eine Zahlengerade dargestellt
werden können, kann die Menge R R als eine Ebene veranschaulicht werden, wo-
bei die zwei Einträge eines geordneten Paares reeller Zahlen jeweils die horizontale
und vertikale Position des entsprechenden Punkts in der Ebene angeben. Da eine
Funktion f von R nach R eine Teilmenge von R  R ist, entspricht sie einer be-
stimmten Teilmenge der Ebene und diese Teilmenge heißt Graph von f . Ein Paar
hx; yi ist genau dann ein Element von f , wenn y D f .x/; somit kann man sagen,
dass der Graph einer Funktion f aus allen Punkten der Ebene hx; yi mit y D f .x/
besteht. Intuitiv ist eine Funktion stetig, wenn ihr Graph eine stetige Kurve ohne
Lücken und Sprünge ist.

Satz 3.43 (Zwischenwertsatz) Sei f eine stetige Funktion von R nach R und gelte
u < v und f .u/ < m < f .v/. Dann gibt es eine reelle Zahl w mit u < w < v,
sodass f .w/ D m.

Abb. 3.2 veranschaulicht den Zwischenwertsatz. Bildlich gesprochen besagt der


Satz, dass, wenn eine stetige Kurve an einem Punkt unter der horizontalen Linie
y D m und an einem anderen darüber liegt, dann muss die Kurve diese Linie ir-
gendwo zwischen den zwei Punkten schneiden.

Beweisskizze (von Satz 3.43) Sei X D fx 2 R W x < v und f .x/ < mg. Dann ist
X nicht leer, weil f .u/ < m und daher u 2 X. Die Menge X hat außerdem eine
obere Schranke, da jedes Element von X kleiner als v ist, und damit ist v eine obere
Schranke von X. Mit Satz 3.41 hat X also eine kleinste, obere Schranke. Sei w D
sup.X/. Wenn f .w/ < m, dann finden wir wegen der Stetigkeit von f an w eine
Zahl w 0 mit w < w 0 < v und f .w 0 / < m, dann folgt aber w 0 2 X, was der Annah-
me, dass w eine obere Schranke von X ist, widerspricht. Analog kann man zeigen,
dass, wenn f .w/ > m, dann eine Zahl w 0 < w existiert, die eine obere Schranke
von X ist, was der Annahme widerspricht, dass w die kleinste, obere Schranke ist.
Mit Trichotomie muss daher f .w/ D m gelten (siehe Übung 3.29). 

Für eine Anwendung von Satz 3.43 betrachten wir die Funktion f , die durch die
Gleichung f .x/ D x 2 definiert ist. Man kann zeigen, dass f stetig ist und offen-
sichtlich gilt f .1/ D 1 < 2 < 4 D f .2/. Daher folgt mit dem Zwischenwertsatz,
dass es eine Zahl w gibt mit 1 < w < 2 und f .w/ D w 2 D 2.
74 3 Mengenlehre

Abb. 3.3 Aufzählung aller p


rationalen Zahlen p/q 0 1 –1 2 –2 3 –3

1 0 1 –1 2 –2 3 –3

2 0 1/2 –1/2 1 –1 3/2

3 0 1/3 –1/3 2/3 –2/3

q 4 0 1/4 –1/4 1/2

5 0 1/5 –1/5
etc.
6 0 1/6

7 0

Es gibt zwar keine rationale Zahl, deren Quadrat gleich 2 ist, aber nun folgt, dass
es eine reelle Zahl gibt, deren Quadrat gleich 2 ist. Mit anderen Worten haben wir
durch den Übergang von den rationalen p Zahlen zu den reellen Zahlen die Lücke
in den rationalen
p Zahlen an der Stelle 2 gefüllt. (Für einen anderen Beweis der
Existenz von 2 siehe Übung 3.30).
Freges Idee, die Größe von Mengen mithilfe eineindeutiger Zuordnungen zu ver-
gleichen, kann, wie in Kap. 2 erwähnt, nicht nur für endliche, sondern auch für
unendliche Mengen verwendet werden. Wenden wir diese Idee nun auf die Zahlen-
systeme an, die wir definiert haben, erhalten wir einige überraschende Ergebnisse.
Man könnte beispielsweise denken, dass die Menge der rationalen Zahlen und die
Menge der natürlichen Zahlen nicht gleichmächtig sind, da die Menge der rationa-
len Zahlen alle natürlichen und noch viel mehr Zahlen enthält. Es stellt sich aber
heraus, dass sie gleichmächtig sind.

Satz 3.44 Die Mengen N und Q sind gleichmächtig.

Beweis Dieser Beweis basiert auf der Tabelle in Abb. 3.3, die nach unten und nach
rechts unendlich weitergeht und alle rationalen Zahlen enthält. Die rationale Zahl
p=q ist in dieser Tabelle in der Säule, die mit p gekennzeichnet ist, und in der Zeile,
die mit q gekennzeichnet ist, platziert.
Um eine eineindeutige Zuordnung zwischen N und Q zu erhalten, folgen wir
den Pfeilen in dieser Tabelle: Wir beginnen bei der 0 oben links und listen alle
Zahlen auf, an denen wir vorbeikommen. Dies gibt uns die folgende Liste rationaler
Zahlen:
0I 1I 0I 0I 1=2I 1I 2I 1=2I 1=3I 0I 0I
1=4I 1=3I 1I 2I 3I 1I 2=3I 1=4I 1=5I 0I : : :
In dieser Liste kommt jede rationale Zahl mindestens einmal vor. Anschließend
beseitigen wir Wiederholungen, indem wir jede Zahl, die in der Liste früher schon
3 Mengenlehre 75

vorkam, aus der Liste entfernen. Das Ergebnis ist die folgende Liste:
0I 1I 1=2I 1I 2I 1=2I 1=3I 1=4I 1=3I 2I 3I 2=3I 1=4I 1=5I : : :
Schließlich paaren wir die Zahlen dieser Liste mit den natürlichen Zahlen entspre-
chend der gegebenen Ordnung und erhalten die folgende Menge:
R D fh0; 0i; h1; 1i; h2; 1=2i; h3; 1i; h4; 2i; h5; 1=2i; h6; 1=3i; h7; 1=4i; : : :g:
Es ist nicht schwer zu sehen, dass R wie gewünscht eine eineindeutige Zuordnung
zwischen N und Q ist. Nun könnte der Leser eventuell einwenden, dass unsere
Definition von R etwas informell war und auf dem Diagramm beruhte. Es ist aber
möglich R genau und ohne Bezug zu einem Diagramm zu definieren und in ZFC
zu beweisen, dass R eine eineindeutige Zuordnung ist. Somit sind N und Q gleich-
mächtig. 

Mengen, die zu N gleichmächtig sind, heißen abzählbar unendlich. Eine Menge,


die entweder endlich oder abzählbar unendlich ist, heißt abzählbar und sonst über-
abzählbar. Mit dieser Sprechweise zeigt Satz 3.44, dass Q abzählbar unendlich ist.
Ebenso kann man zeigen, dass Z abzählbar unendlich ist. Unser nächster Satz wird
jedoch zeigen, dass R nicht abzählbar unendlich ist. Da R auch nicht endlich ist,
folgt, dass R überabzählbar ist. Dieser Satz wurde zuerst von Cantor im Jahr 1874
bewiesen.

Satz 3.45 Die Mengen N und R sind nicht gleichmächtig.

Beweis Angenommen, N und R seien gleichmächtig, sei dann R eine eineindeuti-


ge Zuordnung zwischen N und R. Dann muss R eine Menge geordneter Paare der
Form
R D fh0; r0 i; h1; r1 i; h2; r2 i; h3; r3 i; : : :g
sein, wobei r0 ; r1 ; r2 ; r3 ; : : : eine Zahlenliste ist, in der jede reelle Zahl genau einmal
vorkommt. Indem wir eine reelle Zahl finden, die in dieser Liste fehlt, erhalten wir
einen Widerspruch.
Wir beginnen, indem wir jede Zahl der Liste in Dezimaldarstellung aufschreiben.
Die Dezimaldarstellung von ri besteht aus einer ganzen Zahl ai , gefolgt von einem
Komma und einer anschließenden unendlichen Liste von Ziffern d0i ; d1i ; d2i ; : : : zwi-
schen 0 und 9. Mit anderen Worten haben wir ri D ai ; d0i d1i d2i : : : Wir können uns
nun vorstellen, dass diese Dezimaldarstellungen in einer Tabelle aufgelistet sind:
Zahl Dezimaldarstellung
r0 a0 ;d00 d10 d20 d30 : : :
r1 a1 ;d01 d11 d21 d31 : : :
r2 a2 ;d02 d12 d22 d32 : : :
r3 a3 ;d03 d13 d23 d33 : : :
und so weiter.
76 3 Mengenlehre

Sei nun e0 eine Ziffer, die zu d00 verschieden ist, sei e1 eine Ziffer, die zu d11
verschieden ist und so weiter. Da zwischen zehn Ziffern gewählt werden kann,
gibt es immer eine, die verschieden ist. Sei x die Zahl, deren Dezimaldarstellung
0; e1 e2 e3 : : : ist. Da e0 ¤ d00 , unterscheiden sich die Dezimaldarstellungen von x
und r0 in der ersten Nachkommastelle, also x ¤ r0 . Genauso unterscheiden sich x
und r1 in der zweiten Nachkommastelle, weil e1 ¤ d11 , also x ¤ r1 . Allgemein gilt
x ¤ ri für jedes i, weil ei ¤ dii , und deswegen unterscheiden sich die Dezimaldar-
stellungen von x und ri an der i C 1-ten Nachkommastelle. Somit ist x eine reelle
Zahl, die sich von jeder reellen Zahl in der Liste r0 ; r1 ; r2 ; : : : unterscheidet, was der
Annahme widerspricht, das R eine eineindeutige Zuordnung ist.8 

Die Ziffern der Zahl x aus diesem Beweis wurden so gewählt, dass sie sich
von den Zahlen d00 ; d11 ; d22 ; : : :, die in der Tabelle oben in einer Diagonalen stehen,
unterscheiden. Aus diesem Grund wird die Methode, die im Beweis von Satz 3.45
verwendet wird, Diagonalisierung genannt. Die Diagonalisierung ist eine starke
Methode, die in vielen, wichtigen Beweisen angewandt wird.
Da N  R, ist es natürlich, aus Satz 3.45 zu schließen, dass R größer als N
ist. Allgemein sagen wir, dass eine Menge A größer als eine Menge B ist, wenn B
zu einer Teilmenge von A gleichmächtig ist, aber nicht zu ganz A. Im Sinne die-
ser Ordnung der Größen unendlicher Mengen stellt sich heraus, dass die abzählbar
unendlichen Mengen die kleinsten unendlichen Mengen sind:

Satz 3.46 Jede unendliche Menge hat eine abzählbar unendliche Teilmenge.

Beweis Sei A eine unendliche Menge. Dann ist A natürlich nicht leer, also kön-
nen wir ein Element a0 2 A auswählen. Da A unendlich ist, gilt A ¤ fa0 g, also
können wir ein a1 2 A auswählen, sodass a1 ¤ a0 . Es gilt genauso A ¤ fa0 ; a1 g,
also können wir ein a2 2 A auswählen, sodass a2 ¤ a0 und a2 ¤ a1 . Auf die-
se Weise fortfahrend können wir rekursiv ein an 2 A auswählen, sodass an …
fa0 ; a1 ; : : : ; an1 g. Nun sei R D fh0; a0 i; h1; a1 i; h2; a2 i; : : :g. Dann ist R eine ein-
eindeutige Zuordnung zwischen N und der Menge fa0 ; a1 ; a2 ; : : :g  A. Somit
besitzt A eine abzählbar unendliche Teilmenge. 

Obwohl dieser Beweis schlüssig zu sein scheint, kann er mit den mengentheo-
retischen Axiomen, die wir bis jetzt aufgelistet haben, nicht bewiesen werden. Die
bisher besprochenen Axiome garantieren die Existenz von Mengen, die in irgend-
einer Weise explizit angegeben sind – zum Beispiel die Menge aller Teilmengen
einer Menge (Potenzmengenaxiom) oder die Menge aller Elemente einer anderen
Menge, die eine bestimmte Eigenschaft besitzen (Komprehensionsaxiom). Aber im

8
In diesem Beweis waren wir mit einer Sache eigentlich etwas nachlässig, weil nicht beachtet
wurde, dass zwei verschiedene Dezimaldarstellungen dieselbe reelle Zahl repräsentieren können;
zum Beispiel ist 5;2999: : : D 5;3000: : :. Dies passiert jedoch nur, wenn die Dezimaldarstellungen
in unendlich vielen Nullen oder Neunen enden, und deswegen können wir den Beweis reparieren,
indem wir 1  ei  8 fordern.
3 Mengenlehre 77

Beweis von Satz 3.46 wird die eineindeutige Zuordnung R nicht konkret angege-
ben, weil nicht gesagt wird, wie die Auswahl der Elemente a0 ; a1 ; a2 ; : : : vor sich
gehen soll. Zur Rechtfertigung dieser Schritte im Beweis benötigen wir ein Axi-
om, welches uns garantiert, dass Mengen, die sich aus einer solchen, beliebigen
Auswahl ergeben, tatsächlich existieren.

Auswahlaxiom Sei F eine Menge von nichtleeren Mengen. Dann gibt es eine
Funktion C auf F , sodass für jedes X 2 F gilt C.X/ 2 X.

Die Funktion C heißt Auswahlfunktion9 , weil man sich vorstellen kann, dass sie aus
jedem X 2 F ein Element C.X/ auswählt. Wir zeigen nun, wie das Auswahlaxiom
(häufig mit AC10 abgekürzt) verwendet wird, um die Schritte im Beweis von Satz
3.46 zu rechtfertigen; sei hierfür A eine unendliche Menge und sei F D fX 2
P .A/ W X ¤ ;g. Mit AC gibt es eine Auswahlfunktion C auf F . Nun können wir C
wie folgt benutzen, um anzugeben, wie die Elemente a0 ; a1 ; a2 ; : : : im Beweis von
Satz 3.46 ausgewählt werden. Sei X0 D A. Dann ist X0 2 P .A/ und X0 ¤ ;, also
X0 2 F . Somit können wir a0 D C.X0 / 2 X0 setzen. Als Nächstes sei X1 D fx 2
A W x ¤ a0 g, dann ist X1 2 P .A/ und X1 ¤ ;, also X1 2 F . Sei a1 D C.X1 /.
Allgemein sei für jedes n die Menge Xn D fx 2 A W x ¤ a0 ^ x ¤ a1 ^ : : : ^ x ¤
an1 g und an D C.Xn /. Die Menge Xn ist die Menge aller Elemente von A, die als
Werte für an infrage kämen, und die Funktion C legt dann die Auswahl auf eines
dieser Elemente fest.
Das Auswahlaxiom wurde zuerst von Zermelo im Jahr 1904 vorgeschlagen und
in seine Axiomatisierung der Mengenlehre von 1908 mitaufgenommen.11 Als Zer-
melo das Axiom einführte, entfachte es einen großen Meinungsstreit, obwohl viele,
die sich dagegenstellten, das Axiom in ihrer mathematischen Arbeit selbst benutzt
hatten, ganz ähnlich wie im Beweis von Satz 3.46. Im Jahr 1938 zeigte der österrei-
chische Logiker Kurt Gödel (1906–1978) dann, dass das Auswahlaxiom, wenn es
zu den Axiomen von ZF (Zermelo-Fraenkel’sche Mengentheorie ohne AC) hin-
zugefügt wird, zu keinem Widerspruch führt (unter der Voraussetzung, dass ZF
nicht bereits einen Widerspruch enthält). Im Jahr 1963 zeigte der amerikanische
Mathematiker Paul Cohen (1934–2007) ergänzend, dass AC in ZF aber auch nicht
bewiesen werden kann (wieder unter Voraussetzung, dass ZF selbst keinen Wider-
spruch enthält). Heutzutage akzeptieren die meisten Mathematiker AC, und große
Teile der modernen Mathematik bauen auf AC auf. Ein anderes Beispiel eines Sat-
zes, dessen Beweis AC erfordert, ist die Trichotomie für unendliche Kardinalzahlen:
Für zwei Mengen A und B sind A und B entweder gleichmächtig oder eine der
Mengen ist größer als die andere.

9
Engl.: Choice function.
10
Engl.: Axiom of Choice.
11
Die Möglichkeit, mit einer beliebigen Auswahl eine Menge zu definieren, hatten früher schon
verschiedenste Mathematiker erkannt, aber Zermelo war anscheinend der Erste, der einen solchen
Argumentationsschritt öffentlich vertrat. Für eine ausführliche Diskussion hierüber und andere
daran anknüpfende Themen siehe Moore (2012).
78 3 Mengenlehre

Mit dem Wissen, dass die abzählbar unendlichen Mengen die kleinsten, unendli-
chen Mengen sind und dass die Menge der reellen Zahlen nicht abzählbar unendlich
ist, kommt unmittelbar die Frage auf, ob R die zweitkleinste, unendliche Menge ist.
Die Kontinuumshypothese (CH) ist die Annahme, dass es keine unendliche Men-
ge gibt, die überabzählbar, aber dennoch kleiner als R ist. Cantor formulierte sie
im Jahr 1878 und glaubte, dass sie stimmt, aber trotz beachtlicher Anstrengungen
konnte er die Hypothese nicht beweisen. Heute wissen wir infolge von Gödels und
Cohens Arbeiten aus den Jahren 1938 und 1963, dass CH in ZFC weder beweisbar
noch widerlegbar ist (unter der Voraussetzung, dass ZFC keinen Widerspruch ent-
hält). Wir werden über solche „unentscheidbaren“ Fragen in Kap. 7 noch wesentlich
mehr zu sagen haben.

Übungen

3.1 Zeige Satz 3.9. (Hinweis für (iv): Es könnte hilfreich sein, zuerst Teil (v) zu
zeigen, sodass vollständige Induktion angewendet werden kann. Dann können über
vollständige Induktion folgende zwei Eigenschaften der natürlichen Zahlen gezeigt
werden:
(a) Für jede natürliche Zahl x ist jedes Element von x auch eine Teilmenge von x.
(b) Für jede natürliche Zahl x gilt x … x.
Benutze schließlich (a) und (b), um (iv) des Satzes 3.9 zu zeigen.)

3.2 Rechtfertige Definition 3.10 über einen Nachweis, dass es eine eindeutige
Funktion P W N  N ! N gibt, sodass für jedes m 2 N gilt:
(1) P .hm; 0i/ D m und
(2) für jedes n 2 N gilt P .hm; S.n/i/ D S.P .hm; ni//.
(Hinweis: Für jede natürliche Zahl k sagen wir, dass eine Funktion f W N S.k/ !
N ein partielles Plus bis k ist, wenn für jedes m 2 N gilt:
(10 ) f .hm; 0i/ D m und
(20 ) für jedes n 2 k gilt f .hm; S.n/i/ D S.f .hm; ni//.
Zeige zuerst, dass es für jedes k 2 N ein eindeutiges, S
partielles Plus bis k gibt. Sei
dann F die Menge aller partiellen Plus und sei P D F , zeige dann, dass P die
geforderten Eigenschaften besitzt.)

3.3 Zeige die Kürzungsregel der Addition natürlicher Zahlen: Für alle natürlichen
Zahlen m; n und k gilt: Wenn m C k D n C k, dann m D n. (Hinweis: Seien m
und n beliebige, natürliche Zahlen, zeige dann per Induktion über k: 8k.m C k D
n C k ! m D n/.)
Übungen 79

3.4 Zeige, dass für alle natürlichen Zahlen m und n gilt S.m/ C n D S.m C n/.
(Benutze hier nicht die Kommutativität der Addition. Dieser Fakt wird verwendet,
um die Kommutativität zu zeigen.)

3.5 Zeige, dass die Addition natürlicher Zahlen kommutativ ist: Für alle natürli-
chen Zahlen m und n gilt m C n D n C m. (Hinweis: Benutze Übung 3.4.)

3.6 Zeige, dass die Multiplikation natürlicher Zahlen assoziativ ist: Für alle natür-
lichen Zahlen m, n und k gilt .m  n/  k D m  .n  k/.

3.7 Zeige, dass die Multiplikation natürlicher Zahlen kommutativ ist: Für alle na-
türlichen Zahlen m und n gilt m  n D n  m. (Hinweis: Gehe analog zu Übung 3.5
vor.)

3.8 Beweise die Trichotomie natürlicher Zahlen: Für alle natürlichen Zahlen m und
n gilt entweder m < n oder m D n oder n < m. (Hinweis: Sei m eine beliebige,
natürliche Zahl, zeige dann per Induktion, dass 8n.m < n _ m D n _ n < m/. Es
könnte hilfreich sein, zuerst zu beweisen, dass für jede natürliche Zahl k aus k ¤ 0
folgt, dass es eine natürliche Zahl j mit k D S.j / gibt.)

3.9 Sei R eine Äquivalenzrelation auf A. Sei für jedes x 2 A wie im Text ŒxR D
fy 2 A W xRyg und sei A=R D fŒxR W x 2 Ag D fX 2 P .A/ W für ein x 2 A gilt
X D ŒxR g. Zeige die folgenden Eigenschaften von A=R:
(a) Für jedes X 2 A=R gilt X ¤ ;.
S alle X; Y 2 A=R gilt: Wenn X ¤ Y , dann X \ Y D ;.
(b) Für
(c) .A=R/ D A.

3.10 Vervollständige den Beweis von Satz 3.18 mit einem Nachweis, dass  refle-
xiv und symmetrisch ist.

3.11 Beweise Satz 3.24. (Hinweis: Es könnte nützlich sein, als Zwischenschritt
hac C bd; ad C bci  ha0 c C b 0 d; a0 d C b 0 ci zu zeigen.)

3.12 Formuliere und beweise den Satz, der gebraucht wird, um die Eindeutigkeit
der Definition 3.25 nachzuweisen.

3.13 Zeige, dass für alle ganzen Zahlen x und y gilt .x C y/  y D x.

3.14 Zeige, dass für jede ganze Zahl x gilt x C .1/  x D 0. (Bestimme zuerst,
für welche ganzen Zahlen die Zahlzeichen „1“ und „0“ stehen.)

3.15 Beweise Satz 3.28.


80 3 Mengenlehre

3.16 Formuliere und beweise die notwendigen Sätze, um Definition 3.30 zu recht-
fertigen.

3.17 Beweise das Distributivgesetz für rationale Zahlen: Für alle rationalen Zahlen
x, y und z gilt x  .y C z/ D .x  y/ C .x  z/.

3.18 Angenommen, wir haben versucht, eine neue Operation ˚ auf den ratio-
nalen Zahlen wie folgt zu definieren: Für alle ganzen Zahlen a, b, c und d sei
Œha; bi ˚ Œhc; d i D Œha C c; b C d i. Erkläre, warum diese „Definition“ nicht kor-
rekt ist. Die Erklärung sollte ein Beispiel enthalten, welches veranschaulicht, dass
die „Definition“ nicht eindeutig ist.

3.19 Sei fan g wie folgt definiert:


(
0; falls n  1000;
an D
1; falls n > 1000:

Sei fbn g die Folge, in der bn D 1 für jedes n. Zeige, dass fan g eine Cauchyfolge ist
und dass fan g fbn g.

3.20 Angenommen, fan g ist eine Cauchyfolge und fbn g ist eine Folge, die wir
erhalten, indem die ersten 100 Folgenglieder von fan g weggelassen werden, mit
anderen Worten sei b1 D a101 , b2 D a102 und allgemein bn D a100Cn . Zeige, dass
fbn g eine Cauchyfolge ist und fan g fbn g.

3.21 Angenommen, dass für jedes n 2 N C gilt dn 2 f0; 1; 2; : : : ; 9g. Sei für jedes
n 2 N C:

d1 d2 dn
sn D C C:::C n:
10 100 10

Mit anderen Worten sei sn die Zahl, deren Dezimaldarstellung 0; d1 d2 : : :dn ist. Zei-
ge, dass fsn g eine Cauchyfolge ist. (Natürlich ist Œfsn g diejenige reelle Zahl, deren
Dezimaldarstellung 0; d1 d2 : : : ist.)

3.22 Vervollständige den Beweis von Satz 3.34 durch den Nachweis, dass refle-
xiv und symmetrisch ist.

3.23 Beweise Satz 3.37.

3.24 Zeige, dass jede Cauchyfolge fan g beschränkt ist; mit anderen Worten, dass
es eine positive, natürliche Zahl K gibt, sodass für alle n 2 N C gilt jan j < K.
Übungen 81

3.25 Formuliere und beweise den Satz, der für die Rechtfertigung der Definition
3.38 gebraucht wird. (Hinweis: Um zu zeigen, dass fan  bn g eine Cauchyfolge ist,
wird mit der Formel jam  bm  an  bn j gearbeitet. Diese Formel kann wie folgt
umgeschrieben werden: jam  bm  an  bn j D jam  bm  am  bn C am  bn  an  bn j.
Benutze nun die Dreiecksungleichung und Übung 3.24.)

3.26 Formuliere und beweise den Satz, der für die Rechtfertigung der Definition
3.29 gebraucht wird.

3.27 Zeige die Trichotomie der reellen Zahlen: Für alle reellen Zahlen x und y gilt
entweder x < y oder x D y oder x > y. (Hinweis: Seien x D Œfan g und y D
Œfbn g. Angenommen, x ¤ y, dann gilt fan g 6 fbn g; zeige dann, dass entweder
x < y oder y < x.)

3.28 Vervollständige den Beweis von Satz 3.41 durch den Nachweis, dass fan g,
fbn g und fcn g Cauchyfolgen sind, dass fan g fbn g fcn g und x D Œfan g D
Œfbn g D Œfcn g die kleinste, obere Schranke von X ist.

3.29 Vervollständige den Beweis von Satz 3.43 durch den Nachweis, dass aus
f .w/ < m folgt: Es gibt eine reelle Zahl w 0 mit w < w 0 < v und f .w 0 / < m.
Weise nach, dass aus f .w/ > m folgt: Es gibt eine reelle Zahl w 0 < w mit w 0 ist
eine obere Schranke von X.
i
3.30 Für jede positive, natürliche Zahl n sei an die eindeutige rationale Zahl n mit
 2  
i i C1 2
<2< :
n n
 7 2  8 2
Zum Beispiel ist a5 D 75 , weil 5 <2< 5 . Zeige, dass fan g eine Cauchyfolge
ist und dass Œfang2 D 2.
Kapitel 4
Intuitionismus

Das Ende des letzten Kapitels mag den Leser im Glauben wiegen, dass sich Fre-
ges Projekt, auch wenn der Start etwas holprig war, schließlich doch als realisierbar
erwiesen hat. Die Arbeit innerhalb einer naiven Theorie der Umfänge von Prädi-
katen ist zwar eingeschränkt durch die Russell’sche Antinomie. Ein differenzierte-
rer Zugang zu den Mengen (wie in ZFC) aber vermeidet die Antinomie, und die
Rückführung der Mathematik auf Logik kann unbeeinträchtigt von Widersprüchen
weitergehen.
Kaum jemand jedoch glaubt, dass das logizistische Projekt, wie Frege es vor
Augen hatte, wirklich durchgeführt worden ist. Warum nicht? Ist die Antwort, dass
die Rückführung der Arithmetik, sagen wir auf die Mengenlehre, aufgefasst als
Theorie von Umfängen, nicht als logische Rückführung zählt, weil sie nicht als
Logik gilt? Umfänge sind keine logischen Gegenstände, vielleicht mathematische
– so mag man die Antwort fortsetzen –, und daher war Freges Projekt von Anfang
an schlecht konzipiert.
Warum aber soll man Umfänge nicht als logische Gegenstände ansehen? Gut,
solche Gegenstände kommen in der Regel in der Logik nicht vor. Setzt man dies
aber voraus, wäre Freges Projekt von Beginn an dem Untergang geweiht gewesen.
Denn natürliche Zahlen werden gewöhnlich genauso wenig als logisch akzeptiert,
obwohl der Erfolg von Freges Logizismus gerade davon abhing, das zu zeigen. Den
logischen Status von Umfängen einfach zu leugnen, weil sie gewöhnlich nicht als
Teil der Logik gesehen werden, bedeutet, das Gewicht zu sehr auf vor-theoretische
Intuitionen zu legen, was als „logisch erscheint“ und was nicht.
Das führt zu der Frage, warum Frege dachte, die Theorie der Umfänge wäre
logisch. Die Antwort ist, dass diese Theorie die notwendige Allgemeinheit besitzt.
Denn für Frege war Allgemeinheit das Markenzeichen der Logik, die sich „auf die
Gesetze des Denkens, die über alle Besonderheiten erhaben sind,“1 stützt. Umfänge
sind völlig allgemein, weil jeder Begriff einen Umfang hat.
Das Problem mit der Rückführung der Arithmetik auf die Frege’sche Theorie
der Umfänge ist es tatsächlich nicht, dass die Umfänge irgendwie nicht logischer

1
Frege (1879, S. IV).
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 83
A. George, D.J. Velleman, Zur Philosophie der Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56237-6_4
84 4 Intuitionismus

Natur wären. Das Problem ist vielmehr, wie die Russell’sche Antinomie zeigt, dass
diese Theorie der Umfänge inkonsistent ist. Umgekehrt ist es das Problem mit der
Rückführung der Arithmetik auf ZFC nicht, dass diese Theorie inkonsistent wäre
(soweit man weiß, ist sie es nicht), sondern dass sie nicht allgemein ist, und daher
nicht logisch.
ZFC verfehlt die notwendige Allgemeinheit in einer Reihe von Besonderhei-
ten. Zuerst macht diese Theorie existentielle Voraussetzungen über Mengen, ihre
originären Gegenstände. Vor allem anderen ist da das Unendlichkeitsaxiom zu nen-
nen, das die Existenz einer Menge fordert, die unendlich viele Mengen enthält. Das
ist eine sehr spezielle Voraussetzung über das Universum der Mengen, eine, die die
Allgemeinheit der Theorie einschränkt. Die Axiome von ZFC verfehlen zumeist die
notwendige Voraussetzungslosigkeit im Hinblick auf das Universum der Mengen,
die nötig wäre, um logisch zu sein.
Weiter, und noch grundlegender, verfehlt ZFC es, allgemein zu sein, einfach da-
durch, dass ZFC eine Theorie der Mengen ist, da Begriffe und Mengen – anders als
Umfänge – sich nicht immer entsprechen. Wir betrachten z. B. den Begriff „Men-
ge“ selbst. Wir haben in Satz 3.3 von Kap. 3 gesehen, dass wir in ZFC beweisen
können, dass es keine Menge für diesen Begriff gibt: Es gibt die Menge der Men-
gen nicht. Es gibt natürlich den Umfang zu diesem Begriff, nämlich die Klasse der
Mengen. Aber wie wir bemerkt haben, Russells Antinomie verwandelt sich in ZFC
in den Beweis, dass diese Klasse eine echte Klasse ist. Das wirklich allgemeine
Konzept von Klasse ist, dass jedem Begriff eine Klasse entspricht (einige Klassen
sind Mengen, die anderen echte Klassen). Aber ZFC ist nicht die Theorie der Klas-
sen. Es ist die Theorie der Mengen, über Gegenstände also, die, wie immer man
sie nennt, nicht wirklich allgemein sind, dadurch, dass es Begriffe gibt, zu denen es
keine Mengen gibt.2
Die Mengenlehre ZFC scheitert also an der Allgemeinheit, die gewährleistete,
sie als logisch anzusehen. Daher ist eine Reduktion der Mathematik auf ZFC (wie
in Kap. 3 skizziert) keine Rechtfertigung des logizistischen Programms Freges. Was
immer das mathematische Interesse einer solchen Reduktion sein mag, sie kann die
philosophischen Fragen nicht beantworten, die wir in den früheren Kapiteln erkun-
det haben. Es war die Allgemeinheit der Logik, die versprach, dass eine logische
Reduktion einen gewissen philosophischen Sinn hätte. Die Reduktion von Mathe-
matik auf ZFC dagegen legt alle unsere philosophischen Probleme in die Hände
einer Theorie, die nicht besser (sondern wohl weit schlechter) geeignet ist sie zu
lösen als etwa, sagen wir, die Arithmetik.
In der Summe: Wir wissen, dass Freges Theorie der Umfänge, zwar logisch,
aber nicht konsistent ist, und dass ZFC zwar eine konsistente Theorie der Mengen
ist (soweit wir wissen), auf die man die Mathematik zurückführen kann, ZFC aber
die notwendige Allgemeinheit fehlt, um als hinreichend logisch angesehen zu wer-

2
Anm. d. Übers.: Eine Frage ist, warum die Autoren hier nicht von einer Mengenlehre mit Klassen
(vgl. Bedürftig und Murawski (2015, Kap. 4)) ausgehen und von dort her argumentieren. Einige
der vorangehenden und folgenden Argumente wären vor einem solchen Hintergrund wenig stich-
haltig.
4 Intuitionismus 85

den. Woher kommt unsere Enttäuschung? Was ist an Freges Ziel, dass es so schwer
fassbar ist? Gibt es einen Grund dafür, dass wir eine konsistente Theorie der Um-
fänge nicht erreichen, auf die wir die Mathematik zurückführen können und die
zugleich in einem philosophisch relevanten Sinn hinreichend allgemein ist?
Um uns dieser Frage angemessen zu nähern, müssen wir uns klarer darüber wer-
den, wie unsere bisher eingenommene Sicht auf die mathematische Wirklichkeit
war. Wir können das am besten einschätzen, indem wir zuerst überlegen, wie unse-
re gewöhnliche Haltung zu Aussagen über die natürliche Welt ist.
Betrachten wir als Beispiel die Behauptung
(1) Jedes Gestirn hat einen Planeten, der es umkreist.
Was denken wir über die Wahrheit von (1)? Wir werden wahrscheinlich sagen, dass
wir nicht wissen, ob (1) wahr ist oder falsch. Was aber wichtig in diesem Zusam-
menhang ist, ist, dass fast alle darauf bestehen werden – vorausgesetzt wir haben
klar bestimmt, was ein Gestirn, ein Planet und so weiter ist –, dass (1) definitiv
wahr oder falsch ist. (1) ist genau dann wahr, wenn jedes Gestirn mindestens einen
Planeten besitzt, und (1) ist falsch, wenn es es wenigstens ein Gestirn gibt, dem ein
Planet fehlt. Wirklichkeit ist eben so oder so. Aktuell wissen wir es nicht, aber wir
wissen sehr wohl, dass entweder die Umstände so sind, wie (1) sie beschreibt, oder
sie sind eben nicht so. Dementsprechend ist (1) wahr oder falsch.
Diese schlüssige Sicht der natürlichen Welt wird Realismus genannt. Er sieht
die Natur als unabhängig von uns und als bestimmt an: Es ist eine ganz und gar
endgültige Sicht – unabhängig von unserem Vermögen zu wissen, wie die Natur
wirklich ist. Die Natur macht, dass jede sinnvolle Aussage über sie wahr oder falsch
ist, auch dann, wenn wir nicht wissen, ob das eine oder das andere zutrifft. Ein
Kennzeichen also unserer realistischen Position der Natur gegenüber ist der Satz
vom ausgeschlossenen Dritten, den wir von vornherein für alle Aussagen über sie
annehmen:
(2) Für alle Aussagen S gilt: S ist wahr oder nicht-S ist wahr.
Unser Bestehen darauf, dass die Aussage (1) wahr oder ihre Negation wahr ist,
kommt aus unserer Akzeptanz von (2) für die Aussagen über die natürliche Welt.
Die meisten Mathematiker übernehmen eine solch realistische Haltung für die
mathematische Welt. Für sie ist die Zusammenfassung der natürlichen Zahlen im
Wesentlichen wie die Zusammenfassung der Sterne im Universum. Wir erinnern
uns an das Hardy’sche Credo im Kap. 1: „Ich glaube, dass die mathematische Rea-
lität außerhalb von uns liegt, dass unsere Aufgabe es ist, sie zu entdecken und zu
beobachten, und dass die Sätze, die wir beweisen und die wir großartig als unsere
„Schöpfungen“ beschreiben, einfach nur Anmerkungen über unsere Beobachtungen
sind.“3
Sehen wir uns einmal die folgende Behauptung an:
(3) Jede gerade Zahl größer als 2 ist die Summe zweier Primzahlen.

3
Hardy (1967, S. 123f).
86 4 Intuitionismus

Diese Aussage ist die Goldbach’sche Vermutung, eine der berühmtesten ungelösten
Probleme in der Zahlentheorie. Sie wurde mithilfe des Computers für Milliarden
von Zahlen getestet. Kein Gegenbeispiel wurde gefunden – ebenso wenig wie bis-
her ein Beweis. Dennoch, der „Mathematiker von der Straße“ wird darauf bestehen,
dass (3) wahr ist oder aber, dass es eine spezielle gerade Zahl größer als 2 gibt, die
keine Summe zweier Primzahlen ist. Der Mathematiker wird weiter darauf beste-
hen, dass wir es nicht nur jetzt nicht wissen, was nun der Fall ist, sondern dass wir
es möglicherweise nie wissen werden. Und, unabhängig von unserer Wissenslücke:
Die mathematische Welt, speziell die Welt der natürlichen Zahlen, ist entweder so,
oder so. Der gewöhnliche Mathematiker geht vom Satz des ausgeschlossenen Drit-
ten aus und wendet ihn auf mathematische Behauptungen an. Warum sollte er auch
im Fall der Goldbach’schen Vermutung nicht gelten? Betrachten wir den Umfang
des Begriffs gerade Zahl größer als 2. Er fasst alle Objekte zusammen, die unter
diesen Begriff fallen. Diese Zusammenfassung ist die bestimmte, unendliche Ge-
samtheit f4; 6; 8; : : :g. Ganz gleich, was jemand glaubt oder jemals wissen wird,
sicher ist, entweder ist jedes Element dieser Gesamtheit die Summe zweier Prim-
zahlen, oder mindestens eine ist es nicht. Im ersten Fall ist die Vermutung wahr, im
zweiten Fall ist es die Negation. Diese Art zu denken anzuzweifeln, mag für viele
unvorstellbar sein. Die meisten Mathematiker, Frege inklusive, werden daran kaum
gezweifelt haben.
Der Realismus in der Mathematik jedoch führt zu einem gewissen Druck, den
einige für nicht tragbar oder zumutbar halten. Ein Problem dabei haben wir an-
gedeutet: Was sagt ein Realist über den Begriff der Menge? Wir betrachten den
Umfang dieses Begriffs, wir wollen ihn U nennen, die Klasse aller Mengen. Wie
wir bereits bemerkt haben, U ist in ZFC keine Menge. Nehmen wir an, U wäre
eine Menge, dann könnten wir nach dem Komprehensionsaxiom die Menge der
Elemente bilden, die sich nicht selbst enthalten. Die aber gibt es nicht, wegen des
drohenden Widerspruchs. Daher ist U eine echte Klasse.4 Das scheint zunächst nur
ungewöhnlich auszusehen, die Situation kann jedoch leicht ziemlich mysteriös wer-
den. Wir erinnern uns an die Motivation, die in Kap. 3 für die ZFC-Hierarchie der
Mengen skizziert wurde.
Man beginnt mit ; im ersten Schritt, und dann, in jedem folgenden Schritt,
fügt man die Potenzmenge der Menge hinzu, die auf der vorherigen Stufe gebildet
wurde. Auf jeder Stufe sind die neuen Einheiten Mengen. Anfangs mündet dieser
Prozess in nur endlich vielen Mengen: In den Stufen V0 , V1 , V2 usw. sind nur end-
lich viele Mengen zusammengefasst. Die erste Stufe, die unendlich viele Mengen
zusammenfasst, kommt erst „nach“ allen diesen: V! erhält man, wenn man alle die
Mengen zusammenfasst, die auf den unendlich vielen vorherigen Stufen gebildet
wurden. Es ist nur natürlich, wenn man sich hier etwas unwohl fühlt. Wenn wir

4
Anm. d. Übers.: Die Autoren formulieren hier, zuvor und im Folgenden so, dass der Eindruck
entstehen kann, ZFC, die Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre, handele auch von Klassen. Das ist
nicht der Fall. Es gibt jedoch Erweiterungen von ZFC um Klassen wie die NBG-Mengenlehre, die
auf von Neumann, Bernays und Gödel zurückgeht, oder die A-Mengenlehre, die von Ackermann
formuliert wurde. Beide Mengenlehren stimmen im Bereich der Mengen mit ZFC überein (vgl.
Bedürftig und Murawski (2015, Punkt 4.3.2)).
4 Intuitionismus 87

jetzt dagegen argumentieren, dass man einen solchen unendlichen Prozess doch
nicht abschließen kann, dass es da kein „danach“ gibt, wenn es um das Unendliche
geht, was wird der Realist dann antworten? Er wird sagen, dass man das zwar in der
Praxis nicht kann, im Prinzip aber sehr wohl.
Stellen wir uns nun vor, dass jemand den Realisten fragt, ob man nicht alle Men-
gen jeder Stufe zusammenfassen kann, um die Menge aller Mengen zu bilden. Der
klassische Mengentheoretiker wird erwidern, dass man das nicht kann. Wenn wir
aber weiter nachfragen, warum diese besondere unendliche Zusammenfassung al-
ler vorherigen Stufen zu einer Menge unmöglich sei, während das in anderen Fällen
durchaus möglich ist, kann der Mengentheoretiker nichts anderes anbieten als die
Antwort, dass in diesem einen Fall die Vereinigung über die Stufen in einem Wider-
spruch endet, während das in den anderen Fällen nicht der Fall sei. Nur zu sagen,
dass in dem einen Fall, anders als in den anderen, es „zu viele“ Stufen gäbe, um
über sie hinweg zusammenfassen zu können, aber reicht nicht. In beiden Fällen
sind unendlich viele Stufen da, und man kann nicht begreiflich machen, weshalb es
in dem einen unendlichen Prozess „zu viele“ Schritte seien, außer, dass ein Wider-
spruch sein Haupt erhebt, wenn wir uns vorstellen, einen Prozess dieser Länge zu
vervollständigen. Das ist eine wenig befriedigende Erklärung.
Die Situation ist durchaus unbefriedigend. Ein klassischer Mathematiker jedoch
wird das nicht so sehen. So unbequem sie sein mag, sie wird einfach erzwungen
durch den Beweis, dass U , die Klasse aller Mengen, selbst keine Menge ist. An
welchem Schritt im Beweis könnte man am Ende zweifeln? Ein Kritiker des Rea-
lismus wird sagen, dass genau dort eine heimliche Hypothese des Realismus ruht,
eine Voraussetzung so fundamental und verbreitet, dass ein klassischer Mathemati-
ker gar nicht erkennen kann, dass hier die Wurzel des Problems liegt. Der Beweis,
dass es keine Menge der Mengen gibt, erfolgt durch die reductio ad absurdum aus
der Annahme:
(4) Es gibt eine Menge U , die alle Mengen enthält.
Man wende die Russell’sche Antinomie an, um einen Widerspruch zu erzeugen. Der
klassische Mathematiker hält es durchaus für ausgemacht, dass es einen Bereich U
aller Mengen gibt. Aber er schließt gemäß der reductio, dass (4) zurückgewiesen
werden muss, weil U keine Menge ist. Der Realist nimmt an, dass mathematische
Objekte wie Mengen Teil der objektiven und festgelegten mathematischen Realität
sind. Jeder Begriff teilt die Realität in zwei Hälften: in die der Objekte, die unter
den Begriff fallen, und der Objekte, die das nicht tun. Für den Begriff der Menge
heißt das: Es gibt einen Bereich, der alle und jede Menge enthält. In der Kritik
des Realismus ist es diese Annahme, die den klassischen Mathematiker zwingt, (4)
zurückzuweisen, indem er die mysteriöse und brachiale Unterscheidung zwischen
zwei Arten von Bereichen macht, und zwar in solche, die Mengen sind, und solche,
die es nicht sind.
Hat man diese Annahme so weit isoliert, dann kann man einen Ausweg aus-
machen. Denn ein anderer Ansatz könnte sein, stattdessen anzunehmen, dass jeder
Bereich eine Menge ist, und dann aus der reductio schließen, dass (4) zurückzu-
weisen ist, weil es keinen Bereich gibt, der alle Mengen enthält. Die Diskussion
88 4 Intuitionismus

beginnt dann wieder damit, dass man annimmt, dass es einen Bereich U gibt, der
alle Mengen enthält, aber dann zeigt, dass das nicht so ist: U enthält nicht alle Men-
gen, da man gemäß Komprehensionsaxiom eine Menge produzieren kann, die nicht
in U ist, nämlich die Menge R, die alle die Mengen enthält, die sich nicht selbst
enthalten.
Wir sind also nicht gezwungen, die Sache so zu sehen, wie ein Realist es tut.
Wenn wir sie also anders sehen, was sagen wir dann über Begriffe wie den der
Menge? Würden wir dann U einführen als Umfang des Begriffs „Menge“? Wenn
sich ergibt, dass U nicht alle Mengen enthalten könnte, liegen wir dann nicht falsch,
überhaupt mit U als Umfang von „Menge“ zu beginnen? Der Kritiker des Realis-
mus wird darauf bestehen, dass das, was uns der Beweis lehrt, eine Unterscheidung
von Begriffen ist, solchen, deren Umfang festliegt, und solchen, deren Umfang „in-
definit“, unbestimmt ist.5 Ein Begriff ist umfangsindefinit, wenn sein Umfang nicht
vollständig bestimmt werden kann. Jeder Bereich, der unter einen solchen Begriff
fällt, kann erweitert werden: Ist ein Bereich von Gegenständen gegeben, die unter
einen umfangsindefiniten Begriff fallen, dann können wir ein Objekt angeben, das
unter den Begriff fällt, aber nicht im vorliegenden Bereich enthalten ist. Manche
Begriffe haben Umfänge, die klar bestimmt werden können, z. B. der Umfang der
Primzahlen, die kleiner als 100 sind. Aber das ist nicht für jeden Begriff der Fall.
Speziell der Begriff „Menge“ ist nicht umfangsdefinit: Für jeden Bereich von Men-
gen können wir eine Menge definieren, die nicht zum vorgegebenen Bereich gehört.
In der Tat, der Kritiker des Realismus wird darauf bestehen, dass dies die natürli-
chere Anwendung der Russell’schen Antinomie ist: Gegeben irgendein Bereich M
von Mengen, dann können wir eine weitere Menge bestimmen, die keineswegs in
M ist – nämlich die Menge all der Mengen in M , die sich nicht selbst als Element
enthalten.
Hand in Hand mit der Einsicht, dass manche Begriffe indefinit sind, geht eine
Konzeption der mathematischen Realität, die dem Realismus widerspricht. Es ist
plausibel, dass, wenn das mathematische Universum wirklich festgelegt ist, es zu
jedem Begriff einen festen Bereich für jedes Objekt im Universum geben muss, das
unter diesen Begriff fällt. Die Indefinitheit mancher Begriffe signalisiert aber, dass
die mathematische Realität nicht vollständig bestimmt ist. Nicht jede vernünftige
Frage, die mathematisch gestellt werden kann, hat eine Antwort. Wahrheiten etwa
sind in dieser Sichtweise nicht weniger objektiv oder notwendig, als sie es in realis-
tischer Sicht sind. Wenn sie einmal gelten, dann gibt es keine weitere Frage. Aber
es muss feststehen, dass sie gelten. Es ist jedoch irrig, daraus zu folgern, dass es da
eine Realität gibt, die von vornherein alle möglichen Fragen erledigt. Die folgende
Analogie kann hilfreich sein, die Situation zu verstehen.
Wir betrachten einen Zufallsprozess, sagen wir, für unseren Zweck, das Werfen
einer Münze. Dass die gerade geworfene Münze auf die Vorderseite gefallen ist, ist

5
Den Ausdruck „indefinitely extensible“ [für „indefinit“ oder „umfangsindefinit“, wie wir im
Folgenden sagen werden (Anm. d. Übers.)] findet man bei dem englischen Philosophen Micha-
el Dummett (1925–2011), vgl. z. B. Dummett (1991, S. 317). Dummett merkt an, dass die Idee
letztlich auf Russell (1905, S. 135–164, besonders S. 144) zurückgeht.
4 Intuitionismus 89

eine objektive Wahrheit. Das bedeutet aber nicht, dass da bereits eine Tatsache vor-
liegt, die Einfluss auf jeden folgenden Wurf hätte. So ähnlich ist es mit der Tatsache,
dass M , irgendein Bereich von Mengen, erweitert werden kann um die Menge der
Mengen in M , die sich nicht selbst als Element enthalten. Denn diese Menge ge-
hört nicht zu M , und die erweiterte Menge M 0 kann weiter erweitert werden durch
die Menge aller Mengen in M 0 , die sich nicht selbst enthalten, und so weiter. Es ist
jedoch ein Irrtum anzunehmen, dass es im mathematischen Universum eine Menge
gibt, die die Elemente von M und alle weiteren einzelnen Mengen enthalten, die
in diesem Prozess generiert würden, auch wenn er ewig fortgesetzt würde. Diese
anti-realistische Auffassung von Mathematik wird manchmal „Konstruktivismus“
genannt.6 Im Folgenden werden wir einen speziellen konstruktivistischen Ansatz
betrachten, der als „Intuitionismus“ bekannt ist.7
Es scheint also, als ob wir die Wahl hätten. Entweder wir nehmen an, dass es
einen Bereich gäbe, der alle Mengen enthält – in diesem Fall müssen wir zwischen
Gesamtheiten unterscheiden, die Mengen sind, und solchen, die es nicht sind; oder
wir behandeln alle Bereiche als Mengen. In diesem Fall müssen wir Begriffe un-
terscheiden, solche, die definit sind, also bestimmte Umfänge haben, und solche,
die indefinit sind. Die erste Entscheidung ist im Realismus zuhause, dessen Kon-
zeption einer feststehenden mathematischen Wirklichkeit dazu zu führen scheint zu
glauben, dass es die Totalität aller Mengen gibt. Dagegen ist die zweite Option in
natürlicher Weise mit einer Sicht auf eine nicht vollständig festgelegte mathemati-
sche Wirklichkeit verbunden. Der Widerstreit zwischen diesen beiden Bildern von
der mathematischen Welt ist darin begründet, dass diese Entscheidung tatsächlich
nicht vermieden werden kann. Das ist die Lehre aus der Russell’schen Antinomie:
Wir können nicht gleichzeitig annehmen, dass es eine Zusammenfassung gibt, die
alle Mengen enthält, um dann diese Zusammenfassung so zu behandeln, als ob sie
eine Menge sei.
So gesehen zeigt dies, warum Russells Antinomie den Kern von Freges Pro-
jekt trifft, und nicht nur einen speziellen Versuch seiner Realisierung. Für Frege
unterstützen beide Sichtweisen eine realistische Einstellung zur Mathematik und
tendieren beide zu einer Reduktion der Mathematik auf Logik. Eine Kombination
der Sichtweisen führte Frege dazu, Umfänge so zu behandeln, als ob sie zu einem
unabhängig existierenden und feststehenden Universum gehörten und zugleich völ-
lig allgemein wären. Aber Allgemeinheit ist eben das, was einer Theorie fehlt, wenn
sie nur manche ausgewählte Umfänge behandelt. Und das ist genau die Einschrän-
kung, die die Russell’sche Antinomie für die moderne Mengenlehre erzwingt, wenn

6
Konstruktivistische Einwände gegen den Realismus in der Mathematik wurden im 19. Jahrhun-
dert erhoben, wenn nicht schon zuvor, also vor der Russell’schen Antinomie. Diese Antinomie
aber macht den Preis eines strengen Realismus besonders klar.
7
Auch das Wort „Intuitionismus“ wurde für unterschiedliche, aber eng verwandte, Richtungen
gebraucht. Der Ausdruck selbst wurde durch den niederländischen Mathematiker L. E. J. Brou-
wer (1881–1966) geprägt, der im frühen zwanzigsten Jahrhundert der Pionier dieses Ansatzes war.
Nach ihm ist die Intuition der Zeit, in einem kantischen Sinn, die Basis für alle Mathematik. Un-
sere Darstellung des Intuitionismus berücksichtigt recht unterschiedliche Richtungen, von denen
Brouwer einige abgelehnt hätte.
90 4 Intuitionismus

man sie im Kontext einer realistischen Interpretation des mengentheoretischen Uni-


versums sieht.
Der Realismus also führt den Mengentheoretiker dazu, Umfänge nach ihrer Art
zu unterscheiden: Einige sind Mengen, andere nicht. Der Intuitionismus zwingt uns,
zwischen Begriffen zu unterscheiden: Einige sind umfangsindefinit, andere nicht.
Welche Unterscheidung also ist vorzuziehen?
Der Intuitionist hat da keine Zweifel. Wir haben gesehen, dass die Unter-
scheidung, die der ZFC-Mengentheoretiker zwischen Mengen und echten Klassen
macht, künstlich erscheint. Warum sollen manche Gesamtheiten Mengen sein und
andere nicht? Die Unterscheidung mag zwingend erscheinen, da sie eine Lösung
der Russell’schen Antinomie verspricht. Aber tatsächlich liefert ZFC keine Lösung
der Antinomie, die Zusammenfassungen wirklich als allgemein betrachtet, derart,
dass man über nichts anderes spricht, nämlich über Mengen. Der Widerspruch wird
nicht durch die Unterscheidung zwischen Mengen und echten Klassen geklärt. Im
Gegenteil. Die Unterscheidung erhält ihren Sinn nur durch die ungeklärte Andro-
hung eines Widerspruchs: Es gibt kein Antinomie-unabhängiges Kriterium dafür,
eine Grenze zwischen Mengen und echten Klassen zu ziehen. Auf der Unterschei-
dung zu bestehen, um die Antinomie zu vermeiden, bedeutet, wie Dummett es sagt
„den großen Hammer zu schwingen, statt eine Klärung zu bieten“8 . Aus gerade
diesem Grund umgibt etwas fundamental Mysteriöses das Thema ZFC. Denn die
Konturen dieser Mengenlehre werden von einem Widerspruch gezogen, der nicht
wirklich geklärt wird.
Im Gegensatz dazu, so der Intuitionist weiter, ist es der Reiz der Unterschei-
dung von umfangsindefiniten und umfangsdefiniten Begriffen, dass sie eine gewisse
Klärung bringt. Denn die Unterscheidung ist unabhängig von der Antinomie. Inwie-
fern? Intuitionisten meinen, dass die Unterscheidung unvermeidlich ist, wenn man,
wie sie es tun, darauf besteht, dass unendliche Zusammenfassungen nicht „aktual“,
d. h. real vorliegend sein können. Intuitionisten glauben, dass die mathematische
Wirklichkeit weder feststeht, noch unabhängig von uns ist, sondern bestimmt wird
durch unsere mathematischen Aktivitäten. Für sie sind daher Zusammenfassungen,
die man vernünftigerweise als vorliegend, als aktual ansprechen kann, allein solche,
deren Konstruktion wir uns selbst sinnvoll an ein Ende kommend vorstellen können
– zumindest prinzipiell.
Jeden gegebenen endlichen Prozess können wir im Prinzip abschließen, und
daher kann jede endliche Gesamtheit sinnvoll als gegeben, als aktual behandelt
werden. Dagegen können wir einen unendlichen Prozess nicht abschließen – auch
im Prinzip nicht. Denn ein Prozess ist gerade deswegen unendlich, weil er nie an
ein Ende kommt. Es hat keinen Sinn, sich sein Ende vorzustellen. Folglich kann
eine Gesamtheit nicht sinnvoll als aktual unendlich angesehen werden. Ihre Unend-
lichkeit ist immer potentiell: Sie besteht in dem Prinzip, dass zu jeder gegebenen
Zusammenfassung (und natürlich sind alle Zusammenfassungen, die man vorgeben
kann, endlich) ein Element gefunden werden kann, das nicht in der Zusammen-
fassung enthalten ist. Betrachten wir zum Beispiel die natürlichen Zahlen. Für den

8
Dummett, in George (1994, S. 22).
4 Intuitionismus 91

Intuitionisten sind Gesamtheiten natürlicher Zahlen endlich: f0g; f0; 1g; f0; 1; 2g,
und so weiter. Die Gesamtheit aller natürlichen Zahlen existiert als eine aktuale,
abgeschlossene Zusammenfassung von Zahlen nicht. Vielmehr besteht ihre Unend-
lichkeit darin, dass wir jeder Zusammenfassung von natürlichen Zahlen eine Zahl
hinzufügen können, die nicht in der Zusammenfassung ist, sagen wir durch Addi-
tion von 1 zur größten Zahl in der Zusammenfassung. Hält man das Unendliche
ausschließlich für potentiell und für nie aktual, dann entspricht jeder unendlichen
Zusammenfassung ein indefiniter Begriff. Denn die Unendlichkeit der Zusammen-
fassung kann nur in der Tatsache bestehen, dass, wenn eine Zusammenfassung von
Objekten gegeben ist, die unter den entsprechenden Begriff fallen, wir einen weite-
ren Gegenstand beschreiben können, der unter den Begriff fällt, aber nicht in dieser
Zusammenfassung enthalten ist. Wenn einmal die abgeschlossene, aktuale Unend-
lichkeit negiert ist, dann ist es, wenn einige Begriffe indefinit sind und andere nicht,
ebenso wenig mysteriös wie die Annahme, dass einige Begriffe unendliche Umfän-
ge haben und andere nicht.
Der Realist dagegen lehnt dieses Konzept ab und macht sich das abgeschlossene
aktual Unendliche zu eigen. Was Menschen real oder im Prinzip erreichen können,
hat für ihn keinen Einfluss auf die Natur der mathematischen Wirklichkeit. Ob wir
einen unendlichen Prozess abschließen können, ist eine Sache, eine ganz andere
ist, dass es unendliche Mengen mathematischer Gegenstände gibt. Als Konsequenz
erscheint dem Realisten das Konzept eines umfangsindefiniten Begriffs als unsin-
nig. Jeder Begriff teilt für ihn die Welt ein in Objekte, die unter den Begriff fallen,
und solche, die das nicht tun. Und weil die Bewohner dieser Welt existieren und
Eigenschaften unabhängig von uns haben, da muss es einfach eine Zusammenfas-
sung geben, die genau die Objekte enthält, die unter einen Begriff fallen. Gerade
wenn irgendeine Zusammenfassung, die wir im Prinzip herstellen können, nicht
alle Gegenstände enthielte, die unter einen Begriff fallen, dann gäbe es doch eine
Zusammenfassung, die alle diese Gegenstände enthielte.
Aus der Perspektive des Realisten ist die gesamte Idee umfangsindefiniter Be-
griffe einer Vermischung geschuldet, nämlich zwischen den Möglichkeiten des
Menschen auf der einen Seite und den mathematischen Fakten auf der anderen.
Unsere Fähigkeiten bestimmen, wie viel Wissen wir über die mathematische Welt
erhalten können. Es ist aber ein Fehler zu denken, dass unsere Fähigkeiten bestim-
men, wie es um die Dinge in dieser Welt steht.9
Bevor wir zu einigen Erläuterungen kommen, sollten wir etwas innezuhalten,
um eine Reihe von Beobachtungen zu machen, nämlich darüber, worum es nicht
geht in dieser Auseinandersetzung der beiden Positionen. Die Differenz liegt liegt
zuallererst nicht in der Auffassung über die Existenz der mathematischen Objek-
te. Beide, der klassische Mathematiker wie der Intuitionist, stimmen beispielsweise
darin überein, dass die Zahl 2 existiert. Sie sind zudem beide der Auffassung, dass

9
Es gibt auch Zwischenpositionen, die weder alle infiniten Gesamtheiten scheuen, wie es der In-
tuitionismus tut, noch sie alle akzeptieren wie die Realisten. Für eine Darstellung und Verteidigung
der Sichtweise, dass nur abzählbaren Gesamtheiten abgeschlossene unendliche Ganzheiten bilden,
siehe Velleman (1993).
92 4 Intuitionismus

es unendliche Gesamtheiten gibt, auch wenn sie sich in ihrer Auffassung von Un-
endlichkeit unterscheiden. Die grundlegende Differenz zwischen beiden Positionen
liegt nicht darin, ob es eine mathematische Realität gibt, sondern in der Art dieser
Wirklichkeit. Ist sie festgelegt und bestimmt oder nicht?
Sodann liegt der Unterschied ebenso nicht in der Auffassung der mathematischen
Objekte selbst. Während der Realismus oft davon ausgeht, dass die mathematischen
Objekte abstrakt sind, sieht der Intuitionismus sie meist als mentale Konstruktio-
nen der Mathematiker an. Dieser Unterschied aber trifft nicht, was die Positionen
wirklich unterscheidet. Denn es gibt keine eindeutige Beziehung zwischen der onto-
logischen Konstitution der mathematischen Objekte – dem „Stoff“ sozusagen, aus
dem sie gemacht sind – und der Art der Realität, deren Elemente sie sind, spezi-
ell ihrer Abgeschlossenheit und Bestimmtheit. Man kann beispielsweise glauben,
dass natürliche Zahlen irgendwie mentale Gegenstände seien, aber darauf bestehen,
dass ihre Gesamtheit eine abgeschlossene unendliche Menge ist. Umgekehrt kann
man natürliche Zahlen für abstrakte Gegenstände halten, aber zugleich den Begriff
„natürliche Zahl“ für indefinit erklären.10
Wir wollen nun Beispiele betrachten, die helfen können, die wirklichen Diffe-
renzen zwischen den beiden Konzeptionen klarzustellen. Zuerst werden wir einen
der berühmtesten Beweise aus der Mathematik betrachten, der begründet, dass es
unendlich viele Primzahlen gibt. Er verläuft wie folgt: Nehmen wir an, es gibt nur
endlich viele Primzahlen p1 ; p2 ; : : : ; pn . Sei dann q D .p1  p2  : : :  pn / C 1. Nun:
q ist nicht teilbar durch p1 , da die Division einen Rest von 1 lässt, und ebenso lässt
die Division durch p2 ; p3 ; : : : ; pn den Rest 1. Da jede Zahl eindeutig als Produkt
von Primzahlen darstellbar ist (was man gesondert beweisen muss), muss es eine
weitere Primzahl als nur die angenommenen p1 ; p2 ; : : : ; pn ; geben, die q teilt.
Der klassische Mathematiker sieht dies als Beweis dafür an, dass der Umfang
des Begriffs „Primzahl“ eine abgeschlossene unendliche Gesamtheit ist. Dass ein
Umfang eine abgeschlossene Ganzheit ist, ist wesentlich für den Realismus. Und
dass diese Gesamtheit unendlich ist, folgt daraus, dass sie größer als jede endliche
Zusammenfassung von Primzahlen ist. Der Intuitionist dagegen sieht hier keinerlei
Rechtfertigung für das Konzept des abgeschlossenen Unendlichen. Was der Beweis
vielmehr zeigt, ist gerade, dass der Begriff „Primzahl“ umfangsindefinit ist: Gege-
ben irgendeine Gesamtheit von Primzahlen, dann können wir eine Primzahl finden,
die nicht in dieser Gesamtheit ist. Genau dies führt der Beweis vor: Finde zuerst eine
passende Zahl q, dann liste seine Teiler auf und untersuche schließlich, ob sie Prim-
zahlen sind. Das ist ein endlicher Prozess, und der Beweis garantiert eine weitere
Primzahl über diejeinigen hinaus, mit denen er begonnen hat. Die Unendlichkeit der
Primzahlen ist potentiell und besteht gerade darin, dass jede gegebene Gesamtheit
von Primzahlen zu einer größeren erweitert werden kann. Der klassische Mathe-
matiker spricht so, als ob der Prozess immer größer werdender Gesamtheiten von
Primzahlen irgendwie begrenzt werden könnte. Der Intuitionist aber besteht darauf,
dass dies der Beweis nicht feststellt, vielmehr dass diese Interpretation tatsächlich
überhaupt keinen Sinn macht.

10
Diese Position wird von Michael Dummett eingenommen, siehe z. B. Dummett (1978).
4 Intuitionismus 93

In Kap. 3 haben wir den Beweis Cantors über die Überabzählbarkeit der reellen
Zahlen gesehen. Noch einmal: Während beide, der klassische Mathematiker wie
der Intuitionist, den Beweis akzeptieren, geben sie eine substantiell andere Dar-
stellung darüber, was er eigentlich beweist. Der Realist nähert sich dem Beweis
in der Annahme, dass der Begriff der reellen Zahlen einen abgeschlossenen Um-
fang bestimmt: eine Zusammenfassung, die alle reellen Zahlen enthält und sonst
nichts. Vor Cantors Beweis konnte man denken, dass diese unendliche Zusammen-
fassung die gleiche Größe hat wie die Zusammenfassung der natürlichen Zahlen.
Was Cantor zeigte, war, dass dies falsch ist: Die abgeschlossene Gesamtheit der na-
türlichen Zahlen kann nicht umkehrbar eindeutig (bijektiv) auf die abgeschlossene
Gesamtheit der reellen Zahlen abgebildet werden. Auch wenn sie unendlich ist, die
Gesamtheit der reellen Zahlen ist von einer anderen Größe als die der natürlichen
Zahlen. Kurz: Es gibt unterschiedliche Größen des Unendlichen.
In scharfem Gegensatz dazu besteht der Intuitionist darauf, dass diese Interpre-
tation ideologisch ist, denn nirgends im Beweis ist irgendwo von unterschiedlichen
Größen von abgeschlossenen unendlichen Zusammenfassungen die Rede. Was der
Beweis eigentlich zeigt, ist, dass wir für eine beliebig vorgegebene Funktion von
natürlichen Zahlen in die reellen Zahlen reelle Zahlen finden, die nicht Werte dieser
Funktion sind. Der Beweis gibt uns eine Methode an die Hand, zu jeder Funk-
tion, die reelle Zahlen aufzählt, nicht erfasste reelle Zahlen zu finden. Genau so,
wie Unendlichkeit für den Intuitionisten nur ein Prinzip bedeutet, jede vorgegebene
Zusammenfassung zu einer umfassenderen auszuweiten, bedeutet Nichtabzählbar-
keit, dass jede Aufzählung von Zusammenfassungen erweitert werden kann. Für
den Intuitionisten nimmt der klassische Mathematiker diese Tatsachen über eine
Erweiterung her und vergegenständlicht sie ohne Anlass, wenn er über unterschied-
liche Arten von abgeschlossenen Gesamtheiten spricht: über endliche, abzählbare,
überabzählbare.
An diesem Punkt wird sich der Leser vielleicht fragen, ob es überhaupt etwas
zwischen klassischem und intuitionistischem Mathematiker zu diskutieren gibt. Wir
wissen jetzt, wie der erste über mathematische Realität denkt, über Begriffe, die
abgeschlossene Gesamtheiten bestimmen, über das aktual Unendliche. Und der
andere über die Unbestimmtheit dieser Realität, über Indefinitheit von Begriffen
und das potentiell Unendliche. Führen diese Differenzen überall in einen Dissens?
Oder ist vielleicht der „Realisten-Jargon“ nur ein façon de parler, eine plastische,
gegenstandsorientierte Art der Beschreibung von Tatsachen über unendliche Pro-
zesse? Akzeptieren nicht beide Positionen schließlich doch die gleichen Beweise
und drücken sie sich nicht bloß auf unterschiedliche Art aus?
Ein Beweis besteht in einer endlichen Sequenz von Schlüssen. Ein Meinungsun-
terschied darüber, ob man einen Beweis akzeptiert oder nicht, sollte ein Meinungs-
unterschied über die Schritte in seinem Gedankengang sein. Im Allgemeinen wird
eine Folgerung gültig sein, wenn die Korrektheit der Voraussetzungen die Korrekt-
heit des Schlusses garantiert. Ein Dissens über die Gültigkeit einer Folgerung muss
also rückführbar sein auf einen Dissens über die Bedingungen, unter denen eine
korrekte Aussage behauptet wird. Um zu erkennen, was den klassischen Mathema-
tiker und den Intuitionisten substantiell trennt, müssen wir die Bedingungen prüfen,
94 4 Intuitionismus

unter denen man mathematische Aussagen für korrekte Behauptungen halten kann.
Das heißt, wir müssen schauen, was jeder meint, wenn er eine mathematische Be-
hauptung aufstellt.
Wir wollen mit einer Aussage über spezielle Zahlen beginnen: „17 und 19 sind
Zwillingsprimzahlen“, wobei Zwillingsprimzahlen zwei Primzahlen sind, deren
Abstand 2 beträgt. Ob man eine realistische Perspektive auf die mathematische
Welt hat oder nicht, es wird keinen Dissens über die Aussage geben. Denn für je
zwei Zahlen kann eine endliche Rechnung zeigen, ob sie Zwillingsprimzahlen sind.
Trotz der fundamentalen Differenz zwischen Realisten und Intuitionisten über das
Unendliche kann es keinen Streit geben. Allgemein: Der klassische Mathematiker
und der Intuitionist werden in allen Aussagen übereinstimmen, deren Behauptung
von einer endlichen Berechnung abhängt.
Die Sache ändert sich jedoch, wenn wir zu Aussagen übergehen, deren Quantifi-
zierung über einen unendlichen Bereich geht. Wir wollen als Beispiel die folgende
Behauptung und ihre formale Darstellung betrachten.
(5) Es gibt unendlich viele Zwillingsprimzahlen.
(6) 8x9y.y > x ^ y ist Primzahl ^ y C 2 ist Primzahl/.
Wie wird ein Realist diese Behauptung interpretieren? Der klassische Mathematiker
denkt, dass der universelle Quantor „8x“ über alle Elemente einer abgeschlossenen
unendlichen Gesamtheit reicht, in unserem Fall die abgeschlossene Zusammenfas-
sung der natürlichen Zahlen f1; 2; 3; : : :g. Damit ist gesagt, dass jedes Element
dieser fertigen unendlichen Ganzheit die Eigenschaft hat, dass es Zwillingsprim-
zahlen gibt, die größer sind als dieses Element. Nur wenn diese aktual unendlichen
Umstände so sind, dann wird die Aussage (6) korrekt sein.
Der Intuitionist dagegen wird sagen, dass es das nicht sein kann, was (6) bedeu-
tet. Denn die Vorstellung einer unendlichen Gesamtheit macht überhaupt keinen
Sinn. Die Zusammenfassung der natürlichen Zahlen gibt es nicht als fertige Ganz-
heit, und daher gibt es die aktual unendlichen Umstände auch nicht, in der jede
Zahl kleiner ist als zwei Zwillingsprimzahlen. Vielmehr ist der Begriff „natürliche
Zahl“ indefinit: Ist irgendeine Zusammenfassung von natürlichen Zahlen gegeben,
dann können wir eine weitere finden, die nicht darin enthalten ist. In dieser Sicht
bedeutet (6), dass, ganz gleich, welche natürlichen Zahlen gegeben sind, wir zwei
Zwillingsprimzahlen finden können, die größer sind. Der Realist interpretiert die
Aussage als Behauptung über die Elemente eine fertigen unendlichen Gesamtheit.
Der Antirealist dagegen versteht sie als Aussage über Gegenstände, die im Prinzip
in einem Verfahren generiert werden können.11
Angesichts dieser gegenteiligen Auffassungen wollen wir überlegen, ob Um-
stände entstehen können, in denen der klassische Mathematiker die Aussage (6) zu
behaupten für legitim hielte, nicht aber der Intuitionist. Wir stellen uns vor, dass

11
Der Unterschied in der Bedeutung würde hier verloren gehen, wenn man die Zusammenfassung
dieser generierten Gegenstände für eine abgeschlossene unendliche Ganzheit hielte. Für den In-
tuitionisten kann keine Zusammenfassung die Ausgabe eines unendlichen Verfahrens umfassen,
d. h., die Ausgabe des Verfahrens existiert nicht aktual, sondern nur potentiell.
4 Intuitionismus 95

beide, der Realist und Intuitionist glauben, es ist nicht der Fall, dass es nicht der
Fall ist, dass (6) gilt. In anderen Worten, dass sie beide die doppelte Negation der
Aussage behaupteten:
(7) ::8x9y.y > x ^ y ist Primzahl ^ y C 2 ist Primzahl/.
Was würde jeder der beiden daraus folgern? Für den Realisten ist die Zusammenfas-
sung der natürlichen Zahlen bestimmt, sie existiert unabhängig und ist eine unendli-
che Ganzheit. Eine der beiden folgenden Bedingungen muss daher gelten: (i) Jedes
Element in dieser Zusammenfassung ist kleiner als irgendwelche Zwillingsprimzah-
len; oder (ii) Es ist nicht der Fall, dass jedes Element in dieser Gesamtheit kleiner
als irgendwelche Zwillingsprimzahlen ist. Wenn (ii) nicht gilt, dann gilt (i). Die
Aussage (7) sagt gerade, dass (ii) nicht gilt. Der klassische Mathematiker wird also
(6) auf der Basis von (7) behaupten.
Der Intuitionist wird das nicht tun. Ein Antirealist glaubt nicht, dass eine unend-
liche Zusammenfassung von natürlichen Zahlen wirklich existiert, und wird daher
jede Überlegung auf der Basis einer solchen Annahme für konfus halten. (7) sagt
uns nur, dass wir die Negation von (6) nicht behaupten können. Das aber garantiert
nicht, so der beharrt der Intuitionist, dass wir (6) behaupten können. Wir könnten (6)
behaupten, wenn wir wüssten, dass wir entweder (6) oder die Negation behaupten
können. Das aber gerade bleibt zu zeigen. Die Illusion, dass das nicht nötig, dass
(6) dann ganz offensichtlich korrekt ist, kommt aus der Annahme des Realisten über
die Bestimmtheit und Abgeschlossenheit des mathematischen Universums. Anders
ausgedrückt: Intuitionisten räumen ein, dass die Akzeptanz von (7) bedeutet, dass
wir nicht die Negation von (6) behaupten können. Dass wir daran gehindert sind –
so betonen sie –, ebnet uns aber nicht per se den Weg zu (6), auf dem wir beweisen
können, dass wir für eine vorgegebene natürliche Zahl Zwillingsprimzahlen vorwei-
sen können, die größer sind als diese. Wenn man die natürlichen Zahlen nicht als
fertige unendliche Gesamtheit akzeptiert, dann bräuchte man, um eine allgemeine
Aussage der Art „Jede natürliche Zahl hat die Eigenschaft P “ zu akzeptieren, eine
Garantie dafür, dass jede Zahl, die man erzeugen kann, erkennbar diese Eigenschaft
P hat. Wir könnten eine solche Garantie sicherlich ansehen als die absolut siche-
re Methode, für jede erreichbare natürliche Zahl die Eigenschaft P nachzuweisen.
Dass (7) der Fall ist, versieht uns aber keineswegs mit einer solchen Methode.
Das zeigt, dass der Schluss
::X
(8) (Gesetz der doppelten Negation)
X
von Intuitionisten nicht allgemein anerkannt wird.12 Das ist natürlich aus der Sicht
eines Realisten unannehmbar: Wenn man meint, dass mathematische Aussagen ei-
ne unabhängige und bestimmte Wirklichkeit beschreiben, dann ist klar: Beschreibt
:X die Wirklichkeit nicht korrekt, dann muss das X tun. Damit ist der Glaube an

12 P1 P2 : : : Pn
Die Notation bedeutet, dass wenn es korrekt ist, P1 P2 : : : Pn zu behaupten, dass
Q
dann auch die Behauptung von Q korrekt ist.
96 4 Intuitionismus

eine abgeschlossene und bestimmte mathematische Realität wesentlicher Teil des


Glaubens daran, dass eine Aussage die Realität richtig beschreibt oder aber ihre
Negation das tut. Der Antirealist weist diese Sichtweise zurück und unterscheidet
das Wissen darüber, dass :X nicht richtig ist, von dem Wissen, dass X richtig
ist. Hier also sehen wir, wie die realistischen und intuitionistischen Deutungen zu
einem fundamentalen Dissens darüber führen, was ein legitimer Schluss ist.13
Wir sehen also schon, dass Intuitionisten es nicht immer akzeptieren, wie klas-
sische Mathematiker argumentieren: Mathematisches Argumentieren verläuft in
Schlüssen, und hier haben wir einen fundamentalen Dissens über die Gültigkeit
einer speziellen Form des Argumentierens, der doppelten Negation. Wir müssen
nun genau bestimmen, wo solche Auffassungsunterschiede auftreten. Wir sind da-
bei unmittelbar damit konfrontiert, dass es viele Formen von Schlüssen gibt. Wie
können wir diejenigen finden, deren Gültigkeit beide, Realisten und Intuitionisten,
anerkennen, und die, über die sie uneins sind? Richtiges Argumentieren muss so
sein, dass es korrekte Behauptungen liefert, also so, dass es, wenn es von korrek-
ten Voraussetzungen ausgeht, sicher einen ebenso korrekten Schluss hervorbringt.
Was wir also suchen müssen, ist eine allgemeine Darstellung der Bedingungen
korrekter „Behauptbarkeit“, für den klassischen Mathematiker und genauso wie
für den intuitionistischen. Wenn wir dies erreicht haben, können wir spezielle
Formen der Folgerung prüfen, um zu sehen, ob Realisten und Intuitionisten darin
übereinstimmen.
Für einen klassischen Mathematiker ist eine Aussage dadurch richtig, dass die
als unabhängig, abgeschlossen und festgelegt angenommene mathematische Welt
so ist, wie die Aussage es aussagt. Wir wissen, wann es korrekt ist, eine Aussage zu
machen – die substantiell ist, deren Bedeutung klar ist –, nämlich dann, wenn wir
wissen, welche Bedingungen in der unabhängig existierenden mathematischen Welt
erfüllt sein müssen, damit die Aussage wahr ist. Hier spricht man klassisch oft von
den Bedingungen für die korrekte Behauptbarkeit als den Wahrheitsbedingungen.
Die gewöhnliche rekursive Definition von Wahrheit für die klassische Prädikaten-
logik erster Stufe kann so als eine Festlegung angesehen werden, wie jede logische
Verknüpfung zu den Bedingungen korrekter Behauptbarkeit in den Aussagen bei-
trägt, durch die sie verbunden sind. Beispielsweise präzisiert die Definition, dass der
universelle Quantor 8xF x wahr sein soll bei einer Interpretation I dann und nur
dann, wenn jedes Element im Bildbereich der Interpretation in dem Umfang des Be-
griffs enthalten ist, den I dem Prädikat F zuordnet. Geht es nach dem klassischen
Mathematiker, dann legt dies die Bedingungen für die korrekte Behauptbarkeit jeder
Allaussage fest. Unsere Schlussfolgerungen oben über die klassische Interpretation
von (6) sind gerade eine partielle Anwendung davon. Diese Festlegung ist es, die

13
Wir merken an, dass der Intuitionist nicht jede Folgerung der Form (8) zurückweist. Speziell
wenn A eine Aussage ist, die nicht über Unendliches spricht – wie unsere frühere Aussage „17 und
19 sind Zwillingsprimzahlen“ –, dann ist die Anwendung des Gesetzes der doppelten Negation
unproblematisch. Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir mehr über das intuitionistische
Verständnis der Negation gesagt haben. Wichtig für den Intuitionisten hier ist, dass das Gesetz
der doppelten Negation nicht für jede Aussage A anwendbar ist und daher kein allgemein gültiges
Prinzip sein kann.
4 Intuitionismus 97

die Bedingungen der Behauptbarkeit präzisiert, wonach der klassische Mathemati-


ker die formale Gültigkeit einer Folgerung bewertet.
Wir müssen nun etwas Vergleichbares für logische Verknüpfungen im intuitio-
nistischen Verständnis tun. Für jede logische Verknüpfung müssen wir eine Prä-
zisierung der Bedingungen angeben, unter denen eine Aussage mit solchen Ver-
knüpfungen korrekt sein soll. Wir müssen dabei die intuitionistischen Bedingungen
korrekter Behauptbarkeit für Aussagen jeder logischen Form präzisieren. Wenn eine
Aussage korrekt sein soll, dann muss eine Situation vorliegen, aus der sie behaup-
tet werden kann. Wir haben schon gesehen, dass klassische Wahrheitsbedingungen
dies nicht sein können, denn die Intuitionisten halten diese Bedingungen, die von
dem abgeschlossenen Unendlichen ausgehen, für absolut unverständlich. Da die
einzigen Umstände, die der Intuitionist wirklich anerkennt, endlich sind, müssen
die Bedingungen der Aufstellung von Aussagen finit sein, d. h. endlichen Charakter
haben. Sie müssen so sein, dass es Sinn macht, sich einen Menschen vorzustel-
len – vielleicht idealisiert, aber nicht phantasiert –, der sie respektiert. Wenn wir
beachten, dass ein mathematischer Beweis endlich sein muss, dann ist es in intui-
tionistischer Sicht nur natürlich, die Bedingungen der Behauptbarkeit von Aussagen
mit den Beweisen selbst zu identifizieren. Da die Analyse der Bedingungen der Be-
hauptbarkeit von Aussagen also dahin geht zu sagen, was ein Beweis ist, können
wir sie formulieren in Form von Beweisbedingungen.
Wenn wir die Bedingungen der Behauptbarkeit von Aussagen als deren Bedeu-
tung behandeln, dann können wir sagen, dass aus der Perspektive des Realisten,
auch wenn Bedeutung und Beweisbedingung getrennt sind, die Bedeutung einer
Aussage vorschreibt, was ein Beweis von ihr ist. Aus dieser Perspektive erscheint
daher das intuitionistische Vorhaben zunächst merkwürdig. Denn es entfernt aus
der Bildfläche gerade das, wovon man in natürlicher Weise ausgeht, wenn man be-
stimmt, was den Beweis einer Aussage ausmacht. Für den Intuitionisten jedoch ist
die gewollte Entfernung von Bedeutungen, die intuitionistisch keinen Sinn machen,
genau die Kardinaltugend. Der Intuitionist begreift die Bedeutungen nicht, die der
Realist mit mathematischen Aussagen assoziiert, und ebenso nicht deren realisti-
sche Wahrheitsbedingungen. Umso weniger versteht er, wie diese Bedeutungen da-
zu dienen können festzulegen, was als Beweis gelten soll. Der intuitionistische An-
satz über Beweisbedingungen dagegen eliminiert jede Kluft zwischen Bedeutung
einer Aussage und Bedingungen ihrer Begründung: Die Bedeutung, die der Intuitio-
nist mit einer Aussage verbindet, besteht gerade in deren Beweisbedingungen. Und
die Sorge über die Verständlichkeit ist nun auch zerstreut: Wegen der Endlichkeit
eines Beweises kann die Klarheit der Beweisbedingungen nicht geleugnet werden.
Wir müssen nun konkreter sagen, was die intuitionistischen Bedingungen an
einen Beweis sind. Vorläufig schränken wir unsere Diskussion auf arithmetische
Aussagen ein, auf Aussagen über natürliche Zahlen. Eine logisch atomare arithme-
tische Aussage ist schlicht eine Gleichung oder eine Ungleichung, und ein Beweis
einer solchen Aussage besteht aus einer endlichen Rechnung, die sie bestätigt. So
ist zum Beispiel die einfache Rechnung, dass die Summe von 3 und 2 die Zahl 5
ist, für den Intuitionisten ein Beweis der Gleichung 3 C 2 D 5. Wir präzisieren jetzt
rekursiv, was ein Beweis einer logisch komplexeren arithmetischen Aussage ist.
98 4 Intuitionismus

(9) (i) Ein Beweis von X ^ Y ist ein Paar von Beweisen, einer, der X beweist,
und einer, der Y beweist.
(ii) Ein Beweis von X _ Y ist ein Beweis von X oder von Y .
(iii) Ein Beweis von X ! Y ist ein Verfahren, das jeden Beweis von X in
einen Beweis von Y transformiert.
(iv) Ein Beweis von :X ist ein Beweis von X ! 0 D 1.
(v) Ein Beweis von 8xF x ist ein Verfahren, das für jedes Zahlsymbol n einen
Beweis für F n bereitstellt.14
(vi) Ein Beweis von 9xF x ist ein Beweis von F n für ein konkretes Zahlsym-
bol n.
Eine Aussage ist für den Intuitionisten korrekt behauptbar, wenn es einen Beweis
für sie gibt.
Sehen wir uns als Beispiel an, wie (9) anwendbar auf spezielle Aussagen, sagen
wir (6), ist. Wir geben (6) noch einmal an:
(6) 8x9y.y > x ^ y ist Primzahl ^ y C 2 ist Primzahl).
Zuerst wenden wir (9) (v) an, das besagt, dass ein Beweis von (6) ein Verfahren ist,
das für ein gegebenes natürliches Zahlsymbol n einen Beweis von

9y.y > n ^ y ist Primzahl ^ y C 2 ist Primzahl)

produziert. Jetzt wenden wir (9) (vi) an, das uns sagt, dass ein Beweis von (6) ein
Verfahren ist, das für jedes gegebene Zahlsymbol n eine Zahlsymbol m produziert
und einen Beweis, so, dass

m > n ^ m ist Primzahl ^ m C 2 ist Primzahl:

Schließlich verwenden wir die Induktion, sodass der Beweis von (6) ein Verfahren
wird, das zu vorgegebenem Zahlsymbol n ein Zahlsymbol m erzeugt derart, dass
– wenn man die Rechnung für m > n so ausführt, dass m eine Primzahl ist, und
so weiter – alle Zahlsymbole auf diese Weise entstehen. Das ist genau das, was wir
aus unserer früheren Diskussion der intuitionistischen Auffassung von (5) erwartet
haben. – Nun müssen wir eine Reihe von Beobachtungen machen.
Zuerst bemerken wir, dass der Unterschied zwischen dem klassischen Mathema-
tiker und dem Intuitionisten nicht ist, dass der eine Aussagen über das Unendliche
macht und der andere nicht. Beide finden derartige Aussagen sinnvoll, sie unter-
scheiden sich jedoch in den Bedingungen der Behauptbarkeit, die sie mit solchen
Behauptungen verbinden.

14
Mit „Zahlsymbol“ meinen wir hier wie üblich einen Term, in dem „0“ und das Symbol für die
Nachfolgerfunktion vorkommt: „0“ oder eine endliche Folge von Symbolen „S“ gefolgt von „0“.
Zahlsymbole ermöglichen uns den Bezug zu jeder natürlichen Zahl. Jedes Zahlsymbol bezieht sich
auf eine natürliche Zahl. In Kap. 5 werden wir Quantifizierungen über Bereichen betrachten, die
nicht die natürlichen Zahlen sind. Die Methoden hier, die wir für die Beschreibung ihrer Elemente
haben, werden Beschreibungen erlauben, die nicht jedes Element in diesem Bereich erreichen.
Wir werden dann sehen, wie dies eine leichte Erweiterung unserer Analyse der Bedeutung von
„Quantifizieren“ erzwingt.
4 Intuitionismus 99

Zweitens wäre es ein Fehler zu glauben, dass der Intuitionismus sich vom Rea-
lismus im Urteil über Aussagen unterscheidet, die noch nicht als richtig oder falsch
nachgewiesen sind. Man muss eine Aussage nicht bewiesen haben, um sie zu ver-
stehen. Eine Beispiel ist die Aussage (6) über die Zwillingsprimzahlen, die, obwohl
(6) bisher nicht entschieden ist, auch für den Intuitionisten sinnvoll ist, weil (9)
präzisiert, was die Bedingungen eines Beweises wären.
Der Unterschied zwischen einer Analyse auf der Basis von Wahrheitsbedingun-
gen und einer auf der Basis von Beweisbedingungen ist gleichwohl wesentlich. Wir
sind jetzt in der Lage, den großen Unterschied zu beschreiben. Weil die klassischen
Beweisbedingungen im Allgemeinen Eigenschaften von Dingen in unendlichen fer-
tigen Gesamtheiten voraussetzen und weil Menschen nicht in der Lage sind, direkt
zu prüfen, dass solche unendlichen Bedingungen gegeben sind, folgt, dass eine Aus-
sage klassisch aufgestellt werden kann, obwohl es für uns unmöglich ist festzustel-
len, ob sie wirklich zutrifft.15 Für den Intuitionisten ist das anders. Intuitionistisch
sind die Bedingungen dafür, Behauptungen aufstellen zu können, endliche Bewei-
se. Wenn also die Bedingungen gegeben sind, ist es immer möglich für uns, diese
zu realisieren und sie als geeigneten Beweis anzuerkennen. Folglich können wir in
jedem Fall feststellen, ob eine Aussage intuitionistisch behauptet werden kann oder
nicht.
Hier stellt sich in natürlicher Weise eine Frage: Man kann gut anerkennen, dass
intuitionistische Bedingungen für Behauptungen endlich sind, und es daher möglich
ist, dass sie in einer Weise gegeben sind, in welcher es die klassischen Bedingungen
nicht sind. Und doch bleibt die Frage, ob wir immer erkennen können, dass wirklich
ein Beweis vorliegt. Einen Beweis zu geben, ist eines, ein anderes zu bestimmen,
dass er ein Beweis für eine vorliegende Aussage ist. Nehmen wir zum Beispiel die
intuitionistische Darstellung eines Beweises einer allgemeinen Aussage. Nach (9)
(v) ist ein solcher Beweis ein Verfahren, das endlich ist. Aber um wirklich zu be-
stimmen, ob ein gegebenes Verfahren ein Beweis einer allgemeinen Aussage ist,
müssen wir bestimmen, ob das Verfahren jedes gegebene natürliche Zahlsymbol
in einen Beweis des zugehörigen Falls transformiert. Könnte es nicht so sein, dass
das gegebene Verfahren diese Transformation bewirkt, wir aber nicht sagen können,
dass es das tut? Ähnlich ist es mit dem Beweis einer Subjunktion, wie in (9) (iii) er-
läutert. Könnte es nicht so sein, dass es für uns unmöglich ist aufzudecken, dass ein
Verfahren wirklich jeden Beweis für einen Vorgänger in den für einen Nachfolger
transformiert?
Es ist ganz richtig – selbst wenn die intuitionistischen Behauptbarkeitsbedin-
gungen in der Tat endlich sind –, dass die Eigenschaften aber, kraft welcher sie
Beweise sind, „infinit“ sein könnte. Und es ist ebenso wahr, dass, wenn wir die
Zusammenfassung der Zahlzeichen oder der Beweisschritte als abgeschlossene un-
endliche Gesamtheit annehmen, wir dann nicht wissen könnten, dass ein gegebenes
Verfahren ein Beweis ist, wenn er es ist. Aber natürlich verfehlte dies die Intention

15
Diese Schlussfolgerung setzt voraus, dass, wenn eine Wahrheitsbedingung für eine Aussage gilt,
wir sie nicht in jedem Fall nachweisen können. Nicht alle klassischen Mathematiker jedoch denken
so. Wir werden in Kap. 6 darauf zurückkommen.
100 4 Intuitionismus

des Intuitionisten für (9) voll und ganz, wenn man die Zusammenfassung der Zahl-
zeichen oder der Beweisschritte in dieser Weise auffasste. Akzeptierte man eine
solche Auffassung, würde man eine Variante des aktual Unendlichen des Realisten
reaktivieren, das der Intuitionist gerade als undenkbar zurückweist. Die Begriffe
„Zahlzeichen“ und „Beweisschritt“ müssen vielmehr als umfangsindefinit aufge-
fasst werden: Keine aktual vorliegende Zusammenfassung umfasst jede Einheit, die
unter einen der beiden Begriffe fällt.16 Sobald wir die Sache so sehen, gibt es keinen
Grund zu denken, ein Verfahren könnte eine relevant infinite Eigenschaft haben –
obwohl wir dies niemals wissen werden.
Diese Erwiderung könnte zu einer neuen Befürchtung über das Konzept des In-
tuitionisten führen. Wenn die Begriffe „Zahlsymbol“ und „Beweisschritt“ umfangs-
indefinit sind, dann kann die Quantifizierung über Zahlsymbole und Beweisschritte
nicht so verstanden werden, wie der Realist es tut. Das heißt, wenn man zu sehr
den Intentionen des Intuitionisten vertraut, dann müssen genau die Quantoren in
den Erklärungen in den Bestimmungen von (9) intuitionistisch verstanden werden,
und nicht klassisch. Dann aber scheint es so, dass (9) nur jemand richtig versteht,
der es nicht zu verstehen braucht: Wenn (9) nur dann als bestimmungsgemäß in-
terpretiert werden kann, wenn man Quantoren intuitionistisch versteht, muss man
sich wundern, wie man jemanden das Konzept der intuitionistischen Quantifizie-
rung vermitteln soll, der es noch gar nicht hat.
Was man auch immer daraus macht, wir bemerken, dass die Situation für den
klassischen Mathematiker nicht anders ist: Die übliche Bedeutung der klassischen
Logik wird in einer Metasprache gegeben, deren Quantoren ebenso klassisch inter-
pretiert werden. Wenn wir beispielsweise sagen, dass 8xF x bei einer Interpretation
gerade dann wahr ist, wenn jedes Objekt des Grundbereichs der Interpretation im
Umfang der Interpretation von F enthalten ist, dann muss „jedes“ so verstanden
werden, dass es sich über eine abgeschlossene unendliche Gesamtheit von Entitäten
erstreckt. Weder im klassischen noch im intuitionistischen Fall kann die Intention
solcher verbalen Darstellungen jemandem vermittelt werden, dem das angestreb-
te Verständnis noch fehlt: Denn sie können nur verstanden werden, wenn er die
passende Auffassung schon hat. Beide dieser Deutungen des logischen Vokabulars
unserer Sprache sind zu fundamental, um eine nicht-zirkuläre Weise ausschließen
zu können, in der sie explizit beschrieben werden. Es ist sogar ziemlich mysteri-
ös, wie wir diese oder jene Auffassung eigentlich einmal erworben haben (wenn
„Erwerb“ überhaupt der richtige Ausdruck hier ist). Wir wollen diese Sache nicht
weiter verfolgen, sondern bekräftigen einfach noch einmal, dass (9) in der richtigen
Weise interpretiert werden muss, um die intendierte intuitionistische Interpretation
der logischen Verknüpfungen auszudrücken.
Am besten versteht man die Tragweite von (9), wenn wir zu dem Projekt zurück-
kehren, für das wir (9) eingeführt haben: zu der Prüfung der Formen von Schlüssen,
zu den Schlussregeln, im Hinblick darauf, ob Intuitionisten und Realisten über ihre
Gültigkeit übereinstimmen. Der klassische Mathematiker akzeptiert, wie wir sahen,

16
In Kap. 6, in unserer Diskussion der Gödelschen Unvollständigkeitssätze, werden wir zurück-
kommen auf den Gedanken, dass der Begriff „Beweisschritt“ umfangsindefinit ist.
4 Intuitionismus 101

den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Wir können dies ausdrücken als Akzeptanz
der folgenden Schlussregel:

(10) .
Y _ :Y
Das bedeutet, dass man aus nichts auf Y _ :Y schließen kann, also ein Schluss,
der aus allem Möglichen gezogen werden kann. Der klassische Mathematiker hält
das natürlich für richtig: Unter allen Umständen ist Y _ :Y wahr. Für den Intuitio-
nisten aber bedeutet die Gültigkeit von (10) etwas anderes: (10) verlangt, dass man
jederzeit einen Beweis für Y _ :Y angeben kann. Nach (9) (ii) ist das ein Beweis
für Y oder ein Beweis für :Y . Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass wir je-
de beliebige Aussage Y beweisen oder widerlegen können. Wenn man glaubt, dass
es für jede mathematischen Aussage schon einen Beweis gibt oder aber ihre Wi-
derlegung, obwohl es prinzipiell unmöglich ist, das festzustellen, dann würde das
in der Tat den Schluss rechtfertigen – aber auf Kosten der realistischen Auffassung
einer Gesamtheit aller Beweise, welche der Intuitionist scheut. Für den Intuitionis-
ten dagegen muss es, wenn es einen Beweis einer Aussage oder seiner Widerlegung
gibt, im Prinzip möglich sein zu sagen, für welchen Fall. Das heißt, wir müssen
im Prinzip einen Beweis oder eine Widerlegung angeben können. Für die meisten
Aussagen aber sind wir dazu gar nicht in der Lage: Es ist einfach nicht der Fall,
dass wir z. B. prinzipiell die Goldbach’sche Vermutung beweisen oder widerlegen
können. Der Intuitionist also wird der Gültigkeit von (10) nicht zustimmen.
Wir können aus der letzten Beobachtung schließen, dass der Intuitionist den Satz
vom ausgeschlossenen Dritten nicht akzeptiert. Jedoch wäre es ein Fehler, daraus
zu folgern, dass es eine Art Zwischenzustand gibt, wie es wäre, wenn der Intuitio-
nist glaubte, eine mathematische Aussage könnte zwischen weder beweisbar noch
widerlegbar liegen. Für den Intuitionisten bedeutet der Beweis der Nichtbeweisbar-
keit einer Aussage zu zeigen, dass jeder Beweis in eine Absurdität führt, was nach
(9) (iv) gerade bedeutet, ihn zu widerlegen. Eine Aussage mag sehr wohl weder
bewiesen noch widerlegt sein. Das gerade ist gegenwärtig der Fall mit der Gold-
bach’schen Vermutung oder mit (6). Aber es gibt keinen intuitionistischen Sinn sich
vorzustellen, dass eine Aussage sich für ewig einem Beweis oder einer Widerlegung
widersetzt. Für den Intuitionisten gilt: Man widerlegt einen Satz, indem man zeigt,
dass er niemals bewiesen werden kann.17
Wir betrachten jetzt die nächste Schlussregel:
X
(11a) .
::X
Klassisch ist dieser Schluss gültig. Um zu sehen, ob er auch intuitionistisch gültig
ist, hilft es, die Konklusion ::X so umzuschreiben: .X ! 0 D 1/ ! 0 D 1.

17
Wir nehmen hier an, dass einen Satz zu widerlegen – d. h. zu beweisen, dass aus ihm 0 D 1
folgt, – bedeutet, dass er nicht bewiesen werden kann. Der Intuitionist wird darauf bestehen, dass
die einzige Möglichkeit eines Beweises von 0 D 1 ein direkter Vergleich der beiden Zahlen 0 und
1 ist, um zu sehen, ob sie gleich sind. Und tatsächlich zeigt ein direkter Vergleich, dass sie nicht
gleich sind.
102 4 Intuitionismus

Ein Beweis hiervon ist ein Verfahren, das jeden Beweis von X ! 0 D 1 in einen
Beweis von 0 D 1 transformiert. Können wir ein solches Verfahren konstruieren
unter der Annahme, dass wir einen Beweis von X haben, der Prämisse von (11a)?
Wir können es. Um das zu sehen, nehmen wir an, dass wir einen Beweis für X !
0 D 1 haben, und wir zeigen, dass wir jetzt einen Beweis von 0 D 1 führen können.
Wir wissen, dass ein Beweis von X ! 0 D 1 gerade bedeutet, ein Verfahren zu
haben, das von einem Beweis von X ausgeht, der wie angenommen gegeben ist,
und ihn in einen Beweis von 0 D 1 transformiert. Diese Argumentation ist gültig
für den Intuitionisten und daher auch (11a).
Die Umkehrung
::X
(11b)
X
aber ist es nicht.
Wir haben bereits gesehen, dass der Intuitionist diesen Schluss nicht akzeptiert.
Und wir können jetzt genauer sehen, warum. Es gibt im Allgemeinen keinen Grund
anzunehmen, dass wir zu einem Beweis von X übergehen können, wenn ein Verfah-
ren vorliegt, das jede Widerlegung von X in einen Beweis von 0 D 1 transformiert,
was wir als Beweis dafür ansehen können, dass X niemals widerlegt werden kann.
Der Intuitionist, anders als der klassische Mathematiker, hält eine Aussage und ihre
doppelte Negation nicht für äquivalent: Es ist nicht garantiert, dass sie unter den
gleichen Umständen beweisbar sind.
Wir haben früher angemerkt, dass die Dinge anders liegen, wenn garantiert ist,
dass X entweder beweisbar oder widerlegbar ist. Dieses, zusammen mit einem Be-
weis, dass X nicht widerlegt werden kann, kann in der Tat in einen Beweis von X
selbst transformiert werden. Mit anderen Worten.
X _ :X ::X
(12)
X
ist intuitionistisch gültig. Einen Beweis von X _ :X zu haben, bedeutet, einen
Beweis von X zu haben oder von :X. Der Beweis von ::X ist ein Beweis dafür,
dass :X nicht bewiesen werden kann. So muss der Beweis von X _ :X tatsächlich
ein Beweis von X sein.
Eine Konsequenz aus der Problematik der doppelten Negation ist, dass die re-
ductio ad absurdum mit Vorsicht zu behandeln ist. Während der Intuitionist
X ! Y ^ :Y
(13) ,
:X
die Argumentation aus dem Beweis von Satz 1.1, und
:X ! Y ^ :Y
(14) ,
::X
akzeptiert, ist der folgende Schluss intuitionistisch nicht gültig:
:X ! Y ^ :Y
(15) .
X
4 Intuitionismus 103

Selbst wenn gilt, dass jede Widerlegung von X in einen Beweis eines Widerspruchs
transformiert wird, sagt uns das nicht, wie X zu beweisen ist. In der Regel wird
der Intuitionist nur Argumentationen aus der reductio für eine negierte Konklusi-
on akzeptieren, anders als der klassische Mathematiker, der da keinen Unterschied
macht.
Weitere gebräuchliche Argumentationen müssen ebenso hinterfragt werden.
Zum Beispiel ist die Fallunterscheidung
X !Y :X ! Y
(16) .
Y
intuitionistisch nicht gültig. Deswegen wird unser Beweis von Satz 1.2 von einem
Intuitionisten nicht akzeptiert. Sind hier Beweise der beiden Prämissen gegeben, so
sind wir nicht in der Lage, Y zu beweisen, das angewiesen ist auf einen Beweis von
X oder seine Widerlegung. Das Folgende aber ist eine intuitionistisch akzeptable
Fallunterscheidung:
X ! Y :X ! Y X _ :X
(17) .
Y
Der klassische Mathematiker kann keinen Unterschied zwischen (16) und (17) se-
hen, da der Satz vom ausgeschlossenen Dritten eine klassische Wahrheit ist. Für
den Intuitionisten dagegen ist das eine substantielle Forderung, und jede Anwen-
dung erfordert eine eigene Rechtfertigung.
Aus der intuitionistischen Interpretation der logischen Verknüpfungen folgen
weitere logische Äquivalenzen, die vorsichtiger als gewöhnlich gehandhabt werden
müssen. Der klassische Mathematiker behauptet die Äquivalenz von X ! Y und
:X _ Y . Der Intuitionist jedoch akzeptiert die Implikation nur in einer Richtung.
Es ist
:X _ Y
(18a)
X !Y
intuitionistisch gültig. Wenn wir einen Beweis der Prämisse haben, dann haben wir
als erstes einen Beweis von :X oder einen von Y . Nehmen wir an, es gäbe einen
Beweis von X. Dann folgt, dass unser erster Beweis kein Beweis von :X sein
kann. Denn das wäre ein Beweis, dass X nicht beweisbar ist, und wir haben gerade
angenommen, dass wir eine Beweis von X haben. Also muss unser erster Beweis
ein Beweis von Y sein. Die Schlussform (18a) ist also korrekt. Dagegen wird
X !Y
(18b)
:X _ Y
intuitionistisch nicht akzeptiert: Nehmen wir an, wir haben ein Verfahren, das je-
den Beweis von X in einen Beweis von Y transformiert. Dann können wir nicht
ohne Weiteres einen Beweis von :X oder einen von Y daraus machen. Wenn wir
im Prinzip einen Beweis von X oder seine Widerlegung angeben könnten, wäre der
Schluss richtig. Im ersten Falle kann das Verfahren des Beweises der Prämisse ge-
nutzt werden, um aus einem Beweis von X einen Beweis von Y zu machen. Damit
104 4 Intuitionismus

gilt die Konklusion. Im zweiten Fall gibt es einen Beweis von :X, und wir sind
fertig. Aber natürlich akzeptiert ein Intuitionist die Fallunterscheidung nicht, da er
nicht X _ :X für alle Aussagen akzeptiert.
Es sollte jetzt klar sein, dass wir nicht davon ausgehen können, dass alle klas-
sisch gültigen Äquivalenzen auch intuitionistisch akzeptiert sind. Wir wollen ein
paar weitere „konditionale“ Beispiele ansehen, die die Wenn-dann-Form haben,
also Subjunktionen sind. Klassisch sind solche Aussagen äquivalent zu ihrer Kon-
traposition. Das ist in der intuitionistischen Logik nur halb richtig, in der
X !Y
(19a)
:Y ! :X
gültig ist, aber
:Y ! :X
(19b)
X !Y
nicht. Damit wir sehen können, dass (19a) auch intuitionistisch gültig ist, schreiben
wir es so um:
X !Y
(19a0 ) .
.Y ! 0 D 1/ ! .X ! 0 D 1/
Wir nehmen an, wir haben einen Beweis für die Prämisse (und nennen ihn „o1 “).
Nehmen wir weiter an, wir hätten einen Beweis des Antecedens (Vordersatzes) in
der Konklusion (und wir nennen ihn „o2 “). Können wir jetzt einen Beweis von
X ! 0 D 1 angeben, d. h. ein Verfahren, das jeden Beweis von X in einen Beweis
von 0 D 1 transformiert? Das können wir: Nehmen wir an, dass ein Beweis von X
gegeben ist. Wenn wir o1 verwenden, können wir einen Beweis für Y konstruieren,
auf den wir o2 anwenden, um – wie gewünscht – einen Beweis von 0 D 1 zu
erhalten.
Der Schluss (19b) hingegen ist intuitionistisch nicht gültig: In der Regel liefert
ein Verfahren, das jede Widerlegung von Y in eine Widerlegung von X trans-
formiert, noch kein Verfahren, das einen Beweis von X in einen Beweis von Y
transformiert.
Der Intuitionist unterscheidet, wo es der klassische Mathematiker nicht tut. Man-
che Unterscheidungen sind ziemlich subtil. Zum Beispiel hält der Intuitionist das
Folgende für gültig:
X ! :Y
(20) .
Y ! :X
Das kann man direkt sehen, oder indirekt, wenn man so argumentiert: Nehmen wir
an, es gibt einen Beweis von Y im Antecedens (Vordersatz) der Konklusion, nach
(11a) können wir dann einen Beweis von ::Y herstellen. Aus dem Beweis der
Prämissen von (20) und (19a) können wir einen Beweis von ::Y ! :X machen.
Also können wir einen Beweis von :X konstruieren.
4 Intuitionismus 105

Dagegen gilt
:X ! Y
(21)
:Y ! X
nicht. Der Leser mag sich davon direkt überzeugen. Es ist aber interessant zu sehen,
wie ein indirektes Vorgehen wie eben für (20) nicht zum Ziel führt. Also: Wir neh-
men an, dass ein Beweis des Antecedens der Konklusion gegeben ist, also von :Y .
Aus dem Beweis der Prämisse von (21) und mit (19a) können wir einen Beweis von
:Y ! ::X machen. Wäre nun (11b) intuitionistisch korrekt, dann würden wir
einen Beweis von X haben. Das aber ist gerade nicht der Fall, womit der indirekte
Beweis nicht geht.
Wir wollen uns nun vier grundlegenden Schlüssen zuwenden, die Quantoren und
die Negation beinhalten. Die Prüfung ihres Status in der intuitionistischen Logik
kann helfen, die Besonderheit der intuitionistischen Interpretation von Quantoren
zu verdeutlichen. Wir beginnen mit
9x:F x
(22a) .
:8xF x
Können wir jeden Beweis der Prämisse in einen Beweis der Konklusion überfüh-
ren? Nehmen wir an, wir haben einen Beweis der Prämisse. Nach (9) (vi) haben
wir dann einen Beweis von :F k für eine spezielle Substitution k für x. Die Frage
ist, ob es ein Verfahren gibt, das jeden Beweis von 8xF x in einen Beweis von
0 D 1 transformiert. Es sei ein Beweis der Quantifizierung 8xF x gegeben. Wir
nutzen ihn, um einen Beweis von F k daraus zu entnehmen. Das zusammen mit
dem Beweis von :F k liefert den Beweis von 0 D 1. Der Schluss (22a) ist als
intuitionistisch gültig.
Der klassische Mathematiker akzeptiert genauso
:8xF x
(22b) .
9x:F x
Nach der Auffassung des Intuitionisten aber ist dieser Schluss nicht gültig. Wir
könnten in der Lage sein zu zeigen, dass jeder Beweis der Allquantifizierung zu
einer Absurdität führt, ohne aber ein spezielles Objekt angeben zu können, dem die
Eigenschaft F fehlt. Das aber wäre es, was ein Beweis der Konklusion fordert.
Das andere Paar bekannter Schlüsse sind
8x:F x
(23a) ,
:9xF x
und
:9xF x
(23b) .
8x:F x
Natürlich hält der klassische Mathematiker beide wieder für gültige Schlüsse. Es
mag überraschend sein, dass der Intuitionist es ebenso tut. Wir überlassen die intui-
tionistische Rechtfertigung von (23a) dem Leser und betrachten hier nur (23b).
106 4 Intuitionismus

Wir nehmen also an, dass wir einen Beweis der Prämisse haben, ein Verfahren
also, das einen Beweis für jeden Fall einer Substitution in 9xF x in einen Beweis
von 0 D 1 transformiert. Das heißt, wir haben ein Verfahren, das für jedes Zahl-
symbol k einen Beweis von F k in einen Beweis von 0 D 1 überführt. Das aber ist
ein Verfahren, das für jedes Zahlsymbol einen Beweis von F k ! 0 D 1 transfor-
miert, und auf diese Weise ein Verfahren, das gerade 8x:F x beweist, die Aussage
der Konklusion. Diese Asymmetrie der Begründungen in den Paaren (22) und (23)
unterstreicht die Notwendigkeit, über jede Argumentation sorgfältig nachzudenken,
wenn das logische Vokabular intuitionistisch interpretiert wird.
Wir wollen schließen mit einer Übersicht über wichtige Schlüsse, in denen Quan-
toren in Wenn-dann-Sätzen, den Subjunktionen, vorkommen. Wir betrachten vier
Paare von Argumentationen:

P ! 8xF x 8x.P ! F x/
(24a) , (24b) ,
8x.P ! F x/ P ! 8xF x
P ! 9xF x 9x.P ! F x/
(25a) , (25b) ,
9x.P ! F x/ P ! 9xF x
8xF x ! P 9x.F x ! P /
(26a) , (26b) ,
9x.F x ! P / 8xF x ! P
9xF x ! P 8x.F x ! P /
(27a) , (27b) .
8x.F x ! P / 9xF x ! P

Für den klassischen Mathematiker sind das alles gültige Schlüsse, für den In-
tuitionisten sind es (25a) und (26a) nicht. Der tiefere Grund dafür ist die sehr
strenge Interpretation, die der Intuitionist für den Existenzquantor fordert: Um ei-
ne Existenzbehauptung korrekt aufzustellen, muss man prinzipiell in der Lage sein,
das Objekt anzugeben, das die infrage stehende Eigenschaft hat. Die Sache als zu
streng abzutun, ist natürlich irreführend. Denn die intuitionistische Forderung ist
eine „strenge“ Interpretation nur aus der Sicht des klassischen Mathematikers. Vom
Standpunkt des Intuitionisten ist es genau das, was eine Existenzbehauptung sagt.
Der Intuitionist sieht hingegen die klassische Interpretation des Existenzquantors
nicht als schwächer an, sondern als unverständlich.18
Es ist also klar, dass viele der logischen Schlüsse, auf die der klassische Ma-
thematiker baut, vom Intuitionisten nicht akzeptiert werden. Wir haben in der Tat
gesehen, dass der Intuitionist wenigstens einen der Beweise ablehnt, mit denen wir
das Kap. 1 begannen, nämlich den Beweis von Satz 1.2. Denn er verwendet den
intuitionistisch ungültigen Schluss (16). Das mag den Leser fragen lassen, wie es
denn mit dem Beweis von Satz 1.3 steht, der auf einer Schlussweise, der vollständi-
gen Induktion, aufbaut, die nicht logisch aussieht. Wir wissen, dass der Logizist die

18
Die intuitionistische Ungültigkeit einiger Schlüsse kann den Leser zur Frage führen, ob in der
intuitionistischen Logik jede Aussage äquivalent zu einer Pränexform (eine Form, in welcher kein
Quantor im Geltungsbereich eines logischen Ausdrucks ist, bis auf einen Quantor) ist, so wie
in der klassischen Logik. Die Antwort ist Nein. Zum Beispiel ist :8xF x intuitionistisch nicht
äquivalent zu irgendeiner Pränexform.
4 Intuitionismus 107

Induktion rechtfertigt, indem er sie logisch aus dem Begriff der natürlichen Zahlen
ableitet. Das ist für den Intuitionisten jedoch nicht annehmbar, da deren Definition
imprädikativ ist, so, wie der Logizist sie versteht. Denn sie beinhaltet einen Quantor
zweiter Ordnung, der sich über den Umfang gerade des Begriffs erstreckt, der defi-
niert wird. Ein solches Vorgehen aber geht einher mit der Auffassung des Begriffs
natürliche Zahl als einem Element in einem Universum fertiger Begriffe. Wenn
man hier den bereits existierenden Begriff natürliche Zahl auswählt, wäre seine im-
prädikative Definition, wie der amerikanische Philosoph W.V. Quine (1908–2000)
bemerkte, „nicht sichtlich schlimmer, als ein Individuum als den typischen Yale-
Mann auf der Basis des Mittelwertes von Yale-Punktebewertungen auszusondern,
seine eigene Bewertung eingeschlossen“.19 Der Intuitionist aber lehnt die Konzep-
tion eines Universums von Begriffen ab und weist daher jede nicht-prädikative
Charakterisierung zurück.
Damit entsteht die Frage, wie denn der Intuitionist die natürlichen Zahlen de-
finiert. Aus der Sicht des Intuitionisten lautet eine angemessene Charakterisierung
so: Natürlichen Zahlen sind genau die Objekte, die man erhält, indem man bei 0
beginnend wiederholt die Nachfolgerfunktion S anwendet. Wir können diese Cha-
rakterisierung sehen als durch zwei Regeln gegeben, die die natürlichen Zahlen
erzeugen:
(i) 0 ist eine natürliche Zahl, und
(ii) wenn n eine natürliche Zahl ist, dann ist S.n/ eine natürliche Zahl.
Die natürlichen Zahlen sind die und nur die Objekte, die nach diesen beiden Regeln
erzeugt werden. Diese Einschränkung auf genau die Objekte, die nach den Regeln
(i) und (ii) generiert werden, ist die Extremalklausel dieser Definition.
Diese intuitionistische Auffassung erscheint den klassischen Mathematikern als
gänzlich unzureichend. Speziell wenden sie ein, dass nicht zu erkennen ist, wie eine
nicht-endliche Iteration von (ii) verhindert werden kann, und, das ist das Bedenken,
dass eine solch unbeschränkte Iteration verworfen werden muss, da es andernfalls
keine Sicherheit gibt, dass die Definition allein die natürlichen Zahlen erfasst und
sonst nichts. Die intuitionistische Definition erscheint so gesehen im besten Falle
unvollständig zu sein. Denn (ii) muss so verstanden werden, dass nur endliche Ite-
rationen der Nachfolgerfunktion erlaubt sind, um natürliche Zahlen zu erhalten. Es
genügt zudem nicht, die Anwendung von (ii) ausdrücklich auf endliche Iterationen
einzuschränken, wobei „endliche Iteration“ bedeutete „n-mal für eine natürliche
Zahl n“. Denn dies würde die intuitionistische Fassung offensichtlich zirkulär ma-
chen. Der klassische Mathematiker könnte daher eine freundliche Korrektur der
intuitionistischen Charakterisierung vorschlagen: Man streiche die unklare Extre-
malklausel und sichere ihre Intention durch die vollständige Induktion. Für den
klassischen Mathematiker ist vollständige Induktion ein zulässiges Mittel, allgemei-
ne Aussagen über Elemente einer Zusammenfassung zu formulieren. Sie garantiert,
dass Nicht-Zahlen von der Zusammenfassung ausgeschlossen sind. Denn das Prädi-
kat „natürliche Zahl“ trifft auf 0 zu und auf S.n/, wenn es auf n zutrifft, und darum

19
Quine (1969, S. 243).
108 4 Intuitionismus

trifft es auf alle Elemente einer Zusammenfassung zu, für die das Induktionsprinzip
gilt. Natürlich nimmt diese Forderung von vornherein an, dass der Begriff „natür-
liche Zahl“ wohldefiniert ist: Die vollständige Induktion aber kann die Intention
der intuitionistischen Extremalklausel nur dann ausdrücken, wenn Induktion nicht
imprädikativ verstanden wird, also als eine Verallgemeinerung über einem präexis-
tierenden Bereich von Prädikaten, der genau dieses Prädikat als bereits definiert
enthält. Wir haben schon bemerkt, dass eine solche Nicht-Prädikativität aus der
Sicht des Intuitionisten inakzeptabel ist, der Intuitionist also keineswegs die voll-
ständige Induktion als angemessenen Ersatz für die Extremalklausel ansehen wird.
Der Intuitionist wird den freundlichen Korrekturvorschlag nicht nur für wenig
hilfreich, sondern auch für überflüssig halten. Aus intuitionistischer Sicht ist bisher
keine intelligente, sondern nur eine unerwünschte Möglichkeit beschrieben worden,
die Veränderungen oder gar die Ersetzung der Extremalklausel erfordern würde.
Denn der Intuitionist akzeptiert das potentiell Unendliche und eben nicht die vollen-
dete Unendlichkeit. Die Idee, die Regeln (i) und (ii) der Erzeugung von Zahlen
eine unendliche Zahl mal anzuwenden, ist schlicht unverständlich. Die befürchtete
Möglichkeit macht nur Sinn, wenn ein Begriff der Unendlichkeit gegeben ist, den
der Intuitionist kategorisch zurückweist. Es ist sinnlos, explizit auszuschließen, was
per se eine unmögliche Anwendung der beiden Regeln ist.
Eine Frage an den Intuitionisten bleibt jedoch. Nehmen wir seine Charakterisie-
rung der natürlichen Zahlen. Wie wird dann vollständige Induktion begründet? Klar
muss der Intuitionist eine Darstellung der Induktion geben, wenn ihr Gebrauch in
mathematischen Beweisen erlaubt sein soll. Wenn wir die Induktion als Schluss
F0 8x.F x ! F S.x//
(28)
8xF x
darstellen, dann entsteht die Aufgabe, die intuitionistische Gültigkeit von (28) nach-
zuweisen. Das ist nicht schwer. Wir nehmen an, dass ein Beweis von F 0 gegeben
ist, ebenso ein Beweis von 8x.F x ! F S.x//, dazu ein Zahlsymbol k. Jetzt ist ein
Beweis von F k herzustellen. Zuerst verwenden wir unseren Beweis von 8x.F x !
F S.x//, um einen Beweis von F 0 ! F S.0/ zu erhalten. Da wir den Beweis des
Vordersatzes haben, können wir einen Beweis von F S.0/ produzieren. Weiter, wie-
der den Beweis von 8x.F x ! F S.x// verwendend, diesmal auf das Zahlsymbol
S.0/ angewandt, konstruieren wir einen Beweis von F S.0/ ! F S.S.0//. Das
ermöglicht es, den Beweis von F S.S.0// zu konstruieren. Endlich mündet dieser
Prozess tatsächlich in einen Beweis von F k. Das passiert nach so vielen Schrit-
ten, wie Zeichen S im Zahlzeichen k sind. Die Vollständigkeit der Konstruktion
von k, beginnend bei 0 und wiederholt S angewandt, garantiert die Vollständigkeit
der Konstruktion des Beweises von F k – parallel zur vorherigen Konstruktion von
k, Schritt für Schritt. Vollständige Induktion ist so intuitionistisch begründet. Der
Beweis von Satz 1.3 oben ist daher in der Tat akzeptabel, auch für einen Intuitionis-
ten.20

20
Für eine weitergehende Diskussion siehe Two conceptions of natural number von George und
Velleman, in Dales und Oliveri (1998).
4 Intuitionismus 109

Wir haben bereits beobachtet, dass es klassisch akzeptierte Beweise gibt, die
intuitionistisch abgelehnt werden. Eine Aussage kann offen für viele Beweise sein,
wir können aber nicht allein aus dieser Beobachtung folgern, dass es Aussagen gibt,
die der klassische Mathematiker behauptet, die aber ein Intuitionist unterlässt oder
vielleicht gar zurückweist. Wir werden auf diese Frage in Kap. 5 zurückkommen,
wenn die intuitionistische Mathematik detaillierter entwickelt wird. Hier reicht es
zu sagen, dass manche Aussagen, die der klassische Mathematiker als bewiesen
annimmt, intuitionistisch nicht als Aussagen anerkannt werden, dass sie sogar sehr
wahrscheinlich auf Dauer intuitionistischen Beweisversuchen widerstehen werden.
Das nun muss alle Resthoffnungen zerschlagen, die man vielleicht noch über
die Verwirklichung des Frege’schen Konzepts einer logizistischen Grundlegung der
Mathematik gehegt hat. Früher haben wir angemerkt, dass die Russell’sche Anti-
nomie zeigte, dass Frege nicht beides leisten kann: die notwendige Allgemeinheit
einer logischen Grundlegung und einen mathematischen Realismus einer Mathe-
matik, die er begründen will. Wir können nun ein wenig besser sehen, zu welchem
Preis man den Realismus aufgibt. Versuche, das logizistische Programm auszufüh-
ren, verwenden einen Begriff von Umfang, der allgemein genug ist, um als logisch
zu gelten. Es ist Russell’s Antinomie, die zeigt, dass dies zu einer Konzeption der
Bedeutung mathematischer Aussagen führt, die die Prinzipien der Schlüsse nicht
hinreichend stützt, um die ganze klassische Mathematik rechtfertigen zu können.
Die Art der Grundlegung, die Frege suchte, ist nicht brauchbar für die Weite von
Mathematik, für die er sie suchte.
Intuitionisten gehen weiter und beobachten, dass der Bereich der Mathematik,
den Frege im Auge hatte und der seiner Art der Grundlegung zugänglich war, eine
solche Grundlegung gar nicht braucht – oder zumindest nicht derart, wie die klas-
sische Mathematik sie benötigt. Und in der Tat haben Intuitionisten traditionell nie
das Bedürfnis gespürt, eine Grundlegung, sicherlich nicht eine der logischen Sorte,
zu offerieren. Erinnern wir uns an Kap. 1. Eine der verhexten Eigenschaften der
Mathematik dort war der a priorische Charakter des Wissens, das sie erzielt. Wie
können wir, durch reines Denken, entdecken, wie Dinge in einer Welt sind, die un-
abhängig von uns existiert? Wenn aber die realistische Sichtweise der Mathematik
aufgegeben wird, wird diese Frage gegenstandslos. Für den Intuitionisten existiert
die mathematische Welt nicht festgefügt und unabhängig von uns, die so, wie sie
ist, auf uns wartet, bis wir ihre Tatsachen entdecken. Es ist nicht klar, welche Meta-
pher die des Entdeckens ersetzen sollte. Die Metapher des Erschaffens jedoch stellt
sich wie von selbst ein. Also können wir sagen, dass für den Intuitionisten die Ma-
thematik ins Dasein tritt, während wir sie machen und über sie nachdenken. Das
bedeutet weder, dass mathematische Wahrheiten subjektiv sind, nicht mehr oder
weniger als etwa Wahrheiten über Gebäude – Wahrheiten, die nur ins Dasein tre-
ten als Konsequenz menschlicher Aktivitäten. Noch bedeutet es, dass alles in der
Mathematik beliebig ist, nicht mehr oder weniger, als die geschaffene Struktur der
Gebäude bedeutet, dass wir jede Konstruktion, die wir wollen, aufstellen können.
Aber es deutet doch manches darauf hin, dass die mathematische Welt nicht die Art
von Unabhängigkeit hat, die es so mysteriös erscheinen lässt, wie a priori Wissen
über sie jemals gewonnen werden könnte.
110 4 Intuitionismus

Ein anderer Aspekt, der die intuitionistische Mathematik weniger von den
menschlichen Verhältnissen entfernt und daher weniger drängend Fragen auf-
kommen lässt, wie wir Mathematik wissen oder gar verstehen können, ist die
Vermeidung des vollendeten Unendlichen. Der Intuitionist lehnt eine mathemati-
sche Konstruktion ab, sei es ein Beweis, eine Definition oder was immer, es sei
denn, sie ist endlich. Nichts ist gedanklich gegeben, es sei denn, es ist endlich.
Das schließt durchaus Verfahren nicht aus, die wir ad infinitum anwenden kön-
nen: Während solche unendlichen Verfahren intuitionistisch einleuchten, gibt es
kein Ding, das das Ergebnis einer unendlichen Anwendung eines Verfahrens ist.
Menschliches Denken und menschliche Erfahrung sind nicht bloß endlich, sondern
auch begrenzt in jeder erkennbaren Weise. Der Intuitionismus also ist nicht frei von
Idealisierungen. Aber seine Idealisierungen – insbesondere dass uns jede endliche
Konstruktion im Prinzip gegeben ist – lösen intuitionistisch gesehen nicht eine sol-
che philosophische Ratlosigkeit aus wie die Rede des Realisten über das vollendete
Unendliche.
In der Summe: Vom Standpunkt des Intuitionisten sind philosophische Proble-
me, für die die logizistische Reduktion die Lösung sein sollte, dadurch zu lösen,
dass man die realistische Sichtweise aufgibt, die überwiegend die Probleme erzeugt.
Aus der klassischen Sicht aber bedeutet dies, das Kind mit dem Bade auszuschüt-
ten: Menschliche Beschränkungen werden konfus auf die Welt der Mathematik
projiziert mit dem Ergebnis, dass sie „die Vertrautheit, die Bequemlichkeit, die Ein-
fachheit und die Schönheit der [klassischen] Logik“ verliert. 21
Was kann man in einer solchen Situation tun? Ist es ein Streit ohne Inhalt?
Oder ist die eine Position richtig und die andere falsch? Gibt es keinen Weg, die
Meinungsunterschiede zu überwinden, da die beiden Seiten so inkommensurable
Denkweisen bieten, dass eine rationale, nicht zirkuläre Entscheidung unmöglich ist?
Oder gibt es schließlich doch einen Weg des Ausgleichs beider Sichtweisen, z. B.
indem man irgendwie manche der intuitionistischen Kritiken an der klassischen
Position anerkennt, während man zugleich den Gebrauch des klassischen Denkens
legitimiert? Wir werden diesen letzten Vorschlag in Kap. 6 untersuchen. Bevor wir
das aber tun, müssen wir uns einige Besonderheiten der intuitionistischen Mathe-
matik noch genauer ansehen.

Übungen

4.1 Erläutere, weshalb alle der Schlüsse (24) bis (27) intuitionistisch gültig sind
außer (25a) und (26a).

Prüfe in den folgenden Übungen, ob die jeweiligen Schlüsse intuitionistisch gül-


tig sind oder nicht. (Es sei angemerkt, dass jeder der Schlüsse gültig ist in der
klassischen Logik.)

21
Quine (1970, S. 87).
Übungen 111

4.2
:X _ :Y
(a) ;
:.X ^ Y/
:.X ^ Y/
(b) .
:X _ :Y

4.3
.X ^ :Y / ! Z
(a) ;
X ! .Y _ Z/
X ! .Y _ Z/
(b) .
.X ^ :Y / ! Z

4.4
9x .F x ! Gx/
(a) ;
8x Fx ! 9xGx
8x Fx ! 9xGx
(b) .
9x .F x ! Gx/
(Hinweis: Für den Teil (b) könnte es hilfreich sein, zuerst zu überlegen, warum (b)
klassisch gültig ist.)

4.5
8x .F x ! Gx/
(a) ;
9x Fx ! 9xGx
9x Fx ! 8xGx
(b) .
8x .F x ! Gx/

4.6
8xF x
(a) ;
:9x:F x
:9x:F x
(b) ,
8xF x
:9x:F x 8x.F x _ :F x/
(c) .
8xF x
Kapitel 5
Intuitionistische Mathematik

In Kap. 4 haben wir gesehen, wie die intuitionistische Sicht auf die mathemati-
sche Wirklichkeit dazu führt, die mathematische Sprache anders zu deuten, als es
der klassische Mathematiker tut. Intuitionisten akzeptieren nicht alle die logischen
Gesetze, die der klassische Mathematiker akzeptiert. Die klassischen Gesetze der
Logik aber sind gerade die, auf denen die logizistische Begründung der Mathema-
tik ruht. Werden diese Gesetze revidiert, so muss die Mathematik revidiert werden,
die auf diesen Gesetzen aufgebaut ist. In diesem Kapitel wollen wir prüfen, ob man
den Aufbau des Systems der Zahlen und ihrer Eigenschaften in Kap. 3 rechtfertigen
kann, wenn man intuitionistisch denkt. Wir werden sehen, dass einiges intuitio-
nistisch übernommen werden kann, manches nicht. Einiges muss intuitionistisch
modifiziert, manches sogar verworfen werden. Alle Beweise in diesem Kapitel wer-
den intuitionistische Beweise sein, es sei denn, es wird etwas anderes angekündigt.
Das Projekt hier haben wir schon in Kap. 4 begonnen. Zum Beispiel haben wir
festgestellt, dass das Prinzip der vollständigen Induktion intuitionistisch akzeptiert
ist. Untersuchungen der natürlichen Zahlen sind oft Berechnungen, die in end-
lich vielen Schritten ausgeführt werden können. Wir haben bereits gesehen, dass
intuitionistische wie klassische Mathematiker darin übereinstimmen, dass solche
Berechnungen zu klar bestimmten Ergebnissen führen und dass sie diese in gleicher
Weise bewerten. Die meisten klassischen Beweise in der elementaren Zahlentheorie
können also von Intuitionisten übernommen werden.
Wir sollten diese Behauptung präzisieren. Es ist möglich, eine formale axiomati-
sche Theorie auf der Basis der Peano’schen Axiome zu formulieren und zu zeigen,
dass viele klassische Beweise der elementaren Zahlentheorie in dieser Theorie ge-
führt werden können. Wir werden in Kap. 7 eine genauere Beschreibung dieser
formalen Theorie geben, die dort als „PA“ (für „Peano Arithmetik“) bezeichnet
wird. Die formale Theorie PA verwendet die Schlüsse der klassischen Logik. Die-
se können aber durch Regeln der intuitionistischen Logik ersetzt werden, die wir
in Kap. 4 diskutiert haben, um eine formale Theorie intuitionistischer Arithmetik
zu erhalten. Diese Theorie wird „Heyting Arithmetic“ – kurz „HA“ – nach dem
niederländischen Mathematiker Arend Heyting (1898–1980) genannt.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 113
A. George, D.J. Velleman, Zur Philosophie der Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56237-6_5
114 5 Intuitionistische Mathematik

Damit wird es möglich, die Beziehung zwischen klassischer und intuitionisti-


scher Zahlentheorie zu studieren, wenn man die Beziehung zwischen PA und HA
untersucht. Eine solche Untersuchung hat Kurt Gödel unternommen und bewiesen,
dass jeder Satz in PA, der keines der Symbole „_“ oder „9“ enthält, auch ein Satz
in HA ist.1 (Eine ähnliche Aussage wurde unabhängig vom deutschen Mathemati-
ker Gentzen (1909–1945) bewiesen.) Wir bemerken, dass in der klassischen Logik
jede Aussage äquivalent ist zu einer Aussage, die „_“ und „9“ nicht enthält. Wir
schließen daraus, dass es zu jeder Aussage P in PA eine (klassisch, eventuell nicht
intuitionistisch) äquivalente Aussage P 0 gibt, die beweisbar in HA ist. Wir kön-
nen also sagen, dass es zu jedem Satz in PA eine Version gibt, die intuitionistisch
akzeptiert wird.
Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Unstimmigkeiten zwischen klassischen
und intuitionistischen Mathematikern über die natürlichen Zahlen gäbe. Ein Bei-
spiel: Ein klassischer Mathematiker beweist in PA einen Satz der Form :8nP .n/,
wobei P .n/ ein Prädikat ist, in dem keines der Symbole _ oder 9 vorkommt. Nach
Gödels Satz akzeptiert dann auch ein Intuitionist diesen Satz. Ein klassischer Ma-
thematiker aber wird behaupten, dass er damit auch 9n:P .n/ aufgestellt hätte,
während der Intuitionist nicht bereit sein wird, diese Behauptung zu akzeptieren,
da er nicht die Gültigkeit der Regel (22b) in Kap. 4 akzeptiert. Oder ein anderes
Beispiel: Ein klassischer Mathematiker könnte eine arithmetische Aussage S be-
wiesen haben, die sowohl aus der Goldbach’schen Vermutung als auch aus deren
Negation folgt. Für den klassischen Mathematiker ist die Goldbach’sche Vermutung
entweder wahr oder falsch ist – trotz unseres Unwissens darüber, welche der bei-
den Möglichkeiten wirklich der Fall ist. Wenn beide Möglichkeiten S implizieren,
dann muss für ihn S wahr sein. Wir haben aber bereits gesehen, dass Intuitionisten
nicht bereit sind, dass Prinzip des ausgeschlossenen Dritten auf die Goldbach’sche
Vermutung anzuwenden. Für den Intuitionisten ist S durch den Beweis des klassi-
schen Mathematikers S nicht bewiesen. Er sagt ihm nur, wie S bewiesen werden
könnte, wenn einmal die Goldbach’sche Vermutung entschieden wäre. Solange die
Vermutung nicht entschieden ist, haben wir keinen Beweis von S und wissen auch
nicht, wie wir ihn führen sollten.
Solche Unstimmigkeiten in der elementaren Zahlentheorie sind jedoch relativ
selten. Speziell die Ableitungen grundlegender algebraischer Eigenschaften natür-
licher Zahlen, wie wir sie in Kap. 3 zeigten, beruhten allein auf der vollständigen
Induktion und anderen arithmetischen Argumentationen, die intuitionistisch akzep-
tiert sind. Die arithmetischen Fakten werden also genauso von intuitionistischen
wie klassischen Mathematikern anerkannt. Das Gleiche gilt für die grundlegenden
algebraischen Eigenschaften der ganzen und rationalen Zahlen.
Kompliziert jedoch wird es, wenn wir zu den reellen Zahlen kommen. Wir er-
innern uns, dass wir in Kap. 3 die Untersuchung der reellen Zahlen mit der Idee
begannen, dass wir eine reelle Zahl durch eine Cauchyfolge rationaler Zahlen be-
schrieben, wobei eine Folge fan g Cauchyfolge heißt, wenn

1
On intuitionistic arithmetic and number theory (1933), in Gödel und Fefermann (1986, S. 282–
295).
5 Intuitionistische Mathematik 115

(1) 8k 2 N 9N 2 N 8m; n > N .jam  an j < 1=k)


gilt. Auch in der intuitionistischen Mathematik werden reelle Zahlen als Cauchy-
folgen rationaler Zahlen angesehen, die Quantifizierung aber in (1) muss jetzt in-
tuitionistisch interpretiert werden. Für einen Intuitionisten ist es nur dann korrekt,
(1) auszusagen, wenn wir einen Beweis von (1) haben, und wie in (9) (v) im Kap. 4
angegeben muss ein Beweis von (1) ein Verfahren sein, das zu einem vorgegebe-
nen2 k einen Beweis liefert, dass es eine positive Zahl N gibt mit der geforderten
Eigenschaft in (1). (9) (vi) aus Kap. 4 hingegen verlangt, dass ein Beweis, dass
es eine Zahl N mit einer speziellen Eigenschaft gibt, aus der Bestimmung von N
besteht und aus einem Beweis der geforderten Eigenschaft. Folglich können wir
in Übereinstimmung mit dem Intuitionisten sagen, dass eine Folge fan g nur dann
eine Cauchyfolge ist, wenn wir ein Verfahren kennen, das für jede positive ganze
Zahl k eine natürliche Zahl N produziert und dazu den Beweis, dass N die in (1)
geforderte Eigenschaft hat.
Betrachten wir zum Beispiel die Folge fan g mit
8
ˆ
<1; wenn n die kleinste positive gerade Zahl ist;
(2) an D die nicht als Summe zweier Primzahlen geschrieben werden kann.

0; sonst.
Für einen klassischen Mathematiker ist diese Folge entweder eine Folge von Nullen
(wenn die Goldbach’sche Vermutung richtig ist), oder eine Folge von Nullen mit der
Ausnahme einer Stelle, in der 1 steht (wenn die Goldbach’sche Vermutung falsch
ist). In beiden Fällen ist fan g eine Cauchyfolge, wie man leicht sehen kann. Aber
jetzt betrachten wir die Sache vom Standpunkt eines Intuitionisten. Ein Intuitionist
wird nicht sagen, dass diese Folge eine Cauchyfolge ist, es sei denn, er kann für jede
gegebene natürliche Zahl k die natürliche Zahl N berechnen, die in (1) verlangt
wird.
Nehmen wir z. B. den Fall k D 2. Wie können wir eine natürliche Zahl N finden
mit
(3) 8m; n > N .jam  an j < 12 /?
Wenn die Goldbach’sche Vermutung richtig ist, dann taugt jede natürliche Zahl N ,
da für alle m und n

jam  an j D 0  0 D 0 < 1
2

ist. Wenn aber die Goldbach’sche Vermutung falsch ist, dann müssen wir dafür
sorgen, dass N wenigstens so groß ist wie das kleinste Gegenbeispiel für die Gold-
bach’sche Vermutung. Wenn nämlich das kleinste Gegenbeispiel eine Zahl n > N

2
Es kann, so denkt der Intutionist, ein abstraktes Objekt nur durch eine endliche Beschreibung
gegeben sein. Zum Beispiel nahmen wir in Kap. 4 an, dass natürliche Zahlen immer durch Zahl-
symbole gegeben sind. Durch dieses ganze Kapitel nehmen wir das Gleiche an, der Einfachheit
halber aber werden wir uns nicht immer damit aufhalten, ausdrücklich über die Bezeichnungen zu
sprechen, durch die natürliche Zahlen gegeben sind.
116 5 Intuitionistische Mathematik

wäre, dann wäre


jan  anC1 j D 1  0 D 1 > 12 ;
entgegen (3). Das zeigt, dass wir erst die Goldbach’sche Vermutung lösen müssen,
wenn wir N berechnen wollen.
Wir könnten sogar umgekehrt aus einem intuitionistisch gebilligten Beweis für
die Cauchy-Eigenschaft von fan g einen Beweis der Goldbach’schen Vermutung
oder aber ihrer Negation herleiten. Um zu sehen, wie das geht, nehmen wir an,
wir hätten einen Beweis dafür, dass fan g eine Cauchyfolge ist. Dieser Beweis wäre
ein Verfahren, das für eine vorgegebene natürliche Zahl k die erforderliche Zahl
N liefert und den Beweis dazu, dass N die geforderte Eigenschaft hat. Wenden wir
dieses Verfahren für k D 2 an, könnten wir die Zahl N berechnen und einen Beweis
von (3) führen. Nach der Definition von fan g folgt aus (3), dass keine der Zahlen n
größer als N ein Gegenbeispiel für die Goldbach’sche Vermutung sein kann. Nun
aber ist es die Aufgabe einer endlichen Rechnung, alle Zahlen bis zu N zu über-
prüfen, um zu sehen, ob eine unter ihnen ein Gegenbeispiel zur Goldbach’schen
Vermutung ist. Wenn wir im Laufe des Rechnens ein Gegenbeispiel finden, dann
haben wir bewiesen, dass die Goldbach’sche Vermutung falsch ist. Wenn am En-
de der Berechnung kein Gegenbeispiel gefunden ist, dann ist die Goldbach’sche
Vermutung bewiesen.
Auf diese Weise haben wir ein Verfahren gefunden, das, wenn wir es auf einen
Beweis der Cauchy-Eigenschaft anwenden, einen Beweis der Goldbach’schen Ver-
mutung oder ihrer Widerlegung liefert. Kurz: Wir haben einen intuitionistischen
Beweis des folgenden Satzes:

Satz 5.1 Wenn die in (2) definierte Folge fan g die Cauchy-Eigenschaft hat, dann
können wir entweder die Goldbach’sche Vermutung oder ihre Negation beweisen.

Dieser Satz macht es sehr unwahrscheinlich, dass irgendein Mathematiker zur


Zeit einen intuitionistisch akzeptablen Beweis dafür weiß, dass fan g eine Cauchy-
folge ist, da jeder, der einen solchen Beweis weiß, ihn zur Lösung der Goldbach-
Vermutung verwenden könnte. Ein Intuitionist also wird sich zurückhalten zu be-
haupten, dass fan g die Cauchy-Eigenschaft hat.
Das bedeutet nicht, dass ein Intuitionist behaupten würde, dass fan g keine
Cauchyfolge ist. Eine solche Behauptung wäre sogar ein Fehler. Um zu sehen,
warum, nehmen wir an, wir hätten einen Beweis dafür, dass fan g nicht die Cauchy-
Eigenschaft hat. Wir behaupten zuerst, dass wir einen Beweis dafür führen können,
dass a t D 0 ist für jede positive ganze Zahl t. Um das zu sehen, sei t eine positive
ganze Zahl. Durch endliches Rechnen können wir feststellen, ob t ein Gegenbei-
spiel zur Goldbach-Vermutung ist oder nicht. Daraus können wir bestimmen, ob a t
gleich 1 oder 0 ist. Daher sind wir berechtigt zu sagen, dass a t D 0 oder a t D 1
ist. Nun, wenn a t D 1, dann haben wir gemäß der Definition von an für alle n > t
an D 0. Damit folgt, dass die Folge eine Cauchyfolge ist, weil wir für jedes positive
k N D t setzen und zeigen können, dass für alle m; n > N gilt:

jam  an j D 0  0 D 0 < k1 :
5 Intuitionistische Mathematik 117

Da es unserer Annahme widerspricht, dass fan g keine Cauchyfolge ist, können wir
a t D 1 ausschließen, also auf a t D 0 schließen. Da t beliebig war, haben wir wie
behauptet für alle natürlichen t bewiesen, dass a t D 0 ist. Hieraus wieder folgt
sofort, dass die Folge eine Cauchyfolge ist, im Widerspruch zu unserer Annahme,
dass sie es gerade nicht ist.
Die Annahme also, dass fan g keine Cauchyfolge ist, führt zum Widerspruch.
Zeigt das jetzt, dass die Folge nach allem doch eine Cauchyfolge ist? Keineswegs,
nicht für einen Intuitionisten. Durch den Beweis des Widerspruchs aus der Annah-
me, dass fan g nicht die Cauchy-Eigenschaft hat, haben wir nur den folgenden Satz
bewiesen:

Satz 5.2 Es ist nicht der Fall, dass die Folge fan g gemäß (2) keine Cauchyfolge ist.

Zweifellos wird ein klassischer Mathematiker an dieser Stelle dem Intuitionis-


ten Haarspalterei vorwerfen. Wieso kann man dann nicht einfach sagen, dass fan g
die Cauchy-Eigenschaft hat. Für den Intuitionisten würde das eine wichtige Unter-
scheidung annullieren. Satz 5.2 sagt präziser, was genau bewiesen wurde, nämlich
dass die Annahme, die Folge sei eine Cauchyfolge, zu einem Widerspruch führt.
Man kann die Situation auch so beschreiben: P sei die Aussage „fan g ist ei-
ne Cauchyfolge“. Dann können wir sagen, dass Intuitionisten die Aussage ::P
behaupten, aber sich hüten, P zu sagen. Dieses Beispiel zeigt also, dass Intuitio-
nisten nicht bereit sind, das Gesetz (der Elimination) der doppelten Negation zu
verwenden. Unser Beispiel aber ist kein Gegenbeispiel im eigentlichen Sinne. Ein
Gegenbeispiel zum Gesetz der Elimination der doppelten Verneinung müsste eine
Aussage P sein, derart dass ::P wahr ist, P aber falsch. Zu unserem Beispiel
P jedoch würde eine Intuitionist nicht sagen, dass P falsch wäre. Er würde sich
nur zurückhalten, P zu behaupten. Denn Gründe zu finden, um P zu behaupten,
ist gleichbedeutend mit der Lösung der Goldbach’schen Vermutung. Die aber ist
ungelöst.
Wir bemerken, dass das Misstrauen des Intuitionisten dem Gesetz der doppelten
Negation gegenüber keinesfalls aufgehoben ist, sollte die Goldbach’sche Vermu-
tung jemals bestätigt werden. Denn wir können unser Beispiel leicht umformulieren
auf andere ungelöste Vermutungen. Brouwer nutzte viele ähnliche Beispiele, um
seine Einwände gegen spezielle klassische logische Gesetze zu begründen. Solche
Beispiele bekamen den Namen Brouwer’sche Gegenbeispiele. Diese zeigen nicht,
dass das jeweils fragliche Gesetze falsch ist, sondern vielmehr, dass wir keine Grün-
de haben und sehr wahrscheinlich nie haben werden, um es für gültig zu erklären.
Wir werden eine Reihe anderer Beispiele von Brouwer’schen Gegenbeispielen spä-
ter in diesem Kapitel kennenlernen.
Es ist wichtig, das gerade diskutierte Beispiel von der folgenden Folge zu unter-
scheiden:
(
1; wenn die Goldbach’sche Vermutung wahr ist;
(4) bn D
0; wenn die Goldbach’sche Vermutung falsch ist:
118 5 Intuitionistische Mathematik

Klassisch sind die Folgenglieder entweder immer 0, oder alle sind 1 (abhängig
davon, ob die Goldbach’sche Vermutung wahr oder falsch ist). In jedem der Fäl-
le hat die Folge die Cauchy-Eigenschaft. Intuitionistisch aber definiert (4) über-
haupt keine Folge. Denn (4) sagt uns nicht, wie wir irgendeinen der Werte der
Folgenglieder berechnen sollen – zumindest nicht, bis die Goldbach’sche Vermu-
tung geklärt ist. Zu glauben, dass (4) Werte der Folgenglieder bn für jedes n be-
stimmt, hieße zu glauben, dass das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten für die
Goldbach’sche Vermutung gültig ist. Intuitionisten aber sind davon nicht überzeugt.
(4) also ist für einen Intuitionisten keine akzeptable Definition einer Folge rationaler
Zahlen.
Wir nehmen die Konstruktion der reellen Zahlen in Kap. 3 wieder auf und defi-
nieren
(5) fan g fbn g genau dann, wenn 8k 2 N 9N 2 N 8n > N .jan  bn j < k1 /
Noch einmal: Wir müssen (5) vorsichtig, nämlich intuitionistisch interpretieren. Wir
dürfen daher nicht fan g fbn g behaupten, es sei denn, wir sind in der Lage, zu
sagen, wie wir für jedes k 2 N einen Wert N berechnen können, der nachweislich
(5) erfüllt. Dennoch kann der Beweis, dass eine Äquivalenzrelation ist, wie in
Kap. 3 geführt werden, und wie in Kap. 3 definieren wir die reellen Zahlen als
Klassen von Cauchyfolgen.3
Um zu sagen, wie man intuitionistisch reelle Zahlen definiert, ist es auch wich-
tig zu erklären, wie man Quantifizierungen über die reellen Zahlen intuitionistisch
interpretiert. Es scheint klar, dass für den Intuitionisten ein Beweis einer Aussage
der Form 8x 2 R F x ein Verfahren sein muss, das bei gegebenem x einen Beweis
liefert, dass F wahr ist für x. Aber wie kann eine reelle Zahl überhaupt gegeben
sein?
Eine natürliche Zahl kann durch ein Zahlsymbol dargestellt sein, eine Darstel-
lung, die eindeutig eine bestimmte Zahl auswählt. Das erlaubte uns in Kap. 4 zu
sagen, dass ein Beweis einer Aussage der Form 8x 2 N F x ein Verfahren ist, dass
für jede gegebene natürliche Zahl einen Beweis für F n produziert. Reelle Zahlen
anzugeben, ist hingegen schwieriger, aus zwei Gründen. Zuerst: Reelle Zahlen sind
als Klassen von Cauchyfolgen rationaler Zahlen bestimmt, und solche Folgen sind
unendlich. Da etwas Unendliches nicht gegeben sein kann, kann auch keine ganze
Cauchyfolge gegeben sein. Dabei haben wir doch schon diverse Cauchyfolgen in
diesem Buch diskutiert! Wie haben wir das gemacht? Die Antwort ist in jedem der
Fälle: Wir haben nicht die ganze Folge selbst angegeben, sondern nur eine Regel,
die die Terme der unendlichen Folge bestimmt. Wir kommen später in diesem Kapi-
tel darauf zurück, für den Moment aber werden wir nur Cauchyfolgen diskutieren,
die durch solche Bildungsregeln bestimmt sind.

3
Wir ignorieren hier einige Schwierigkeiten, die sich aus der intuitionistischen Interpretation einer
Äquivalenzklasse ergeben. Für weitere Informationen dazu lese man die Diskussion der „Spezies“
in Heyting (1971, S. 37). Für unsere Zwecke in diesem Kapitel sind diese Schwierigkeiten nicht
von Belang. Ausschließlich für uns relevant ist, dass reelle Zahlen durch Cauchyfolgen bestimmt
werden und dass äquivalente Cauchyfolgen die gleiche reelle Zahl bestimmen.
5 Intuitionistische Mathematik 119

Die zweite Schwierigkeit, reelle Zahlen einzeln anzugeben, ist, dass, wenn eine
Regel gegeben ist, die eine Folge wie die vorherigen Folge fan g gemäß (2) be-
stimmt, es nicht immer leicht ist zu sagen, ob die Folge eine Cauchyfolge ist. Um
sicher zu sein, eine reelle Zahl angegeben zu haben, müssen wir nicht nur eine
Regel angeben, die eine Folge rationaler Zahlen bestimmt, sondern ebenso einen
Beweis, dass diese Folge eine Cauchyfolge ist. Das führt uns zu der folgenden In-
terpretation des Quantifizierens über den reellen Zahlen: Ein Beweis einer Aussage
von der Form 8x 2 R F x ist ein Verfahren, das für eine vorgegebene Regel, die
eine Folge rationaler Zahlen bestimmt, zusammen mit einem Beweis, dass diese
Folge die Cauchy-Eigenschaft hat, einen Beweis liefert, dass F für die reelle Zahl
gilt, die durch die Folge bestimmt ist. Analog: Ein Beweis einer Aussage der Form
9x 2 R F x besteht aus einer Regel, die eine Folge rationaler Zahlen bestimmt, aus
einem Beweis, dass diese Folge eine Cauchyfolge ist, und aus einem Beweis, dass
F für die reelle Zahl gilt, die durch die Folge bestimmt ist.
Wir können nun genau wie vorher die arithmetischen Operationen auf den reel-
len Zahlen und die Anordnung der reellen Zahlen definieren und ihre Eigenschaften
studieren. Also: Ist x D Œfan g und y D Œfbn g, dann haben wir

x C y D Œfan C bn g;
x  y D Œfan  bn g

und

x < y genau dann, wenn 9k 2 N 9N 2 N 8n > N .an C 1


k < bn /:

Es gibt dennoch Punkte, wo Intuitionisten die Ergebnisse klassischer Mathematiker


anzweifeln. Oft entstehen Streitfragen, wenn wir es mit Aussagen zu tun haben,
die ein logische Negation beinhalten. Beispiel: In manchen mathematischen Über-
legungen ist der gleich folgende Satz nützlich. Wenn wir seinen klassischen Beweis
lesen, versuchen wir, so gut es geht, den Schritt oder die Schritte zu identifizieren,
bei denen ein Intuitionist Einspruch einlegen würde.

Satz 5.3 (Klassischer Satz) Seien x D Œfan g und y D Œfbn g. Ist x ¤ y, dann
gilt:

9k 2 N 9N 2 N 8n > N .jan  bn j > k1 /:

Beweis (Klassischer Beweis) Vorausgesetzt ist x ¤ y. Dann ist : fan g fbn g.


Mit anderen Worten
(6) :8k 2 N 9N 2 N 8n > N .jan  bn j < k1 /:
Es folgt
(7) 9k 2 N :9N 2 N 8n > N .jan  bn j < k1 /:
120 5 Intuitionistische Mathematik

Sei k1 eine solche natürliche Zahl, für die es keine natürliche Zahl N gibt derart,
dass 8n > N .jan  bn j < k11 /.
Da fan g eine Cauchyfolge ist, können wir eine natürliche Zahl N1 wählen, sodass
(8) 8m; n > N1 .jam  an j < 1
3k1
/:
Genauso können wir, da fbn g eine Cauchyfolge ist, ein N2 wählen, sodass
(9) 8n; m > N2 .jbm  bn j < 1
3k1
/
ist. Sei jetzt k D 3k1 und N D max.N1 ; N2 /. Um den Beweis abzuschließen,
müssen wir zeigen, dass 8n > N .jan  bn j > k1 / gilt. Sei n > N beliebig. Wegen
der Wahl von k1 wissen wir
(10) :8m > N .jam  bm j < 1
k1 /;

d. h.
(11) 9m > N .jam  bm j 1
k1
/:

Wir wählen ein m > N so, dass jam  bm j 1


k1 : Dann ist

1
k1
 jam  bm j
D jam  an C an  bn C bn  bm j
 jam  an j C jan  bn j C jbn  bm j (Dreiecksungleichung)
< 1
3k1
C jan  bn j C 1
3k1
(nach (8) und (9)):

Es folgt:

jan  bn j > 1
k1
 1
3k1
 1
3k1
D 1
3k1
D k1 ;

wie gewünscht. 

Zwei Schritte in diesem Beweis würde ein Intuitionist nicht mitgehen. Die bei-
den Schritte von (6) zu (7) und von (10) zu (11) gehen von einer Negation einer
Allaussage über zu einer Existenzaussage über. Das ist die Schlussregel (22b) aus
Kap. 4. Wir haben dort gesehen, dass diese Schlussregel intuitionistisch nicht gültig
ist. Für einen Intuitionisten werden die Zahlen k und m zu Unrecht in den Beweis
eingeführt, weil für beide keine Berechnung angegeben wurde.
Das intuitionistische Scheitern dieses Beweises legt folgende Definition nahe:

Definition 5.4 Wenn x D Œfan g ist und y D Œfbn g, dann sagen wir, dass x ge-
trennt von y liegt, und schreiben x#y, wenn gilt:

9k 2 N 9N 2 N 8n > N .jan  bn j > k1 /:

Wie üblich müssen wir, um diese Definition zu rechtfertigen, beweisen, dass sie
unabhängig von der Wahl der Repräsentanten ist. Wir müssten also zeigen, dass die
5 Intuitionistische Mathematik 121

Wahl unterschiedlicher Cauchyfolgen als Repräsentanten für x und y zum gleichen


Ergebnis führt (Übung). Intuitiv bedeutet x#y nicht nur, dass x und y verschieden
sind, sondern dass es einen endlichen Abstand zwischen ihnen gibt. Es ist nicht
schwer zu zeigen, dass x ¤ y aus x#y folgt (Übung). Für einen Intuitionisten aber
gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass umgekehrt aus x ¤ y auch x#y folgt. Für
den klassischen Mathematiker zeigt Satz 5.3, dass x#y aus x ¤ y folgt, also x#y
und x ¤ y äquivalent sind.
Auch wenn Intuitionisten von dem klassischen Beweis das klassischen Satzes
5.3 nicht überzeugt sind, können sie den folgenden Satz beweisen, der für den klas-
sischen Mathematiker äquivalent ist zum klassischen Satz 5.3:

Satz 5.5 Wenn x#y nicht zutrifft, dann ist x D y.

Beweis Sei x D Œfan g und y D Œfbn g. Wir setzen voraus, dass x#y nicht zutrifft.
Um x D y zu zeigen, müssen wir

8k 2 N 9N 2 N 8n > N .jan  bn j < k1 /:

beweisen. Sei k eine beliebige natürliche Zahl. Da fan g und fbn g Cauchyfolgen
sind, können wir N1 und N2 finden, sodass
(12) 8m; n > N1 .jam  an j < 1
3k
/
und
(13) 8n; m > N2 .jbm  bn j < 1
3k /

gilt. Sei N D max.N1 ; N2 /. Wir müssen jetzt 8n > N .jan  bn j < k1 / nachweisen.
Dazu sei n > N beliebig.
Wir wissen, dass an und bn rationale Zahlen sind, wir also jan  bn j in endlichen
vielen Schritten berechnen und mit k1 vergleichen können. Also sind wir berechtigt
anzunehmen, dass entweder jan  bn j < k1 oder jan  bn j 1
k zutrifft. Um den
Beweis abzuschließen, müssen wir nur noch den zweiten Fall ausschließen.
Wir nehmen an, dass jan  bn j k1 ist. Dann ist für alle m > N
1
k  jan  bn j
D jan  am C am  bm C bm  bn j
 jan  am j C jam  bm j C jbm  bn j (Dreiecksungleichung)
< 1
3k C jam  bm j C 1
3k (nach (12) und (13)):
Es folgt

jam  bm j > 1
k
 1
3k
 1
3k
D 1
3k
:

Da m beliebig war, haben wir 8m > N .jam  bm j > 3k1


/ gezeigt. Das aber heißt
gemäß Definition 5.4 und im Widerspruch zu unserer Annahme am Anfang, dass
x#y ist. Also haben wir jan  bn j 1
k
ausgeschlossen und damit jan  bn j < k1
bewiesen. 
122 5 Intuitionistische Mathematik

Korollar 5.6 Wenn x ¤ y nicht zutrifft, dann ist x D y.

Beweis Wir setzen voraus, dass x ¤ y nicht zutrifft. x#y widerspräche dieser
Annahme, da daraus x ¤ y folgte. Also kann x#y nicht zutreffen, woraus mit 5.5
x D y folgt. 

Korollar 5.6 zeigt, dass für manche Aussagen das Gesetz der doppelten Negation
durchaus gelten kann. Wenn wir sagen, dass Intuitionisten dieses Gesetz ablehnen,
heißt das nicht, dass es niemals gilt. Es bedeutet vielmehr, dass Intuitionisten nicht
bereit sind, es ohne Weiteres vorauszusetzen. Es muss in jedem Fall, in dem es
angewandt wird, explizit bestätigt werden.
Eine weitere Quelle von Unstimmigkeiten zwischen klassischen und intuitio-
nistischen Mathematikern ist der Gebrauch des Wortes „oder“ in mathematischen
Aussagen. Beispiel: Wir betrachten den klassischen Satz, dass für alle reelle Zahlen
x und y Folgendes gilt : Aus x  y D 0 folgt x D 0 oder y D 0. Hier ist ein
Brouwer’sches Gegenbeispiel:
Wir definieren Folgen fan g und fbn g wie folgt: Wir gehen von der Dezimal-
entwicklung von  aus, fragen nach Folgen von Neunen der Länge 100 in dieser
Entwicklung und bestimmen Folgenglieder an und bn folgendermaßen: Gibt es ei-
ne Stelle j  n, von der zum ersten Mal eine Folge von Neunen der Länge 100
auftritt, dann sei an D 1=j und bn D 1=n, wenn j gerade ist. Ist j ungerade, dann
sei an D 1=n und bn D 1=j . Gibt es kein solches j , dann sei an D bn D 1=n.
Beispiel: Wenn eine Folge von Neunen der Länge 100 zum ersten Mal an der Stelle
571 beginnt, dann sehen an und bn so aus:

fan g 1; 12 ; 13 ; 14 ; : : : ; 570
1 1
; 571 1
; 572 1
; 573 ;:::
fbn g 1; 12 ; 13 ; 14 ; : : : ; 570
1 1
; 571 1
; 571 1
; 571 ;:::

Wir sehen, dass in diesem Beispiel Œfan g D 0 und Œfbn g D 571 1


> 0 ist. Ähnlich
ist es, wenn die Folge von Neunen der Länge 100 zuerst an einer geraden Stelle
auftritt. Dann ist Œfan g > 0 und Œfbn g D 0. Gibt es keine Folge von Neunen der
Länge 100, dann ist Œfan g D 0 und Œfbn g D 0.
Selbst ohne zu wissen, ob es Folgen von Neunen der Länge 100 in der Dezi-
malentwicklung von  gibt oder nicht gibt, können wir beweisen, dass fan g und
fbn g Cauchyfolgen sind. Um das zu sehen, sei k eine beliebige natürliche Zahl und
N D k. Wir behaupten, dass 8m; n > N .jam  an j < k1 / ist. Dazu bemerken
wir zuerst, dass wir für jedes j  N in einer endlichen Rechnung feststellen kön-
nen, ob von der Stelle j an in den ersten N C 100 Stellen eine Folge von Neunen
der Länge 100 in der Dezimalentwicklung von  beginnt oder nicht. Beginnt eine
solche Folge, dann ist für alle m; n > N :

jam  an j D j j1  j1 j D 0 < k1 :

Ist das nicht der Fall, dann müssen wir für jedes n > N den exakten Wert von an
finden. Wir können nach der Definition von an ohne jede Rechnung sofort sagen,
5 Intuitionistische Mathematik 123

1
dass 0 < an < N
ist. Es folgt, dass für alle m; n > N

jam  an j < 1
N D 1
k

gilt. In ähnlicher Weise zeigt man, dass bn eine Cauchyfolge ist.


Da an und bn Cauchyfolgen sind, können wir r D Œfan g und s D Œfbn g setzen.
Nach der Definition von an und bn ist für jedes n entweder an  bn D n12 oder
an  bn D j1n für eine natürliche Zahl j , in jedem Fall also 0 < an  bn < n1 . Es
folgt, dass r  s D Œfan  bn g D 0 ist. Um aber einen intuitionistisch akzeptablen
Beweis zu geben, dass r D 0 oder s D 0 ist, müssen wir in der Lage sein zu sagen
und zu beweisen, welche der Aussagen wahr ist. Nach der vorherigen Überlegung
würde ein Beweis für r D 0 zeigen, dass in der Dezimalentwicklung von  eine
Folge von Neunen der Länge 100 in der Dezimalentwicklung von  beginnend bei
einem geraden Index nicht auftritt. Ein Beweis für s D 0 würde zeigen, dass in
der Dezimalentwicklung von  eine solche Folge von Neunen beginnend bei einem
ungeraden Index nicht auftritt. Man weiß aber weder, ob es eine solche Folge von
Neunen der Länge 100 in der Dezimalentwicklung von  gibt oder nicht, noch, ob
sie bei einem ungeraden oder geraden Index beginnt.
Ein Intuitionist also würde den Satz, dass für reelle Zahlen x und y aus x  y D 0
folgt, dass x D 0 oder y D 0 ist, nicht akzeptieren. Er kann aber den folgenden
Satz beweisen:

Satz 5.7 Aus x#0 und y#0 folgt x  y#0.

Beweis Seien x D Œfang und y D Œfbn g. Da x#0 und y#0 vorausgesetzt ist,
können wir natürliche Zahlen k1 , N1 , k2 , N2 finden, sodass

8n > N1 .jan j > 1


k1
/

und

8n > N2 .jbn j > 1


k2
/

ist. Sei N D max.N1 ; N2 / und k D k1  k2 . Dann gilt für jedes n > N

jan  bn j D jan j  jbn j > 1


k1
 1
k2
D k1 :

Also ist x  y D Œfang  Œfbn g#0. 

Korollar 5.8 Ist x#0 und x  y D 0, dann ist y D 0.

Beweis Sei x#0 und x  y D 0. Wäre y#0, dann wäre nach Satz 5.7 x  y#0 und so
x  y ¤ 0. Das widerspricht aber unserer Voraussetzung x  y D 0. Also trifft y#0
nicht zu und es folgt aus Satz 5.5 y D 0. 
124 5 Intuitionistische Mathematik

Korollar 5.9 Ist x  y D 0, dann gilt nicht x ¤ 0 und y ¤ 0.

Beweis Wir nehmen x  y D 0 und sowohl x ¤ 0 als auch y ¤ 0 an. Wenn x#0 ist,
dann folgt aus dem Korollar 5.8 y D 0 im Widerspruch zu unserer Annahme y ¤ 0.
Also trifft x#0 nicht zu, woraus mit Satz 5.5 x D 0 folgt. Das aber widerspricht
unserer Annahme x ¤ 0. 

Wir haben schon ein Beispiel reeller Zahlen r und s angegeben, für die wir weder
r D 0, noch s D 0 aussagen können, obwohl die Aussage r  s D 0 gilt. Nach dem
Korollar 5.9 können wir außerdem sagen, dass r ¤ 0 und s ¤ 0 nicht zutrifft ist.
Damit haben wir ein Brouwer’sches Gegenbeispiel zu einem der De Morgan’schen
Gesetze.
Wir stellen fest, dass r < s ist, wenn eine Folge von Neunen der Länge 100 in
der Dezimalentwicklung von  das erste Mal bei einem ungeraden Index beginnt.
Wenn eine solche Folge zum ersten Mal bei einem geraden Index erscheint, dann ist
s < r, und wenn es gar keine solche Folge gibt, dann ist r D s. Da das Problem der
Ziffern in der Dezimalentwicklung von  ungelöst ist, können wir zurzeit keine der
Aussagen r < s, s < r oder r D s behaupten, noch widerlegen. Das heißt, r und
s sind ein Brouwer’sches Gegenbeispiel zur Trichotomie in der Anordnung reeller
Zahlen. Wir können aber den folgenden Satz beweisen:

Satz 5.10 Wenn x#y, dann ist entweder x < y oder x > y.

Beweis Seien x D Œfan g und y D Œfang. Wir setzen x#y voraus. Da also x und y
getrennt liegen, finden wir natürliche Zahlen k1 und N1 so, dass
(14) 8n > N1 .jan  bn j > 1
k1
/
Sei k D 3k1 . Da fan g und fbn g Cauchyfolgen sind, können wir natürliche Zahlen
N2 und N3 finden, sodass
(15) 8m; n > N2 .jam  an j < k1 /
und
(16) 8m; n > N3 .jbm  bn j < k1 /
gilt. Sei N D max.N1 ; N2 ; N3 / und m D N C 1. Nach (14) ist jam  bm j > k11 ,
also entweder am < bm  k11 oder bm < am  k11 . (Wir bemerken, dass am und bm
rationale Zahlen sind, also in endlich vielen Schritten ausgerechnet werden kann,
welche der beiden Fälle zutrifft.)
Fall 1: am < bm  k11 . In diesem Fall behaupten wir, dass 8n > N .an C k1 < bn /
ist, woraus x < y folgt. Um das einzusehen, sei n > N beliebig. Gemäß (15) und
(16) ist an < am C k1 und bn < bm C k1 . Daher gilt
an C 1
k < am C 1
k C 1
k D am C 2
3k1
< bm  1
k1
C 2
3k1
D bm  3k11 D bm  1
k
< bn C 1
k
 1
k
D bn :
Fall 2: bm < am  1
k1
. Analog zeigt man auch hier, dass x < y ist. 
5 Intuitionistische Mathematik 125

Korollar 5.11 Wenn entweder x#y ist oder x#y nicht zutrifft, ist entweder x < y
oder y < x oder x D y.

Beweis Man kombiniere Satz 5.5 und Satz 5.10. 

Wir betrachten wieder die Zahlen r und s, von denen wir nicht aussagen können,
ob entweder r < s oder s < r oder r D s ist. Das Korollar 5.11 sagt, dass wir
nicht sagen können, ob r#s ist oder r#s nicht zutrifft. Also haben wir ein weiteres
Brouwer’sches Gegenbeispiel für den Satz vom ausgeschlossenen Dritten.
Bisher haben wir nur spezielle Cauchyfolgen betrachtet, deren Folgenglieder
nach Regeln berechenbar sind. Wenn wir aber die Beweise der Sätze prüfen, sehen
wir, dass Regeln in den Beweisen gar keine Rolle spielten. In den Beweisen haben
wir Folgenglieder der Cauchyfolgen und Werte N und k diskutiert, die auftreten,
wenn wir mit Ausdrücken wie „Cauchy-Eigenschaft“ oder „liegt getrennt von“ ar-
beiteten. In keinem Fall aber haben wir Schlüsse aus Regeln gezogen, nach denen
die Folgenglieder der Cauchyfolgen bestimmt waren. Das legt nahe, die Reichweite
der bewiesenen Sätze zu erweitern.
Es gibt noch einen Grund, nach einer erweiterten Anwendung unserer Sätze zu
suchen. Für den klassischen Mathematiker machen die reellen Zahlen, die durch
nach Regeln bestimmte Cauchyfolgen gegeben sind, nur einen sehr kleinen Teil
der Zahlengeraden aus. Es gibt z. B. nur abzählbar viele Ausdrücke in der deut-
schen Sprache, die eine Bildungsregel für Cauchyfolgen angeben könnten. Nach
Satz 3.45 aber ist die Menge der reellen Zahlen überabzählbar. Die Reaktion des
klassischen Mathematikers auf diese Beobachtung ist, darauf zu bestehen, dass die
Zahlengerade alle reelle Zahlen enthält, die durch alle möglichen Cauchyfolgen be-
stimmt sind. Und die Möglichkeiten sind nicht erschöpft durch Cauchyfolgen, die
durch Bildungsregeln bestimmt sind. Beispielsweise können die Glieder einer Fol-
ge durch einen Zufallsprozess erzeugt werden, wie z. B. durch das Werfen einer
Münze.
Natürlich halten klassische Mathematiker die Zusammenfassung aller möglichen
Cauchyfolgen für eine abgegrenzte Ganzheit, eine Sicht, die für den Intuitionisten
ohne Sinn ist. Aber wenn der Intuitionist dem Konzept der Zahlengeraden gerecht
werden will, deren Ursprung die reellen Zahlen des klassischen Mathematikers
sind, dann ist es wünschenswert, eine intuitionistische Sichtweise haben zu kön-
nen, die nicht nur von Bildungsregeln für Cauchyfolgen ausgeht. Brouwer meinte
daher, in einer intuitionistischen Theorie der reellen Zahlen Cauchyfolgen zulas-
sen zu können, die in einer freien Wahl rationaler Zahlen erzeugt werden. Solche
Folgen werden Wahlfolgen genannt.
Es könnte zuerst so scheinen, dass jede Diskussion von Wahlfolgen, die unend-
lich viele Wahlen für ihre Konstruktion erfordern, das Insistieren des Intuitionisten
darauf verletzt, dass es kein vollendetes Unendliches gibt. Das aber wäre nur der
Fall, wenn wir Wahlfolgen wie fertige Objekte behandeln. Wir können den intuitio-
nistischen Glauben aufrechterhalten, dass alle Unendlichkeit nur potentiell ist, wenn
wir stattdessen Wahlfolgen als Folgen behandeln, die zwar unendlich fortgesetzt,
aber nie abgeschlossen werden können. Wir können endlich viele Folgenglieder ei-
126 5 Intuitionistische Mathematik

ner Wahlfolge auflisten, und jede solche endliche Liste von Folgengliedern kann
fortgesetzt werden, indem neue Folgenglieder hinzugefügt werden. Nie aber kön-
nen wir alle Glieder einer Wahlfolge aufzählen. Jede Überlegung über Wahlfolgen
muss diese grundsätzliche Unvollständigkeit berücksichtigen.
Es ist vielleicht hilfreich, sich vorzustellen, dass eine Wahlfolge rationaler Zah-
len von irgendeiner fremden Person hergestellt wird. Wir können den Hersteller
nach so vielen Folgengliedern der Folge fragen, wie wir wollen, und er wird sie
liefern. Um zu garantieren, dass die Folge eine Cauchyfolge ist, müssen wir uns zu-
dem vorstellen, dass der Hersteller der Folge zu jeder natürlichen Zahl k eine Zahl
N vorgibt und verspricht, dass alle Folgenglieder mit Indices jenseits von N sich
um weniger als 1=k unterscheiden. Bei der Herstellung der Folgenglieder kann der
Folgenhersteller, wenn wir es wünschen, auch weitere Versprechen über Folgen-
glieder machen, die zukünftig hergestellt werden. Wir wissen aber nicht, wie der
Folgenhersteller die Folgenglieder herstellt. Vielleicht nutzt er eine Bildungsregel,
um die Folgenglieder zu bestimmen, vielleicht würfelt er oder er wirft eine Münze.
Alles was wir wissen, ist, dass er so viele Folgenglieder produziert, wie wir wollen.
Und dass er die Garantie gibt, dass die Folge eine Cauchyfolge ist. Das Studium von
Wahlfolgen kann man sich denken wie das Studium des Verhaltens eines solchen
Folgenproduzenten.
Alle Definitionen und Sätze über reelle Zahlen, die wir diskutiert haben, können
angewandt werden auf reelle Zahlen, die aus Wahlfolgen entstanden sind. Betrach-
ten wir zum Beispiel die Definition der Addition reeller Zahlen. Ist x D Œfan g und
y D Œfbn g, dann haben wir x C y definiert als Œfan C bn g. Diese Definition macht
Sinn, auch wenn die Folgen Wahlfolgen sind. Wenn es kein Bildungsgesetz für die
Folgenglieder an und bn gibt, dann auch nicht für an Cbn . Wenn wir jedoch so viele
Folgenglieder der Folgen fan g und fbn g haben können, wie wir wollen, dann kön-
nen wir, wenn wir die Folgenglieder addieren, auch so viele Folgenglieder der Folge
fan Cbn g haben, wie wir wollen. Weiter kann man zeigen, sofern garantiert ist, dass
die Folgen fan g und fbn g Cauchyfolgen sind, dass auch für fan C bn g garantiert ist,
eine Cauchyfolge zu sein.
Wir wollen wieder ein Beispiel betrachten. Im Satz 5.10 können die reellen Zah-
len durch Wahlfolgen gegeben sein. Was der Satz sagt, ist: Wenn wir Vorhersagen
über die Glieder dieser Folgen haben, die x#y garantieren, dann sind wir auch in
der Lage über die Folgenglieder vorherzusagen, dass sie den Schluss entweder auf
x < y oder y < x zulassen. Solange die Folgenglieder, soweit sie hergestellt sind,
diese Garantie erfüllen, können wir sicher sein, dass unsere Vorhersage zutrifft.
Wir betrachten eine Wahlfolge, die partiell in einer endlichen Zahl von Glie-
dern gegeben ist und dazu vielleicht noch Zusagen über die Folgenglieder, die noch
zu bestimmen sind. Der Bereich der Möglichkeiten, wie solche Folgen fortgesetzt
werden können, ist wie ein unendlicher Baum mit unterschiedlichen Zweigen, die
die unterschiedlichen Wege, in der die Folge fortgesetzt werden kann, darstellen.
Jeder Weg, der die Folge fortsetzt, korrespondiert mit einer reellen Zahl, und der
ganze Baum mit einer Menge von reellen Zahlen. Eine solche Baum-Darstellung
einer Menge reeller Zahlen wird „spread“ („Spanne“, bei Brouwer „Menge (erster
5 Intuitionistische Mathematik 127

Art)“) genannt. Es ist z. B. nicht schwer zu zeigen, dass jedes Intervall auf der Zah-
lengerade als spread dargestellt werden kann. Wir wollen den Zusammenhang von
Wahlfolgen und spreads hier nicht weiter verfolgen.4
Einige weitere interessante Unterschiede zwischen intuitionistischer und klas-
sischer Mathematik kommen zum Vorschein, wenn wir Funktionen von R in R
studieren. Wir erinnern uns z. B., dass wir in Kap. 3 den Zwischenwertsatz be-
wiesen haben, der für jede stetige Funktion von R nach R sagt: Ist u < v und
f .u/ < m < f .v/, dann gibt es ein w mit u < w < v und f .w/ D m. Mit anderen
Worten: Verläuft eine stetige Kurve an einem Punkt unterhalb, an einem anderen
oberhalb der horizontalen Geraden y D m, dann muss sie die Gerade irgendwo
dazwischen schneiden. Es ist schwer vorstellbar, wie eine stetige Kurve von einer
zur anderen Seite einer Geraden verlaufen soll, ohne sie zu schneiden. Und doch
wird der Zwischenwertsatz intuitionistisch nicht akzeptiert. Es gibt in der Tat ein
Brouwer’sches Gegenbeispiel.
Seien r und s die reellen Zahlen, die wir vorher diskutiert haben und für die wir
nicht wissen, ob r < s, s < r oder r D s ist. Sei t D r  s. Dann wissen wir nicht,
ob t < 0, t > 0 oder t D 0 ist. Jetzt definieren wir eine Funktion, für die wir den
Zwischenwertsatz nicht aussagen können. Für den klassischen Mathematiker sieht
die Funktion, die wir im Auge haben, so aus:
8
ˆ
<t C x  1; wenn x < 1
ˆ
(17) f .x/ D t; wenn 1  x  2;
ˆ
:̂t C x  2; wenn x > 2:

Diese Definition ist jedoch nicht annehmbar für einen Intuitionisten, weil man die
Trichotomie verwenden muss, damit die Definition (17) von f .x/ für alle x-Werte
anwendbar ist. Die Trichotomie aber akzeptiert der Intuitionist nicht. (17) sagt nicht,
wie f .x/ zu berechnen ist, wenn x eine Zahl ist, von der wir nicht wissen, ob x < 1,
1  x  2 oder x > 2 ist.
Um eine intuitionistisch akzeptable Definition von f zu geben, gehen wir ein
wenig anders vor. Sei fcn g eine Cauchyfolge rationaler Zahlen, sodass t D Œfcn g.
Sei x D Œfang irgendeine reelle Zahl. Um f .x/ berechnen zu können, definieren
wir zuerst eine Folge fbn g wie folgt:
8
ˆ
<cn C an  1; wenn an < 1
ˆ
(18) bn D cn ; wenn 1  an  2;
ˆ
:̂c C a  2; wenn a > 2:
n n n

Wir wissen, dass die an rationale Zahlen sind und dass für rationale Zahlen das Ge-
setz der Trichotomie gilt. Also ist die Definition (18) korrekt. Sei f .x/ D Œfbn g.
Wir überlassen es dem Leser als Übung zu zeigen, dass fbn g eine Cauchyfolge ist.

4
Wir haben hier nur die Idee hinter den spreads (Brouwers Mengen) genannt, die genaue Defini-
tion ist komplexer. Der Leser, der etwas mehr über Wahlfolgen und spreads (Mengen) lernen will,
kann Heyting (1971), Dummett (2000) oder Troelstra und van Dalen (1988) hinzuziehen.
128 5 Intuitionistische Mathematik

2 2 2
1 1 1
t=0 t
t 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4
1 2 –1
–1 –1
–2 –2 –2
t<0 t=0 t>0

Abb. 5.1 Drei mögliche Verläufe des Graphen von f aus (17)

Daher macht unsere Definition von f .x/ Sinn. Die Wahl einer anderen Cauchyfol-
ge, die x repräsentiert, führt zum gleichen Wert für f .x/. Also ist unsere Definition
repräsentantenunabhängig.
Es folgt aus (18), dass (17) die korrekten Werte f .x/ für die reellen Zahlen x
bestimmt, für die wir x < 1, 1  x  2 oder x > 2 feststellen können. Den
Graphen von f für alle drei Fälle t < 0; t D 0 und t > 0 zeigt Abb. 5.1. Wir
bemerken, dass für den klassischen Mathematiker einer der drei Fälle die Wahrheit
über f darstellt, auch wenn wir nicht wissen welcher. Für den Intuitionisten aber
ist es inakzeptabel, die Situation in dieser Weise zu beschreiben. Es ist nicht schwer
zu zeigen, dass f stetig, f .0/ D t  1 < 0 und f .3/ D t C 1 > 0 ist. Wenn wir
den Zwischenwertsatz beweisen könnten, dann könnten wir beweisen, dass es eine
Zahl w gibt derart, dass 0 < w < 3 und f .w/ D 0 ist.
Natürlich wäre es für einen solchen Beweis intuitionistisch gut, wenn er uns
sagte, wie wir die Glieder einer Cauchyfolge fan g derart berechnen, dass f .w/ D 0
für w D Œfan g ist. Da fan g eine Cauchyfolge ist, müssten wir eine Zahl N finden
können, sodass
(19) 8m; n > N .jam  an j < 14 /
Sei m D N C 1. Durch eine endliche Rechnung können wir feststellen, ob am  32
oder am > 32 ist. Wir nehmen zuerst an, dass am  32 ist. Aus (19) folgt dann
für alle n > N , dass jam  an j < 14 und damit an < 32 C 14 D 74 ist. Also ist
8n > N .an C 14 < 2/ und damit w D Œfan g < 2. Man sieht aber in Abb. 5.1, dass,
wenn t < 0 ist, w > 2 ist. Also können wir daraus schließen, dass t < 0 nicht gilt.
Ähnlich kann man argumentieren, dass, wenn am > 32 ist, t > 0 nicht gilt.
Durch einen intuitionistisch akzeptierten Beweis des Zwischenwertsatzes also
wären wir in der Lage, einen Beweis zu führen, dass entweder t – 0 oder t 0
gilt. Wir wissen aber nicht, wie wir einen solchen Beweis herstellen sollten. Also
können wir wir keinen intuitionistisch akzeptablen Beweis des Zwischenwertsatzes
erwarten.

Wie wir es schon an einigen Beispielen gesehen haben, gibt es, wenn ein klas-
sischer Satz keinen intuitionistischen Beweis erlaubt, oft einen verwandten Satz,
der intuitionistisch beweisbar ist. Für den Fall des Zwischenwertsatzes werden wir
5 Intuitionistische Mathematik 129

zwei verwandte intuitionistische Sätze angeben. Der erste wird motiviert durch die
Tatsache, dass unser Brouwer’sches Gegenbeispiel eine Funktion f .x/ war, die für
alle x zwischen 1 und 2 sehr nah bei 0 verlief. Wenn wir eine Voraussetzung zu
dem Satz hinzufügen, die diese Art der Situation ausschließt, dann kann der Beweis
intuitionistisch geführt werden.

Satz 5.12 Sei f eine stetige Funktion von R in R, u < v, f .u/ < w < f .v/ und
für alle Zahlen p; q gelte: Ist u  p < q  v, so gibt es eine Zahl r mit p < r < q
und f .r/#m. Dann gibt es eine Zahl w, sodass u < w < v und f .w/ D m.

Beweisskizze Es ist zweckmäßig, im Beweis mit rationalen Zahlen zu arbeiten. Da-


her beginnen wir damit, u und v durch rationale Zahlen in der Nähe zu ersetzen.
Da f stetig ist in u und v und f .u/ < m < f .v/, können wir rationale Zahlen
a0 und b0 finden, dass u  a0 < b0  v und f .a0 / < m < f .b0 / ist. Jetzt
teilen wir das Intervall von a0 bis b0 in drei gleiche Teile in Punkten p und q mit
a0 < p < q < b0 . Es ist vorausgesetzt, dass es dann ein r gibt mit p < r < q
und f .r/#m. Da f stetig ist, finden wir eine rationale Zahl c0 , sodass p < c0 < q
und f .c0 /#m ist. Nach Satz 5.10 ist entweder f .c0 / < m oder f .c0 / > m. Ist
f .c0 / < m, dann sei a1 D c0 und b1 D b0 . Ist f .c0 / > m, dann sei a1 D a0
und b1 D c0 . In beiden Fällen ist f .a1 / < m < f .b1 /, a0  a1 < b1  b0 ,
b1  a1 < 2.b03a0 / und a1 und b1 sind rational. Wenn wir dieses Verfahren fortset-
zen, können wir rationale Folgen fan g und fbn g generieren derart, dass für jedes n
f .an / < m < f .bn /, an  anC1 < bnC1  bn , bnC1  anC1 < 2.bn3an / ist. Es ist
nicht schwer zu zeigen, dass diese Folgen Cauchyfolgen sind und fan g fbn g ist.
Sei jetzt w D Œfang D Œfbn g. Da f stetig ist bei w und f .an / < m < f .bn /, kann
man nachweisen, dass f .w/ D m ist. 

In Kap. 3 wendeten wir den Zwischenwertsatz auf die Funktion f .x/ D x 2 an,
um zu zeigen, dass es eine reelle Zahl gibt mit w 2 D 2. Es ist leicht zu zeigen, dass
diese Funktion die zusätzliche Eigenschaft im Satz 5.12 erfüllt. p Damit haben wir
einen intuitionistisch akzeptierten Beweis für die Existenz von 2.
Wenn wir auf die zusätzliche Voraussetzung im Satz 5.12 verzichten, dann müs-
sen wir uns mit einer schwächeren Aussage begnügen, wenn der Satz intuitionis-
tisch akzeptabel sein soll. Im folgenden Satz wird die Aussage abgeschwächt. Sie
sagt nicht mehr, dass f .w/ D m ist, sondern nur, dass f .w/ sehr nah bei m ist.

Satz 5.13 Sei f eine stetige Funktion von R in R, u < v, f .u/ < m < f .v/ und
k 2 N. Dann gibt es ein w, sodass u < w < v und jf .w/  mj < k1 .

Beweisskizze Der Beweis ist ganz ähnlich dem von Satz 5.12. Wir konstruieren
Folgen fan g und fbn g, dass für jedes n an  anC1 < bnC1  bn , bnC1  anC1 <
bn an
2
1
, f .an / < mC 2k 1
und f .bn / > m 2k ist. Und dann sei wieder w D Œfang D
Œfbn g. 
130 5 Intuitionistische Mathematik

Der Zwischenwertsatz handelt nur von stetigen Funktionen. Der klassische Ma-
thematiker aber studiert auch Funktionen, die nicht stetig sind. Er kann z. B. die
durch die folgende Gleichung definierte Funktion untersuchen:
(
0; wenn x  1
(20) g.x/ D
1; wenn x > 0:
Diese Funktion ist nicht stetig, da der Graph einen plötzlichen Sprung bei x D 0
macht. Natürlich ist die Definition (20) für einen Intuitionisten inakzeptabel. Die
Gleichung (20) sagt uns, wie wir g.x/ berechnen sollen, aber nur für solche Werte
von x, für die wir entweder x  0 oder x > 0 bestätigen können. Er sagt uns bei-
spielsweise nicht, wie wir g.t/ berechnen sollen, wenn t die Zahl ist, die wir für die
Definition des Brouwer’schen Gegenbeispiels zum Zwischenwertsatz verwendeten.
Im Fall von (17) konnten wir das Problem lösen, indem wir mit Cauchyfolgen
arbeiteten, die x und f .x/ bestimmten, und verwendeten (18), um die Beziehung
zwischen diesen Folgen anzugeben. Wir wollen sehen, ob wir Ähnliches mit (20)
machen können, und versuchen es wie folgt:
Sei x D Œfang und fbn g eine Folge, die so definiert ist:
(
0; wenn an  0
(21) bn D
1; wenn an > 0:
Können wir g.x/ D Œfbn g setzen? Die Antwort ist „Nein“. Denn fbn g könnte keine
Cauchyfolge sein. Sei zum Beispiel fan g die Folge 1; 1 1 1
2 ; 3 ; 4 ; : : : Dann ist fan g
eine Cauchyfolge, aber fbn g wäre die Folge 1; 0; 1; 0 : : :, die keine Cauchyfolge ist.
Tatsächlich stören ähnliche Probleme jeden Versuch, eine intuitionistisch ak-
zeptierte Definition einer unstetigen Definition anzugeben. Um das zusehen, sei
x D Œfang. Wir versuchen zu sagen, wie man die Folgenglieder einer Cauchyfol-
ge fbn g berechnen müsste, sodass f .x/ D Œfbn g ist. Da fan g eine Wahlfolge sein
könnte, könnte eine Formel zur Bestimmung der Werte an fehlen, und wir hätten
nie eine vollständige Liste der unendlich vielen Folgenglieder. Im Zuge der Berech-
nung wäre die einzige Information für uns eine Liste endlich vieler Folgenglieder
und eine Liste von endlich vielen Vorhersagen über die fehlenden Terme, die ga-
rantieren sollen, dass die Folge eine Cauchyfolge ist. Die Berechnung also der bn
kann sich nur auf eine endliche Liste von Informationen über fan g stützen. Solche
endliche Liste kann den Wert von x nicht genau, sondern nur näherungsweise bis
auf einen Bereich möglicher Werte bestimmen, sagen wir zwischen x  j1 und x C j1
für eine natürliche Zahl j . (Wir können uns diesen Bereich durch einen spread re-
präsentiert denken.) Es folgt, dass für jedes n der Wert von bn , den wir berechnen,
gleich sein würde dem Wert für bestimmte andere Cauchyfolgen fan0 g. Und es muss
eine natürliche Zahl j geben, dass die reellen Zahlen, die durch diese oder andere
Cauchyfolgen repräsentiert sind, alle reellen Zahlen zwischen x  j1 und x C j1 ab-
decken. Ähnliche Überlegungen führen zu dem Beweis, dass fbn g eine Cauchyfolge
ist. Für jede natürliche Zahl k müssen wir eine Zahl N berechnen können, sodass
8m; n > N .jbm  bn j < k1 / ist. Der Wert von N aber muss der gleiche sein wie für
5 Intuitionistische Mathematik 131

die anderen Cauchyfolgen, die bei gegebenem j die reellen Zahlen in dem Bereich
zwischen x  j1 und x C j1 repräsentieren.
Es folgt aus diesen Überlegungen, dass f stetig sein muss bei x. Das hieße nach
Definition 3.42
(22) 8k 2 N 9j 2 N 8w 2 R .jx  wj < 1
j
! jf .x/  f .w/j < k1 /.
Um das zu beweisen, sei k 2 N gegeben. Da fbn g eine Cauchyfolge ist, können wir
eine natürliche Zahl N berechnen, sodass
(23) 8m; n 2 N .jbm  bn j < 1
3k /,
und dann bN C1 bestimmen. Wir bemerken, dass 8n > N

bN C1  1
3k
< bn < bN C1 C 1
3k
;

woraus folgt, dass


(24) bN C1  1
3k
 f .x/  bN C1 C 1
3k
.
Nach den Argumenten des vorigen Absatzes brauchen die Berechnungen von N
und bN C1 nur endlich viele Informationen über fan g. Daher gibt es eine natürli-
che Zahl j , sodass die gleichen Werte von N und bN C1 errechnet würden für die
Cauchyfolgen, die alle reelle Zahlen zwischen x  j1 und x C j1 repräsentieren.
Wenn wir die gleichen Überlegungen verwenden wie im Beweis von (24), können
wir folgern, dass für alle w zwischen x  j1 und x C j1

(25) bN C1  1
3k
 f .w/  bN C1 C 1
3k
gilt. Kombinieren wir (24) und (25), dann können wir
(26) 8w 2 R .jx  wj < 1
j
! jf .x/  f .w/j < k1 /
feststellen, wie es in der Definition der Stetigkeit gefordert ist.
Auch wenn der Beweis zugegeben etwas skizzenhaft war, hoffen wir, dass er den
folgenden Satz zumindest plausibel macht:

Satz 5.14 Ist f eine Funktion von R in R, dann ist f stetig.

Wir haben gesehen, dass man Mathematik machen kann, wenn man intuitionis-
tischen Methoden verwendet. Die Ergebnisse aber unterscheiden sich von denen
der klassischen Mathematik. Speziell in der Analysis, die vor allem mit den Eigen-
schaften von reellen Funktionen beschäftigt ist, gibt es substantielle Unterschiede
zwischen den intuitionistischen und den klassischen Ergebnissen. Klassische Ma-
thematiker arbeiten oft mit unstetigen Funktionen, während Intuitionisten nicht ein-
mal die Existenz solcher Funktionen anerkennen. Und selbst beim Studium stetiger
Funktionen werden Sätze wie der Zwischenwertsatz, die fundamental sind für die
klassische Mathematik, von Intuitionisten nicht akzeptiert.
Für den Intuitionisten weisen solche Differenzen auf Korrekturen von Konfu-
sionen im klassischen Ansatz der Mathematik hin. Der Intuitionist ist keineswegs
132 5 Intuitionistische Mathematik

davon verunsichert, dass klassisch wichtige Sätze der Mathematik verloren gehen.
Solche Sätze wären Folgen des inkohärenten Denkens, und ihre Ablehnung ist daher
keine Verlust, sondern vielmehr ein Schritt vorwärts in unserem mathematischen
Verstehen.
Für den klassischen Mathematiker aber zeigen die Unterschiede die Schwäche
der intuitionistischen Methode, viele der bedeutendsten Wahrheiten in der Ma-
thematik nicht erbringen zu können. Der Deutsche Mathematiker Hermann Weyl
(1885–1955) sagte es so: „Die Mathematik gewinnt mit Brouwer die höchste intui-
tive Klarheit. Die Anfänge der Analysis vermag er in natürlicher Weise zu entwi-
ckeln, den Kontakt mit der Anschauung viel enger wahrend als bisher. Aber man
kann nicht leugnen, dass im Fortschreiten [die intuitionistische Mathematik mit ih-
ren Einschränkungen] schließlich eine kaum erträgliche Schwerfälligkeit zur Folge
hat. Und mit Schmerzen sieht der Mathematiker den größten Teil seines, wie er
meinte, aus festen Quadern gefügten Turmbaus in Nebel zergehen.“5

Übungen

Anmerkung: Die Beweise in den folgenden Übungen sind allein mit intuitionistisch
gültigen Schlüssen zu führen.

5.1 Beweise: Wenn fan g fan0 g und fbn g fbn0 g gilt und 9k 2 N9N 2 N8n >
N .jan bn j > k1 / vorausgesetzt ist, dann 9k 2 N9N 2 N8n > N .jan0 bn0 j > k1 /.
(Anmerkung: Das rechtfertigt die Definition 5.4.)

5.2 Behauptung: Aus x#y folgt x ¤ y. Vervollständige den folgenden Beweis:


Seien x D Œfang und y D Œfbn g, wobei fan g und fbn g Cauchyfolgen sind. Sei
x#y. Dann gilt
9k 2 N9N 2 N8n > N .jan  bn j > k1 /:
Um x ¤ y zu beweisen, nehmen wir an, dass x D y ist, und müssen zeigen, dass
das zu einem Widerspruch führt. Aus x D y folgt, dass fan g fbn g ist, d. h.
8k 2 N9N 2 N8n > N .jan  bn j < k1 /:
(Beende den Beweis durch Herleitung eines Widerspruchs.)

5.3 Behauptung: Aus x#y folgt: 8z.x#z _ y#z/. Vervollständige den folgenden
Beweis:
Seien x D Œfan g, y D Œfbn g und z D Œfcn g, wobei fan g, fbn g und fcn g Cauchy-
folgen sind. Sei x#y. Nach Definition von # können wir k1 und N1 wählen, sodass
8n > N1 .jan  bn j > 1
k1
/:

5
Weyl (1928, S. 44).
Übungen 133

Da fan g, fbn g und fcn g Cauchyfolgen sind, können wir N2 , N3 und N4 finden, dass

8n; m > N2 .jan  am j < 1


8k1 /;
8n; m > N3 .jbn  bm j < 1
8k1
/;
8n; m > N4 .jcn  cm j < 1
8k1 /

gilt. Sei N D max.N1 ; N2 ; N3 ; N4 / und m > N . Dann ist m > N1 und wegen der
Wahl von N1 jam  bm j > k11 .
Behauptung: Entweder ist jam  cm j > 2k11 oder jbm  cm j > 2k11 .
Beweis der Behauptung: Der Schlüssel für den Beweis ist, dass wir, da alle
Zahlen rational sind, in endlicher Rechnung bestimmen können, welche der Un-
gleichungen gilt. Daher reicht es jam  cm j  2k11 und jbm  cm j  2k11 anzunehmen
und einen Widerspruch herzuleiten.
(Beende jetzt den Beweis der Behauptung durch Herleitung des Widerspruchs
und dann den Beweis der Satzes so: Wenn jam  cm j > 2k11 ist, dann ist x#z. Wenn
jbm  cm j > 2k11 , dann ist y#z.)

5.4 Beweise: Aus x < y und y < z folgt x < z.

5.5 Beweise: Wenn entweder x < y oder y < x ist, dann ist x#y. (Das ist die
Umkehrung von Satz 5.10.)

5.6 Beweise: Aus x – y und y – x folgt x D y. (Hinweis: Verwende Satz 5.5.


und Satz 5.10.)

5.7 Beweise: Ist x < y, dann ist 8z.z < y _ x < z/. (Hinweis: Der Beweis ähnelt
dem in der Übung 5.4.)

5.8 Beweise, dass die Folge fbn g in (18) eine Cauchyfolge ist.

5.9 Seien fan g, fbn g und fcn g wie in (18). Sei fan g fan0 g und fbn0 g wie folgt
definiert:
8
ˆ 0 0
<cn C an  1; wenn an < 1
ˆ
bn0 D cn ; wenn 1  an0  2 > 0
ˆ
:̂c C a0  2; wenn a0 > 2:
n n n

Beweise, dass fbn0 g fbn g ist.

5.10 Vervollständige den Beweis von Satz 5.12. Zeige dazu, dass die Folgen fan g
und fbn g Cauchyfolgen sind und fan g fbn g ist und mit w D Œfan g D Œfbn g
f .w/ D m folgt.
134 5 Intuitionistische Mathematik

5.11 Vervollständige den Beweis von Satz 5.13. (Hinweis: Die Übung 5.8. könnte
dabei hilfreich sein.)

5.12 Wenn x D Œfan g eine reelle Zahl ist, dann ist der Absolutbetrag von x defi-
niert durch jxj D Œfjan jg. Formuliere und beweise den Satz, der diese Definition
rechtfertigt.

5.13 Beweise, dass jxj C jyj < jx C yj nicht sein kann.

5.14 Gib ein Brouwer’sches Gegenbeispiel, das zeigt, dass wir nicht beweisen kön-
nen, dass entweder jx Cyj < jxjCjyj oder jx Cyj D jxjCjyj ist. (Hinweis: Finde
ein Beispiel, für das wir nicht feststellen können, welche der beiden Möglichkeiten
zutrifft, ohne ein ungelöstes Problem zu lösen.)
Kapitel 6
Finitismus

Der große deutsche Mathematiker David Hilbert (1862–1943) suchte nach einer
Auflösung des festgefahrenen Konflikts zwischen der klassischen Mathematik und
dem Intuitionismus. Für dieses Ziel arbeitete er ein umfangreiches Programm aus,
in welchem zahlreiche philosophische sowie mathematische Ideen entwickelt und
miteinander verknüpft wurden.1
Wir beginnen am besten mit der Frage, welche Aspekte der klassischen Ma-
thematik und des Intuitionismus Hilbert in Einklang bringen wollte. Hilbert hätte
keine Lösung für die Grundlagen der Mathematik akzeptiert, die die Reichweite der
Mathematik beschränkt hätte. Er wollte also den praktizierenden Mathematiker in
seinem Vertrauen in die Verwendung fundamentaler Schlussregeln nicht stören; ins-
besondere der Satz vom ausgeschlossenen Dritten und jegliche Schlüsse, die hierauf
beruhen, wie die Fallunterscheidung, mussten erhalten bleiben. „Dieses Tertium
non datur dem Mathematiker zu nehmen,“ sagte Hilbert „wäre etwa, wie wenn man
dem Astronomen das Fernrohr oder dem Boxer den Gebrauch der Fäuste unter-
sagen wollte.“2 Außerdem sollte kein Zweifel daran bestehen, dass die klassische
Akzeptanz der absoluten Unendlichkeit legitim sei: „Die mathematische Analysis
[ist] gewissermaßen eine einzige Symphonie des Unendlichen.“3 Hilbert wäre nicht
bereit gewesen, eine Rechtfertigung von etwas, was nur einen Teil der Mathematik
des alltäglich praktizierenden Mathematikers beinhaltete, gut zu heißen.
Andererseits hatte er selbst auch Fragen in Bezug auf die Sicherheit und selbst
die Denkbarkeit von Argumenten, die den Begriff der Unendlichkeit benutzten,
also auch in Bezug auf die Korrektheit und sogar auf die Bedeutung von Aussa-
gen in der klassischen Mathematik. Zwar war der Intuitionismus allgemein wegen
des Wunsches nach einer Reformierung der Mathematik für Hilbert inakzeptabel,

1
Natürlich gab es auf dem Weg hin zur vollständigen Entfaltung des Hilbertschen Programms,
so wie wir es darstellen werden, viele wichtige Zwischenstationen. Wie bereits erwähnt, wollen
wir hier aber weniger die Entwicklung beschreiben als vielmehr möglichst anschaulich und auf
interessante Weise darstellen, was entwickelt wurde.
2
Hilbert (1928, S. 80).
3
Hilbert (1926, S. 166).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 135
A. George, D.J. Velleman, Zur Philosophie der Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56237-6_6
136 6 Finitismus

hingegen empfand er die Bestrebungen, den epistemologischen Standpunkt des


Mathematikers gewissenhaft ans Licht zu bringen, richtig. Hilbert glaubte, dass
die Bedeutung mathematischer Aussagen nicht als gegeben angenommen werden
konnten. Man muss, so wie es die Intuitionisten tun und die klassischen Mathe-
matiker normalerweise nicht, über die Natur unseres grundlegenden Zugangs zur
mathematischen Wahrheit nachdenken. Nur auf diesem Weg können wir den In-
halt mathematischer Behauptungen verstehen. Darüber hinaus glaubte Hilbert, dass
man auf diese Weise vorgehend letztendlich dazu kommen würde, nur eine begrenz-
te Menge von Schlussregeln akzeptieren zu müssen, mit Sicherheit weniger als in
der klassischen Mathematik verwendet werden, und eventuell sogar auch weniger
als die Schlussregeln, die als intuitionistisch gültig erachtet werden.
Die Herausforderung scheint also darin zu bestehen, das Unmögliche zu ver-
suchen, und zwar die Verwendung klassischer Argumentation auf Grundlage einer
weitaus bescheideneren Konzeption korrekter Folgerung zu begründen; d. h., eine
Argumentation, die die absolute Unendlichkeit verwendet, aus einer Perspektive
zu begründen, die so etwas nicht zulässt. Um zu sehen, wie Hilbert also hoffte,
auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen zu können, müssen wir seine Sichtweise
auf die grundlegende, epistemologische Perspektive eines Mathematikers näher be-
trachten.
Aus Hilberts Sicht setzt die grundlegende Evidenz, auf der die Mathematik be-
ruht, eine Fähigkeit der Intuition voraus, die uns erlaubt, die Zeichen der Mathe-
matik, die Hilbert als „außer-logische konkrete Objekte“4 bezeichnet, unmittelbar
zu erkennen und Wahrheiten über sie und ihre Beziehungen untereinander zu er-
fassen. „Die feste philosophische Einstellung, die ich zur Begründung der reinen
Mathematik . . . für erforderlich halte“ erklärt Hilbert, „[ist:] am Anfang . . . ist das
Zeichen.“5 Viel Gelehrsamkeit wurde subtilen Fragen über die Natur dieser Intui-
tion gewidmet (insbesondere ihrer Verbindung zur sinnlichen Erfahrung und zur
Vernunft), wie auch den Objekten und Wahrheiten, zu denen sie uns den Zugang
ermöglicht. Wir werden in diese Themen nicht zu tief eintauchen. Klar ist, dass
diese fundamentale Sichtweise, die Hilbert Finitismus nennt und dessen sinnvollen
Behauptungen teilweise als finite oder wirkliche Aussagen bezeichnet werden, für
Hilbert keiner weiteren Begründung bedarf; in der Tat ist nach Hilbert die Men-
ge der finiten Wahrheiten über Zeichen und finit korrekten Begründungsprinzipien
genau das, was den Rahmen bildet, der „alle[s] wissenschaftliche . . . Denken, Ver-
stehen und Mitteilen“6 möglich macht.
Eine schwierige Frage in Bezug auf den Finitismus ist dessen genaue Reich-
weite. (Wir werden später sehen, dass durch diese Ungenauigkeit jedes konkrete
Argument bezüglich des Hilbertschen Programms schwer erfasst werden kann.)
Hilbert entsprechend erhalten wir über unsere grundlegende Intuitionsfähigkeit,
deren Ausübung die Grenzen des Finitismus bestimmen, zweifellos bestimmte ele-
mentare Wahrheiten über Zeichen und auch über Begründungsprinzipien, auf die

4
Hilbert (1926, S. 171).
5
Hilbert (1922, S. 163).
6
Ebenda.
6 Finitismus 137

man bauen kann, um andere Wahrheiten zu erhalten. Diese Zeichen beinhalten


Zahlzeichen, die er als Folgen von Strichen versteht, wie j, jj, jjj und so weiter;
diese Folgen können durch die Zahlzeichen „1“, „2“, „3“ und so weiter abgekürzt
werden. Mit diesen Zahlzeichen können einige, einfache Operationen ausgeführt
und Gleichheiten in Bezug auf die Ergebnisse solcher Operationen erfasst werden.
Zum Beispiel wenn „C“ die Aneinanderreihung von Zahlzeichen meint, besagt
jj C jjj D jjjjj, dass wenn man „jj“ und „jjj“ aneinanderreiht, die Folge „jjjjj“
erhält; mit den oben eingeführten Abkürzungen kann diese Aussage auch in üb-
licherer Weise als „2 C 3 D 5“ aufgefasst werden. Dies ist ein Beispiel davon,
was Hilbert als finite oder kontingente Wahrheit bezeichnet; es ist eine Aussage,
deren Bedeutung und Korrektheit intuitiv erfasst werden kann, und zwar durch die
Ausübung der Fähigkeit, die uns schließlich den Zugang zu den grundlegenden Ele-
menten der Mathematik erlaubt. Ungleichheiten gelten ebenso als finit: „1 C 3 > 5“
macht die sinnvolle, und falsche, Aussage, dass j gefolgt von jjj eine längere Folge
von Strichen ist als jjjjj. Ohne Zweifel sieht Hilbert auch alle wahrheitserhalten-
den Verbindungen solcher Gleichungen und Ungleichungen als kontingent an, zum
Beispiel „2 C 3 D 5 und 5 < 2  5“. Somit ist klar, dass der Finitismus solche Aus-
sagen umfasst, die numerische Gleichheiten und Berechnungen erfassen und sich
nur auf das Endliche beschränken. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass sich
finite Wahrheiten aus Hilberts Sicht nicht daraus ergeben, dass sie irgendeine unab-
hängig existierende Wirklichkeit abstrakter Gegenstände beschreiben. Sie ergeben
sich dagegen daraus, dass sie in korrekter Weise die Ergebnisse der Ausführung
einiger, einfacher Operationen auf „konkreten Objekten“ wiedergeben, zu denen
wir durch die Ausübung einer epistemologisch grundlegenden Intuitionsfähigkeit
Zugang haben.
Aber die Reichweite der kontingenten oder intuitiv sinnvollen Aussagen geht
über die Art der bisher behandelten hinaus. Schnell kommt man zu den Aussagen,
die Quantoren enthalten. Beschränkte Quantifikation ist zunächst einmal finit, da
sie als Abkürzung für Konjunktionen und Disjunktionen angesehen werden kann.
In diesem Sinne meint „für alle n  100 gilt P .n/“ einfach „P .1/ und P .2/ und
. . . und P .100/“, und „es gibt ein n  100 mit Q.n/“ steht für „Q.1/ oder Q.2/
oder . . . oder Q.100/“.
Natürlich können wir in Bezug auf unbeschränkte Quantifikation nicht in glei-
cher Weise vorgehen. Im Folgenden werden wir auch Aussagen der Form 8xP .x/
als wirklich betrachten, wenn P .x/ aus finiter Sicht sinnvoll ist. An dieser Stelle
müssen wir ein wenig Vorsicht walten lassen, da eine Allquantifikation nur als kon-
tingent gilt, wenn sie richtig verstanden wird. Wenn der Bereich eines Allquantors
beispielsweise eine absolute, unendliche Menge von Zahlzeichen ist, dann ist diese
Aussage für einen Finitisten nicht begreifbar, da für ihn zu einer solchen Menge
durch die für Hilbert grundlegende Intuitionsfähigkeit kein Zugang besteht. Statt-
dessen muss die Behauptung als eine hypothetische Aussage aufgefasst werden, die
besagt, wenn ein Zahlzeichen n gegeben ist, dann wird die Aussage P .n/ für dieses
n wahr sein. Die Allquantifikation kann als Abkürzung für P .1/, P .2/, P .3/ und so
weiter angesehen werden, denn, wenn man einmal die hypothetische Aussage hat,
dann kann man sie zuerst auf die 1, dann auf die 2 und so weiter anwenden. Na-
138 6 Finitismus

türlich muss man sich diese Folge als eine potentielle Unendlichkeit von Aussagen
vorstellen.
Drei Beobachtungen sind an dieser Stelle angebracht. Erstens taucht der All-
quantor in Hilberts finiter Mathematik eigentlich nicht auf. Allgemeinheit wird
vielmehr durch die Verwendung von Schemata und speziellen Variablen ausge-
drückt.
Zweitens ist die Textgrundlage dafür, dass wir Allaussagen als wirklich auffas-
sen, nicht ganz eindeutig. Hilbert schreibt teilweise so, als wenn diese Aussagen
kein richtiger Teil der Mathematik seien, wenn er beispielsweise sagt, dass eine
Allaussage „ein hypothetisches Urteil [ist], welches etwas behauptet für den Fall,
daß ein Zahlzeichen vorliegt“, womit er den Anschein erweckt, dass die Aussage,
bevor das Zahlzeichen gegeben wird, nichts aussagt.7 Manchmal schreibt Hilbert
jedoch, dass Allaussagen „nicht negationsfähig“ sind, ohne dass man nicht-finite
oder transfinite Behauptungen erhalten würde, wobei er andeutet, dass sie in ihrer
ursprünglichen, nicht negierten Form wirkliche Aussagen sind.8 „[Wir] kommen
. . . zu transfiniten Aussagen,“ sagt Hilbert, „wenn wir eine allgemeine, d. h. auf
beliebige Zahlzeichen sich erstreckende Behauptung negieren“, was wieder nahe-
legt, dass er eine Allaussage nicht als eine transfinite Aussage ansieht.9 Genauso
schreibt Hilbert, dass „eine Aussage noch von unserem finiten Standpunkt aus in
Verbindung mit den inhaltlichen Hinweisen zulässig ist, wie z. B. der Satz, daß
stets a C b D b C a“.10 Es scheint, dass Hilbert hier sagt, dass allgemeine Aussa-
gen, wenn sie entsprechend interpretiert werden, wirkliche Aussagen ausdrücken.
Sie sind, sagt er, „finite Aussagen problematischen Charakters.“11
Was sie so problematisch macht, ist die Tatsache, dass sie nicht sinnvoll ne-
giert werden können, und dies führt uns zu unserer dritten Beobachtung. Aus finiter
Sicht ist die Behauptung einer unbeschränkten Existenzquantifikation auf Basis
der Negation einer Allaussage nicht so sehr unberechtigt, sie ist vielmehr sinnlos.
Man kann verständlich von einer konkreten, endlichen Berechnung sprechen, die
ein n ausgibt, für das P .n/ wahr ist, aber ohne eine solche konkrete Berechnung
ist es nicht sinnvoll einfach zu behaupten, dass „ein n“ die Aussage P .n/ wahr
macht.12 Es kann keine Interpretation analog zu derjenigen für die unbeschränkten
Allaussagen gegeben werden. Die einzige hypothetische Behauptung, die man ei-
ner unbeschränkten Existenzaussage zuschreiben könnte, ist so etwas wie „wenn
man alle Zahlzeichen durchgeht, dann wird man schließlich ein n finden, sodass
P .n/“, aber natürlich ergibt eine solche Suche aus Sicht eines Finitisten keinen

7
Hilbert (1926, S. 173).
8
Ebenda. Wir werden gleich sehen, warum Hilbert Allaussagen als nicht negationsfähig ansah.
9
Ebenda.
10
Ebenda, S. 175.
11
Ebenda, S. 176, Hervorhebung hinzugefügt.
12
Hilbert sagt teilweise, dass eine Aussage der Form „für ein n gilt P .n/“ sinnvoll verwendet
werden kann, und zwar als „unvollständige Mitteilung“ einer Aussage, die angibt, wie man ein n
berechnet, für das P .n/ wahr ist. Es gilt aber wieder: Wenn man eine solche Berechnung nicht
im Kopf hat, kann man nicht sinnvoll sagen, dass P .n/ „für ein n“ wahr ist. Siehe Bernays und
Hilbert (1934 und 1939, S. 32).
6 Finitismus 139

Sinn. Hinzukommt, dass einer solchen Existenzbehauptung nicht einmal eine par-
tielle Bedeutung über das, was man in einer solchen Suche erwartet, zugeschrieben
werden kann, da eine unbeschränkte Existenzaussage nichts darüber aussagt, was
man nach jeder endlichen Anzahl an Überprüfungen zu erwarten hat; sie kann uns
nur etwas über die Suche sagen, wenn sie vollendet ist. Dies steht in klarem Ge-
gensatz zu den Allaussagen, für die man eine Vorhersage bekommt, was nach dem
Überprüfen von endlich vielen Fällen passieren wird, und zwar, dass das Prädikat in
jedem der Fälle zutreffen wird. Wirkliche Aussagen sind folglich in Bezug auf Ne-
gation nicht abgeschlossen: Insbesondere, wenn man eine Allaussage gegeben hat,
„so wäre diese Mitteilung nicht negationsfähig“, ohne dass man etwas ohne finite
Bedeutung erhält.13
Im Allgemeinen gibt es viele Begriffe, die in der klassischen Mathematik zu
Hause sind, die aber aus finiter Sicht nicht erfasst werden können. Dies ist entspre-
chend der Fall für übliche Schlussweisen: Viele klassisch gültigen Schlüsse gehen
über die Ressourcen des Finitismus hinaus. Zum Beispiel sagt Hilbert explizit, dass
der Schluss von :8xP .x/ zu 9x:P .x/ aus finiter Sicht nicht korrekt ist (mit den
obigen Bemerkungen ist er nicht mal vollständig verständlich). Der Intuitionismus
(obwohl es einige Zeit brauchte, bis diese Tatsache für Hilbert und seine Anhänger
klar wurde)14 geht ebenso über das hinaus, was Hilberts grundlegender Standpunkt
zulässt: Zum Beispiel hat der Finitismus weder etwas mit Wahlfolgen zu tun, noch
werden unbeschränkte Existenzaussagen als sinnvoll angesehen.
Der bedeutendste und den Finitismus auszeichnende Punkt ist jedoch, dass es
keine Wahrheit und kein vom Finitisten akzeptiertes Begründungsprinzip gibt, das
nicht auch vom klassischen Mathematiker und vom Intuitionisten akzeptiert würde;
wie wir sehen werden, wäre der Finitismus, wenn dies nicht der Fall wäre, nicht
geeignet, um die Streitigkeiten zwischen denen zu lösen, die die Mathematik gern
so belassen würden, wie sie ist, und denen, die die Zweifel an der Berechtigung und
der Bedeutung mathematischer Behauptungen verringern wollen.
Wie kann Hilbert hoffen, hierfür eine Lösung zu finden? Ein Weg, seine zentrale
Idee zu beschreiben – in diesem Fall die Beschreibung, die Hilbert zum Zeitpunkt
der vollen Reife seines Programms selbst gibt – besteht darin, dass diese Versöh-
nung erreicht wäre, wenn man unter Verwendung ausschließlich finiter Metho-
den die Widerspruchsfreiheit der alltäglichen Mathematik beweisen könnte. Hilbert
glaubt, ein solcher Beweis würde zeigen, dass die Praxis der klassischen Mathe-
matiker niemals einen Schaden anrichten könnte; insbesondere wäre die Furcht vor
Paradoxien ein für alle Mal beseitigt. „Und was wir zweimal erlebt haben,“ erklärt
Hilbert, „einmal als es sich um die Paradoxien der Infinitesimalrechnung und dann
um die Paradoxien der Mengenlehre handelte, das kann nicht zum dritten Male und
wird nie wieder passieren.“15 Zusätzlich würde dieser Konsistenzbeweis, da vorge-

13
Hilbert (1928, S. 73), wir bemerken, à propos unserer zweiten Beobachtung, dass Hilbert
Allaussagen als „Mitteilungen“ behandelt, also mutmaßlich als kontingente Aussagen.
14
Siehe beispielsweise den Anhang von Bernays (1930) in Mancosu (1998, S. 263). (Siehe auch
Mancosus kurze Besprechung auf S. 167f).
15
Hilbert (1926, S. 179).
140 6 Finitismus

sehen ist, ihn in der finiten Mathematik durchzuführen, alle Parteien des Konflikts
überzeugen. Niemand, weder der klassische Mathematiker noch der Intuitionist,
müsste sich länger sorgen, dass in der voll entfalteten, infiniten Mathematik irgend-
ein Widerspruch lauert.
Dies gibt unmittelbar Anlass für mindestens zwei Fragen: Was ist die „alltäg-
liche Mathematik“, und wie beweist man ihre Widerspruchsfreiheit? In Bezug auf
die erste Frage gibt es offensichtlich keinen Weg, die Mathematik, wie auch jede
andere Disziplin, auf einmal, eine Aussage nach der anderen, erfassen zu können.
Vielmehr müssen die grundlegenden Prinzipien und die Begründungsregeln explizit
herausgestellt werden; alle einzelnen Ergebnisse der Mathematik müssen letztlich
auf Basis dieser Begründungsregeln aus diesen Prinzipien herleitbar sein. Nur eine
klar formulierte Theorie, sagen wir eine axiomatische Theorie, in der die gesam-
te klassische Mathematik entwickelt werden kann, erlaubt uns überhaupt, über die
Mathematik als Ganzes zu sprechen und ermitteln zu können, ob sie bestimmte
Eigenschaften, wie zum Beispiel die Widerspruchsfreiheit, besitzt.
Hilbert wendet sich hier in voller Dankbarkeit all jenen wie Frege zu, die ge-
zeigt haben, auf welche Weise große Bereiche der Mathematik auf Basis einer
kleinen Anzahl von Annahmen arithmetischer, mengentheoretischer oder logischer
Natur, systematisiert werden können. Obwohl diese Vorreiter philosophische Ziele
gehabt haben mögen, die sich deutlich von denen Hilberts unterscheiden, stellen
ihre Arbeiten eine axiomatische Entwicklung der klassischen Analysis dar, die auf
übersichtliche Weise die, wie er es nennt, „Technik unseres Denkens“16 ausdrückt.
Nun, angenommen, eine solche axiomatische Entwicklung der Mathematik ist
gegeben und nennen wir ein solches System I , wie wird dessen Widerspruchsfrei-
heit ermittelt? I ist nur dann konsistent, wenn es darin keinen Widerspruch gibt,
also wenn keine Aussage der Form P ^ :P darin hergeleitet werden kann. Ein
Weg, das zu erreichen wäre zu zeigen, dass alle Axiome des Systems wahr und
alle Schlussregeln wahrheitserhaltend sind, d. h., dass sie auf wahre Aussagen an-
gewendet wieder nur wahre Aussagen hervorbringen. Dies würde zeigen, dass jeder
Satz des Systems wahr wäre; und das sichert natürlich ab, dass ein Widerspruch, al-
so eine falsche Aussage, nicht hergeleitet werden kann. Aber offensichtlich konnte
Hilbert von diesem Ansatz selbst keinen Gebrauch machen, da er das Ziel einer
neutralen Streitschlichtung verfolgte. Denn die infiniten Behauptungen der klassi-
schen Mathematik können nur aus einer Perspektive verstanden, geschweige denn
als wahr angesehen werden, die die Intuitionisten nicht fähig sind zu übernehmen.
Hilberts einfallsreiche Lösung ist sein Vorschlag, die Widerspruchsfreiheit zu
zeigen, ohne dabei die Bedeutung der Aussagen aus der Theorie zu beachten. Wir
können die axiomatische Theorie I einfach aus einer formalen Perspektive betrach-
ten. Das heißt, wir können ihre syntaktische Struktur untersuchen, den Aufbau oder
das Aussehen der letzten Zeilen aller möglichen Herleitungen, um abzusichern,
dass kein Widerspruch in der Menge der Sätze auftauchen kann. Da von einem
Widerspruch jede Aussage hergeleitet werden kann, reicht es, sich nur auf einen
Widerspruch zu konzentrieren, beispielsweise die Aussage „0 D 1 ^ 0 ¤ 1“, wobei

16
Hilbert (1928, S. 79).
6 Finitismus 141

diese Auswahl ganz beliebig ist. Man kann untersuchen, ob diese Aussage in ei-
ner axiomatischen Theorie hergeleitet werden kann ohne vorauszusetzen, dass man
versteht, was ihre Sätze bedeuten, oder dass man weiß, ob sie wahr sind. Dieses
Vorgehen funktioniert, indem man die axiomatische Theorie wie ein komplexes,
formales Objekt behandelt. Dies beinhaltet eine syntaktische Beschreibung (eine
Beschreibung, die sich nur auf die Anordnung der Zeichen bezieht) der Axiome
der Theorie, ihrer Schlussregeln, was eine Herleitung ist und so weiter. Die Fra-
ge über die Widerspruchsfreiheit nimmt dann eine rein syntaktische Form an: Gibt
es eine formale Herleitung in I , deren letzte Zeile „0 D 1 ^ 0 ¤ 1“ ist? Die-
ses Problem ist analog zu einem Nachweis, dass eine bestimmte Position auf dem
Schachbrett nicht möglich ist, mit anderen Worten, dass man sie mit den Schach-
regeln aus der Anfangsanordnung nie erhalten kann.17 Hilbert ersetzt damit das
semantische Konstrukt der Widerspruchsfreiheit (die Theorie enthält eine Aussage,
die notwendigerweise falsch ist) durch ein syntaktisches (in der Theorie kann die
Aussage „0 D 1 ^ 0 ¤ 1“ formal hergeleitet werden).
An dieser Stelle sind erneut drei Beobachtungen angebracht. Die erste bezieht
sich auf die historische Bedeutung von Hilberts Methode. Ausgehend von seiner
Idee entstand ein gesamter Forschungszweig, der nach wie vor gedeiht: die mathe-
matische Untersuchung von Formalisierungen verschiedener Teile der Mathematik.
Diese Wissenschaft wird teilweise Beweistheorie oder auch Metamathematik ge-
nannt: Mathematik, die auf sich selbst angewandt wird und sich so zum eigenen,
formalen Untersuchungsgegenstand macht. Hilbert meinte, die Mathematiker müss-
ten
den Begriff des spezifisch mathematischen Beweises selbst zum Gegenstand einer Un-
tersuchung machen, gerade wie ja auch der Astronom die Bewegung seines Standortes
berücksichtigen, der Physiker sich um die Theorie seines Apparates kümmern muß und der
Philosoph die Vernunft selbst kritisiert.18

Unabhängig von dem endgültigen Ausgang des Hilbertschen Programms ist der
dadurch angestoßene Forschungsbereich nach wie vor sehr lebendig.
Als Nächstes ist es wichtig zu beachten, dass Hilberts Auffassung von dieser
tief im Herzen der Grundlagen der Mathematik liegenden Aufgabe mit seiner Auf-
fassung dessen, worauf die Mathematik schlussendlich beruht, einhergeht. Denn
durch diese Intuitionsfähigkeit können wir zwar kein „unmittelbares Erlebnis“19 der
Objekte erhalten, die von der klassischen Mathematik postuliert werden, wir kön-
nen durch sie aber eine axiomatische Theorie qua formales Objekt überschauen.
Durch die Intuition können endlich viele formale Objekte wie Zeichen, Zeichen-
folgen, Regeln für die Umwandlung von Zeichen und so weiter erfasst werden.
Außerdem ergibt die Aussage der Widerspruchsfreiheit finit Sinn: Denn sie behaup-
tet, dass jede formale Herleitung in einem axiomatischen System die Zeichenfolge
„0 D 1 ^ 0 ¤ 1“ nicht als letzte Zeile besitzt. Dies ist eine Allaussage, die, wie
oben besprochen, als Teil der finiten Mathematik behandelt werden kann, obwohl,

17
Diese Analogie stammt von Hermann Weyl, siehe Weyl (1998, S. 137).
18
Dieses Zitat stammt aus Hilbert (1918, S. 155).
19
Hilbert (1922, S. 162).
142 6 Finitismus

was wir bereits betont haben, ihre Bedeutung sich dort von derjenigen, die ihr in
der klassischen Mathematik zugeschrieben wird, unterscheidet. Weiterhin glaubte
Hilbert, dass diese finite Behauptung unter ausschließlicher Verwendung von Be-
gründungsmethoden, die aus finiter Sicht akzeptabel sind, nachgewiesen werden
kann.
Unsere dritte Beobachtung ist, dass das so formulierte Vorhaben für den Nach-
weis der Widerspruchsfreiheit sowohl für den klassischen Mathematiker als auch
für den Intuitionisten Sinn ergibt. Wenn der Finitist, dessen Begründungsprinzipien
von allen Parteien des Konflikts akzeptiert werden, zeigen kann, dass keine Herlei-
tung mit der Zeile „0 D 1 ^ 0 ¤ 1“ endet, dann muss dies den Intuitionisten und
den Platonisten in gleicher Weise davon überzeugen, dass in der Formalisierung der
klassischen Mathematik kein Widerspruch herleitbar ist. Das Programm hält dann
sein Versprechen, den Streit zwischen den klassischen Mathematikern und den In-
tuitionisten zu beenden.
Ist dem wirklich so? Es gibt noch mindestens zwei Punkte, die einen zögern las-
sen könnten, diesem Weg der Versöhnung zu folgen. Der erste Punkt führt auf den
französischen Mathematiker Henri Poincaré (1854–1912) zurück. Sein Einwand
beginnt mit der Beobachtung, dass ein Konsistenzbeweis von der Art, die Hilbert
anvisiert, zumindest auf dem Prinzip der vollständigen Induktion beruhen würde:
Letztendlich ist die finite Aussage, dass I widerspruchsfrei ist, eine Allaussage, und
es wird wahrscheinlich Induktion nötig sein, um sie zu begründen. Aber Poincaré
fährt fort, dass die Induktion eines der infiniten Prinzipien der klassischen Mathe-
matik ist, das gerechtfertigt werden muss: Der klassische Mathematiker verwendet
Induktion um zu zeigen, dass, sagen wir, jedes Element der absoluten unendlichen
Menge der natürlichen Zahlen eine bestimmte Eigenschaft besitzt. Als Folge würde
der vorgeschlagene Konsistenzbeweis eine Art Zirkularität enthalten: Er würde für
jemanden, der die Legitimität von zumindest einigen klassischen Prinzipien nicht
bereits akzeptiert, nicht überzeugend sein.20
Dieser Einwand ist jedoch sofort vermeidbar, wenn man, wie der späte Hilbert
es tat, zwischen der Induktion als verwendetes Prinzip in der Metamathematik und
dem Induktionsprinzip, welches in I enthalten ist, unterscheidet. Da Letzteres ei-
ne Regel eines formalen Systems ist und somit überhaupt keine Aussage macht,
sondern lediglich bestimmte Zeichenmanipulationen zulässt, kann es gar keinen
Vergleich zu dem sinnvollen Prinzip der finiten Argumentation geben. Weiterhin,
sogar wenn beide Prinzipien als sinnvoll behandelt werden – d. h., wie von jeweils
dem Finitisten beziehungsweise dem klassischen Mathematiker verstanden – und
als solche verglichen werden, stellen sich zwei bedeutende Unterschiede heraus.
Der erste ist, dass die Prädikate, auf die der klassische Mathematiker Induktion an-
wendet, von beliebiger Komplexität sind, wobei dies für den Finitisten nicht der Fall
ist. Die Induktion trifft auf alle wohldefinierten Prädikate zu, und für den Platonisten
beinhalten diese Prädikate jegliche Abfolge von All- und Existenzquantoren. Ein
Finitist billigt hingegen kein Prädikat, was unbeschränkte Existenzquantifikation

20
Siehe beispielsweise Poincaré (1905) in Ewald (1996).
6 Finitismus 143

enthält, und wendet Induktion nur auf Prädikate an, deren einzige Quantoren All-
quantoren am Anfang des Prädikates sind. Es ist verlockend, daraus zu schließen,
dass das finite Induktionsprinzip schwächer als das des klassischen Mathematikers
ist. Es gibt jedoch noch einen zweiten Unterschied zwischen den zwei Auffassun-
gen, die eine solche Aussage irreführend erscheinen lassen würden. Wie wir früher
gesehen haben, beinhaltet das finite Verständnis des Allquantors, im Unterschied zu
dem des klassischen Mathematikers, keine Billigung der absoluten Unendlichkeit.
Die finite Auffassung ist eher mit der des Intuitionisten verwandt: Eine Aussage
der Form 8xP .x/ ist nur gerechtfertigt, wenn es ein Argument gibt, dass für je-
des bestimmte Zahlzeichen k zeigt, dass P .k/ korrekt ist. Aus diesem Grund gibt
es keinen offensichtlichen Weg, die finite Auffassung der Induktion mit der des
klassischen Mathematikers zu vergleichen. Wir haben in Kap. 4 gesehen, dass der
klassische Mathematiker die Gültigkeit der Induktion als das ansehen kann, was ga-
rantiert, dass nur endliche Iterationen der Nachfolgeroperation zu einer natürlichen
Zahl führen; der Realist könnte die Induktion auch als eine Folge der imprädika-
tiven Beschreibung der natürlichen Zahlen betrachten. Für den Intuitionisten, und
notwendigerweise auch den Finitisten, kann die Induktion in keiner dieser Weisen
verstanden werden: Die Nachfolgeroperation kann nur endlich oft iteriert werden –
also wird keine Garantie benötigt – und imprädikative Beschreibungen sind nicht
verständlich. Finitisten und Intuitionisten sehen die Induktion stattdessen als das an,
was aus einem korrekten Verständnis des Allquantors und der Annahme folgt, dass
mathematische Objekte konstruierbar sind. Wie Hilbert sagt, die zwei Prinzipien,
die Poincaré aufnimmt, sind ihrem „Wesen nach verschieden.“21
Es gibt einen zweiten Punkt, weswegen man über Hilberts beabsichtigten Weg
zur Versöhnung zwischen dem Intuitionismus und der klassischen Mathematik Be-
denken haben könnte. Dieser wird ziemlich undeutlich, wenn man daran denkt,
dass der zentrale Punkt des Streites die Sicherheit der klassischen Schlussregeln
ist, in dem Sinne, dass ein Vertrauen auf diese keinen Widerspruch hervorbringen
wird. Es scheint klar zu sein, dass die erfolgreiche Durchführung des Hilbertschen
Programmes dieses Thema beilegen würde: Ein Beweis für die Widerspruchsfrei-
heit unter Verwendung rein finiter Methoden sollte alle Parteien davon überzeugen,
dass aus der Anwendung infiniter Begriffe und Argumentationen kein Widerspruch
folgen wird. Hilbert selbst beschreibt die Sicherheit in diesem Sinn teilweise als
sein Hauptanliegen. Und offensichtlich will er die Mathematik vor den Paradoxien
beschützen.
Aber es gibt eine andere Befürchtung, die das intuitionistische Verständnis der
Sicherheit in der klassischen Mathematik genauer erfasst. Deren grundlegendes Be-
denken ist, dass die Anwendung bestimmter Schlussregeln nicht unbedingt einen

21
Hilbert (1922, S. 164). Paul Bernays nennt in Über Hilberts Gedanken zur Grundlegung der
Arithmetik (1922) das Prinzip des Finitisten „engere Form der Induktion“ und das des klassischen
Mathematikers „weitere Form der Induktion“. Aber aus seinem Text geht klar hervor, dass sie un-
terschiedlich funktionieren, dass jeder direkte Vergleich bezüglich ihrer Stärke unberechtigt wäre
(Bernays 1922, S. 18). Siehe auch den vorletzten Paragrafen in Bernays (1923).
144 6 Finitismus

Widerspruch, aber ungerechtfertigte Behauptungen hervorbringt. Die allgemeine


Anwendung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten führt beispielsweise zu Be-
hauptungen, für die ein Intuitionist keinen Grund sieht, sie zu behaupten. Das zweite
Bedenken ist dementsprechend, dass die erfolgreiche Durchführung des Hilbert-
schen Programms keine direkte Antwort auf diese Befürchtung hätte, wobei eine
direkte Antwort darin bestünde, den einzelnen Aussagen feste, intuitionistisch ver-
ständliche Bedeutungen zuzuordnen und zu bestätigen, dass die Behauptungen der
klassischen Mathematik, wenn sie so interpretiert werden, gerechtfertigt sind. Und
natürlich könnte es dies nicht: In seinem Programm geht es offensichtlich nicht dar-
um, den Aussagen der infiniten Mathematik solche Bedeutungen zuzuordnen, da es
aus einer Perspektive funktioniert, die der klassischen Mathematik jegliche Bedeu-
tung entzieht. Hilberts Aufgabe ist es nicht, den einzelnen Aussagen der klassischen
Mathematik eine feste Bedeutung anzuheften, auf einer Basis, auf der alle Partei-
en sehen können, dass sie korrekterweise behauptet werden. Wenn Hilbert auf die
Befürchtungen der Intuitionisten in Bezug auf die Sicherheit antworten soll, dann
muss es auf eine andere Weise geschehen.
Um zu sehen, wie Hilbert versucht den Intuitionisten entsprechend zu antwor-
ten, müssen wir vorher einige natürliche Fragen über die Beziehung zwischen der
Menge der formalen Sätze von I und der Menge der finiten Wahrheiten betrach-
ten. Wenn Q eine wahre, wirkliche Aussage ist, die keine Quantoren enthält, dann
kann ihre Wahrheit einfach über Berechnung erhalten werden, und es ist plausibel
vorauszusetzen, dass wir eine Herleitung von Q, die auf dieser Berechnung beruht,
in einer Formalisierung infiniter Mathematik durchführen können. Indem wir die
Schreibweise S ` P benutzen, um zu sagen, dass P aus den Axiomen des forma-
len Systems S unter ausschließlicher Verwendung der Schlussregeln von S formal
hergeleitet werden kann, können wir somit Folgendes annehmen:
(1) Für jede quantorenfreie, wirkliche Aussage Q gilt: Wenn Q finit begründet
werden kann, dann I ` Q.22
Wir betrachten den Fall, in dem Q nicht quantorenfrei ist, später; (1) ist alles, was
wir im Moment brauchen. Es gibt natürlich viele Aussagen, die in I hergeleitet
werden können, und die aus finiter Sicht nicht korrekt sind, da es viele formale
Sätze gibt, die für den Finitisten nicht einmal verständlich sind, zum Beispiel die
unbeschränkten Existenzbehauptungen: In dieser Weise erweitert I die finite Ma-
thematik. Es ist aber nicht klar, ob man in I eine finite Aussage formal herleiten
kann, die finit nicht korrekt ist. Das heißt, könnten die infiniten Mittel der klas-
sischen Mathematik, über die Grenzen der finit korrekten hinaus, die Menge der
finit sinnvollen Aussagen, die erhalten werden können, erweitern? Wir können die-
se Frage umformulieren, indem wir fragen, ob I eine konservative Erweiterung der
finiten Mathematik in Bezug auf die Menge der wirklichen Aussagen ist, d. h., ob
(2) gilt:
(2) Für jede wirkliche Aussage Q gilt: Wenn I ` Q, dann ist Q finit begründbar.

22
Genauer beweist I eigentlich die formale Aussage, die Q entspricht. Im Folgenden werden wir
diesen Unterschied übergehen und einfach von Q und so weiter sprechen.
6 Finitismus 145

Eine positive Antwort würde tatsächlich besagen, dass jede wirkliche oder kontin-
gente Aussage, die in der klassischen Mathematik hergeleitet werden kann, bereits
unter ausschließlicher Verwendung der Mittel aus der finiten Mathematik hätte be-
gründet werden können.
Betrachten wir ein Beispiel. Fermats letzter Satz besagt, dass für alle positiven,
ganzen Zahlen x; y; z und n für n > 2 gilt x n C y n ¤ z n . Das ist der berühmte
Satz – über dreihundert Jahre lang wurde er als wahr vermutet, war aber dennoch
unbewiesen –, den der britische Mathematiker Andrew Wiles (*1953) im Jahr 1994
endlich bewies. Es ist zu beachten, dass dieser Satz die Form einer Allaussage über
endliche Berechnungen hat und dass er deswegen finit sinnvoll ist. Aber Wiles’
Beweis beruht zu einem großen Teil auf raffinierter, infiniter Mathematik, die fi-
nit nicht sinnvoll ist. Wie können wir sicher sein, dass die Schlussfolgerung aus
Wiles’ Beweis korrekt ist? Natürlich können wir jede einzelne Instanz des Satzes
überprüfen, indem wir für x; y; z; und n Zahlzeichen einsetzen und die entspre-
chenden Berechnungen durchführen; zum Beispiel könnten wir durch eine endliche
Rechnung die Wahrheit der folgenden Aussage bestätigen:
(3) 5874167 C 104:143167 ¤ 380:434167.
Diese aufwendige Rechnung durchzugehen ist ein Weg, diese einzelne Folgerung
von Wiles’ infiniter Argumentation zu überprüfen. Ein anderer Weg würde aber dar-
in bestehen, zu zeigen, dass die infinite Mathematik eine konservative Erweiterung
der finiten Mathematik ist: Diese Tatsache würde für eine allgemeine Garantie sor-
gen, dass alle Rechnungen wie diese das ergeben würden, was von Wiles’ Beweis
vorhergesagt wird.
Ein solcher Nachweis, dass die infinite Mathematik eine konservative Erweite-
rung ist, würde ihre Sicherheit denjenigen offensichtlich zeigen, die, wie die In-
tuitionisten, Bedenken in Bezug auf die grundlegende Berechtigung infiniter Be-
hauptungen und eigentlich auch auf deren grundlegende Verständlichkeit haben:
Die Tatsache, dass jede einzelne Verwendung infiniter Mathematik zur Herleitung
einer finiten Wahrheit eigentlich umgangen und durch eine finite Argumentation
ersetzt werden könnte, zeigt, dass man ihr insofern vertrauen kann, als dass sie
nur korrekte, finite Ergebnisse liefert. Dies ist der Weg, auf dem Hilbert auf die
Bedenken der Intuitionisten gedenkt zu antworten. Hilbert versucht nicht, die klas-
sische Mathematik zu verteidigen, indem er zeigt, dass die Intuitionisten mit ihren
Schwierigkeiten in Bezug auf mathematische Begründungen oder mit ihrem Ver-
ständnis einzelner Aussagen über das aktual Unendliche falsch liegen. Ganz im
Gegenteil strebt er eine technische und ganzheitliche Rechtfertigung infiniter Aus-
sagen an. Die Rechtfertigung ist insofern technisch, als dass infinite Aussagen dazu
verwendet werden sollen, korrekte, wirkliche Aussagen zu zeigen. Und sie ist inso-
fern ganzheitlich, als dass sie beinhaltet, die infiniten Aussagen en masse, also nicht
eine nach der anderen, sondern als eine ganze, komplexe, deduktive Struktur zu un-
tersuchen. Hilberts Ziel würde erreicht werden, wenn er zeigen könnte, dass jede
einzelne Verwendung infiniter Mathematik zur Herleitung einer wirklichen Aus-
sage im Prinzip durch eine vollständig finite Begründung dieser Aussage ersetzt
werden könnte. Infinite Herleitungen wirklicher Aussagen würden dennoch nütz-
146 6 Finitismus

lich bleiben, da sie häufig viel kürzer sind, vielleicht sogar auch, um Herleitungen
von Ergebnissen zu erlauben, die in der Praxis durch direktere Mittel nicht hätten
erreicht werden können; und auch weil sie helfen, unser Wissen über wirkliche Aus-
sagen zu systematisieren, indem sie Verbindungen herausstellen, die andererseits
in den aufwendigeren, wenn direkten, finiten Begründungen versteckt geblieben
wären. Hilbert stellt explizit eine Analogie zu der Betrachtungsweise von naturwis-
senschaftlichen Theorien auf:
Der Physiker verlangt gerade von einer Theorie, daß ohne Heranziehung anderweitiger
Bedingungen aus den Naturgesetzen oder Hypothesen die besonderen Sätze allein durch
Schlüsse, also auf Grund eines reinen Formelspieles, abgeleitet werden. Nur gewisse Kom-
binationen und Folgerungen der physikalischen Gesetze können durch das Experiment
kontrolliert werden – sowie in meiner Beweistheorie nur die realen Aussagen unmittel-
bar einer Verifikation fähig sind. Das Wertvolle der reinen Existenzbeweise besteht gerade
darin, daß durch sie die einzelne Konstruktion eliminiert wird und viele verschiedene Kon-
struktionen durch einen Grundgedanken zusammengefaßt werden, so daß allein das für den
Beweis Wesentliche deutlich hervortritt: Abkürzung und Denkökonomie sind der Sinn der
Existenzbeweise.23
Hilberts Hoffnung ist, kurz gesagt, die klassische Mathematik für die Intuitionis-
ten zu rechtfertigen, indem man ihre Nützlichkeit, die aber prinzipiell entbehrlich
ist, im Falle der finiten Aussagen zeigt. Wie ein Kommentator meint, könnte die
infinite Mathematik dann als eine Ansammlung „technischer Spielereien, die das
Leben leichter machen,“24 angesehen werden. Aber wo ist hier die Verbindung zum
Hilbertschen Programm und der Suche nach einem Konsistenzbeweis?
Wir sind endlich in der Lage zu sehen, wie das zweite Bedenken über die Be-
deutung des von Hilbert vorgeschlagenen Konsistenzbeweises ausgeräumt werden
kann: Denn es ist eine grundlegende Tatsache, dass ein finiter Konsistenzbeweis
von I zusätzlich zeigen würde, dass I eine konservative Erweiterung der finiten
Mathematik ist. Um zu sehen, warum das gilt, nehmen wir eine quantorenfreie,
wirkliche Aussage Q mit I ` Q; das Ziel ist zu zeigen, dass Q finit begründbar
ist. Da die Aussage Q quantorenfrei ist, kann sie durch eine endliche Rechnung
entweder belegt oder widerlegt werden. Angenommen, Q wird finit widerlegt. Mit
(1) folgt dann, dass I ` :Q, dann wäre I inkonsistent. Somit sind wir finit in der
Lage zu sagen, wenn I widerspruchsfrei ist, dann ist Q wahr. Verbinden wir dies
mit dem finiten Konsistenzbeweis von I , erhalten wir eine finite Rechtfertigung für
die Gültigkeit von Q.
Nehmen wir nun an, dass Q eine wirkliche Allaussage ist, sagen wir eine Aus-
sage der Form 8xP .x/, wobei P .x/ quantorenfrei ist; das Ziel ist zu zeigen, wenn
die Konsistenz von I finit beweisbar ist und I ` 8xP .x/, dann ist 8xP .x/ fi-
nit gerechtfertigt.25 Sei k ein Zahlzeichen. Da I ` 8xP .x/, gilt I ` P .k/ (mit
Spezialisierung). Aber P .k/ ist eine quantorenfreie Aussage, also können wir die

23
Hilbert (1928, S. 79).
24
Kreisel (1983, S. 209).
25
Erinnern wir uns, dass der Allquantor hier nicht so verstanden werden kann, dass sein Bereich
eine absolut unendliche Menge ist. Die finite Begründung, die gleich im Text folgt, spiegelt dies
wider. Der französische Mathematiker Jacques Herbrand (1908–1931) schreibt Folgendes über
die finite Begründung einer Allaussage, als er die Begründungsprinzipien beschreibt, die für einen
6 Finitismus 147

Argumentation aus dem letzten Paragrafen benutzen, um eine finite Begründung für
P .k/ anzugeben. Da k beliebig war, ist dies ein finiter Beweis von 8xP .x/.
Die letzten beiden Paragrafen zeigen, dass (2) in voller Allgemeinheit aus der
Voraussetzung folgt, dass wir einen finiten Konsistenzbeweis von I haben. Außer-
dem ist die Argumentation von der Widerspruchsfreiheit bis hin zur Konservativität
für einen Intuitionisten vollständig legitim. Deswegen muss ein Intuitionist akzep-
tieren, dass ein finiter Konsistenzbeweis von I ausreichen würde, um die Verläss-
lichkeit der klassischen Mathematik in Bezug auf alle finit sinnvollen Aussagen zu
rechtfertigen. Wenn ein solcher Beweis gegeben ist, hätte ein Intuitionist keinen
Grund mehr, die Verwendung der klassischen Mathematik für die Herleitung finiter
Wahrheiten zu umgehen: Denn jede solche Herleitung könnte in eine finite Begrün-
dung der entsprechenden Wahrheit umgewandelt werden. Die Methode wurde im
Wesentlichen bereits angegeben, aber es könnte hilfreich sein, ein Beispiel anzu-
schließen. Wenden wir uns wieder der klassischen Herleitung der finiten Aussage
(3) zu, die via Wiles’ Beweis von Fermats letztem Satz funktioniert, und nehmen
wir an, dass wir in Besitz eines finiten Beweises für die Widerspruchsfreiheit von
I sind. Hier beschreiben wir nun, wie man diese Herleitung und diesen Beweis be-
nutzen kann, um eine finite Rechtfertigung von (3) zu erhalten. Da die Aussage (3)
quantorenfrei ist, kann sie durch eine endliche Rechnung entweder belegt oder wi-
derlegt werden, also können wir behaupten, dass sie entweder wahr oder falsch ist.
Angenommen, sie ist falsch. Da die Negation von (3) finit begründbar ist (indem
man die entsprechende Rechnung ausführt), ist sie mit (1) in I herleitbar. Aber (3)
ist ebenfalls in I herleitbar, also ist auch ein Widerspruch herleitbar. Aber es gibt,
wie wir hier annehmen, einen finiten Beweis von der Widerspruchsfreiheit von I ,
die eine solcher Herleitung unmöglich macht. Somit können wir schlussfolgern,
dass unsere ursprüngliche Annahme, dass (3) falsch ist, nicht stimmt. Dies ist eine
finite Begründung für die Wahrheit von (3). Natürlich liegt nichts an der Auswahl
der Zahlzeichen in (3). Dieselbe Argumentation würde auf jede Instanz von Fer-
mats letztem Satz zutreffen, und diese Beobachtung bildet schließlich einen finiten
Beweis dieses Satzes.
Ein finiter Konsistenzbeweis hält daher der außergewöhnlichen Aussicht stand,
die klassische Mathematik sowie den Intuitionismus zu verteidigen und hierbei
beide miteinander zu versöhnen. Er würde klassische Begründungsformen legiti-
mieren, indem er zeigt, dass durch ihre Verwendung keine wirkliche, aber finit
unbegründete Aussage hergeleitet werden kann, ohne dabei der intuitionistischen
Behauptung zu widersprechen, dass klassische, infinite Aussagen keine allgemeine
Bedeutung besitzen.
Dies war das Programm, zu dem Gödel beitragen wollte. In seinem Versuch,
das Hilbertsche Programm voranzubringen, bewies Gödel bald zwei fundamentale

Anhänger Hilberts legitim sind: „Wir betrachten nie die Menge aller Objekte x einer unendlichen
Zusammenfassung; und wenn wir sagen, dass ein Argument (oder ein Satz) für all diese x wahr
ist, dann meinen wir, dass für jedes x, für sich selbst genommen, eine Wiederholung des allge-
meinen Argumentes, worum es geht, möglich ist, wobei Letzteres lediglich als der Prototyp dieser
einzelnen Argumente angesehen werden sollte“ (On the consistency of arithmetic (1933), in van
Heijenoort (1967, S. 622, n. 3)).
148 6 Finitismus

Ergebnisse der mathematischen Logik, die stattdessen beachtliche Zweifel an der


Erreichbarkeit von Hilberts Zielen säten. Diese sind als die Gödelschen Unvollstän-
digkeitssätze bekannt, unzweifelhaft die berühmtesten und fruchtbarsten Ergebnisse
der Logik. In Kap. 7 werden wir diese Sätze sorgfältig ausformulieren und sie in an-
gemessener Genauigkeit beweisen. Aber für unser momentanes Anliegen sind die
folgenden Formulierungen passend. Definieren wir vorerst, dass ein formales Sys-
tem S syntaktisch vollständig heißt, falls für jede Aussage Q entweder S ` Q
oder S ` :Q gilt. Das erste der zwei zentralen Ergebnisse aus Gödels Artikel von
193126 kann in folgender Weise grob umrissen werden:

Erster Unvollständigkeitssatz Für jedes ausreichend starke, formale System S


gilt: Wenn S widerspruchsfrei ist, dann ist S syntaktisch unvollständig.

Die intuitive Idee hinter Gödels Beweis ist, wenn S ein ausreichend starkes, forma-
les System ist, dann kann man darin Aussagen herleiten, die man sich so vorstellen
kann, dass sie etwas über die syntaktischen Eigenschaften von S selbst aussagen.
Die Möglichkeit dies zu tun hängt von zwei Tatsachen ab. Erstens ist es möglich,
syntaktische Eigenschaften eines formales Systems in numerischen Begriffen dar-
zustellen: Syntaktische Objekte können von Zahlen und syntaktische Eigenschaften
von zahlentheoretischen Eigenschaften dargestellt werden. Zweitens können in ei-
nem ausreichend starken, formalen System einfache Behauptungen über die natür-
lichen Zahlen gezeigt werden. Eine Folge dieser zwei Tatsachen ist, dass in einem
ausreichend starken, formalen System Aussagen hergeleitet werden können, die et-
was über das System selbst „sagen“. Gödel betrachtete eine formale Aussage, die
man sich so vorstellen kann, dass sie ihre eigene Unbeweisbarkeit in einem ausrei-
chend starken, formalen System S behauptet. Nennen wir diese Aussage GS , den
Gödelsatz von S; intuitiv sagt GS : „Ich bin in S unbeweisbar“. Ist GS in S herleit-
bar? Nehmen wir an, dass S ein korrektes, formales System ist, d. h., dass jeder in
S herleitbare Satz in der intendierten Interpretation wahr ist. Wir sehen dann, dass
GS in S nicht herleitbar ist. Denn wenn er herleitbar wäre, dann würde er falsch
sein, da er von sich selbst sagt, dass er in S nicht herleitbar ist. Aber dann würde
S nicht korrekt sein, was unserer Voraussetzung widerspricht. Weiterhin, da GS in
S unbeweisbar ist und genau das sagt, ist er wahr. Folglich ist die Negation von
GS falsch, also ist mit der Korrektheit von S die Negation von GS in S auch nicht
herleitbar. Es folgt, dass GS in S weder beweisbar noch widerlegbar ist. Somit ist
dies ein unentscheidbarer Satz in S, und seine Existenz zeigt, dass S syntaktisch
unvollständig ist.
In Kap. 7 werden wir sehen, indem wir Gödels ursprünglichen Beweis nachvoll-
ziehen, wie die syntaktische Unvollständigkeit von S gezeigt werden kann, ohne die
semantische Voraussetzung der Korrektheit machen zu müssen: Diese wird durch
eine rein syntaktische Eigenschaft der Konsistenz ersetzt, und das Argument für

26
On formally undecidable propositions of Principia Mathematica and related systems (Gödel
und Feferman 1986).
6 Finitismus 149

die Unvollständigkeit wird weder Wahrheit noch irgendeinen anderen semantischen


Begriff verwenden. Hier konzentrieren wir uns jedoch auf das Ergebnis selbst und
seine Konsequenzen für das Hilbertsche Programm.
Unvollständigkeit hatten Hilbert und andere, die an der Widerspruchsfreiheit
der klassischen Mathematik arbeiteten, mit Sicherheit nicht erwartet. Die Überzeu-
gung von der Vollständigkeit scheint auf drei verschiedenen Annahmen zu beruhen:
erstens die Korrektheit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten; zweitens die An-
sicht, dass jede mathematische Wahrheit beweisbar ist,27 und drittens, dass man mit
einem formalen System alle grundlegenden Begriffe und Begründungsformen der
infiniten Mathematik einfangen kann. Aus diesen drei Annahmen folgt, dass es eine
Formalisierung der klassischen Mathematik gibt, in der jede wohlgeformte Aussage
in der Sprache des formalen Systems entweder beweisbar oder widerlegbar ist. Und
dies ist gerade das, was Gödels Erster Unvollständigkeitssatz unmöglich macht:
Kein konsistentes, formales System, das ausreichend stark ist (was es hätte sein
müssen, um die klassische Mathematik zu enthalten), ist vollständig. Offensichtlich
befand sich Hilbert über irgendetwas im Irrtum.
Der Erste Unvollständigkeitssatz gibt jedoch nicht an, welche dieser drei Annah-
men aufgegeben werden muss, sondern lediglich, dass zumindest eine von ihnen
nicht wahr sein kann. Und während Hilbert vielleicht alle drei Überzeugungen hat-
te, sind sie nicht alle Teil dessen, was wir als Hilbertsches Programm beschrieben
haben. Die erste und dritte Annahme sind wohl in den ganzen Rahmen des Hilbert-
schen Versuches eingebaut, um die enge, beweiskräftige Perspektive des Finitismus
mit der großen Reichweite der klassischen Mathematik in Einklang zu bringen.
Die infinite Mathematik hängt wesentlich vom Satz vom ausgeschlossenen Drit-
ten ab; diesen aufzugeben würde also nicht viel übrig lassen von dem, was in
Einklang gebracht werden könnte. Genauso würde ohne die Annahme, dass man
die Prinzipien der klassischen Mathematik mit einem formalen System einfangen
kann, Hilberts Konsistenzbeweis, insofern er erreicht würde, die Hoffnung auf Ver-
söhnung nicht in sich tragen: Fragen über die Sicherheit von nicht formalisierten
Begriffen und Begründungsprinzipien würden bleiben. Im Gegensatz dazu scheint
Hilberts Überzeugung, dass alle wahren mathematischen Aussagen erkennbar sind,
aufgegeben werden zu können, ohne weder das Problem, das er lösen möchte,
noch seine vorgeschlagene Lösung zu zerstören. Einige mathematische Wahrhei-
ten sind vielleicht nicht beweisbar und dennoch könnte es der Fall sein, dass es
keine wirklichen Aussagen gibt, die auf Basis einer infiniten, aber keiner finiten
Argumentation gerechtfertigt werden können. Zusammengenommen ist das Phäno-
men der Unvollständigkeit selbst keine Bedrohung für das Hilbertsche Programm,
wie es hier beschrieben wurde, es könnte aber in Bezug auf bestimmte andere Posi-
tionen, die Hilbert unabhängig davon vertrat, eine sein: Der Punkt des Hilbertschen

27
Hilbert meinte, dass jede mathematische Wahrheit prinzipiell erkennbar ist; in berühmten Wor-
ten erklärte er: „In der Mathematik gibt es kein Ignorabimus“ (Hilbert 1926, S. 180). Hilbert ließ
sich sogar auf den Grabstein schreiben „Wir müssen wissen. / Wir werden wissen“ (Reid 1970,
S. 220).
150 6 Finitismus

Programmes ist nicht, dass die infinite, formale Mathematik all unsere mathema-
tischen Probleme lösen kann, obwohl Hilbert dies vielleicht geglaubt hat, sondern
vielmehr, dass wenn sie ein Problem löst, dann kann man sich darauf verlassen,
dass diese Lösung richtig ist.
Die Unvollständigkeit weist uns dennoch auf gewisse Grenzen des Hilbertschen
Programmes hin, wenn wir es als Versuch ansehen, die klassische Mathematik und
den Intuitionismus zu versöhnen. Man könnte sich aufgrund der eingeschränkten
Natur des Konservativitätsergebnisses, das wir oben beschrieben haben, so etwas
schon gedacht haben. Wir haben gesehen, dass ein Konsistenzbeweis von I mit
finiten Mitteln ausreichen würde, um (2) zu beweisen, nämlich dass I eine konser-
vative Erweiterung der finiten Mathematik in Bezug auf finite Aussagen ist. Es gibt
jedoch viele Aussagen, die von einem Intuitionisten verstanden werden können, die
aber nicht finit sind (obwohl dies Hilbert und seinen Anhängern nicht sofort klar
war). Zum Beispiel haben wir gesehen, dass keine der Existenzaussagen finit ist;
genauso jede Allaussage 8xP .x/, wenn P .x/ nicht entscheidbar ist. Kann man in-
finiter Argumentation so weit vertrauen, dass sie uns in Bezug auf diese Aussagen
nicht fehlleitet? Wir können uns zur Absicherung nicht wieder auf den informellen
Beweis für (2) beziehen, den wir oben angegeben haben, da er sich auf diese nicht
finiten Aussagen nicht übertragen lässt. Folglich fehlt uns ein Argument dafür, dass
ein finiter Konsistenzbeweis von I zeigen würde, dass I eine konservative Erweite-
rung der intuitionistischen Mathematik in Bezug auf die intuitionistisch sinnvollen
Aussagen ist. Das ist natürlich nicht dasselbe wie ein Argument dafür, dass die Wi-
derspruchsfreiheit dieses Ergebnis zur konservativen Erweiterung nicht zur Folge
hat.
Gödels Entdeckung der Unvollständigkeit gibt uns gerade ein solches Argu-
ment. Angenommen, wir hätten einen finit akzeptablen Konsistenzbeweis von I .
Das Unvollständigkeitsresultat garantiert uns nun, dass GI in I nicht beweisbar ist.
Tatsächlich zeigt Gödels Argumentation explizit, wie eine Herleitung von GI in I
mit Mitteln einer endlichen Berechnung in einen Beweis eines Widerspruchs in I
umgewandelt werden kann. Es folgt, dass wir einen finiten Beweis der Unbeweis-
barkeit von GI in I haben, d. h., wir haben einen finit, also auch intuitionistisch
akzeptablen Beweis der Wahrheit von GI , da GI genau das behauptet, nämlich dass
er in I unbeweisbar ist. Folglich ist :GI intuitionistisch nicht richtig. Betrachten
wir nun das formale System I 0 , was dasselbe wie I ist, nur mit einem zusätzli-
chen Axiom, :GI . Die Widerspruchsfreiheit von I 0 ist genauso finit begründbar.
Denn wenn I 0 inkonsistent wäre, dann könnten wir in I beweisen, dass :GI einen
Widerspruch impliziert, was dann wiederum einen Beweis von GI in I bilden wür-
de (per reductio ad absurdum). Aber wir haben einen finiten Beweis, dass GI in
I nicht herleitbar ist, also ist das unmöglich. Somit haben wir finit nachgewiesen,
dass I 0 widerspruchsfrei ist. Und dennoch enthält I 0 eine gewisse Besonderheit,
da es die Aussage :GI beweist, von der wir gerade gesehen haben, dass sie unter
den momentanen Voraussetzungen intuitionistisch widerlegbar ist! Das Phänomen
der Unvollständigkeit eröffnet somit die Möglichkeit, dass ein formales System mit
finiten Mitteln als widerspruchsfrei bewiesen wird, obwohl man darin eine Aus-
sage herleiten kann, die intuitionistisch falsch ist. Der französische Philosoph und
6 Finitismus 151

Mathematiker Blaise Pascal (1623–1662) lag somit zumindest halb richtig, als er
erklärte: „Ein Widerspruch ist kein Zeichen für Falschheit und das Fehlen eines
Widerspruchs kein Zeichen für Wahrheit.“28
Diese letzte Beobachtung wirft keine Zweifel an unserem früheren Argument
auf, dass die Wahrheit von (2) aus der Existenz eines finiten Konsistenzbeweises
folgt. Um zu sehen warum, müssen wir den Satz GI , den Gödelsatz von I , etwas
genauer betrachten. Erinnern wir uns, dass man sich diese Aussage als die Behaup-
tung vorstellen kann, dass sie selbst in I unbeweisbar ist. Zu behaupten, dass eine
Aussage in einem formalen System unbeweisbar ist, heißt zu behaupten, dass keine
Herleitung in diesem System diese Aussage als letzte Zeile besitzt. Anders gesagt
heißt dies zu behaupten, dass jede Herleitung in diesem System diese Aussage nicht
als letzte Zeile besitzt. Folglich besagt GI in Wirklichkeit, dass alle Herleitungen in
I nicht mit GI enden. In Kap. 7 werden wir genauer untersuchen, wie der Satz GI
gebildet wird, aber für den Moment ist der wichtige Punkt, dass GI eine Allaussage
der Form 8x:P .x/ ist, wobei P .x/ ein sehr komplizierter, offener Satz der forma-
len Sprache ist, der „sagt“, dass x eine Herleitung in I ist, deren letzte Zeile GI ist.
Als Folge ist die Negation des Gödelsatzes nicht finit verständlich: :GI ist zwar in-
tuitionistisch falsch, aber finit sinnlos, und somit steht seine Herleitbarkeit in einem
System, von dem wir annehmen, dass es durch finite Mittel als widerspruchsfrei
nachgewiesen wurde, in keinerlei Konflikt mit unserer Behauptung, dass (2) aus
einem solchen Konsistenzbeweis folgt.
Man kann dennoch nicht leugnen, dass diese spezielle Konsequenz aus der Un-
vollständigkeit in der Tat gewisse Grenzen des Hilbertschen Programmes, in seinem
Versuch, die klassische Mathematik mit dem Intuitionismus zu versöhnen, aufzeigt.
Denn sie stellt klar, dass ein finiter Konsistenzbeweis einen Intuitionisten nicht da-
von überzeugen würde, den infiniten Argumenten in Bezug auf alle intuitionistisch
sinnvollen Schlussfolgerungen zu vertrauen. Insbesondere kann aus der Herleitung
einer unbeschränkten Existenzaussage in einem formalen System, das finit als wi-
derspruchsfrei nachgewiesen wurde, nicht gefolgert werden, dass diese Aussage
intuitionistisch korrekt ist. Ein finiter Konsistenzbeweis kann höchstens, und das ist
nicht irrelevant, garantieren, dass jede Begründung aus der klassischen Mathematik
für eine Aussage, die aus finiter Sicht sinnvoll ist, ein nicht notwendiger, wenn auch
vielleicht vereinfachender Umweg durch das Unendliche ist.
Aber nicht einmal das sollte sein. Denn kurz nachdem Gödel seinen Ersten Un-
vollständigkeitssatz bewies, realisierte er, dass dieser eine bemerkenswerte Konse-
quenz hat, die es unwahrscheinlich macht, dass solch ein Konsistenzbeweis jemals
gefunden werden könnte. In seinem zukunftsträchtigen Artikel stellte Gödel fest,
wenn ein ausreichend starkes, formales System S widerspruchsfrei ist, dann kann
es seinen Gödelsatz nicht beweisen. Aber der Gödelsatz von S besagt, dass er in
S nicht beweisbar ist. Also hat die Konsistenz von S zur Folge, dass GS wahr
ist. Was Gödel bemerkte, ist, dass dieses Argument selbst in S formalisiert wer-
den kann, d. h., man kann in S eine Folgerungsaussage herleiten, deren Vorderglied
ausdrückt, dass S konsistent ist, und deren Hinterglied einfach die Aussage GS ist.

28
Auden und Kronenberger (1962).
152 6 Finitismus

Es folgt, wenn S seine eigene Konsistenz beweisen kann, dann kann man in S, per
modus ponens, GS herleiten. Aber der Erste Unvollständigkeitssatz sagt uns, wenn
man in S den Satz GS herleiten kann, dann ist S inkonsistent. Also gilt, wenn S
konsistent ist, dann kann S seine eigene Widerspruchsfreiheit nicht beweisen:

Zweiter Unvollständigkeitssatz Für jedes ausreichend starke, formale System S


gilt: Wenn S konsistent ist, dann kann S die eigene Widerspruchsfreiheit nicht be-
weisen.

In Kap. 7 werden wir auf den Inhalt dieses Satzes und seinen Beweis genauer ein-
gehen. Hier sind wir aber an den Konsequenzen, die der Satz für das Hilbertsche
Programm hat, interessiert.
Diese sind erheblich. Zuerst einmal macht dieser Satz es sehr unwahrscheinlich,
dass ein finiter Konsistenzbeweis von I jemals gefunden wird. Dies war offensicht-
lich eine extrem schlechte Nachricht für Hilbert, dessen gesamtes Programm darin
bestand, einen solchen Beweis zu finden. Diese Einschätzung beruht auf der folgen-
den Annahme:
(1*) Wenn Q eine wirkliche Aussage ist, dann gilt: Wenn Q finit begründbar ist,
dann I ` Q.
Dies unterscheidet sich von (1) oben insofern, als (1) eine Behauptung nur über
quantorenfreie, wirkliche Aussagen macht. Hilberts Argumentation für die Schluss-
folgerung (2) benötigt nur die Annahme (1). Aber die zusätzliche Behauptung, die
(1*) macht, dass finites Argumentieren für eine allgemeine Schlussfolgerung ge-
nauso von einer Formalisierung der klassischen Mathematik eingefangen wird, ist
enorm plausibel. Wenn dies nicht gelten würde, dann wäre es tatsächlich höchst
zweifelhaft, dass die finite Mathematik einen fundamentalen Standpunkt einneh-
men kann, der sowohl von den klassischen als auch von den intuitionistischen Ma-
thematikern akzeptiert würde. Wenn diese zusätzliche Behauptung aber gilt, dann
würde ein finiter Konsistenzbeweis von I durch eine formale Herleitung in I ei-
nes Satzes, der die Widerspruchsfreiheit von I behauptet, wiederholt werden. Aber
der Zweite Unvollständigkeitssatz besagt, dass dies nicht passieren kann, wenn I
widerspruchsfrei ist. Der Satz sorgt daher dafür, dass man sich, wenn I wider-
spruchsfrei ist, entscheiden muss: Entweder ist nicht alles finite Argumentieren in I
formalisierbar, oder es gibt keinen finiten Konsistenzbeweis von I . Ersteres ist sehr
unwahrscheinlich, während Zweiteres die Nichtdurchführbarkeit des Hilbertschen
Programmes artikuliert.
Für dieses Problem werden wir keine endgültige Lösung finden, weil, wie bereits
bemerkt, Hilbert in Bezug auf die Reichweite und die Mittel des finiten Argu-
mentierens nicht ganz explizit gewesen ist. Dennoch ist es eine Herausforderung
zu erklären, warum ein formales System, das einen ausreichend großen Teil der
klassischen Mathematik systematisiert, es nicht schaffen kann, eine Argumentation
einzufangen, die aus finiter Sicht gerechtfertigt ist. Und auch, wie gerade bemerkt,
wenn irgendeine finite Argumentation in I nicht formalisierbar sein sollte, würden
Zweifel bleiben, ob das Hilbertsche Programm die Art der grundlegenden Versöh-
6 Finitismus 153

nungsarbeit leisten könnte, die man sich davon vielleicht erhofft hatte. Folglich wird
häufig, und berechtigterweise gesagt, dass Gödels Zweiter Unvollständigkeitssatz
ein Grabtuch über das Hilbertsche Programm warf, was sehr wahrscheinlich nie
wieder aufgedeckt wird.
Es könnte lehrreich sein, sich die Anwendung der Gödelschen Unvollständig-
keitssätze auf das formale System PA anzusehen. Vor einem Augenblick haben
wir bemerkt, dass es fraglich ist, ob irgendeine finite Argumentation nicht in I
ausgedrückt werden kann, und dasselbe könnte man auch von PA sagen. Etwas
können wir mit PA jedoch eindeutig nicht einfangen: Insbesondere können wir
ein Argument finden mit der Schlussfolgerung, dass GPA , der Gödelsatz von PA,
wahr ist, aber ein Teil dieser Argumentation kann offensichtlich in PA selbst nicht
ausgedrückt werden. Es scheint sonderbar, dass wir für die Wahrheit von GPA argu-
mentieren können – eine Allaussage, die als Aussage über die natürlichen Zahlen
interpretiert werden kann –, während PA, dessen Aufgabe es ist, unser Wissen über
die natürlichen Zahlen zu formalisieren, dies nicht kann. Unser Argument ist ein-
fach, dass man sich GPA , gesehen als die Codierung syntaktischer Aussagen aus der
Zahlentheorie, als die Behauptung vorstellen kann, die ausdrückt, dass der Satz GPA
selbst in PA unbeweisbar ist. Und diese Behauptung muss wahr sein, sonst würde
man in PA eine falsche Aussage beweisen können. Dieses Argument für die Wahr-
heit von GPA hängt damit wesentlich von der Annahme ab, dass PA ein korrektes,
formales System ist, d. h., aus Herleitbarkeit in PA folgt Wahrheit in der intendier-
ten Interpretation. Wenn wir schließen können, dass GPA wahr ist und PA diesen
Satz aber nicht beweisen kann, muss das daran liegen, dass wir in der Lage sind,
die Korrektheit von PA irgendwie feststellen zu können, während PA dies selbst
nicht feststellen kann.29
Und wie erkennen wir, dass PA korrekt ist? Für einen klassischen Mathemati-
ker ist die natürliche Antwort darauf, dass wir fähig sind, das intendierte Modell,
N, für die Sprache von PA zu begreifen. Der Bereich von N, das Universum, über
das wir sprechen, ist die absolute Menge der natürlichen Zahlen, und das Modell
interpretiert die Sprache von PA so, dass alle PA-Axiome wahre Aussagen über die
Elemente dieses Bereiches und alle Schlussregeln von PA in diesem Sinne wahr-
heitserhaltend sind. Es folgt mit Induktion, dass jeder Satz von PA eine wahre
Aussage über die Menge der natürlichen Zahlen ist.30 Wir werden in Kap. 7 mehr

29
Wenn die Mechanisten richtig liegen und, sagen wir, das formale System PA ein Modell unseres
Geistes ist, dann können wir, unter der Annahme, dass wir konsistent sind, nicht schließen, dass
GPA wahr ist. Wir könnten zwar noch schließen, wenn PA konsistent ist, dann ist GPA wahr, denn
diese Folgerungsaussage liegt in der Reichweite von PA selbst. Die Widerspruchsfreiheit von PA
scheint häufig so unmittelbar mitgedacht zu werden, dass wir uns kaum über die Notwendigkeit
dieser Voraussetzung bewusst sind, wenn wir die Wahrheit von GPA ermitteln. Für weitere Dis-
kussion, siehe George und Velleman (2000). Um der weiteren Diskussion willen werden wir im
Weiteren jedoch voraussetzen, dass wir die Wahrheit von GPA verstehen können. Unsere Frage ist
nun, was wir aus dieser Tatsache machen sollen.
30
Der Leser mag sich nach wie vor fragen, warum das oben gegebene, informelle, induktive Argu-
ment für die Korrektheit von PA in PA nicht formalisiert werden kann. Wenn wir in Kap. 7 zu Satz
7.20 kommen, wird klar werden, warum genau dieses Argument in PA nicht ausgedrückt werden
kann.
154 6 Finitismus

darüber sagen, was ein Modell ist. Für jetzt sollten wir uns merken, dass für einen
solchen klassischen Mathematiker unsere Überzeugung, dass GPA wahr ist, letzt-
endlich auf unserem Begreifen des intendierten Modells von PA beruht.
Wenn wir die Sache so betrachten, dann zeigt uns die Unbeweisbarkeit von
GPA in PA, dass unser Verständnis des intendierten Modells nicht vollständig von
dem formalen System PA erfasst wird: Die Mittel von PA reichen nicht aus, um
den Gödelsatz dieses Systems zu beweisen, obwohl wir mit unserem Verständnis
des intendierten Modells fähig sind zu sehen, dass er wahr ist. Unser Begriff von
arithmetischer Wahrheit kann mit dem Begriff der Beweisbarkeit in PA nicht gleich-
gesetzt werden.
Aber die Einschränkung scheint keine spezielle Eigenschaft von PA zu sein. Se-
hen wir, was passiert, wenn wir versuchen die Situation zu retten, indem wir PA
erweitern und den bisher unbeweisbaren Gödelsatz als ein Axiom hinzufügen, d. h.,
wenn wir das formale System PAC D PA C GPA betrachten. Das System PAC ist
offensichtlich fähig, den Gödelsatz von PA zu beweisen, also könnte man denken,
dass es nun alles erfasst, was es über unser Verständnis der natürlichen Zahlen zu
erfassen gibt. Da PAC jedoch ein ausreichend starkes, formales System ist, trifft
der Erste Unvollständigkeitssatz darauf genauso zu: Angenommen, es ist konsis-
tent, dann kann es seinen Gödelsatz nicht beweisen, den Satz, der behauptet, dass
er in PAC unbeweisbar ist, während wir auch von diesem Satz erkennen können,
dass er wahr ist. Es ist klar, dass, obwohl wir diesen Prozess des Erweiterns ad
infinitum fortführen können, Gödels Unvollständigkeitssatz zeigt, dass das nichts
bringt: Jedes so erhaltene, formale System wird unvollständig sein, weil es immer
eine Aussage nicht beweisen kann, eine Aussage (der Gödelsatz des Systems), von
der wir durch unser Verständnis des intendierten Modells, N, wissen, dass sie wahr
ist. Worauf dies einfach hinweist, ist, dass unser Verständnis des intendierten Mo-
dells für immer einer expliziten Artikulation entgehen wird. Wir können versuchen,
wie wir wollen, in einem formalen System das Modell zu beschreiben, das wir an-
scheinend schaffen zu begreifen, wir werden es nicht können: Es scheint sich jedem
Beschreibungsversuch zu entziehen. Wir besitzen, so scheint es, eine mentale Kon-
zeption, die nicht explizit, linguistisch beschrieben werden kann.
Dass dies im Rahmen der Möglichkeiten liegt, war ein Punkt, auf den Brouwer
immer wieder insistierte: Mathematische Aktivität ist mental und, so behaupte-
te er, die Sprache ist notwendigerweise inadäquat, um solche mentalen Vorgän-
ge vollständig mitzuteilen. Aber es gibt hier immer noch etwas, was Brouwer in
Schwierigkeiten bringen würde, und überhaupt jeden Intuitionisten. Der Idealis-
mus behauptet, dass es keine Lücke zwischen der Realität und unseren berechtigten
Überzeugungen darüber gibt. Für die Intuitionisten, die Idealisten der Mathematik,
gibt es keinen erfassbaren Unterschied zwischen dem, was mathematisch wahr ist,
und dem, was wir als wahr beweisen können. Und es gibt keine von der Begründung
unabhängige Welt mathematischer Tatsachen, hinsichtlich derer unsere Überzeu-
gungen wahr oder falsch sind. Für die Intuitionisten ist die Wahrheit nicht vom
Beweis getrennt, und dennoch ist es genau diese Trennung, die von der obigen Si-
tuation angedeutet wird. Kein mathematisches Beweissystem ist fähig, alle arithme-
tischen Wahrheiten zu erfassen, geschweige denn alle mathematischen Wahrheiten.
6 Finitismus 155

Folglich muss die Wahrheit über den Beweis hinausgehen: Es muss eine mathe-
matische Wirklichkeit geben, in diesem Fall die Menge der natürlichen Zahlen, die
wir verstehen, wenn wir das intendierte Modell verstehen, die von Beweissystemen
mit immer größer Genauigkeit, aber nie vollständig beschrieben werden kann. Es
scheint nicht nur der Fall zu sein, dass Gödels Arbeit den vielversprechendsten Ver-
such, die klassische mit der intuitionistischen Mathematik zu versöhnen, zerstört,
sondern außerdem, dass sie auch stark für ein realistisches Bild der Mathematik
spricht.
Von einer realistischen Perspektive aus erscheint die Sache sehr natürlich zu
sein. Dass sich eine solche Sicht auf den Gödelschen Unvollständigkeitssatz aller-
dings nicht aufzwingt, kann verdeutlicht werden, indem wir betrachten, was anfangs
vielleicht überraschend erscheint: Dass die Intuitionisten in gleicher Weise die Wi-
derspruchsfreiheit von PA und also auch die Wahrheit des Gödelsatzes behaupten
werden. Wie kann das sein? Ein intuitionistischer Konsistenzbeweis von PA hat
zwei Teile: Zuerst muss gezeigt werden, wenn in PA ein Widerspruch beweisbar ist,
dann ist in HA (einer Formalisierung der intuitionistischen Mathematik) ein Wider-
spruch beweisbar, und zweitens, dass HA widerspruchsfrei ist. Wir wissen bereits,
wie die erste Hälfte dieses Beweises aussehen würde: Denn in Kap. 5 haben wir
als Ergebnis von Gödels Arbeit von 1933 gesehen, dass jeder Satz, der weder Dis-
junktionen noch Existenzquantoren enthält und der in PA beweisbar ist, auch in HA
beweisbar ist. Der Intuitionist wird schließen, wenn HA widerspruchsfrei ist, dann
ist es PA auch.
Dies allein garantiert dem Intuitionisten noch nicht, dass PA widerspruchsfrei
ist. Für diese Schlussfolgerung muss der Intuitionist überzeugt sein, dass in HA,
einem bestimmten, formalen System, niemals ein Widerspruch bewiesen wird. Der
Intuitionist könnte dafür folgenden, informellen Beweis anbieten. Jedes Axiom von
HA ist aus intuitionistischer Sicht wahr: Das heißt, dass jedes Axiom eine Behaup-
tung macht, die durch die intuitionistische Konstruktion der natürlichen Zahlen
begründet werden kann. Genauso wird von jeder Schlussregel in HA intuitionis-
tische Wahrheit, oder korrekte Behauptbarkeit erhalten. Mit Induktion folgt dann,
dass jeder Satz von HA eine gerechtfertigte Behauptung über die natürlichen Zah-
len macht, d. h., wahr ist. Dieser Beweis besitzt offensichtlich eine schematische
Ähnlichkeit zu dem Beweis des klassischen Mathematikers für die Widerspruchs-
freiheit von PA. Aber während der klassische Mathematiker von einem Begriff der
Wahrheit in einem Modell, mit einer absoluten, unendlichen Menge als Universum
spricht, ist in der intuitionistischen Konzeption eine wahren Aussage vielmehr eine
Behauptung, die mit Bezug auf die Konzeption der natürlichen Zahlen als potenti-
elle, unendliche Menge begründet werden kann.
Wenn wir diese zwei Hälften zusammenfügen, erhalten wir einen Beweis für
die Konsistenz von PA von einem intuitionistischen Standpunkt aus, einem Stand-
punkt, in dem zwischen Wahrheit und Beweisbarkeit kein Unterschied gemacht
wird. Folglich kann das Erkennen davon, dass PA widerspruchsfrei ist, selbst noch
kein Zeichen für eine Berechtigung der klassischen Mathematik über der intuitio-
nistischen sein: Jede Perspektive kann auf ihre eigene Weise zu diesem Schluss
gelangen.
156 6 Finitismus

Wenn PA widerspruchsfrei ist, wissen wir mit dem Zweiten Unvollständigkeits-


satz, dass es seine eigene Widerspruchsfreiheit nicht beweisen kann. Folglich kann
in PA, unter der Annahme, dass PA widerspruchsfrei ist, etwas in der intuitionisti-
schen Argumentation nicht wiedergegeben werden. Ein Intuitionist würde natürlich
behaupten, dass der intuitionistische Beweisbegriff von PA nicht erfasst wird: Für
den Intuitionisten ist es beweisbar, dass PA widerspruchsfrei ist, während dies in
PA nicht beweisbar ist. Der Begriff der intuitionistischen Beweisbarkeit geht über
Beweisbarkeit in PA hinaus.
Natürlich können die Mittel von PA, wie vorher auch, so erweitert werden, dass
sie die intuitionistisch beweisbare, aber vorher formal nicht herleitbare Aussage
enthalten, dass PA widerspruchsfrei ist. Aber diese Erweiterung ergibt ein neues,
formales System, in dem eine andere intuitionistisch beweisbare Aussage nicht be-
weisbar sein wird. Außerdem sagen uns die Unvollständigkeitssätze, dass dieser
Prozess des Erweiterns und Verstärkens eines formalen Systems ein nicht enden-
der Prozess ist. All das zeigt, würden die Intuitionisten sagen, dass der informelle
Beweisbegriff, mit dem sie arbeiten und durch den sie mathematische Aussagen ver-
stehen, über den Herleitbarkeitsbegriff jeden formalen Systems hinausgeht: Sobald
wir denken, dass wir ein formales System gefunden haben, dessen Beweisbegriff
den intuitionistischen Beweisbegriff umfasst, können wir einen intuitionistisch kor-
rekten Beweis liefern, der in diesem formalen System nicht enthalten ist.
Aber ähnelt dies nicht extrem unserem Vorschlag dessen, was klassische Ma-
thematiker aus Gödels Arbeit schlussfolgern? Haben wir nicht gesagt, dass für
sie Wahrheit über Beweisbarkeit in jedem formalen System hinausgeht? Ja, aber
der wesentliche Unterschied liegt darin, was die Intuitionisten und die klassischen
Mathematiker aus dieser gemeinsamen Schlussfolgerung machen. Zum Vergleich
erinnern wir uns, dass die klassischen Mathematiker und die Intuitionisten sich
darin einig sind, dass keine Aufzählregel für die reellen Zahlen alle reelle Zahlen
aufzählen kann. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass die Intuitio-
nisten damit zufrieden sind, nur das zu behaupten, und zwar dass für eine beliebige
Aufzählregel für die reellen Zahlen immer eine reelle Zahl konstruiert werden kann,
die in dieser Aufzählung nicht enthalten ist. Dahingegen glaubt der klassische Ma-
thematiker, dass dieser unendliche Prozess der Erweiterung in gewissem Sinne
fähig ist, abgeschlossen zu werden, und eine tatsächliche Menge ergibt, die alle
reellen Zahlen enthält. Analog behauptet der Intuitionist lediglich, wenn ein ge-
gebenes korrektes, formales System für das Beweisen von Aussagen gegeben ist,
dann kann man eine Aussage konstruieren, die, zwar beweisbar, aber kein Satz
dieses Systems ist. Der klassische Mathematiker behandelt diesen Prozess der Er-
weiterung hingegen so, dass er mit dem Ergebnis, eine Menge zu bestimmen, die
jede einzelne gerechtfertigte Behauptung enthält, abgeschlossen werden kann. Für
den Intuitionisten ist der Begriff einer korrekten oder gerechtfertigten Behauptung
wie die Begriffe der Menge, der natürlichen Zahlen oder der reellen Zahlen un-
bestimmt erweiterbar: Gödels Sätze zeigen, dass jede formale Beschreibung des
Begriffs der mathematischen Begründung die Grundlage für die Angabe einer ge-
rechtfertigten Behauptung bildet, die vorher noch nicht als solche erkannt wurde.
Für den klassischen Mathematiker gibt es hingegen eine bestimmte Menge, die
Übungen 157

sich ergibt „nachdem“ der nicht endende Prozess abgeschlossen wurde. Das Insis-
tieren des klassischen Mathematikers, dass es eine absolute Menge der korrekten
Behauptungen gibt, die sich von der Menge der beweisbaren Behauptungen je-
des formalen Systems unterscheidet, ist ohne Zweifel Teil seiner Ansicht, dass es
einen Unterschied zwischen Wahrheit und Beweisbarkeit gibt. Ein Intuitionist wird
darauf bestehen, dass es solch ein Objekt als „Grenzwert“ des Prozesses der Er-
weiterung von Beschreibungen davon, was eine korrekte, mathematische Aussage
ist, nicht gibt: Da es ein unendlicher Prozess ist, kann er nicht abgeschlossen wer-
den. Alles was es gibt, sind die tatsächlichen Beschreibungen unseres Begriffes
der Richtigkeit, der legitimierten Beweisbarkeit, von denen jede zu einer umfassen-
deren erweitert werden kann. Aus intuitionistischer Sicht ist der Wahrheitsbegriff
des klassischen Mathematikers eng mit einer nicht verständlichen Extrapolation des
nicht endenden Prozesses unserer Konzeption einer gerechtfertigten Behauptung
verknüpft.31
Zusammengefasst scheinen die Gödelschen Unvollständigkeitssätze es zwar sehr
unwahrscheinlich zu machen, dass so etwas wie Hilberts großes Programm der
Versöhnung erreicht werden kann, dennoch wird dadurch keine der beiden funda-
mentalen, philosophischen Sichtweisen in der Mathematik, die Hilbert versuchte zu
harmonisieren, begünstigt. Die zwei Perspektiven, nach wie vor unversöhnt, können
beide Gödels Ergebnis verstehen und übernehmen, jede auf ihre eigene, besondere
und selbst stärkende Art und Weise.

Übungen

6.1 In unserer informellen Besprechung der Gödelschen Unvollständigkeitssätze


in diesem Kapitel haben wir ein korrektes, formales System S betrachtet und einen
Satz GS , von dem man sich vorstellen kann, dass er „Ich bin in S unbeweisbar“
sagt. Betrachten wir stattdessen einen Satz RS , der sagt, „Ich bin in S widerlegbar“,
wobei ein Satz P widerlegbar heißt, falls :P beweisbar ist.32
(a) Ist RS in S beweisbar? (Mit anderen Worten, ist RS in S widerlegbar?)
(b) Ist RS wahr oder falsch?
(c) Ist RS in S beweisbar?

6.2 Eine bestimmte Insel wird von Rittern, die immer die Wahrheit sagen, und
Knappen, die immer lügen, bewohnt. Außerdem haben manche der Ritter von sich
selbst nachgewiesen, dass sie Ritter sind, diese heißen geprüfte Ritter, und genauso
sind manche der Knappen geprüfte Knappen.33 (Man könnte die drei Aufgaben

31
Eine bedeutende und daran anschließende Diskussion findet sich in The philosophical signifi-
cance of Gödel’s Theorem, in Dummett (1978).
32
Diese Aufgabe basiert auf einer Idee von Smullyan (1982, S. 187f).
33
Diese Aufgabe basiert auf einer Idee von Smullyan (1978, S. 225f).
158 6 Finitismus

unten mit den Sätzen GS und RS vergleichen, die oben behandelt wurden, oder
auch Übung 7.15 von Kap. 7.)
(a) Ein Einwohner der Insel sagt: „Ich bin kein geprüfter Ritter.“ Kann man sagen,
ob er ein Ritter oder ein Knappe ist, und ob er geprüft ist oder nicht?
(b) Ein Einwohner der Insel sagt: „Ich bin ein geprüfter Knappe.“ Kann man sagen,
ob er ein Ritter oder ein Knappe ist, und ob er geprüft ist oder nicht?
(c) Ein Einwohner der Insel sagt: „Ich bin ein geprüfter Ritter.“ Kann man sagen,
ob er ein Ritter oder ein Knappe ist, und ob er geprüft ist oder nicht?

6.3 Sagen wir, dass ein deutscher Ausdruck, der eine bestimmte, natürliche Zahl
beschreibt, ein Name dieser natürlichen Zahl ist. Zum Beispiel ist der Ausdruck
„die einzige, gerade Primzahl“ ein Name der Zahl Zwei.34
(a) Zeige, dass es nur endlich viele Zahlen gibt, die zwölf Wörter lange Namen
besitzen, und verwende dies, um nachzuweisen, dass es eine kleinste Zahl gibt,
die keinen solchen Namen besitzt.
(b) Mit Teil (a) ist der Ausdruck „die kleinste, natürliche Zahl, die keinen zwölf
Wörter langen Namen besitzt“ ein Name einer natürlichen Zahl. Was stimmt
daran nicht?
(c) Wie Teil (b) zeigt, führen einige Ausdrücke, die anscheinend Namen natürli-
cher Zahlen sind, zu Paradoxien. Angenommen, dass wir ein Verfahren haben,
um zu überprüfen, ob ein gegebener Ausdruck ein nicht-widersprüchlicher Na-
me einer natürlichen Zahl ist. Wir sagen, dass Namen, die mit diesem Verfahren
geprüft wurden, „geprüfte Namen“ sind. Ist der Ausdruck „die kleinste, natür-
liche Zahl, die keinen 13 Wörter langen, geprüften Namen besitzt“ ein Name?
Ist er geprüft?

34
Diese Übung basiert auf einem Paradox, das Bertrand Russell von G. G. Berry mitgeteilt wurde,
von der Bodleian Bibliothek an der Oxford-Universität. Man könnte diese Übung mit Übung 7.23
aus Kap. 7 vergleichen.
Kapitel 7
Die Unvollständigkeitssätze

Die Unvollständigkeitssätze gelten für eine ganze Bandbreite an formalen Syste-


men, aber um die Darstellung zu erleichtern, werden wir uns für den Großteil des
Kapitels auf ein bestimmtes formales System konzentrieren. Das formale System,
welches wir betrachten, ist eine Version der Peano-Axiome und wird häufig als
Peano-Arithmetik bezeichnet, oder kurz auch als PA. In Kap. 2 und 3 haben wir
bereits gesehen, dass die Peano-Axiome für die Grundlagen der Mathematik eine
zentrale Rolle spielen, und wir werden in diesem Kapitel erfahren, dass bestimmte
Eigenschaften von PA in den Beweisen der Unvollständigkeitssätze ebenfalls ei-
ne zentrale Rolle spielen. Die Sprache von PA enthält zusätzlich zu den üblichen
Zeichen der Logik („^“, „_“, „:“, „!“, „$“, „8“, „9“, „.“, „/“ und „D“) das
Zeichen „0“ (null), „S“ (für die Nachfolgeroperation), „<“, „C“ und „“ und Va-
riablen „x1 “, „x2 “, „x3 “, . . . (die für natürliche Zahlen stehen). Die Axiome von
PA sind die üblichen Axiome für die Logik erster Stufe zusammen mit Sätzen die-
ser Sprache, die die Peano-Axiome ausdrücken, und Sätzen, die besagen, dass die
Zeichen „<“, „C“ und „“ die üblichen Definitionen der Kleiner-Relation und der
Additions- sowie Multiplikationsoperation erfüllen.
Die Details im Aufbau formaler Systeme werden in diesem Kapitel wichtiger
sein als in den vorigen Kapiteln, es lohnt sich daher auf die Funktionsweise von
PA näher einzugehen. Wir beginnen mit der Definition von den zwei Arten wohlge-
formter Ausdrücke der Sprache von PA: Terme und Formeln.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 159
A. George, D.J. Velleman, Zur Philosophie der Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56237-6_7
160 7 Die Unvollständigkeitssätze

Definition 7.1 Die Terme der Sprache von PA sind die durch die folgenden Klau-
seln erzeugten Ausdrücke:
(i) „0“ ist ein Term.
(ii) Jede Variable ist ein Term.
(iii) Wenn t und u Terme sind, dann sind auch die Ausdrücke St, .t Cu/ und .t  u/
Terme.1
(iv) Nichts sonst ist ein Term.

Mit Klausel (i) der Definition 7.1 ist zum Beispiel „0“ ein Term. Mit Klausel (iii)
ist deswegen auch „S0“ ein Term. Aus Klausel (ii) geht hervor, dass „x3 “ und „x12 “
Terme sind, mit Klausel (iii) also auch „.x3 C S0/“ und „.x12  .x3 C S0//“. Es ist
zu beachten, dass die Klammern in diesem Beispiel nach Definition 7.1 notwendig
sind. „x12  x3 C S0“ ist zum Beispiel kein Term. Intuitiv sind Terme Ausdrücke,
die bestimmte natürliche Zahlen bezeichnen, wenn den Variablen in ihnen Werte
zugeordnet werden, und die Klammerregeln stellen sicher, dass die Bedeutung von
Termen eindeutig ist. Es ist jedoch wichtig zu bemerken, dass Definition 7.1 keinen
Bezug zur Bedeutung der Zeichen herstellt; ob ein Ausdruck ein Term ist oder nicht,
wird vollständig dadurch bestimmt, wie die Zeichen angeordnet sind, und nicht da-
von, was die Zeichen bedeuten. Dies ist tatsächlich für viele unserer Definitionen in
diesem Kapitel der Fall, und es ist ein wesentlicher Teil davon, dass wir sagen, PA
ist ein formales System. Obwohl es oft hilfreich ist, sich die Ausdrücke der Spra-
che von PA als sinnvolle Ausdrücke vorzustellen, werden alle Eigenschaften von
PA, die wir in den Beweisen der Unvollständigkeitssätze benutzen, über syntakti-
sche Eigenschaften der Anordnung der Zeichen definiert, ohne Bezug zu jeglicher
Bedeutung, die diesen Zeichen zugewiesen werden könnte.
Die Terme „0“, „S0“, „SS0“, „SSS0“, . . . werden in unserer Erläuterung der
Unvollständigkeitssätze besonders wichtig sein. Da „S“ für die Nachfolgeropera-
tion stehen soll, können wir uns diese Terme natürlich so vorstellen, dass sie die
natürlichen Zahlen 0; 1; 2; 3; : : : bezeichnen. Im Allgemeinen gibt es zu jeder na-
türlichen Zahl n einen Term, der n bezeichnet und der aus n mal dem Zeichen „S“,
gefolgt von dem Zeichen „0“, besteht. Wir schreiben als Abkürzung für diesen Term
S n 0 und nennen ihn Zahlzeichen von n.2

1
Es gibt hier eine kleine Unsauberkeit in der Notation. Die Buchstaben „t “ und „u“ sind selbst
keine Zeichen der Sprache von PA, sondern vielmehr Buchstaben, die wir (in unserer Metasprache)
verwenden, um Ausdrücke der Sprache PA zu bezeichnen. Wenn wir zum Beispiel „der Ausdruck
.t C u/“ sagen, dann meinen wir nicht den Ausdruck, der aus den fünf Zeichen „.“, „t “, „C“,
„u“ und „/“ besteht, sondern wir meinen das Ergebnis, das wir erhalten, wenn wir das Zeichen
„C“ zwischen die Ausdrücke, die wir mit „t “ und „u“ bezeichnen, setzen und dann Klammer
außen herum schreiben. Der so erhaltene Ausdruck kann mehr als fünf Zeichen enthalten, und
sein zweites Zeichen ist nicht der Buchstabe „t “, sondern das erste Zeichen des Ausdrucks, den
„t “ bezeichnet.
2
Es ist wichtig zu beachten, dass wir mit Einführung dieser Schreibweise nicht die Definition der
Sprache von PA ändern. Zum Beispiel ist der Ausdruck S 4 0 kein Term der Sprache von PA. Es
ist eine Abkürzung in unserer Metasprache, die den Ausdruck SSSS0 bezeichnet, und nur dieser
letzte Ausdruck ist tatsächlich ein Term der Sprache von PA.
7 Die Unvollständigkeitssätze 161

Formeln sind intuitiv Ausdrücke, die Aussagen über natürliche Zahlen machen.
Genau wie die Termdefinition erfordert auch die Formeldefinition die Verwendung
von Klammern, um Mehrdeutigkeit in ihrem Aufbau zu vermeiden, und die Defini-
tion nimmt wieder keinen Bezug auf mögliche Bedeutungen der Zeichen.

Definition 7.2 Die Formeln der Sprache von PA sind die durch die folgenden Klau-
seln erzeugten Ausdrücke:
(i) Wenn t und u Terme sind, dann sind .t D u/ und .t < u/ Formeln. Diese Art
Formeln heißen atomare Formeln.
(ii) Wenn P und Q Formeln sind, dann sind auch :P , .P ^ Q/, .P _ Q/, .P !
Q/ und .P $ Q/ Formeln.
(iii) Wenn P eine Formel ist, dann sind für jede Variable xi die Ausdrücke 8xi P
und 9xi P auch Formeln.
(iv) Nichts sonst ist eine Formel.

Mit Klausel (i) sind beispielsweise „.x1 D x2 /“ und „..x1 C x3 / D .x2 C x3 //“
Formeln. Daher sind mit Klauseln (ii) und (iii) auch „...x1 C x3 / D .x2 C x3 // !
.x1 D x2 //“ und „8x1 8x2 8x3 ...x1 C x3 / D .x2 C x3 // ! .x1 D x2 //“ Formeln.
Natürlich drückt diese letzte Formel die Kürzungsregel der Addition aus.
Die Unterscheidung zwischen freiem und gebundenem Auftreten von Variablen
in Formeln kann wie folgt ebenso ohne Bezug auf die Bedeutung von Zeichen defi-
niert werden:

Definition 7.3 In atomaren Formeln ist jedes Auftreten von Variablen frei. Wenn
Formeln über logische Bindungszeichen verbunden werden, bleibt das freie bezie-
hungsweise gebundene Auftreten der Variablen unverändert. In Formeln der Form
8xi P oder 9xi P bleibt das freie beziehungsweise gebundene Auftreten der Varia-
blen ebenfalls unverändert, mit der Ausnahme, dass jedes Auftreten der Variablen
xi gebunden ist. Eine Formel, in der jedes Auftreten aller Variablen gebunden ist,
heißt Satz.

Wenn P eine Formel ist, in der die einzigen auftretenden, freien Variablen
x1 ; x2 ; : : : ; xn sind, dann schreiben wir teilweise P .x1 ; x2 ; : : : ; xn /, um diese
Tatsache zu betonen. Wenn t1 ; t2 ; : : : ; tn Terme sind, dann ist P .t1 ; t2 ; : : : ; tn /
diejenige Formel, die wir erhalten, wenn wir jedes freie Auftreten von x1 mit t1
ersetzen, jedes freie Auftreten von x2 mit t2 und so weiter. Uns interessieren vor
allem Substitutionen, in denen die Terme Zahlzeichen sind. Sei beispielsweise
P .x1 ; x2 / die Formel „9x3 ..x1 C x3 / D x2 /“, die besagt, dass eine natürliche
Zahl zu x1 addiert werden kann, um x2 zu erhalten. Dann ist P .S 2 0; S 3 0/ der Satz
„9x3 ..SS0 C x3 / D SSS0/“, der die wahre Aussage macht, dass zu 2 eine Zahl
addiert werden kann, um 3 zu erhalten.
Nun können wir die Axiome von PA auflisten.
162 7 Die Unvollständigkeitssätze

Definition 7.4 Die folgenden Sätze sind die nichtlogischen Axiome von PA. (Axio-
me (i), (ii) und (viii) entsprechen den Peano-Axiomen wie sie in Kap. 2 definiert
wurden, und die Axiome (iii) bis (vii) besagen, dass die Zeichen „C“, „“ und „<“
die entsprechenden Definitionen erfüllen.)
(i) 8x1 :.Sx1 D 0/.
(ii) 8x1 8x2 ..Sx1 D Sx2 / ! .x1 D x2 //.
(iii) 8x1 ..x1 C 0/ D x1 /.
(iv) 8x1 8x2 ..x1 C Sx2 / D S.x1 C x2 //.
(v) 8x1 ..x1  0/ D 0/.
(vi) 8x1 8x2 ..x1  Sx2 / D ..x1  x2 / C x1 //.
(vii) 8x1 8x2 ..x1 < x2 / $ 9x3 ..x1 C Sx3 / D x2 //.
Für jede Formel P .x1 ; x2 ; : : : ; xn / ist außerdem der folgende Satz ein nichtlogi-
sches Axiom von PA:
(viii) 8x2 8x3 : : :8xn ..P .0; x2 ; : : : ; xn / ^ 8x1 .P .x1 ; x2 ; : : : ; xn / !
P .Sx1 ; x2 ; : : : ; xn /// ! 8x1 P .x1 ; x2 ; : : : ; xn /.

Es ist zu beachten, dass Axiom (viii), welches das Prinzip der vollständigen
Induktion ausdrückt, ein Axiomenschema ist; mit anderen Worten besteht es ei-
gentlich aus unendlich vielen Axiomen, eines für jede Formel P .x1 ; x2 ; : : : ; xn /.
Zusätzlich zu diesen nichtlogischen Axiomen enthält das formale System PA
auch logische Axiome und Schlussregeln für die Logik erster Stufe. Eine Liste sol-
cher Axiome und Regeln sind in jedem Logikbuch zu finden. Verschiedene Logik-
bücher haben teilweise etwas andere Axiome und Regeln, aber diese Unterschiede
werden für uns in diesem Kapitel nicht relevant sein; die Unvollständigkeitssätze
können mit den Axiomen und Regeln aus jedem Logikbuch bewiesen werden. Es
ist jedoch sicherlich hilfreich, wenn wir uns einige, bestimmte Regeln ansehen. Vie-
le Logikbücher benutzen eine Regel, die Spezialisierung heißt und die uns erlaubt,
von 8xi P .xi / auf P .t/ zu schließen, falls t ein Term ist, der für xi in P .xi / substi-
tuierbar3 ist. Eine zweite Regel heißt Substitutionsregel (oder manchmal auch Satz
der Identität des Ununterscheidbaren4 ), und diese besagt, wenn t und u für xi in
P .xi / substituierbar sind, dann können wir von t D u und P .t/ auf P .u/ schließen.
In diesem Kapitel werden wir teilweise auch über Erweiterungen von PA spre-
chen. Wir sagen, dass ein formales System eine Erweiterung von PA ist, wenn es
dasselbe ist wie PA, aber eventuell weitere nichtlogische Axiome enthält. Wir be-
trachten auch PA selbst als eine Erweiterung von PA; es ist diejenige Erweiterung,
in der keine weiteren, nichtlogischen Axiome hinzugefügt werden. Alle anderen Er-
weiterungen werden gebildet, indem weitere, nichtlogische Axiome zu denen, die
in Definition 7.4 aufgelistet wurden, hinzugefügt werden.

3
Für die Definition von Substituierbarkeit und einer Erläuterung, warum diese Einschränkung
notwendig ist, siehe Enderton (2001, S. 113). Wir werden diese Regel vor allem benutzen, wenn t
ein Zahlzeichen ist, und Zahlzeichen sind in allen Formeln für alle Variablen substituierbar.
4
Anm. d. Übers.: Dieser stammt von Leibniz.
7 Die Unvollständigkeitssätze 163

Definition 7.5 Sei T eine Erweiterung von PA. Ein Beweis eines Satzes Q in T
ist eine Folge P1 , P2 ,. . . , Pn von Formeln, sodass für i D 1; 2; : : : ; n die Formel
Pi entweder ein Axiom von T ist oder Pi aus früheren Formeln des Beweises mit
einer der Schlussregeln von T folgt und Pn D Q. Wenn es einen Beweis von Q in
T gibt, dann sagen wir, dass Q ein Theorem von T ist, und schreiben T ` Q.

Definition 7.6 Sei T eine Erweiterung von PA. Wenn es einen Satz P gibt, sodass
P und :P beides Theoreme von T sind, sagen wir, dass T inkonsistent ist. Wenn
nicht, dann ist T konsistent. Wenn es einen Satz P gibt, sodass weder P noch :P
ein Theorem von T ist, dann sagen wir, dass T unvollständig ist. Wenn nicht, dann
ist T vollständig.

Es folgt ein Beispiel für einen Beweis des Satzes ..S 3 0 C S 2 0/ D S 5 0/ in PA.
Neben jedem Schritt des Beweises haben wir die Begründung für diesen Schritt
notiert – entweder die Tatsache, dass es ein Axiom von PA ist oder die vorheri-
gen Schritte, aus denen er folgt, und die Schlussregel, die benutzt wurde. In diesem
Beweis haben wir die Spezialisierungsregel sowie die Substitutionsregel, die gera-
de genannt wurde, benutzt; es würden nur minimale Änderungen notwendig sein,
um diesen Beweis so umzuformen, dass er den logischen Axiomen und Regeln
jeglichen Logikbuches entsprechen würde. Die Nummerierung der Axiome (auch
weiterhin im Kapitel) bezieht sich auf die Liste der Axiome in Definition 7.4:
(1) 1: 8x1 ..x1 C 0/ D x1 / Axiom (iii)
2: ..SSS0 C 0/ D SSS0/ 1:; Spezialisierung
3: 8x1 8x2 ..x1 C Sx2 / D S.x1 C x2 // Axiom (iii)
4: 8x2 ..SSS0 C Sx2 / D S.SSS0 C 0// 3:; Spezialisierung
5: ..SSS0 C S0/ D S.SSS0 C 0// 4:; Spezialisierung
6: ..SSS0 C S0/ D SSSS0/ 2:; 5:; Substitution
7: ..SSS0 C SS0/ D S.SSS0 C S0// 4:; Spezialisierung
8: ..SSS0 C SS0/ D SSSSS0/ 6:; 7:; Substitution
Mit diesem Beweis können wir nun sagen PA ` ..S 3 0 C S 2 0/ D S 5 0/.
Der Leser könnte bemerkt haben, dass das hier gegebene Beispiel dasselbe ist
wie das Beispiel, welches wir in Kap. 3 benutzt haben, um die Definition der Ad-
dition zu veranschaulichen, Definition 3.10. Tatsächlich ist die Argumentation in
unserem Beweis des Satzes ..S 3 0 C S 2 0/ D S 5 0/ gerade die formale Version der
informellen Argumentation, die wir in (19) von Kap. 3 benutzt haben, um zu zeigen,
dass 3C2 D 5. Im Allgemeinen kann eine informelle Argumentation, die zeigt, dass
ein Satz Q aus den Axiomen von PA folgt, in einen formalen Beweis von Q in PA
umgeformt werden, aber wir werden uns normalerweise nicht auf diese Herausfor-
derung einlassen, diese Übertragung auszuführen. In Zukunft, wenn wir informell
zeigen können, dass Q aus den Axiomen von PA folgt, werden wir schließen, dass
PA ` Q. Lesende, die in formaler Logik bewandert sind, sollten unsere informelle
Argumentation in einen formalen Beweis übertragen können. Genauer, und allge-
meiner gilt, wenn wir für eine Erweiterung T von PA und Sätze P1 ; P2 ; : : : ; Pn und
Q wissen, dass T ` P1 , T ` P2 ,. . . , T ` Pn und Q eine logische Folgerung von
164 7 Die Unvollständigkeitssätze

P1 ; P2 ; : : : ; Pn ist, dann können wir schließen, dass T ` Q. Die Gültigkeit die-


ses Prinzips bedeutet, dass T unter logischer Folgerung abgeschlossen ist, und wir
werden dies im Rest des Kapitels häufig verwenden.
Natürlich ist an der Gleichung 3 C 2 D 5 nichts Besonderes. Für alle natürli-
chen Zahlen a, b und c kann, wenn a C b D c gilt, ein Beweis ähnlich zu dem
obigen gefunden werden, um zu zeigen, dass PA ` ..S a 0 C S b 0/ D S c 0/. Auch
wenn a C b ¤ c, kann gezeigt werden, dass PA ` :..S a 0 C S b 0/ D S c 0/.
Sehen wir uns beispielsweise an, warum PA ` :..S 3 0 C S 2 0/ D S 4 0/. Aus
..S 3 0 C S 2 0/ D S 4 0/ zusammen mit der Gleichung ..S 3 0 C S 2 0/ D S 5 0/,
die wir bereits bewiesen haben, können wir .S 4 0 D S 5 0/ schließen. Aber dann
folgt mit Axiom (ii) auch .S 4 0 D S 3 0/. Axiom (ii) nochmals angewendet ergibt
.S 3 0 D S 2 0/, und wenn wir es noch zwei Mal anwenden, kommen wir schließ-
lich zu der Folgerung .S0 D 0/. Dies widerspricht aber Axiom (i). Somit hat die
Annahme ..S 3 0 C S 2 0/ D S 4 0/ zu einem Widerspruch geführt, also können wir
:..S 3 0 C S 2 0/ D S 4 0/ schließen. Diese informelle Argumentation zeigt, dass un-
ser Theorem ..S 3 0 C S 2 0/ D S 5 0/ und die Axiome (i) und (ii) von PA logisch
implizieren, dass :..S 3 0 C S 2 0/ D S 4 0/. Da PA unter logischer Folgerung ab-
geschlossen ist, kann diese informelle Argumentation in einen formalen Beweis
übertragen werden, um zu zeigen, dass PA ` :..S 3 0 C S 2 0/ D S 4 0/. Wir können
unsere Beobachtungen wie folgt zusammenfassen:

Satz 7.7 Sei P .x1 ; x2 ; x3 / die Formel „..x1 C x2 / D x3 /“. Dann gilt für alle
natürlichen Zahlen a, b und c: Wenn a C b D c, dann PA ` P .S a 0; S b 0; S c 0/,
und wenn a C b ¤ c, dann PA ` :P .S a 0; S b 0; S c 0/.

Dies ist unser erstes Beispiel eines Begriffs, der in den Beweisen der Unvollstän-
digkeitssätze eine zentrale Rolle spielen wird. Hier folgt die allgemeine Definition:

Definition 7.8 Für jede positive, ganze Zahl k sei N k die Menge aller Folgen na-
türlicher Zahlen der Länge k. Wir verwenden die Notation ha1 ; a2 ; : : : ; ak i, um ein
Element von N k zu bezeichnen. Eine Menge A  N k heißt repräsentierbar, wenn
es eine Formel P .x1 ; x2 ; : : : ; xk / gibt, sodass für jede Folge ha1 ; a2 ; : : : ; ak i 2 N k
gilt,
(i) wenn ha1 ; a2 ; : : : ; ak i 2 A, dann PA ` P .S a1 0; S a2 0; : : : ; S ak 0/, und
(ii) wenn ha1 ; a2 ; : : : ; ak i … A, dann PA ` :P .S a1 0; S a2 0; : : : ; S ak 0/.
In diesem Fall sagen wir, dass die Formel P die Menge A repräsentiert.

Wenn P die Menge A repräsentiert, können wir uns vorstellen, dass P .x1 ; x2 ;
: : : ; xk / besagt, hx1 ; x2 ; : : : ; xk i ist ein Element von A. Für jede beliebige Zahlen-
folge ha1 ; a2 ; : : : ; ak i ist P .S a1 0; S a2 0; : : : ; S ak 0/ somit ein Satz der Sprache von
PA, der besagt, dass ha1 ; a2 ; : : : ; ak i ein Element von A ist, und :P .S a1 0; S a2 0;
: : : ; S ak 0/ ein Satz, der besagt, dass ha1 ; a2 ; : : : ; ak i kein Element von A ist. Au-
ßerdem fordert die Definition der Repräsentierbarkeit, dass Aussagen darüber, ob
bestimmte Folgen Elemente von A sind oder nicht, in PA immer beweisbar sein
müssen, wenn sie auf diese Art über P in der Sprache von PA ausgedrückt werden.
7 Die Unvollständigkeitssätze 165

Mit dieser Terminologie können wir Satz 7.7 umformulieren und sagen, dass die
Formel „..x1 C x2 / D x3 /“ die Menge fha; b; ci 2 N 3 W a C b D cg repräsentiert.
Genauso ist es nicht schwer zu zeigen, dass die Formel „..x1 x2 / D x3 /“ die Menge
fha; b; ci 2 N 3 W a  b D cg repräsentiert (siehe Übung 7.2). Für ein komplizierteres
Beispiel sei P .x1 / die Formel ..S0 < x1 / ^ :9x2 9x3 ...x2  x3 / D x1 / ^ ..x2 <
x1 / ^ .x3 < x1 ////. Intuitiv besagt P .x1 /, dass x1 eine Zahl größer 1 ist, die nicht
als Produkt zweier kleinerer Zahlen geschrieben werden kann, mit anderen Worten
besagt P .x1 /, dass x1 eine Primzahl ist. Es kann für jede natürliche Zahl n gezeigt
werden, wenn n eine Primzahl ist, dann PA ` P .S n 0/, und wenn n keine Primzahl
ist, dann PA ` :P .S n 0/. Somit repräsentiert P .x1 / die Menge aller Primzahlen.5
Der erste Schritt in den Beweisen der Unvollständigkeitssätze besteht darin, von
vielen weiteren Mengen zu zeigen, dass sie repräsentierbar sind.
Eine Kernidee, die häufig verwendet wird, um von einer Menge zu zeigen, dass
sie repräsentierbar ist, benutzt die Möglichkeit, endliche Folgen natürlicher Zahlen
durch eine einzelne natürliche Zahl zu codieren. Um zu sehen wie das geht, be-
zeichne zuerst pn die n-te Primzahl. Somit ist p1 D 2, p2 D 3, p3 D 5 und so
weiter. Dann definieren wir für jede Folge natürlicher Zahlen ha1 ; a2 ; : : : ; ak i die
Codezahl dieser Folge als die Zahl
a C1
(2) #ha1 ; a2 ; : : : ; ak i D p1a1 C1  p2a2 C1    pk k .
Beispielsweise ist
(3) #h2; 3; 0i D p12C1  p23C1  p30C1 D 23  34  51 D 8  81  5 D 3240,
#h2; 3i D p12C1  p23C1 D 23  34 D 8  81 D 648.
Der Grund, in (2) in den Exponenten „C1“ einzufügen, ist einfach sicherzustellen,
dass die zwei Folgen in (3) unterschiedliche Codezahlen bekommen.
Wenn wir nun die Tatsache benutzen, dass jede positive, ganze Zahl als ein ein-
deutiges Produkt von Primzahlen geschrieben werden kann, ist es nicht schwer
zu zeigen, dass diese Codierungsmethode unterschiedlichen Folgen immer unter-
schiedliche Codezahlen zuordnet. Tatsächlich können wir für jede gegebene Zahl s
die Primfaktorzerlegung von s benutzen, um zu bestimmen, ob s die Codezahl einer
Folge ist oder nicht, und wenn ja, welche eindeutige Folge die Codezahl s besitzt.
Zum Beispiel ist
(4) 73:500 D 22  31  53  72 D p11C1  p20C1  p32C1  p41C1 D #h1; 0; 2; 1i.
Andererseits ist 588 D 22  31  72 D p11C1  p20C1  p41C1 keine Codezahl einer Folge,
da p3 in der Primfaktorzerlegung übersprungen wurde.
Wenn s eine Folgencodezahl ist, dann definieren wir l.s/ als die Länge der Folge,
die von s codiert wird, und .s/i als das i-te Folgenglied dieser Folge. Mit (4) gilt
beispielsweise l.73:500/ D 4 und .73:500/3 D 2. Unser nächster Satz ist etwas

5
Es gibt einen Unterschied zwischen einer natürlichen Zahl n, die ein Element von N ist, und
der Folge der Länge 1, deren einziges Glied n ist, die wir als hni schreiben würden und die ein
Element von N 1 ist. Streng genommen besagt Definition 7.6, dass P .x1 / nicht die Menge der
Primzahlen, sondern vielmehr die Menge fhni 2 N 1 W n ist eine Primzahlg repräsentiert. Wir
werden diese Unterscheidung jedoch meistens ignorieren und von einer Teilmenge von N sagen,
dass sie repräsentierbar ist, wenn die entsprechende Teilmenge von N 1 repräsentierbar ist.
166 7 Die Unvollständigkeitssätze

schwerer zu beweisen, aber es ist einer der Gründe, warum Folgencodezahlen so


nützlich sind, wenn man von einer Menge zeigen möchte, dass sie repräsentierbar
ist.6

Satz 7.9 Die folgenden Mengen sind repräsentierbar:


(i) fhs; ni 2 N 2 W s ist eine Folgencodezahl und l.s/ D ng.
(ii) fhs; i; ai 2 N 3 W s ist eine Folgencodezahl, 1  i  l.s/ und .s/i D ag.

Ein Beispiel sollte klarmachen, warum Folgencodezahlen so nützlich sind, um


nachzuweisen, dass eine Menge repräsentierbar ist. Erinnern wir uns, dass für jede
natürliche Zahl n 1 das Produkt 1  2    n in Worten n Fakultät heißt und mit
nŠ bezeichnet wird. Wir werden zeigen, dass die Menge F D fhn; mi 2 N 2 W
n 1 und m D nŠg repräsentierbar ist. Hierfür müssen wir eine Formel P .x1 ; x2 /
finden, die besagt, dass x1 1 und x2 D x1 Š. Aber das Fakultätszeichen ist kein
Zeichen der Sprache von PA und noch viel wichtiger, auch die Punkte „  “, die wir
benutzt haben, um die Bedeutung der Fakultät zu erklären, sind nicht in der Sprache
von PA enthalten. Wie können wir über das Produkt einer Liste von Zahlen in der
Sprache von PA sprechen?
Um dieses Problem zu lösen, ist zu beachten, dass wir, um nŠ zu berechnen, mit
der Zahl 1 beginnen, diese dann mit 2 multiplizieren, diese dann mit 3 und so weiter,
bis wir n erreichen. Somit berechnen wir, während wir nŠ berechnen, eigentlich die
ganze Liste an Zwischenergebnissen: 1; 1  2 D 2; 1  2  3 D 6; : : : ; 1  2    n D nŠ.
Diese Liste von Zwischenergebnissen ist gerade die Folge aller Fakultäten bis n und
kann durch eine einzelne Codezahl s codiert werden:
(5) s D #h1Š; 2Š; : : : ; nŠi.
Wir werden die Menge F durch eine Formel P .x1 ; x2 / repräsentieren, die über
diese Folge spricht, indem sie über die Codezahl s spricht. Wir bemerken hier, dass
die Folgenglieder dieser Folge durch eine rekursive Definition angegeben werden
können: .s/1 D 1 und für 1  i < n ist .s/i C1 D .i C 1/  .s/i .
Sei P .x1 ; x2 / die folgende Formel:
(6) ..0 < x1 / ^ 9s.s ist eine Folgencodezahl ^ l.s/ D x1 ^ .s/1 D 1^
8i.1  i < x1 ! .s/i C1 D .i C 1/  .s/i / ^ .s/x1 D x2 //.
Natürlich ist (6) nicht wirklich eine Formel der Sprache von PA, aber sie kann
in eine umgewandelt werden. Um zu sagen, dass s eine Folgencodezahl ist und
l.s/ D x1 , können wir die Formel benutzen, die die Menge in (i) von Satz 7.9
repräsentiert. Mit (i) von Satz 7.9 können auch alle anderen Teile von (6) durch
Formeln der Sprache von PA ausgedrückt werden. Wir müssen auch die gebundenen
Variablen s und i in (6) durch Variablen der Sprache von PA ersetzen, zum Beispiel
durch x3 und x4 , und wir müssen einige Klammern hinzufügen. Wenn wir sagen,
dass P .x1 ; x2 / die Formel (6) ist, dann meinen wir, dass es das Ergebnis davon ist,
wenn (6) in dieser Art in die Sprache von PA übersetzt wurde. Nun ist es langwierig,

6
Ein Beweis ist in vielen Logikbüchern zu finden. Siehe beispielsweise Enderton (2001, S. 220f).
7 Die Unvollständigkeitssätze 167

aber nicht wirklich kompliziert zu beweisen, dass für alle natürlichen Zahlen n und
m gilt: Wenn n 1 und m D nŠ, dann PA ` P .S n 0; S m 0/, und wenn nicht, dann
PA ` :P .S n 0; S m 0/.
Dieses Beispiel veranschaulicht eine Methode, die oft verwendet wird, um zu
zeigen, dass eine Menge A  N k repräsentierbar ist. Die Methode kann immer
dann verwendet werden, wenn es ein Schritt-für-Schritt-Verfahren gibt, um zu be-
stimmen, ob eine gegebene Folge ha1 ; a2 ; : : : ; ak i ein Element von A ist oder nicht.
Das Verfahren muss aus einer endlichen Liste präziser Anweisungen bestehen, und
der Prozess, diesen Anweisungen zu folgen, muss vollkommen mechanisch sein,
ohne dass Kreativität oder ein Zufallsmittel wie das Werfen einer Münze verwendet
werden. Außerdem muss jede Antwort, die durch das Verfahren produziert wird, in
endlich vielen Schritten produziert werden. Ein Verfahren mit diesen Eigenschaf-
ten heißt Algorithmus. Wenn es einen Algorithmus gibt, um zu bestimmen, ob eine
gegebene Folge ein Element von A ist oder nicht, dann sagen wir, dass A entscheid-
bar ist. Indem wir die Methode aus dem letzten Beispiel nachmachen, können wir
zeigen, dass jede entscheidbare Menge repräsentierbar ist.

Satz 7.10 Jede entscheidbare Menge A  N k ist repräsentierbar.

Beweisidee Es ist nicht möglich, hier einen ausführlichen Beweis dieses Satzes
anzugeben, da wir keine präzise Definition von „Algorithmus“ gegeben haben.7
Dennoch könnte es dem Leser ein besseres Gefühl für repräsentierbare Mengen
geben, wenn wir zumindest grob erläutern, warum der Satz wahr ist.
Angenommen, A ist entscheidbar. Dann gibt es einen Algorithmus, der verwen-
det werden kann, um zu bestimmen, ob eine gegebene Folge ha1 ; a2 ; : : : ; ak i ein
Element von A ist oder nicht. Wie in unserem letzten Beispiel ist es möglich, eine
Folge natürlicher Zahlen zu bilden, die alle Schritte in der Ausführung des Algorith-
mus codiert, und diese Folge kann wiederum durch eine einzelne Folgencodezahl
s codiert werden. Wir können A dann durch eine Formel der Sprache von PA re-
präsentieren, die über diese Zahl s spricht. Die Formel, die A repräsentiert, wird in
etwa Folgendes besagen:
(7) 9s(s ist eine Folgencodezahl, die die Ausführung der Schritte des Algorithmus
codiert, der bestimmt, ob hx1 ; x2 ; : : : ; xk i 2 A oder nicht, und diese Ausfüh-
rung des Algorithmus ergibt hx1 ; x2 ; : : : ; xk i 2 A). 

Tatsächlich ist auch die Umkehrung von Satz 7.10 wahr: Jede repräsentierbare
Menge ist entscheidbar (siehe Übung 7.10). Somit sind die repräsentierbaren Men-
gen genau dieselben wie die entscheidbaren Mengen. Diese Tatsache werden wir
aber für die Beweise der Unvollständigkeitssätze nicht benötigen.
Wir haben gesehen, dass es nützlich ist, wenn wir Folgen natürlicher Zahlen
Codezahlen zuordnen. Eine Art Begründung hierfür ist, dass wir durch die Einfüh-
rung von Folgenzahlen praktisch die Ausdruckskraft der Sprache von PA erweitert
haben. Wir haben die Definition der Sprache von PA nicht verändert, aber wir ha-

7
Für eine genaue Definition siehe Cutland (1980).
168 7 Die Unvollständigkeitssätze

ben gezeigt, dass diese Sprache verwendet werden kann, um über mehr als nur
natürliche Zahlen zu sprechen; sie kann auch verwendet werden, um indirekt über
Folgen natürlicher Zahlen zu sprechen, indem sie über die Codezahlen dieser Fol-
gen spricht. Analog können wir in Sprache von PA über andere Objekte sprechen,
wenn wir einen Weg finden, diesen Objekten Codezahlen zuzuordnen. Die Idee hin-
ter den Beweisen für die Unvollständigkeitssätze ist, in der Sprache von PA über das
formale System PA selbst zu sprechen! Tatsächlich werden wir zeigen, dass viele
Fakten über PA, wenn sie sauber als Sätze in der Sprache von PA codiert werden, in
PA beweisbar sind. Hierfür müssen wir den Ausdrücken der Sprache von PA Zahlen
zuordnen. Wir beginnen, indem wir jedem Zeichen der Sprache von PA eine Zahl
zuordnen:

Zeichen Zahl
^ 0
_ 1
: 2
! 3
$ 4
8 5
9 6
. 7
/ 8
D 9
0 10
S 11
< 12
C 13
 14
x1 15
x2 16
:: ::
: :
xn 14 C n
:: ::
: :

Ein Ausdruck der Sprache von PA ist eine Folge von Zeichen. Wenn wir jedes Zei-
chen durch ihre entsprechende Zahl ersetzen, erhalten wir eine Folge natürlicher
Zahlen, und wir wissen bereits, wie eine solche Folge durch eine einzelne Co-
dezahl codiert werden kann. Diese Codezahl heißt Gödelzahl des ursprünglichen
Ausdrucks.
Sei P zum Beispiel die Formel „.0 < S0/“. Das erste Zeichen von P ist
„.“, welches der Zahl 7 entspricht. Als Nächstes kommt „0“, dessen Zahl die 10
ist. Wenn wir fortfahren die Zahlen aufzulisten, die den jeweiligen Zeichen in P
entsprechen, erhalten wir die Folge h7; 10; 12; 11; 10; 8i. Die Gödelzahl von P , be-
zeichnet mit #P , ist die Codezahl dieser Folge:
7 Die Unvollständigkeitssätze 169

(8) #P D #h7; 10; 12; 11; 10; 8i D 28  311  513  712  1111  139
D 2:318:302:007:414:142:079:698:247:490:754:875:294:062:500:000:000:
Wie dieses Beispiel zeigt, können die Gödelzahlen selbst einfachster Ausdrücke der
Sprache von PA extrem groß sein!
Probieren wir ein Beispiel in umgekehrter Richtung aus. Ist 528:958:107:648 die
Gödelzahl eines Ausdrucks der Sprache von PA? Wenn wir diese Zahl in Primfak-
toren zerlegen, erhalten wir:
(9) 528:958:107:648 D 212  317 D #h11; 16i.
Nun ist 11 die Zahl, die dem Zeichen „S“ entspricht, und 16 entspricht „x2 “. Des-
wegen ist 528:958:107:648 die Gödelzahl des Terms „Sx2 “.
Nun, da wir den Ausdrücken der Sprache von PA Zahlen zugeordnet haben,
stellen sich von selbst eine Menge neuer Repräsentierbarkeitsfragen. Zum Beispiel
sind manche natürliche Zahlen (wie 528:958:107:648) Gödelzahlen von Termen der
Sprache von PA und andere nicht. Ist die Menge der Gödelzahlen von Termen re-
präsentierbar? Entsprechend Satz 7.10 ist diese Menge repräsentierbar, wenn sie
entscheidbar ist; also müssen wir uns fragen, ob es einen Algorithmus gibt, der
für eine gegebene, natürliche Zahl n bestimmt, ob sie die Gödelzahl eines Terms
ist oder nicht. Tatsächlich scheint es wahrscheinlich, dass es einen solchen Algo-
rithmus gibt. Wenn wir n in Primfaktoren zerlegen, können wir bestimmen, ob es
eine Gödelzahl irgendeines Ausdrucks der Sprache ist oder nicht, und wenn ja, von
welchem Ausdruck. Nun erinnern wir uns an unsere frühere Beobachtung, dass die
Definition von Termen keinen Bezug auf die Bedeutung der Zeichen nimmt, son-
dern nur darüber spricht, wie die Zeichen angeordnet sind. Um also zu bestimmen,
ob ein Ausdruck ein Term ist oder nicht, müssen wir nur überprüfen, ob die Zeichen
entsprechend der Klauseln aus Definition 7.1 angeordnet sind oder nicht, und eine
solche Überprüfung kann in endlich vielen Schritten ausgeführt werden. Dies führt
uns zu unserem nächsten Satz.

Satz 7.11 Die folgenden Mengen sind repräsentierbar:


(i) fn 2 N W n ist die Gödelzahl eines Termsg.
(ii) fn 2 N W n ist die Gödelzahl einer Formelg.
(iii) fn 2 N W n ist die Gödelzahl eines Satzesg.

Beweisidee Ein Weg nachzuweisen, dass die Menge in (i) repräsentierbar ist, folgt
den Ideen des obigen Paragrafen und zeigt zuerst, dass die Menge entscheidbar ist
und wendet dann Satz 7.10 an. Der Leser könnte es jedoch aufschlussreich finden
zu sehen, wie man vorgehen würden, um eine Formel P .x1 /, die diese Menge re-
präsentiert, aufzuschreiben. Wie im Beweis von Satz 7.10 beschrieben, besteht ein
Weg darin, ausgehend von dem Überprüfungsverfahren, ob eine gegebene Zahl eine
Gödelzahl eines Terms ist oder nicht, eine Formel über die Folgencodezahl s auf-
zuschreiben, wobei s die Informationen des Überprüfungsverfahrens codiert. Was
sind das aber für Informationen, die von s codiert werden sollten?
170 7 Die Unvollständigkeitssätze

Der schwierigste Teil in Definition 7.1 ist Klausel (iii), die besagt, dass wir, um
zu bestimmen, ob ein Ausdruck v ein Term ist oder nicht, überprüfen müssen, ob
der Ausdruck eine Kombination einfacherer Ausdrücke t und u ist, die selbst Ter-
me sind. Ein wichtiger (und leicht zu beweisender) Fakt über solche Kombinationen
ist, dass die Gödelzahl des Ausdrucks v größer als die Gödelzahlen der einfacheren
Ausdrücke t und u ist, aus denen er zusammengesetzt wurde. Es folgt, dass es, um
zu bestimmen, ob n die Gödelzahl eines Terms ist, notwendig sein könnte zu über-
prüfen, ob bestimmte kleinere Zahlen Gödelzahlen von Termen sind. Dies spricht
dafür, dass die Zahl s nicht nur Informationen darüber codieren sollte, ob n die Gö-
delzahl eines Terms ist, sondern auch darüber, ob kleinere Zahlen Gödelzahlen von
Termen sind.
Wir beschreiben einen Weg, eine solche Folgencodezahl s zu definieren. Für jede
natürliche Zahl n sei ha1 ; a2 ; : : : ; an i die wie folgt definierte Folge:
(
1; falls i die Gödelzahl eines Terms ist;
(10) ai D
0 sonst:
Sei s D #ha1 ; a2 ; : : : ; an i. Wir sagen, s überprüft die Gödelzahlen aller Terme bis
n. Die Formel P .x1 /, die die Menge der Gödelzahlen aller Terme repräsentiert, ist
dann
(11) 9s(s überprüft die Gödelzahlen aller Terme bis x1 ^ .s/x1 D 1).
Natürlich müssen wir noch erklären, wie „s überprüft die Gödelzahlen aller Ter-
me bis x1 “ in der Sprache von PA ausgedrückt wird. Das stellt sich als langwierig,
aber nicht sehr schwierig heraus. Mit (10) und Definition 7.1 müssen wir sagen,
dass s eine Folgencodezahl ist, l.s/ D x1 , für jedes i von 1 bis x1 ist .s/i entweder
0 oder 1 und .s/i D 1 genau dann, wenn entweder i die Gödelzahl des Ausdrucks
„0“ ist oder es die Gödelzahl des Ausdrucks xj für ein j ist oder es die Gödelzahl
eines Ausdrucks ist, der in bestimmter Weise aus Ausdrücken mit kleineren Gödel-
zahlen j und k und .s/j D .s/k D 1 besteht. Man kann nachweisen, dass all dies
in der Sprache von PA ausgedrückt werden kann und dass die resultierende Formel
P .x1 / die Menge der Gödelzahlen der Terme repräsentiert.
Die Beweise für (ii) und (iii) sind analog, sie beziehen sich statt auf Definiti-
on 7.1 auf die entsprechenden Definitionen 7.2 und 7.3. 

Interessanterweise kann Satz 7.11 so interpretiert werden, dass er besagt, die


früheren Teile unserer Beschreibung von PA aus diesem Kapitel – genauer die De-
finitionen 7.1, 7.2 und 7.3 – können in der Sprache von PA ausgedrückt werden,
wenn die entsprechenden Objekte einmal durch Gödelzahlen codiert worden sind.
Sehen wir, wie weit wir diese Idee treiben können. Definition 7.4 legt die nichtlo-
gischen Axiome von PA fest. Es folgt mit Satz 7.10, dass fn W n ist die Gödelzahl
eines nichtlogischen Axioms von PAg repräsentierbar ist. Wenn T eine Erweiterung
von PA ist, dann muss fn W n ist die Gödelzahl eines nichtlogischen Axioms von T g
nicht repräsentierbar sein. Benutzen wir aber Satz 7.10, können wir Folgendes zei-
gen: Wenn es einen Algorithmus gibt, der für einen gegebenen Satz bestimmt, ob er
7 Die Unvollständigkeitssätze 171

ein nichtlogisches Axiom von T ist oder nicht, dann ist die Menge der Gödelzahlen
der nichtlogischen Axiome von T repräsentierbar. In diesem Fall nennen wir T eine
entscheidbare Erweiterung von PA.
Definition 7.5 legt die Beweise und Theoreme für Erweiterungen von PA fest, sie
kann aber in der Sprache von PA noch nicht ausgedrückt werden, weil wir Bewei-
sen keine Gödelzahlen zugeordnet haben. Glücklicherweise ist das aber nicht sehr
schwer. Angenommen, P1 ; P2 ; : : : ; Pn ist ein Beweis. Um diesen Beweis mit einer
einzigen Zahl zu codieren, berechnen wir zuerst die Gödelzahlen der Formeln aus
dem Beweis und erhalten die Folge h#P1 ; #P2 ; : : : ; #Pn i. Dann codieren wir diese
Folge mit einer einzelnen Zahl. Das Ergebnis ist die Zahl #h#P1 ; #P2 ; : : : ; #Pn i, die
wir die Gödelzahl des Beweises nennen.
Hier folgt beispielsweise ein zweizeiliger Beweis in PA:
(12) 1: 8x1 :.Sx1 D 0/ Axiom (i);
2: :.S0 D 0/ 1:; Spezialisierung:
Um die Gödelzahl dieses Beweises zu errechnen, berechnen wir zuerst die Gödel-
zahlen der einzelnen Formeln in dem Beweis. Diese Zahlen nennen wir a und b.
(13) a D #8x1 :.Sx1 D 0/
D #h5; 15; 2; 7; 11; 15; 9; 10; 8i
D 26  316  53  78  1112  1316  1710  1911  239
D 1:753:676:934:331:034:663:878:331:554:836:419:381:406:955:754:926
957:007:067:649:127:704:826:043:281:843:299:944:000;
b D #:.S0 D 0/
D #h2; 7; 11; 10; 9; 10; 8i
D 23  38  512  711  1110  1311  179
D 139:676:240:233:639:528:072:573:470:580:523:995:351:501:719:427
734:375:000:
Obwohl diese zwei Zahlen ziemlich groß sind, sind sie klein genug, sodass wir sie
noch hinschreiben können, jede enthält weniger als 100 Ziffern. Im Vergleich zu
der Gödelzahl des Beweises sind sie jedoch winzig. Die Gödelzahl des Beweises ist
die Codezahl der Folge, die aus a und b besteht:
(14) Gödelzahl des Beweises D #ha; bi D 2aC1  3bC1 .
Diese Zahl ist so groß, dass sie ungefähr 5; 28  1086 Ziffern bräuchte, um sie
aufzuschreiben. Das gesamte Papier auf dieser Welt würde nicht reichen, um die
Gödelzahl dieses zweizeiligen Beweises aufzuschreiben. Dennoch ist es eine wohl-
definierte, natürliche Zahl.
Wenden wir uns nun wieder der Aufgabe zu, Definition 7.5 in der Sprache von
PA auszudrücken. Der zweite Satz der Definition 7.5 legt die Beweise jeder Er-
weiterung T von PA fest, und wir können ihn benutzen, um zu versuchen einen
Algorithmus zu bilden, der bestimmt, ob eine gegebene Folge von Formeln ein Be-
weis eines gegebenen Satzes in T ist oder nicht. Es ist zu beachten, dass dieser
172 7 Die Unvollständigkeitssätze

Algorithmus unter anderem überprüfen muss, ob eine Formel der Folge ein Axi-
om von T ist oder nicht, und dies ist nur machbar, wenn T eine entscheidbare
Erweiterung von PA ist. Wenn T aber entscheidbar ist, dann kann ein solcher Al-
gorithmus gefunden werden. (Einige Logikbücher stellen hierfür sogar Software
bereit, die einen solchen Algorithmus für ein formales System implementiert, aber
das verwendete, formale System ist in den meisten Fällen keine Erweiterung von
PA.) Wenden wir nun Satz 7.10 an, erhalten wir unser wichtigstes Ergebnis zur
Repräsentierbarkeit:

Satz 7.12 Sei T eine Erweiterung von PA. Dann ist die Menge fhn; mi 2 N 2 W n ist
die Gödelzahl eines Satzes und m ist die Gödelzahl von einem Beweis dieses Satzes
in T g repräsentierbar.

Wegen der großen Bedeutung von Satz 7.12 könnte hier eine ausführlichere
Erläuterung hilfreich sein. Sei T eine entscheidbare Erweiterung von PA. Entspre-
chend der Definition der Repräsentierbarkeit besagt der Satz, dass es eine Formel
BeweisT .x1 ; x2 / der Sprache von PA gibt, sodass gilt: Wenn n die Gödelzahl ei-
nes Satzes ist und m die Gödelzahl von einem Beweis dieses Satzes in T , dann
PA ` BeweisT .S n 0; S m 0/, und wenn nicht, dann PA ` :BeweisT .S n 0; S m 0/. Wir
können uns vorstellen, dass BeweisT .x1 ; x2 / in der Sprache von PA ausdrückt, dass
x1 die Gödelzahl eines Satzes und x2 die Gödelzahl von einem Beweis dieses Sat-
zes in T ist. Wir können die Formel BeweisT .x1 ; x2 / tatsächlich einfach aufbauen,
indem wir den zweiten Satz der Definition 7.5 in die Sprache von PA übersetzen.
Das Ergebnis ist eine Formel, die Folgendes besagt:
(15) x1 ist die Gödelzahl eines Satzes ^ x2 ist eine Folgencodezahl ^ 8i.1 
i  l.x2 / ! ..x2 /i ist die Gödelzahl eines nichtlogischen Axioms von T
_ .x2 /i ist die Gödelzahl eines logischen Axioms _ .x2 /i ist die Gödelzahl
einer Formel, die durch eine logische Schlussregel aus Formeln folgt, de-
ren Gödelzahlen früher in der Folge, die von x2 codiert wird, auftreten// ^
.x2 /l.x2 / D x1 .
Der dritte Satz der Definition 7.5 definiert die Theoreme von T . Er besagt, dass
ein Satz ein Theorem von T ist, falls er einen Beweis besitzt, und es ist leicht, dies
in die Sprache von PA zu übersetzen. Sei TheoremT .x1 / die Formel
(16) 9x2 BeweisT .x1 ; x2 /.
Dann besagt TheoremT .x1 /, dass x1 die Gödelzahl eines Satzes ist und dass es eine
Zahl gibt, die die Gödelzahl von einem Beweis dieses Satzes in T ist. Mit anderen
Worten besagt die Formel, dass x1 die Gödelzahl eines Theorems von T ist.
Es ist naheliegend sich an dieser Stelle zu fragen, ob die Formel TheoremT .x1 /
die Menge der Gödelzahlen der Theoreme von T repräsentiert oder nicht. Ist es
mit anderen Worten der Fall, wenn n die Gödelzahl eines Theorems von T ist,
dann PA ` TheoremT .S n 0/, und wenn nicht, dann PA ` :TheoremT .S n 0/? Se-
hen wir, ob wir diese Aussagen beweisen können. Wir nehmen zuerst an, dass n
die Gödelzahl eines Satzes P ist, der ein Theorem von T ist. Dann gibt es einen
7 Die Unvollständigkeitssätze 173

Beweis von P in T . Sei m die Gödelzahl dieses Beweises. Dann gilt entsprechend
unserer Bemerkungen unter Theorem 7.12 PA ` BeweisT .S n 0; S m 0/. Aber mit
(16) ist TheoremT .S n 0/ der Satz 9x2 BeweisT .S n 0; x2 / und das folgt logisch aus
BeweisT .S n 0; S m 0/. Da PA unter logischer Folgerung abgeschlossen ist, gilt damit
PA ` TheoremT .S n 0/.
Nehmen wir nun an, dass n keine Gödelzahl eines Theorems von T ist. Nehmen
wir zum Beispiel an, dass n die Gödelzahl eines Satzes P ist, P aber kein Theorem
von T . Dann kann keine Zahl die Gödelzahl eines Beweises von P in T sein. Es
folgt, dass für jede natürliche Zahl m gilt PA ` :BeweisT .S n 0; S m 0/. Mit anderen
Worten gibt es für jedes m einen Beweis in PA des Satzes :BeweisT .S n 0; S m 0/.
Diese Beweise können aber alle sehr verschieden sein, weil die Gründe, warum ver-
schiedene Zahlen keine Gödelzahlen eines Beweises von P sind, sehr verschieden
sein können. Es könnte sein, dass es keinen allgemeinen Grund gibt, warum keine
Zahl die Gödelzahl eines Beweises von P ist, und in diesem Fall würde es keinen
Beweis in PA des einzelnen Satzes 8x2 :BeweisT .S n 0; x2 / geben. Dieser Satz ist
aber äquivalent zu dem Satz :TheoremT .S n 0/, und es scheint also, dass es nicht
in jedem Fall einen Beweis von :TheoremT .S n 0/ geben muss. Somit haben wir
es geschafft, die erste Hälfte der Definition der Repräsentierbarkeit zu beweisen –
welche wir als „positive“ Hälfte bezeichnen könnten –, nicht aber die zweite, „ne-
gative“ Hälfte.
Hier ist zu beachten, dass wir damit die Korrektheit von (16) als eine Über-
setzung der Definition des Wortes „Theorem“ in keiner Weise infrage stellen. Die
Formel TheoremT .x1 /, wie in (16) definiert, drückt in der Sprache von PA in kor-
rekter Weise die Definition von „Theorem“ nach Definition 7.5 aus. Somit ist der
Satz TheoremT .S n 0/ wahr, wenn n die Gödelzahl eines Theorems von T ist, und
der Satz :TheoremT .S n 0/ ist wahr, wenn n keine Gödelzahl eines Theorems von
T ist. Der Punkt, den wir hier unterstreichen wollen, ist, dass in der letzteren Si-
tuation der Satz :TheoremT .S n 0/ zwar wahr, aber in PA eventuell nicht beweisbar
ist. Wir werden dies ausdrücken, indem wir sagen, dass die Formel TheoremT .x1 /
die Menge der Gödelzahlen der Theoreme von T definiert, aber wir wissen noch
nicht, ob sie diese Menge auch repräsentiert.
Probieren wir einen anderen Ansatz, um nachzuweisen, dass die Menge der Gö-
delzahlen der Theoreme von T repräsentierbar ist. Entsprechend Satz 7.10 können
wir nachweisen, dass diese Menge repräsentierbar ist, indem wir zeigen, dass sie
entscheidbar ist; also sehen wir, ob wir einen Algorithmus finden, der bestimmt,
ob eine gegebene Zahl n die Gödelzahl eines Theorems von T ist oder nicht. Wir
könnten beginnen, indem wir die Zahl n decodieren, um herauszufinden, ob sie die
Gödelzahl eines Satzes P ist oder nicht. Falls n einen Satz codiert, dann könn-
ten wir anfangen einen Beweis von P zu suchen. Wir könnten zum Beispiel alle
möglichen Beweise durchgehen, geordnet nach aufsteigender Gödelzahl, und jeden
überprüfen, ob er ein korrekter Beweis von P ist. Wenn P ein Theorem ist, wer-
den wir letztendlich einen solchen Beweis finden, und wir werden wissen, dass P
ein Theorem ist. Aber wenn P kein Theorem ist, dann wird diese Suche für im-
mer weitergehen. Sogar sehr einfache Sätze haben teilweise komplizierte Beweise,
es gibt also keinen Punkt in der Suche, an dem wir aufhören könnten und sicher
174 7 Die Unvollständigkeitssätze

sein würden, dass kein Beweis mehr gefunden wird, wenn bisher keiner gefunden
wurde. Wenn P kein Theorem ist, wird unser Algorithmus daher für immer weiter-
gehen und nie zu einer Entscheidung darüber kommen, ob P ein Theorem ist oder
nicht. Wieder hat die „positive“ Hälfte des Beweises funktioniert, aber die „negati-
ve“ Hälfte ist gescheitert.
Jetzt wird man wahrscheinlich beginnen zu vermuten, dass die Menge der Gö-
delzahlen der Theoreme von T nicht repräsentierbar ist – obwohl unsere zwei
gescheiterten Versuche nachzuweisen, dass diese Menge repräsentierbar ist, natür-
lich keinen Beweis darstellen, dass sie es tatsächlich nicht ist! Wir werden darauf
später zurückkommen, aber jetzt formulieren wir zunächst formal den Teil der Re-
präsentierbarkeit, den wir geschafft haben zu zeigen:

Satz 7.13 Sei T eine entscheidbare Erweiterung von PA. Wenn n die Gödelzahl
eines Theorems von T ist, dann PA ` TheoremT .S n 0/.

Man kann dieses Ergebnis noch auf eine andere Art formulieren. Sei T eine ent-
scheidbare Erweiterung von PA, und nehmen wir an, dass T ` P . Sei n D #P .
Dann ist n die Gödelzahl eines Theorems von T , also gilt mit Satz 7.13 PA `
TheoremT .S n 0/. Wenn wir die Definition von n einsetzen, erhalten wir PA `
TheoremT .S #P 0/. Somit ergibt sich folgendes Korollar von Satz 7.13.

Korollar 7.14 Sei T eine entscheidbare Erweiterung von PA. Wenn T ` P , dann
PA ` TheoremT .S #P 0/.

Das Zahlzeichen S #P 0 wird im fortlaufenden Kapitel noch häufig auftreten,


weswegen es sinnvoll ist, eine Abkürzung einzuführen. Wenn P ein Ausdruck der
Sprache von PA ist, dann schreiben wir pP q als Abkürzung für S #P 0. Mit anderen
Worten ist pP q das Zahlzeichen der Gödelzahl von P . Mit dieser Notation besagt
Korollar 7.14, wenn T ` P , dann PA ` TheoremT .pP q/.
Nun bleibt nur noch eine Sache zu besprechen, bevor wir die Unvollständigkeits-
sätze beweisen können.

Lemma 7.15 (Diagonalisierungslemma8 ) Sei P .x1 / eine Formel der Sprache von
PA. Dann gibt es einen Satz Q mit
PA ` Q $ P .pQq/:

Der Beweis des Diagonalisierungslemmas ist schön und geschickt, aber er ist
auch etwas technisch, und diese technischen Details sind für die Beweise der Un-
vollständigkeitssätze irrelevant. Daher werden wir den Beweis erst nach der Erläu-
terung der Unvollständigkeitssätze führen.
Das Diagonalisierungslemma besagt, dass es einen Satz Q gibt, von dem wir in
PA beweisen können, dass er zu einer Aussage über die eigene Gödelzahl von Q
äquivalent ist. Etwas informeller könnten wir sagen, dass Q etwas über seine eigene
Gödelzahl sagt. Aber was sagt Q über seine eigene Gödelzahl? Da das Lemma auf

8
Anm. d. Übers.: Dieses Lemma wird auch als Fixpunktlemma bezeichnet.
7 Die Unvollständigkeitssätze 175

jede Formel P .x1 / zutrifft, ist die Antwort, dass wir einen Satz Q finden können,
der was auch immer wir wollen über seine eigene Gödelzahl sagt! Der Schlüssel
zu den Beweisen der Unvollständigkeitssätze besteht darin, sorgfältig auszuwählen,
was ein Satz über die eigene Gödelzahl sagen soll. Anders gesagt müssen wir eine
sorgfältige Wahl für die Formel P .x1 / im Diagonalisierungslemma treffen.
Sehen wir, was passiert, wenn wir für P .x1 / die Formel :TheoremT .x1 / für eine
entscheidbare Erweiterung T von PA wählen. Dann muss es mit dem Diagonalisie-
rungslemma einen Satz GT (den „Gödelsatz“ von T ) geben, sodass
(17) PA ` GT $ :TheoremT .pGT q/:
Informell könnten wir sagen, dass GT sagt: „Meine Gödelzahl ist keine Gödelzahl
eines Theorems von T “ oder mit anderen Worten: „Ich bin kein Theorem von T “.
Ist GT ein Theorem von T ? Wenn T ` GT , dann gilt mit Korollar 7.14 PA `
TheoremT .pGT q/. Mit (17) und da PA unter logischer Folgerung abgeschlossen
ist, folgt PA ` :GT . Wir bemerken, dass jeder Beweis aus PA auch ein Beweis
in T ist, weil T eine Erweiterung von PA ist. Also gilt T ` :GT , was wegen
T ` GT impliziert, dass T inkonsistent ist! Somit gilt, wenn T konsistent ist, dann
T ° GT , d. h., GT ist kein Theorem von T . Ist es möglich, dass T ` :GT ? Falls
ja, dann folgt mit (17) und der Tatsache, dass T eine Erweiterung von PA ist, dass
T ` TheoremT .pGT q/, und da (16) die Definition von TheoremT .x1 / ist, bedeutet
dies
(18) T ` 9x2 BeweisT .pGT q; x2 /.
Aber setzen wir wieder voraus, dass T konsistent ist, dann wissen wir, dass GT
kein Theorem von T ist, also kann keine natürliche Zahl m die Gödelzahl ei-
nes Beweises von GT in T sein. Daher gilt für jede natürliche Zahl m: PA `
:BeweisT .pGT q; S m 0/, und da T eine Erweiterung von PA ist, folgt:
(19) Für jede natürliche Zahl m gilt T ` :BeweisT .pGT q; S m 0/.
Die Kombination von (18) und (19) ist kein direkter Widerspruch in T , weil wir kei-
nen einzelnen Satz P haben, sodass P und :P beide Theoreme in T sind. Dennoch
stehen (18) und (19) in irgendeiner Art Konflikt miteinander. Mit (18) können wir
in T beweisen, dass es eine Zahl mit einer bestimmten Eigenschaft gibt, aber (19)
besagt, dass wir für jede Zahl m beweisen können, dass sie die besagte Eigenschaft
nicht besitzt! Für diese Art Konflikt benötigen wir einen Namen.

Definition 7.16 Eine Erweiterung T von PA heißt !-inkonsistent, wenn es eine


Formel P .x1 / gibt, sodass
(i) T ` 9x1 P .x1 / und
(ii) für jede natürliche Zahl m gilt T ` :P .S m 0/.
Wenn es keine solche Formel gibt, dann heißt T !-konsistent. Es ist zu beach-
ten, dass die Sätze 9x1 P .x1 /, :P .0/, :P .S0/, :P .SS0/, . . . nicht alle wahr sein
können. Deswegen gilt, wenn alle Theoreme von T wahr sind, dann muss T !-
konsistent sein.
176 7 Die Unvollständigkeitssätze

Formulieren wir unsere Schlussfolgerung aus dem letzten Paragrafen in dieser


Sprechweise, können wir sagen: Wenn T konsistent ist und T ` :GT , dann ist T
!-inkonsistent. Mit anderen Worten, wenn T konsistent und !-konsistent ist, dann
T ° :GT . Die Voraussetzung der Konsistenz ist hier eigentlich redundant, weil
!-Konsistenz stärker ist als Konsistenz:

Lemma 7.17 Jede !-konsistente Erweiterung T von PA ist konsistent.

Beweis Wir benutzen hier, dass in einer inkonsistenten Theorie T jeder Satz be-
wiesen werden kann. Ein Beweis hiervon ist in jedem Logikbuch vorhanden. Wenn
T inkonsistent ist, folgen damit (für jede Formel P .x1 /) die Aussagen (i) und (ii)
aus Definition 7.16, also ist T !-inkonsistent. Mit anderen Worten, wenn T !-
konsistent ist, dann ist T konsistent. 

Wenn wir nun alles, was wir über den Satz GT bewiesen haben, zusammenfügen,
erhalten wir den Ersten Gödelschen Unvollständigkeitssatz:

Satz 7.18 (Erster Unvollständigkeitssatz) Sei T eine entscheidbare Erweiterung


von PA. Dann gibt es einen Satz GT , sodass Folgendes gilt:
(i) Wenn T konsistent ist, dann T ° GT , und
(ii) wenn T !-konsistent ist, dann T ° :GT .

Um die Bedeutung des Ersten Unvollständigkeitssatzes zu erläutern, nehmen wir


eine Erweiterung T von PA, die entscheidbar und !-konsistent ist (und damit auch
konsistent, nach Lemma 7.17). Dann besagt der Erste Unvollständigkeitssatz, dass
weder GT noch :GT ein Theorem von T ist. Somit ist T unvollständig. (Dies ist
natürlich der Grund für den Namen „Unvollständigkeitssatz“.) Es ist zu beachten,
dass GT ein Satz der Sprache von PA ist, der logische Zeichen und Zeichen ent-
hält, um über die Additions-, die Multiplikations-, die Nachfolgeroperation oder
die Ordnung der natürlichen Zahlen zu sprechen und sonst nichts. Somit ist GT ein-
fach ein sehr komplizierter Satz über die Arithmetik der natürlichen Zahlen. Vom
Standpunkt eines klassischen Mathematikers aus ist er deswegen entweder wahr
oder falsch, obwohl ein Intuitionist dies natürlich infrage stellen könnte. Mit an-
deren Worten hat die Frage „Ist GT wahr oder falsch?“ aus klassischer Sicht eine
Antwort, aber das formale System T ist nicht stark genug, um die Antwort zu be-
stimmen. Somit besagt der Erste Unvollständigkeitssatz, dass keine entscheidbare,
!-konsistente Erweiterung von PA stark genug ist, um alle Fragen der Zahlentheo-
rie zu beantworten.
Eigentlich ist es gar nicht schwer, den Wahrheitswert des Gödelsatzes GT für
eine entscheidbare, konsistente Erweiterung T von PA zu bestimmen. Da GT
kein Theorem von T ist, gibt es keine Zahl, die die Gödelzahl eines Beweises
von GT in T ist. Daher ist der Satz 9x2 BeweisT .pGT q; x2 /, der dasselbe ist wie
TheoremT .pGT q/, falsch. Mit (17) ist die Äquivalenz GT $ :TheoremT .pGT q/
aber ein Theorem von PA und deswegen wahr. Es folgt, dass GT wahr ist. Etwas
7 Die Unvollständigkeitssätze 177

informeller lautet das Argument: GT sagt „Ich bin kein Theorem von T “, und diese
Aussage ist wahr, weil GT tatsächlich kein Theorem von T ist. Somit ist GT ein
wahrer Satz, der in T nicht beweisbar ist.
Im letzten Paragrafen haben wir eine Argumentation dafür vorgestellt, dass GT
wahr ist. Ist dies kein Beweis von GT , der unserer Behauptung, dass GT unbe-
weisbar ist, widerspricht? Die Antwort ist, dass wir nicht behauptet haben, GT
sei absolut unbeweisbar, sondern nur, dass er in T nicht beweisbar ist. Die Argu-
mentation des letzten Paragrafen ist korrekt, aber wenn sie in der Sprache von PA
ausgedrückt wird, kann sie durch die Axiome von T nicht begründet werden. Wir
werden hierauf später zurückkommen und genau den Schritt in dieser Argumenta-
tion finden, der in T nicht begründet werden kann.
Beispielsweise ist PA entscheidbar und, da all seine Theoreme wahr sind, auch
!-konsistent. Daher ist ihr Gödelsatz GPA wahr, aber in PA nicht beweisbar, also ist
PA nicht stark genug, um uns die Möglichkeit zu geben, alle wahren Aussagen über
die natürlichen Zahlen zu beweisen. Eine naheliegende Reaktion in dieser Situati-
on ist der Versuch PA zu erweitern, indem wir neue Axiome hinzufügen, und eine
naheliegende Wahl für ein neues Axiom wäre der Satz GPA , von dem wir gerade
gesehen haben, dass er wahr, aber in PA nicht beweisbar ist. Sei also T1 die Er-
weiterung von PA, in der GPA als neues, nichtlogisches Axiom hinzugefügt wurde.
Dann gilt T1 ` GPA , aber T1 hat seinen eigenen Gödelsatz GT1 , und mit dem Ersten
Unvollständigkeitssatz ist GT1 wahr, aber in T1 nicht beweisbar. Natürlich könnten
wir nun GT1 als weiteres, nichtlogisches Axiom hinzufügen, um eine neue Erwei-
terung T2 zu bekommen, aber der Satz GT2 wird wahr, aber in T2 nicht beweisbar
sein. Wie wir in Kap. 6 bemerkt haben, impliziert der Erste Unvollständigkeitssatz,
dass wir, unabhängig davon, wie lange wir mit diesem Prozess fortfahren, nie ein
formales System erreichen werden, in dem alle wahren Aussagen über die natürli-
chen Zahlen Theoreme sind. Tatsächlich können wir sogar das formale System T!
als Erweiterung von PA definieren, welches als zusätzliche, nichtlogische Axiome
den Satz GPA und all die Sätze GTn , für jedes n enthält, dennoch wird der Satz GT!
wieder wahr, aber in T! nicht beweisbar sein.
Ein anderes, interessantes Beispiel ist die Erweiterung T von PA, in der :GPA
als neues Axiom hinzugefügt wurde. T ist eine entscheidbare Erweiterung von PA,
und wegen der Tatsache, dass PA ° GPA , ist T konsistent. Das Interessante an T
ist, dass T ` :GPA , aber wir haben bereits gezeigt, dass :GPA falsch ist. Somit ver-
anschaulicht dieses Beispiel die Möglichkeit, dass eine konsistente, entscheidbare
Erweiterung von PA falsche Theoreme enthalten kann. Dies ist wieder analog zu
einer Bemerkung aus Kap. 6. (Mehr über diese Theorie findet man in Übung 7.22.)
Man kann sich auch auf andere Art die Bedeutung des Ersten Unvollständig-
keitssatzes klarmachen, und zwar über Nichtstandardmodelle von Erweiterungen
von PA. Ein Modell einer Erweiterung T von PA weist jedem Zeichen der Sprache
von PA eine Bedeutung zu, sodass alle Axiome von T wahre Aussagen ergeben.
Wir verdeutlichen etwas genauer, was das heißt. Zuerst einmal muss ein Modell
M eine Menge U M angeben, die wir das Universum des Modells nennen. Diese
Menge legt die Bedeutungen fest, die den Quantorenzeichen der Sprache von PA
zugewiesen werden; die Zeichen „8“ und „9“ werden als „für jedes Element aus
178 7 Die Unvollständigkeitssätze

U M “ und „für ein Element aus U M “ interpretiert. Ein Modell M muss auch ein
Element 0M 2 U M festlegen, welches die Bedeutung des Zeichens „0“ bestimmt;
das Zeichen „0“ wird dann als das Element 0M interpretiert. Als Nächstes muss
das Modell M eine Operation CM festlegen, die verwendet werden kann, um zwei
beliebige Elemente von U M zu kombinieren, sodass man ein anderes Element aus
U M erhält. Diese Operation wird als die Bedeutung des Zeichens „C“ benutzt. Ge-
nauso muss das Modell Bedeutungen für die Zeichen „S“, „“ und „<“ festlegen.
Wenn diese Bedeutungen einmal festgelegt wurden, besitzt jeder Satz der Spra-
che von PA eine Interpretation in dem Modell M. Wir sagen, dass ein Satz wahr
in M ist, falls sich eine wahre Aussage ergibt, wenn seine Zeichen so interpretiert
werden, wie das Modell M es festlegt, und falsch in M, falls sich mit dieser In-
terpretation eine falsche Aussage ergibt. (Eine ausführlichere Erklärung, was das
bedeutet, findet sich in jedem Logikbuch, aber für unsere Belange genügt diese et-
was informelle Erklärung.) M ist nur dann ein Modell einer Erweiterung T von PA,
wenn alle Axiome von T in M wahr sind.
Wir können ein Modell M zum Beispiel wie folgt definieren: U M D f0; 1; 2;
3; : : :g, die Menge der natürlichen Zahlen, 0M D 0 und S M , CM , M und <M sind
die Nachfolger-, die Additions- sowie Multiplikationsoperation und die Kleiner-
Relation der natürlichen Zahlen. Natürlich ist dies das Modell, in dem alle Zeichen
ihre intendierten Interpretationen erhalten. Die Axiome von PA sind offensichtlich
alle wahr, wenn die Zeichen ihre intendierten Interpretationen erhalten, also ist M
ein Modell von PA. Es wird häufig als das Standardmodell von PA bezeichnet. Nach
dem Korrektheitssatz für die Logik erster Stufe sind alle Theoreme eines formalen
Systems in jedem Modell wahr, also sind auch alle Theoreme von PA im Stan-
dardmodell wahr. An manchen Stellen in diesem Kapitel haben wir informell über
Aussagen gesprochen, die wahr oder falsch sind. Diese Sprechweise können wir
nun präzisieren, indem wir sagen, dass wir die Aussagen im Standardmodell von
PA interpretiert haben.
Aus dem Ersten Unvollständigkeitssatz folgt jedoch, dass es andere Modelle von
PA geben muss. Um zu sehen, warum, verwenden wir den Vollständigkeitssatz der
Logik erster Stufe. Dieser Satz wurde ebenfalls von Gödel bewiesen (im Jahr 1930)
und, obwohl die Namen der Sätze etwas anderes suggerieren, steht er in keinerlei
Widerspruch zu den Unvollständigkeitssätzen. Dem Vollständigkeitssatz nach gilt
für eine Erweiterung T von PA, wenn P ein Satz der Sprache von PA ist und P in
jedem Modell von T wahr ist, dann T ` P ; äquivalent dazu gilt, wenn T ° P ,
dann muss es ein Modell von T geben, in dem P falsch ist. Nehmen wir beispiels-
weise an, dass T eine entscheidbare, konsistente Erweiterung von PA ist. Dann gilt
wegen des Ersten Unvollständigkeitssatzes T ° GT , mit dem Vollständigkeitssatz
muss es dann ein Modell M von T geben, in dem GT falsch ist. Wir haben aber
bereits gesehen, dass GT wahr ist – d. h., wahr im Standardmodell von PA –, somit
muss M ein Nichtstandardmodell sein.9

9
Der Leser könnte sich über die Tatsache wundern, dass M nicht isomorph zum Standardmodell
sein muss, da wir in Kap. 2 gesagt haben, die Peano-Axiome seien kategorisch; anders gesagt,
dass alle Modelle der Peano-Axiome isomorph seien. Die Erklärung für diesen offensichtlichen
7 Die Unvollständigkeitssätze 179

Wir könnten die Situation wie folgt beschreiben. Ein Versuch, die natürlichen
Zahlen zu charakterisieren, besteht darin, eine Menge von Axiomen aufzuschreiben,
die im Standardmodell von PA wahr sind. Aber wenn das Ergebnis eine entscheid-
bare, konsistente Erweiterung T von PA ist, dann muss der Versuch, die natürlichen
Zahlen vollständig zu charakterisieren, fehlschlagen, weil alle Axiome von T in
einem Nichtstandardmodell M wahr sind. Außerdem wird das Modell M mit dem
Standardmodell in Bezug auf die Wahrheitswerte einiger Sätze, wie dem Satz GT ,
nicht übereinstimmen. Mit dem Korrektheitssatz müssen alle Theoreme von T Sät-
ze sein, die sowohl im Standardmodell von PA als auch im Modell M wahr sind. Es
folgt, dass für einen Satz P , der im Standardmodell wahr und in M falsch ist (oder
umgekehrt), weder P noch :P ein Theorem in T sein kann. Wir könnten sagen,
dass die Unvollständigkeit von T durch die Tatsache verursacht wird, dass, obwohl
T das Standardmodell von PA beschreiben sollte, sich herausstellt, dass T genauso
in korrekter Weise das Nichtstandardmodell M beschreibt, und diese zwei Modelle
stimmen in Bezug auf die Wahrheitswerte einiger Sätze der Sprache von PA nicht
überein.
Der Erste Unvollständigkeitssatz betrifft nur Erweiterungen von PA, die ent-
scheidbar, konsistent und, für den zweiten Teil des Satzes, !-konsistent sind. Kön-
nen wir die Einschränkungen des Ersten Unvollständigkeitssatzes eventuell umge-
hen, indem wir eine Erweiterung von PA benutzen, die diese Eigenschaften nicht
besitzt? Ein paar Jahre nachdem Gödel den Ersten Unvollständigkeitssatz bewie-
sen hatte, zeigte der amerikanische Logiker J. Barkley Rosser (1907–1989), dass
die Annahme der !-Konsistenz in Teil (2) des Satzes in gewöhnliche Konsistenz
umgeändert werden kann, wenn der Gödelsatz GT durch einen etwas komplizier-
teren Satz ersetzt wird (siehe Übung 7.18). Somit zeigt Rossers Beweis, dass jede
entscheidbare, konsistente Erweiterung von PA unvollständig ist. Natürlich wollen
wir keine inkonsistente Erweiterung von PA benutzen; alle Sätze, einschließlich der
falschen Sätze, würden in einem solchen formalen System Theoreme sein. Aber
warum sollten wir nicht eine unentscheidbare Erweiterung von PA benutzen?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir daran denken, welche Rolle Be-
weise in der Arbeit der Mathematiker spielen. Wenn ein Mathematiker behauptet,

Widerspruch ist, dass die Peano-Axiome aus Kap. 2 in zweitstufiger Logik formuliert waren; ins-
besondere enthält das Induktionsaxiom (22)(vi) aus Kap. 2 Quantifikation über alle Begriffe. In
diesem Kapitel arbeiten wir jedoch mit den erstufigen Axiomen, sodass wir uns die formalen Sys-
teme logischer Axiome und Schlussregeln der Logik erster Stufe, die in Logikbüchern zu finden
sind, zunutze machen können. Die erststufige Version des Induktionsaxioms in Definition 7.4(viii)
ist schwächer als das zweitstufige Induktionsaxiom aus Kap. 2, weil die zweitstufige Version für
alle Begriffe gilt, wohingegen die erststufige Version nur für Begriffe gilt, die durch eine Formel
in der erststufigen Sprache der Zahlentheorie definierbar sind. Die zweitstufigen Peano-Axiome
aus Kap. 2 sind kategorisch, aber die erststufige Theorie PA aus diesem Kapitel ist es nicht.
Der Leser könnte sich nun fragen, warum wir dann nicht entschieden haben, in diesem Kapitel
die zweitstufige Logik zu verwenden. Die Antwort ist, dass es kein formales System von Axiomen
und Schlussregeln gibt, in dem man die logischen Folgerungen einer Menge von Axiomen, die in
einer Sprache der Logik zweiter Stufe formuliert sind, herleiten kann. Tatsächlich kann der Erste
Unvollständigkeitssatz verwendet werden, um zu zeigen, dass es ein solches formales System nicht
geben kann. Für ein stärkeres Resultat, siehe Satz 41C auf S. 286 in Enderton (2001).
180 7 Die Unvollständigkeitssätze

er hätte entdeckt, dass eine mathematische Aussage P wahr ist, dann werden seine
skeptischen Kollegen ihn auffordern, dies durch einen Beweis zu belegen. Nehmen
wir an, dass dieser Beweis in einem formalen System T dargestellt ist. Das Ziel des
Beweises ist es, seine Kollegen zu überzeugen, dass P wahr ist, aber der Beweis
wird dieses Ziel nicht erreichen, wenn die Kollegen die Korrektheit des Beweises
nicht überprüfen können. Teil der Überprüfung der Korrektheit des Beweises ist es,
zu kontrollieren, ob alle Sätze, die in dem Beweis als Axiome gekennzeichnet sind,
tatsächlich Axiome von T sind. Aber wenn T nicht entscheidbar ist, dann gibt es
keinen Algorithmus, der verwendet werden kann, um zu bestimmen, ob ein Satz ein
Axiom ist oder nicht. Das Ergebnis ist, dass eine Uneinigkeit über die Wahrheit von
P durch den Beweis nicht aufgelöst wird, sondern sich in eine Uneinigkeit darüber
umwandeln könnte, ob eine Aussage ein Axiom von T ist oder nicht. Um solchen
Uneinigkeiten vorzubeugen, stimmen die Logiker darin überein, dass Mathematiker
formale Systeme verwenden sollten, die entscheidbar sind.
Ein Beispiel könnte helfen, diesen Umstand zu verdeutlichen. Betrachten wir die
Erweiterung T von PA, die als nichtlogische Axiome alle wahren Sätze der Spra-
che von PA enthält. Jeder wahre Satz ist ein Theorem in diesem formalen System.
Tatsächlich gibt es für einen Satz P , wenn es ein wahrer Satz der Sprache von PA
ist, einen einzeiligen Beweis von P in T . Wir können P einfach behaupten und
unsere Aussage damit begründen, dass P ein Axiom von T ist. Aber natürlich wür-
de dieser Beweis niemanden überzeugen, der nicht bereits glaubt, dass P wahr ist!
Dieses formale System würde somit für die Mathematiker in ihrem Arbeitsalltag
sinnlos sein. Es ist nicht schwer zu zeigen, dass T !-konsistent und vollständig
ist, mit dem Ersten Unvollständigkeitssatz kann T also nicht entscheidbar sein. Mit
anderen Worten erhalten wir folgende, interessante Konsequenz aus dem Ersten
Unvollständigkeitssatz:

Korollar 7.19 Es gibt keinen Algorithmus, der für jeden Satz aus der Sprache von
PA bestimmt, ob er wahr ist oder nicht.

Es folgt mit den Bemerkungen unter Satz 7.10, dass die Menge der Gödelzah-
len der wahren Sätze der Sprache von PA nicht repräsentierbar ist. Aber wir können
eigentlich noch mehr sagen: Die Menge der Gödelzahlen der wahren Sätze der Spra-
che von PA ist noch nicht einmal in der Sprache von PA definierbar.

Satz 7.20 (Tarskis Satz über die Undefinierbarkeit der Wahrheit10 ) Die Menge
fn 2 N W n ist eine Gödelzahl eines wahren Satzesg ist in der Sprache von PA nicht
definierbar. Mit anderen Worten gibt es keine Formel P .x1 /, sodass für jede natür-
liche Zahl n gilt, wenn n eine Gödelzahl eines wahren Satzes ist, dann ist P .S n 0/
wahr und wenn nicht, dann ist P .S n 0/ falsch.

10
Dieser Satz wird üblicherweise dem polnischen Logiker Alfred Tarski (1902–1983) zugeschrie-
ben, der diesen im Jahr 1933 als Erster veröffentlichte. Tarski betonte jedoch selbst (Tarski 1983,
S. 247f, 277f), dass der Satz in Gödels Artikel von 1931 angedeutet wurde, und tatsächlich formu-
lierte und bewies Gödel den Satz explizit in einem Brief an Zermelo im Jahr 1931 (Gödel 2010).
7 Die Unvollständigkeitssätze 181

Beweis Angenommen, P .x1 / wäre eine solche Formel. Mit dem Diagonalisie-
rungslemma gibt es dann einen Satz Q, sodass
(20) PA ` Q $ :P .pQq/.
Somit ist Q $ :P .S n 0/ wahr, wenn n D #Q. Aber laut Voraussetzung gilt, wenn
Q wahr ist, dann ist P .S n 0/ wahr und wenn nicht, dann ist P .S n 0/ falsch, also ist
Q $ P .S n 0/ auch wahr. Da diese Äquivalenzen nicht beide wahr sein können,
erhalten wir einen Widerspruch. 

Als eine andere Folgerung des Ersten Unvollständigkeitssatzes können wir nun
unsere früher gestellte Frage über die Repräsentierbarkeit der Menge der Gödelzah-
len der Theoreme beantworten. Sei T eine konsistente, entscheidbare Erweiterung
von PA. Dann ist GT mit (i) des Ersten Unvollständigkeitssatzes kein Theorem
von T . Wenn die Formel TheoremT .x1 / die Menge der Gödelzahlen der Theoreme
repräsentiert, dann folgt PA ` :TheoremT .pGT q/. Da PA unter logischer Folge-
rung abgeschlossen ist, gilt dann aber mit (17) PA ` GT , also T ` GT , was der
Tatsache widerspricht, dass GT kein Theorem von T ist. Deswegen repräsentiert
TheoremT .x1 / die Menge der Gödelzahlen der Theoreme von T nicht. Tatsächlich
wird diese Menge von keiner Formel repräsentiert:

Satz 7.21 Sei T eine konsistente Erweiterung von PA. Dann ist fn 2 N W n ist
die Gödelzahl eines Theorems von T g nicht repräsentierbar. Es folgt mit Satz 7.10,
dass es keinen Algorithmus gibt, der für einen gegebenen Satz der Sprache von PA
bestimmt, ob dieser Satz ein Theorem von T ist oder nicht.

Beweis Angenommen, P .x1 / repräsentiert die Menge der Gödelzahlen der Theo-
reme von T . Mit dem Diagonalisierungslemma gibt es einen Satz Q, sodass:
(21) PA ` Q $ :P .pQq/.
Nehmen wir an, T ` Q. Da P .x1 / die Menge der Gödelzahlen der Theoreme
von T repräsentiert, folgt dann PA ` P .pQq/. Dann folgt aber mit (21) und da
PA unter logischer Folgerung abgeschlossen ist, dass PA ` :Q, also T ` :Q,
was der Konsistenz von T widerspricht. Deswegen gilt T ° Q. Wenden wir noch
einmal den Fakt an, dass P .x1 / die Menge der Gödelzahlen der Theoreme von T
repräsentiert, können wir schließen, dass PA ` :P .pQq/. Mit (21) folgt PA ` Q,
also T ` Q, und das ist ein Widerspruch. 

So interessant diese Folgerungen aus dem Ersten Unvollständigkeitssatz sind, sie


betreffen dennoch nicht direkt das Hilbertsche Programm. Hierfür müssen wir zum
Zweiten Unvollständigkeitssatz weitergehen. Wir beginnen, indem wir den Faden
dort wieder aufnehmen, wo wir unser Projekt, die Definitionen dieses Kapitels in
die Sprache von PA zu übersetzen, verlassen haben. Die letzte Definition, die wir
übersetzt haben, war Definition 7.5, betrachten wir also Definition 7.6.
Angenommen, T ist eine entscheidbare Erweiterung von PA. Nach Definition 7.6
bedeutet die Konsistenz von T , dass es keinen Satz P gibt, sodass P und :P beide
182 7 Die Unvollständigkeitssätze

Theoreme von T sind. Um diese Definition in die Sprache von PA zu übersetzen,


müssen wir in dieser Sprache ausdrücken können, dass ein Satz die Negation eines
anderen Satzes ist. Dafür sorgt unser nächstes Lemma.

Lemma 7.22 Die Menge fhn; mi 2 N 2 W n ist die Gödelzahl eines Satzes P , und
m ist die Gödelzahl von :P g ist repräsentierbar.

Lemma 7.22 kann bewiesen werden, indem wir zeigen, dass die entsprechende
Menge entscheidbar ist und wir dann Satz 7.10 anwenden. Was uns das Lemma
sagt, ist, dass es eine Formel Neg.x1 ; x2 / gibt, sodass gilt: Wenn n D #P und
m D #:P , für einen Satz P , dann PA ` Neg.S n 0; S m 0/ und wenn nicht, dann
PA ` :Neg.S n 0; S m 0/. Wir können uns vorstellen, Neg.x1 ; x2 / würde besagen,
dass x1 die Gödelzahl eines Satzes ist und x2 die Gödelzahl der Negation dieses
Satzes.
Mit der Formel Neg.x1 ; x2 / können wir nun die Definition der Konsistenz in die
Sprache von PA übersetzen. Sei ConT der folgende Satz:
(22) :9x1 9x2 .TheoremT .x1 / ^ TheoremT .x2 / ^ Neg.x1 ; x2 //.
Dann besagt ConT , dass es keine zwei Zahlen gibt, sodass beides Gödelzahlen von
Theoremen von T sind und eines dieser Theoreme die Negation des anderen ist. Mit
anderen Worten drückt ConT in der Sprache von PA die Bedeutung der Aussage „T
ist konsistent“ aus.
Der Schlüssel zum Zweiten Unvollständigkeitssatz ist die folgende Beziehung
zwischen ConT und dem Gödelsatz von T :

Lemma 7.23 Für jede entscheidbare Erweiterung T von PA gilt PA ` ConT ! GT .

Tatsächlich stellt sich heraus, dass für eine entscheidbare Erweiterung T von PA
gilt PA ` ConT $ GT , aber diese stärkere Tatsache werden wir nicht benötigen.
Wir werden einen sorgfältigen Beweis von Lemma 7.23 auf später verschieben,
aber wir können an dieser Stelle eine kurze Erklärung für seine Plausibilität geben.
Oben haben wir ein informelles Argument gegeben, welches zeigt, dass für eine
entscheidbare Erweiterung T von PA, die konsistent ist, der Gödelsatz GT wahr
(wenn auch unbeweisbar) ist. Dieses informelle Argument kann in die Sprache von
PA übersetzt werden, und alle Schritte dieses Arguments können durch die Axiome
von PA begründet werden. Das Ergebnis ist dann ein formaler Beweis des Satzes
ConT ! GT in PA.
Gödels Zweiter Unvollständigkeitssatz folgt fast unmittelbar aus Lemma 7.23
zusammen mit dem Ersten Unvollständigkeitssatz:

Satz 7.24 (Zweiter Unvollständigkeitssatz) Wenn T eine entscheidbare, konsis-


tente Erweiterung von PA ist, dann T ° ConT .

Beweis Sei T eine entscheidbare, konsistente Erweiterung von PA und gelte T `


ConT . Mit Lemma 7.23 folgt T ` ConT ! GT , und da T unter logischer Folge-
7 Die Unvollständigkeitssätze 183

rung abgeschlossen ist, erhalten wir T ` GT . Das widerspricht aber (i) des ersten
Unvollständigkeitssatzes. Daher T ° ConT . 

Obwohl wir uns bisher auf Erweiterungen von PA konzentriert haben, treffen
die Unvollständigkeitssätze auf eine ganze Bandbreite formaler Systeme zu. Es gibt
viele formale Systeme, die keine Erweiterungen von PA sind (so wie wir diesen
Begriff definiert haben), aber die man sich dennoch in gewisser Weise als Verstär-
kungen von PA vorstellen kann. Betrachten wir zum Beispiel das formale System
ZFC. Die Sprache von ZFC ist nicht dieselbe wie die Sprache von PA, und die
Axiome von PA sind in den Axiomen von ZFC nicht enthalten, also ist ZFC keine
Erweiterung von PA. Wie wir jedoch in Kap. 3 gesehen haben, können die grund-
legenden, arithmetischen Operationen auf den natürlichen Zahlen in ZFC definiert
werden und die Peano-Axiome können in ZFC bewiesen werden. Es folgt, dass alle
Theoreme von PA in der Sprache von ZFC ausgedrückt werden können und in ZFC
beweisbar sind, und somit ist es sinnvoll, sich ZFC als eine Verstärkung von PA
vorzustellen. Als Ergebnis können wir eine ähnliche Begründung wie diejenige, die
wir in diesem Kapitel verwendet haben, benutzen, um zu zeigen, dass die Unvoll-
ständigkeitssätze auch für ZFC gelten. Insbesondere gibt es einen Satz ConZF C in
der Sprache von ZFC, der die Aussage „ZFC ist konsistent“ ausdrückt, und über
diesen Satz können wir den folgenden Satz beweisen:

Satz 7.25 (Zweiter Unvollständigkeitssatz für ZFC) Wenn ZFC konsistent ist,
dann ZFC ° ConZFC .

Wie wir in Kap. 3 gesehen haben, kann nahezu die gesamte Mathematik in ZFC
formalisiert werden, somit ist es eine vernünftige Entscheidung, ZFC die Rolle der
Hilbertschen formalisierten, infiniten Mathematik zu geben. Somit würde ein Weg
zur Realisierung des Hilbertschen Programmes darin bestehen, einen finiten Be-
weis der Konsistenz von ZFC zu finden. Aber ein solcher Beweis, wie auch andere
mathematische Argumentationen, würde in ZFC formalisierbar sein, und die for-
malisierte Version des Beweises würde ein Beweis des Satzes ConZFC in ZFC sein.
Nach Satz 7.25 kann ein solcher Beweis nicht existieren, wenn ZFC konsistent ist.
Somit kann es keinen finiten Beweis für die Konsistenz von ZFC geben. Es scheint
wahrscheinlich, dass dieselbe Argumentation auf jedes andere formale System zu-
treffen würde, welches als Formalisierung der infiniten Mathematik geeignet wäre.
Somit wirft der Zweite Unvollständigkeitssatz erhebliche Zweifel an der Realisier-
barkeit des Hilbertschen Programmes auf.
Wir schulden dem Leser noch die Beweise für zwei Lemmata, 7.15 und 7.23.
Wir beginnen mit dem zweiten. Es ist üblich, zunächst die Eigenschaften der For-
mel TheoremT .x1 / herauszustellen, die wir in dem Beweis verwenden werden.
Die Bedeutung der drei Eigenschaften unseres nächsten Lemmas wurde zuerst
von Hilbert und dem Schweizer Mathematiker Paul Bernays (1888–1977) erkannt,
deswegen sind sie unter dem Namen Hilbert-Bernays-Beweisbarkeitseigenschaften
bekannt. Für die zweite und dritte dieser Eigenschaften ist es wichtig, die Formel
TheoremT .x1 / vorsichtig zu bestimmen. Insbesondere reicht es nicht anzuneh-
184 7 Die Unvollständigkeitssätze

men, dass TheoremT .x1 / einfach die Formel 9x2 BeweisT .x1 ; x2 / ist, wobei
BeweisT .x1 ; x2 / irgendeine Formel ist, die die Menge der Zahlenpaare, die in Satz
7.12 definiert wurden, repräsentiert. Vielmehr ist es wichtig, dass BeweisT .x1 ; x2 /,
wie in (15) beschrieben, definiert wird. (Für mehr hierzu siehe Übung 7.17.)

Lemma 7.26 Sei T eine entscheidbare Erweiterung von PA. Dann gilt für alle
Sätze P und Q:
(i) Wenn T ` P , dann PA ` TheoremT .pP q/.
(ii) PA ` TheoremT .pP q/ ! TheoremT .pTheoremT .pP q/q/.
(iii) PA ` .TheoremT .pP q/ ^ TheoremT .pP ! Qq// ! TheoremT .pQq/.

Beweisidee Eigenschaft (i) ist einfach eine Umformulierung von Korollar 7.14,
dessen Beweis bereits besprochen wurde. Jeder Beweis aus PA ist auch ein
Beweis in T , weil T eine Erweiterung von PA ist. Damit folgt aus (i), wenn
T ` P , dann T ` TheoremT .pP q/. Diese letzte Aussage kann mit dem Satz
TheoremT .pP q/ ! TheoremT .pTheoremT .pP q/q/ selbst in der Sprache von PA
ausgedrückt werden, und Eigenschaft (ii) besagt, dass dieser Satz in PA beweisbar
ist. Somit kann Eigenschaft (ii) bewiesen werden, indem man zeigt, dass der Beweis
von Eigenschaft (i) selbst in PA formalisiert werden kann. Die Details hiervon sind
sehr langwierig und werden hier nicht besprochen.11
Um Eigenschaft (iii) zu beweisen, benutzen wir folgende Idee: Wenn wir Bewei-
se von P und von P ! Q in T gefunden haben, können wir einen Beweis von Q
in T bilden, indem wir die zwei Beweise einfach aneinanderfügen und einen zu-
sätzlichen Schritt anhängen, in dem Q aus P und P ! Q geschlossen wird. Dies
zeigt, wenn T ` P und T ` P ! Q, dann T ` Q. Wenn wir dieses Argument in
PA formalisieren, erhalten wir einen Beweis der Eigenschaft (iii). 

Im Beweis des Lemmas 7.23 werden wir die folgende Konsequenz der Hilbert-
Bernays-Beweisbarkeitseigenschaften benutzen:

Lemma 7.27 Für Sätze P und Q gilt: Wenn PA ` P ! Q, dann PA `


TheoremT .pP q/ ! TheoremT .pQq/.

Beweis Angenommen, PA ` P ! Q. Dann folgt mit 7.26(i)


(23) PA ` TheoremT .pP ! Qq/.
Mit 7.26(iii) gilt auch
(24) PA ` .TheoremT .pP q/ ^ TheoremT .pP ! Qq// ! TheoremT .pQq/.
Der Satz TheoremT .pP q/ ! TheoremT .pQq/ ist eine logische Folgerung aus
(23) und (24). Da PA unter logischer Folgerung abgeschlossen ist, folgt hiermit
PA ` TheoremT .pP q/ ! TheoremT .pQq/. 

11
Boolos (1979).
7 Die Unvollständigkeitssätze 185

Nun sind wir bereit, den Beweis des Lemmas 7.23 anzugeben. Viele der Schritte
in diesem Beweis benutzen, dass PA unter logischer Folgerung abgeschlossen ist.

Beweis (von Lemma 7.23) Wir beginnen mit einer Wiederholung der definierenden
Eigenschaft von GT :
(25) PA ` GT $ :TheoremT .pGT q/.
Als Folgerung der Links-Rechts-Richtung dieses Bikonditionals erhalten wir
(26) PA ` TheoremT .GT / ! :GT ,
und von der Rechts-Links-Richtung können wir schließen, dass
(27) PA ` :GT ! TheoremT .pGT q/.
Mit 7.26(ii) haben wir
(28) PA ` TheoremT .pGT q/ ! TheoremT .pTheoremT .pGT q/q/.
Wenden wir Lemma 7.27 auf (26) an, erhalten wir
(29) PA ` TheoremT .pTheoremT .pGT q/q/ ! TheoremT .p:GT q/.
Nun kombinieren wir (27)–(29) und erhalten damit
(30) PA ` :GT ! TheoremT .p:GT q/.
Da die Formel Neg.x1 ; x2 / die Menge aus Lemma 7.22 repräsentiert, haben wir
(31) PA ` Neg.pGT q; p:GT q/.
Kombinieren wir (27), (30) und (31), erhalten wir
(32) PA ` :GT ! .TheoremT .pGT q/ ^ TheoremT .p:GT q/ ^
Neg.pGT q; p:GT q//.
Somit gilt
(33) PA ` :GT ! 9x1 9x2 .TheoremT .x1 / ^ TheoremT .x2 / ^ Neg.x1 ; x2 //.
Aber mit (22) ist ConT einfach die Negation der rechten Seite des Konditionals aus
(33). Also gilt
(34) PA ` :GT ! :ConT .
Schließlich können wir daraus mit Kontraposition, wie gewünscht, PA ` ConT !
GT herleiten. 

Nun wenden wir uns dem Beweis von Lemma 7.15, dem Diagonalisierungslem-
ma, zu. Das Diagonalisierungslemma besagt, dass ein Satz der Sprache von PA in
gewisser Weise über sich selbst sprechen kann. Zur Vorbereitung dieses Beweises
betrachten wir ein Beispiel, das von Quine stammt und veranschaulicht, wie ein
normalsprachlicher Satz über sich selbst sprechen kann.12 Wir werden uns Stück
für Stück zu Quines Beispiel vorarbeiten.

12
Dieses Beispiel findet man in W. V. Quines Paradox (1962; in Quine 1976, S. 17).
186 7 Die Unvollständigkeitssätze

Betrachten wir die folgenden zwei Sätze:


(35) Die Philosophie der Mathematik ist eine faszinierende Wissenschaft.
(36) „Philosophie der Mathematik“ ist drei Wörter lang.
Der Gegenstand des Satzes (35) ist die Philosophie der Mathematik, und der Satz
macht die wahre Aussage, dass dies eine faszinierende Wissenschaft ist. Die An-
führungszeichen in (36) zeigen an, dass der Gegenstand dieses Satzes nicht die
Philosophie der Mathematik ist, sondern vielmehr der Ausdruck „Philosophie der
Mathematik“, und der Satz macht die wahre Aussage, dass dieser Ausdruck aus drei
Wörtern besteht.
Hier ist ein weiteres Beispiel eines Satzes, dessen Gegenstand ein Ausdruck ist:
(37) „ist drei Wörter lang“ ist drei Wörter lang.
Natürlich ist dieser Satz falsch, da der Ausdruck „ist drei Wörter lang“ tatsächlich
vier Wörter lang ist. Der Satz (37) hat die besondere Form eines Ausdrucks, der auf
seine eigene Erwähnung angewandt wird, deswegen können wir den Umstand, dass
(37) falsch ist, wie folgt ausdrücken:
(38) „ist drei Wörter lang“ führt zu einer falschen Aussage, wenn es auf die eigene
Erwähnung angewendet wird.
Satz (38) besagt, wenn der Ausdruck „ist drei Wörter lang“ auf die eigene Erwäh-
nung angewendet wird, dann ergibt sich als Ergebnis eine falsche Aussage. Aber das
Ergebnis von der Anwendung des Ausdrucks „ist drei Wörter lang“ auf die eigene
Erwähnung ist gerade Satz (37). Somit spricht Satz (38) indirekt wieder über Satz
(37) und besagt, dass Satz (37) falsch ist. Da Satz (37) tatsächlich falsch ist, ist Satz
(38) wahr.
Hier folgt nun schließlich Quines Beispiel:
(39) „führt zu einer falschen Aussage, wenn es auf die eigene Erwähnung an-
gewendet wird“ führt zu einer falschen Aussage, wenn es auf die eigene
Erwähnung angewendet wird.
Genau wie Satz (38) spricht auch Satz (39) über das Ergebnis, wenn ein Ausdruck
auf die eigene Erwähnung angewendet wird. Aber in diesem Fall ist das Ergebnis
der Satz (39) selbst! Somit spricht Satz (39) indirekt wieder über sich selbst und
sagt über sich selbst, dass er falsch sei. Wir überlassen dem Leser die Entschei-
dung, ob Satz (39) wahr oder falsch ist. Wenn wir den Ausdruck „falsche Aussage“
in Satz (39) durch einen anderen Ausdruck ersetzen, können wir einen Satz bilden,
der was auch immer wir wollen über sich selbst sagt. Der Beweis des Diagonali-
sierungslemmas besteht darin, die Ideen aus Satz (39) in die Sprache von PA zu
übertragen.
Aus technischen Gründen, die aber später klar werden, arbeiten wir normaler-
weise mit Formeln aus der Sprache von PA, deren einzige freie Variable x2 ist.
Angenommen, R.x2 / ist eine solche Formel und n ist die Gödelzahl von R.x2 /.
Wenn wir das Zahlzeichen S n 0 für jedes freie Vorkommen von x2 in R.x2 / einset-
zen, erhalten wir den Satz R.S n 0/. Diesen Satz nennen wir die Diagonalisierung
7 Die Unvollständigkeitssätze 187

der Formel R.x2 /. Diese Operation der Diagonalisierung einer Formel wird im Be-
weis des Diagonalisierungslemmas dieselbe Rolle spielen, die das Anwenden eines
Ausdrucks auf die eigene Erwähnung in Quines Beispiel spielt.
Sei beispielsweise R.x2 / die Formel „.x2 D 0/“. Ihre Gödelzahl ist
(40) #R.x2 / D #h7; 16; 9; 10; 8i D 28  317  510  711  119
D 1:505:268:403:034:293:837:167:718:297:500:000:000.
Somit ist die Diagonalisierung von R.x2 / der Satz „.SSS: : :0 D 0/“, wobei „: : :“
für 1:505:268:403:034:293:837:167:718:297:499:999:997 weitere „S“-Zeichen
steht.
Um den Aufbau von Quines Satz, der über die Anwendung eines Ausdrucks auf
die eigene Erwähnung spricht, nachzumachen, müssen wir in der Sprache von PA
über die Diagonalisierung von Formeln sprechen können. Das nächste Lemma sorgt
dafür, dass das möglich ist.

Lemma 7.28 Die Menge fhm; ni 2 N 2 W n ist die Gödelzahl einer Formel, deren
einzige freie Variable x2 ist, und m ist die Gödelzahl der Diagonalisierung dieser
Formelg ist repräsentierbar.

Beweis Unsere Definition der Diagonalisierungsoperation gibt uns einen Algorith-


mus, wie wir die Diagonalisierung jeder beliebigen Formel, deren einzige freie
Variable x2 ist, finden können. Es folgt, dass die Menge aus dem Lemma entscheid-
bar ist, und mit Satz 7.10 ist sie dann repräsentierbar. 

Lemma 7.28 sagt uns, dass es eine Formel Diag.x1 ; x2 / gibt, sodass gilt: Wenn
n die Gödelzahl einer Formel R.x2 / ist und m die Gödelzahl des Satzes R.S n 0/,
dann PA ` Diag.S m 0; S n 0/, und wenn nicht, dann PA ` :Diag.S m 0; S n 0/. Intui-
tiv können wir uns vorstellen, Diag.x1 ; x2 / würde besagen, dass x2 die Gödelzahl
einer Formel und x1 die Gödelzahl der Diagonalisierung dieser Formel ist. Es wird
sinnvoll sein, nicht direkt mit der Formel Diag.x1 ; x2 / zu arbeiten, sondern mit der
folgenden, ähnlichen Formel, die wir D.x1 ; x2 / nennen:
(41) Diag.x1 ; x2 / ^ :9x3 .x3 < x1 ^ Diag.x3 ; x2 //.
Intuitiv besagt D.x1 ; x2 /, dass x2 die Gödelzahl einer Formel ist und dass x1 die
kleinste Zahl ist, die die Gödelzahl der Diagonalisierung dieser Formel ist. Der
Grund, warum wir D.x1 ; x2 / statt Diag.x1 ; x2 / benutzen, ist durch das folgende
Lemma gegeben:

Lemma 7.29 Sei n die Gödelzahl einer Formel R.x2 /, und sei m die Gödelzahl
ihrer Diagonalisierung R.S n 0/. Dann

PA ` 8x1 .D.x1 ; S n 0/ $ x1 D S m 0/:

Beweis Mit Lemma 7.28 wissen wir bereits, dass


(42) PA ` Diag.S m 0; S n 0/,
188 7 Die Unvollständigkeitssätze

und
(43) für jede natürliche Zahl k < m gilt PA ` :Diag.S k 0; S n 0/.
Es ist zu beachten, dass (43) keinen einzelnen Satz darstellt, sondern eine Liste m
solcher Sätze, einen für jede Zahl k von 0 bis m  1. Es kann auch gezeigt werden,
dass
(44) PA ` 8x3 .x3 < S m 0 ! .x3 D 0 _ x3 D S0 _ x3 D SS0 _ : : : _ x3 D
S m1 0//.
(Für ein Beispiel hiervon, siehe Übung 7.6(b).) Da PA unter logischer Folgerung
abgeschlossen ist, folgt aus (43) und (44), dass
(45) PA ` :9x3 .x3 < S m 0 ^ Diag.x3 ; S n 0//.
Kombinieren wir dies mit (42), erhalten wir
(46) PA ` Diag.S m 0; S n 0/ ^ :9x3 .x3 < S m 0 ^ Diag.x3 ; S n 0//.
Aber entsprechend (41) ist der Satz (46) gerade D.S m 0; S n 0/, also haben wir
(47) PA ` D.S m 0; S n 0/
oder äquivalent:
(48) PA ` 8x1 .x1 D S m 0 ! D.S m 0; S n 0//.
Dies ist die Rechts-Links-Richtung des Bikonditionals aus dem Lemma.
Für die Links-Rechts-Richtung werden wir erneut (45) benutzen. Wir beginnen,
indem wir es in die folgende, äquivalente Form bringen:
(49) PA ` 8x1 .x1 < S m 0 ! :Diag.x1 ; S n 0//.
Als Konsequenz aus (42) haben wir auch
(50) PA ` 8x1 .S m 0 < x1 ! 9x3 .x3 < x1 ^ Diag.x3 ; S n 0///.
Wegen (41) widersprechen die rechten Seiten von (49) und (50) beide D.x1 ; S n 0/.
Daher gilt
(51) PA ` 8x1 .x1 < S m 0 ! :D.x1 ; S n 0//
und
(52) PA ` 8x1 .S m 0 < x1 ! :D.x1 ; S n 0//.
Schließlich benutzen wir, dass die Trichotomie in PA beweisbar ist (siehe Übung
7.7), woraus folgt
(53) PA ` 8x1 .x1 < S m 0 _ S m 0 < x1 _ x1 D S m 0/.
Nun können wir aus (51)–(53), da PA unter logischer Folgerung abgeschlossen ist,
schließen
(54) PA ` 8x1 .D.x1 ; S n 0/ ! x1 D S m 0/,
welches die Links-Rechts-Richtung des gewünschten Bikonditionals ist. 

Nun haben wir alles, um das Diagonalisierungslemma zu beweisen.


Übungen 189

Beweis (von Lemma 7.15) Erinnern wir uns, dass wir eine Formel P .x1 / gegeben
haben und einen Satz Q finden müssen, sodass PA ` Q $ P .pQq/. Wir sagen,
dass Q ein P -Satz ist, wenn der Satz P .pQq/ wahr ist. Dann könnten wir informell
sagen, dass wir einen Satz Q suchen, der sagt: „Ich bin ein P -Satz“.
Wir beginnen, indem wir eine Formel R.x2 / definieren, die dem Quine’schen
Ausdruck „führt zu einer falschen Aussage, wenn es auf die eigene Erwähnung
angewendet wird“ entspricht. Informell sagt R.x2 /: „x2 ist die Gödelzahl einer For-
mel, die zu einem P -Satz führt, wenn sie diagonalisiert wird.“ Formal definieren
wir R.x2 / als folgende Formel:
(55) 9x1 .D.x1 ; x2 / ^ P .x1 //.
Quines Beispiel ist das Ergebnis davon, einen Ausdruck auf die eigene Erwähnung
anzuwenden. Analog bilden wir für die Definition des Satzes Q die Diagonalisie-
rung von R.x2 /. Sei n die Gödelzahl von R.x2 /, und sei Q der Satz R.S n 0/. Somit
ist Q der Satz
(56) 9x1 .D.x1 ; S n 0/ ^ P .x1 //.
Sei m die Gödelzahl von Q. Dann gilt mit Lemma 7.29
(57) PA ` 8x1 .D.x1 ; S n 0/ $ x1 D S m 0/.
Also gilt
(58) PA ` 9x1 .D.x1 ; S n 0/ ^ P .x1 // $ 9x1 .x1 D S m 0 ^ P .x1 //.
Aber die linke Seite des Bikonditionals in (58) ist gerade Q, somit haben wir
(59) PA ` Q $ 9x1 .x1 D S m 0 ^ P .x1 //
oder einfacher
(60) PA ` Q $ P .S m 0/.
Da m die Gödelzahl von Q ist, bedeutet dies wie gewünscht PA ` Q $ P .pQq/.


Übungen

7.1 Schreibe Formeln in der Sprache von PA auf, die in der intendierten Interpre-
tation die folgenden Bedeutungen haben. Gehe dabei sicher, dass alle Klammern
enthalten sind, die in den Definitionen 7.1 und 7.2 gefordert werden.
(a) Die Addition ist kommutativ.
(b) x1 ist eine Quadratzahl.
(c) x1 und x2 sind zueinander prim, d. h., es gibt keine Zahl größer als 1, durch die
beide teilbar sind.

7.2 Finde in PA einen Beweis des Satzes ..S0  S0/ D S0/.


190 7 Die Unvollständigkeitssätze

7.3 Zeige PA ` .S0 < SS0/. (Es muss kein Beweis gefunden werden; es reicht
zu zeigen, dass .S0 < SS0/ logisch aus den PA-Axiomen folgt, und dann kann
verwendet werden, dass PA unter logischer Folgerung abgeschlossen ist.)

7.4 Zeige PA ` :.SS0 < S0/. (Hinweis: Es könnte nützlich sein, zuerst PA `
8x1 :.SS0 C x1 D 0/ zu zeigen (mit vollständiger Induktion). Es ist also eine
Instanz des PA-Axioms (viii) zu verwenden.)

7.5 Zeige, dass die Assoziativität und die Kommutativität der Addition Theoreme
von PA sind. Mit anderen Worten:
(a) Zeige PA ` 8x1 8x2 8x3 ..x1 C x2 / C x3 D x1 C .x2 C x3 //. (Hinweis: Forma-
lisiere den Beweis von Satz 3.11.)
(b) Zeige PA ` 8x1 8x2 .x1 C x2 D x2 C x1 /. (Hinweis: Formalisiere die Lösung
von Übung 3.5 aus Kap. 3.)

7.6
(a) Zeige PA ` 8x1 :.x1 < x1 /. (Hinweis: mit vollständiger Induktion.)
(b) Zeige PA ` 8x1 .x1 < SS0 ! .x1 D 0 _ x1 D S0//. (Hinweis: mit vollstän-
diger Induktion.)

7.7 Zeige, dass die Trichotomie ein Theorem von PA ist: PA ` 8x1 8x2 .x1 <
x2 _ x2 < x1 _ x1 D x2 /. (Hinweis: Formalisiere die Lösung von Übung 3.8 aus
Kap. 3.)

7.8 Sei E D fhm; ni 2 N 2 W m D ng. Zeige, dass E repräsentierbar ist.

7.9 Sei A D fht; ni 2 N 2 W t ist eine Folgencodezahl, und n ist die Summe der
Zahlen in der Folge, die von t codiert wirdg. Beispielsweise gilt h#h2; 1; 3i; 6i 2 A,
aber h#h2; 3i; 6i … A. Erkläre mit der Beweisidee von Satz 7.10, wie eine Formel
gefunden werden kann, die A repräsentiert. (Es muss nicht bewiesen werden, dass
die Formel A repräsentiert.)

7.10 Warum ist jede repräsentierbare Menge entscheidbar?

7.11 Berechne die Gödelzahlen der folgenden Ausdrücke:


(a) x3 C/:0. (Natürlich ist das keine Formel, es ist nur eine sinnlose Zeichenfolge.
Dennoch hat dieser Ausdruck eine Gödelzahl.)
(b) .x1  S0/ D x1 .

7.12 Bestimme, ob die folgenden Zahlen Gödelzahlen von Ausdrücken sind und
wenn ja, von welchen Ausdrücken:
(a) 106.288.200.000.000.000.
(b) 13.720.000.000.
Übungen 191

(c) 161:252:785:673:234:064:776:494:200:382:249:149:347:524:097:765:963:
394:383:821:290:729:762:920:307:556:493:325:000:000 D 26  317  58  717 
1113  1312  1717  199 .

7.13 Mit Satz 7.11 gibt es eine Formel P .x1 /, die die Menge fn 2 N W n ist die
Gödelzahl einer Formelg repräsentiert. Mit dem Diagonalisierungslemma gibt es
einen Satz Q, sodass PA ` Q $ :P .pQq/. (Somit könnte man informell sagen,
dass Q sagt: „Ich bin keine Formel.“) Ist Q ein Theorem von PA? Ist :Q ein
Theorem von PA?

7.14 Beweise, dass für eine entscheidbare, !-konsistente Erweiterung T von PA


gilt: T ° GT ! TheoremT .pGT q/.

7.15 Nehmen wir an, dass T eine entscheidbare Erweiterung von PA ist. Mit dem
Diagonalisierungslemma gibt es einen Satz P , sodass PA ` P $ TheoremT .pP q/.
Somit sagt P : „Ich bin ein Theorem von T .“ Zeige T ` P . (Somit ist P wahr: Er
besagt, dass er ein Theorem von T ist, und er ist es! Dies könnte mit Übung 6.2(c)
aus Kap. 6 verglichen werden.)
Beweise allgemeiner den Löb’schen Satz: Für jeden Satz P , sodass T `
TheoremT .pP q/ ! P , folgt: T ` P . (Hinweis: Mit dem Diagonalisierungs-
lemma gibt es einen Satz Q, sodass PA ` Q $ .TheoremT .pQq/ ! P /. Zeige,
dass die folgenden Aussagen wahr sind:
PA ` TheoremT .pQq/ ! TheoremT .pTheoremT .pQq/ ! P q/:
PA ` TheoremT .pQq/ ! TheoremT .pP q/:
T ` TheoremT .pQq/ ! P:
T ` Q:
Verwende schließlich die letzten zwei Aussagen, um auf T ` P zu schließen.)

7.16 Sei T eine entscheidbare Erweiterung von PA. Für jede natürliche Zahl n
sagen wir, dass T konsistent bis n ist, falls es keinen Satz P gibt, sodass T ` P ,
T ` :P , und die Gödelzahlen von P , :P und den Beweisen von P und :P sind
kleiner als n. Wir können dies in der Sprache von PA ausdrücken, indem wir die
Formel KonBis.x5 / definieren:
:9x1 9x2 9x3 9x4 .x1 < x5 ^ x2 < x5 ^ x3 < x5 ^ x4 < x5
^ BeweisT .x1 ; x2 / ^ BeweisT .x3 ; x4 / ^ Neg.x1 ; x3 //:
Dann besagt KonBisT .x5 /, dass T bis x5 konsistent ist. Zeige, dass für jede kon-
sistente Theorie T folgt: Für jedes n 2 N gilt: PA ` KonBisT .S n 0/, aber T °
8x5 KonBisT .x5 /. (Hinweis: Verwende, dass für jede natürliche Zahl n gilt:
PA ` 8x1 .x1 < S n 0 ! .x1 D 0 _ x1 D S0 _ x1 D SS0 _ : : : _ x1 D S n1 0//:

Siehe (44) im Beweis von Lemma 7.29 und Übung 7.6(b).)


192 7 Die Unvollständigkeitssätze

7.17 Sei T eine entscheidbare, konsistente Erweiterung von PA. Sei Beweis0T .x1 ; x2 /
die Formel

BeweisT .x1 ; x2 / ^ 9x5 .x1 < x5 ^ x2 < x5 ^ KonBisT .x5 //;

wobei KonBisT .x5 / in Übung 7.16 definiert wurde. Sei Theorem0T .x1 / und Con0T
aus Beweis0T .x1 ; x2 / genauso wie TheoremT .x1 / und ConT aus BeweisT .x1 ; x2 /
definiert. Mit anderen Worten sei Theorem0T .x1 / die Formel

9x2 .Beweis0T .x1 ; x2 //;

und sei Con0T der Satz

:9x1 9x2 .Theorem0T .x1 / ^ Theorem0T .x2 / ^ Neg.x1 ; x2 //:

(a) Zeige, dass Beweis0T .x1 ; x2 / die Menge fhn; mi 2 N 2 W n ist die Gödelzahl ei-
nes Satzes, und m ist die Gödelzahl von einem Beweis dieses Satzes in T g re-
präsentiert.
(b) Zeige T ` Con0T . (Hinweis: Entsprechend seiner Definition ist der Satz Con0T
logisch äquivalent zu

:9x1 9x2 9x3 9x4 .BeweisT .x1 ; x2 / ^ BeweisT .x3 ; x4 / ^ Neg.x1 ; x3 /


^ 9x5 .x1 < x5 ^ x2 < x5 ^ KonBisT .x5 //
^ 9x6 .x3 < x6 ^ x4 < x6 ^ KonBisT .x6 ///:

Mit Trichotomie (siehe Übung 7.7) kann man zeigen, dass

PA ` :Con0T ! 9x1 9x2 9x3 9x4 9x5 .BeweisT .x1 ; x2 / ^ BeweisT .x3 ; x4 /
^ Neg.x1 ; x3 / ^ x1 < x5 ^ x2 < x5 ^ x3 < x5 ^ x4 < x5 ^ KonBisT .x5 //:

Äquivalent

PA ` :Con0T ! 9x5 ŒKonBisT .x5 / ^ 9x1 9x2 9x3 9x4 .x1 < x5 ^ x2 < x5
^ x3 < x5 ^ x4 < x5 ^ BeweisT .x1 ; x2 / ^ BeweisT .x3 ; x4 / ^ Neg.x1 ; x3 //:

Schließlich wird dies mit der Definition von KonBisT .x5 / kombiniert, sodass
PA ` Con0T gefolgert werden kann.)

7.18 Beweise den Satz von Rosser: Wenn T eine entscheidbare, konsistente Er-
weiterung von PA ist, dann gibt es einen Satz RT , sodass T ° RT und T ° :RT .
(Hinweis: Nehmen wir an, T sei eine entscheidbare, konsistente Erweiterung von
PA. Wir definieren den Rossersatz RT in genau der gleichen Weise, wie wir den
Gödelsatz GT definiert haben, außer, dass wir die Formel Theorem0T .x1 / statt
Übungen 193

TheoremT .x1 / verwenden, wobei Theorem0T .x1 / wie in Übung 7.17 definiert ist.
Mit anderen Worten, verwende das Diagonalisierungslemma, um RT so zu wählen,
dass
PA ` RT $ :Theorem0T .pRT q/:

Der Beweis, dass T ° RT , ist analog zu dem Beweis, dass T ° GT . Für den
Nachweis, dass T ° :RT , nimmt man an, dass T ` :RT , und beweist dann, dass
T ` :Con0T . Mit Übung 7.17(b) widerspricht dies der Konsistenz von T .)

7.19 Sei T eine entscheidbare, konsistente Erweiterung von PA. Sagen wir, dass
ein Satz P effektiv beweisbar in T ist, falls es einen Beweis von P in T gibt, dessen
#P
Gödelzahl kleiner als 1010 ist. Sei E D fn 2 N W n ist die Gödelzahl eines Satzes,
der in T effektiv beweisbar istg.
(a) Zeige, dass E repräsentierbar ist. (Hinweis: Zeige, dass E entscheidbar ist und
wende Satz 7.10 an.)
(b) Zeige, dass es einen Satz Q gibt, sodass PA ` Q, aber Q ist in T nicht effektiv
beweisbar. (Hinweis: Mit Teil (a) sei EffektivBeweisbarT .x1 / die Formel, die
E repräsentiert. Mit dem Diagonalisierungslemma sei Q ein Satz, sodass

PA ` Q $ :EffektivBeweisbarT .pQq/:

Nimm nun an, dass Q in T effektiv beweisbar ist und leite einen Widerspruch
her.)

7.20 Sei T eine entscheidbare Erweiterung von PA. Der Zweite Unvollständig-
keitssatz besagt, wenn T konsistent ist, dann T ° ConT . Diese Aussage kann mit
dem Satz

ConT ! :TheoremT .pConT q/

selbst in der Sprache von PA ausgedrückt werden. Zeige, dass dieser Satz ein Theo-
rem von PA ist, d. h. PA ` ConT ! :TheoremT .pConT q/. (Hinweis: Verwende
Lemma 7.23.)

7.21 Sei T eine entscheidbare Erweiterung von PA. Zeige, wenn T !-konsistent
ist, dann T ° ConT ! :TheoremT .pConT q/. (Hinweis: Nimm T ` ConT !
:TheoremT .pConT q/ an. Wende den Löb’schen Satz an (Übung 7.15), um zu zei-
gen, dass T ` :ConT . Schließe, dass T ` 9x5 :KonBisT .x5 /, wobei KonBisT .x5 /
wie in Übung 7.16 definiert ist. Kombiniere dies mit Übung 7.16, um zu schließen,
dass T nicht !-konsistent ist.)

7.22 Sei T die Erweiterung von PA, in der der Satz :GPA als Axiom hinzugefügt
wurde. Wie im Text besprochen, ist T konsistent. Zeige, dass T nicht !-konsistent
ist.
194 7 Die Unvollständigkeitssätze

7.23 Sei T eine entscheidbare, konsistente Erweiterung von PA. Wir sagen, dass ei-
ne Formel F .x1 / ein T -Name einer natürlichen Zahl n ist, falls T ` 8x1 .F .x1 / $
x1 D S n 0/. Zum Beispiel ist die Formel .x1 D .SSS0 C SS0// ein PA-Name
für 5.13
(a) Zeige, dass keine Formel ein T -Name für zwei verschiedene, natürliche Zahlen
sein kann.
(b) Zeige, dass es für jede natürliche Zahl k nur endlich viele natürliche Zahlen
gibt, die einen T -Namen besitzen, der k Zeichen lang ist. (Hinweis: Obwohl es
unendlich viele Formeln beliebiger Längen gibt, sind viele von ihnen logisch
äquivalent.)
(c) Zeige, dass fhn; ki 2 N 2 W n besitzt einen T -Namen, der k Zeichen lang
istg in der Sprache von PA definierbar ist. Mit anderen Worten, zeige, dass es
eine Formel BenennbarT .u; v/ gibt, sodass diese Formel genau dann für alle
natürlichen Zahlen n und k wahr ist (d. h. wahr im Standardmodell), wenn n
einen T -Namen besitzt, der k Zeichen lang ist. (Hinweis: Man könnte mit dem
Fakt beginnen, dass fhn; m:pi 2 N 3 W m ist die Gödelzahl einer Formel F .x1 /
und p ist die Gödelzahl eines Beweises in T von 8x1 .F .x1 / $ x1 D S n 0/g
entscheidbar ist und daher repräsentierbar.)
Sei nun B.x1 ; x2 / die Formel

9v.v D S 2 0  x2 ^ :BenennbarT .x1 ; v/ ^ 8u.u < x1 ! BenennbarT .u; v///:

Damit besagt B.x1 ; x2 /, dass x1 keinen T -Namen der Länge 2  x2 besitzt, aber
jede Zahl kleiner x1 besitzt einen solchen T -Namen. Mit anderen Worten besagt
B.x1 ; x2 /, dass x1 die kleinste, natürliche Zahl ist, die keinen T -Namen der Länge
2  x2 besitzt. Sei k die Länge der Formel B.x1 ; x2 / und sei F .x1 / die Formel
B.x1 ; S k 0/; mit anderen Worten, sei F .x1 / die Formel

9v.v D S 2 0  S k 0 ^ :BenennbarT .x1 ; v/ ^ 8u.u < x1 ! BenennbarT .u; v///:

(d) Zeige, dass es eine Zahl n gibt, sodass 8x1 .F .x1 / $ x1 D S n 0/ wahr ist.
(e) Sei n die Zahl aus Teil (d). Zeige, dass T ° 8x1 .F .x1 / $ x1 D S n 0/. Dies
zeigt, dass 8x1 .F .x1 / $ x1 D S n 0/ ein Satz ist, der wahr, aber in T nicht
beweisbar ist.

13
Diese Übung basiert auf dem Beweis in Boolos (1989). Man könnte sie mit Übung 6.3 aus
Kap. 6 vergleichen, die auf Berrys Antinomie beruht.
Kapitel 8
Schluss

Unser intellektuelles Abenteuer war nicht ohne Frustration. Kaum war eine ver-
lockende Konzeption vorgestellt, die die Lösung einiger unserer ursprünglichen
Fragen über Mathematik in Aussicht stellte, entdeckten wir aus diesem oder jenem
Grund, dass die tragenden Ideen schließlich unbefriedigend oder nicht realisierbar
waren. Wir waren wiederholt von ihnen angezogen, nur um dann Enttäuschung zu
erfahren. Etwa so, wie es jemand einmal über Lord Berners’ Malereien sagte: Das
Vergnügen, das sie uns bereiten, wird durch das Bedauern geschmälert, dass sie, so
gut sie sind, nicht noch ein wenig besser sind.
Der Logizismus, wäre er erfolgreich durchgeführt worden, so wie ihn Frege
sich vorstellte, würde eine Reihe von Geheimnissen über Mathematik aufgedeckt
haben, die wir in Kap. 1 diskutiert haben. Die a priori-Natur der Mathematik ist
für den Logizisten eine Folge der uneingeschränkten Allgemeinheit des logischen
Wissens. Da die Mathematik von nichts Speziellem handelt, verwundert es we-
nig, dass auch nichts Spezielles herangezogen werden muss, um mathematisches
Wissen zu erwerben. Der Logizismus macht deutlich, warum der Beweis in der
Mathematik so zentral ist. Die Deduktion ist der eindeutige Weg hin zum logischen
Wissen. Und die universelle Anwendbarkeit von Mathematik ist eine ziemlich ein-
fache Konsequenz aus der Tatsache, dass Mathematik, die eigentlich nur Logik ist,
völlig allgemein ist: Über nichts handelnd ist Logik überall. Das erklärt sehr ein-
fach die universelle Relevanz der Mathematik. Schließlich: Wenn der Logizismus
erfolgreich gewesen wäre, dann wäre unser Griff nach dem Unendlichen für unse-
re endlichen Natur nicht fremd, sondern vielmehr etwas unserer rationalen Natur
Verwandtes. Denn dem Logizismus folgend bedeutete, die Gesetze des Denkens zu
verstehen, das Unendliche zu begreifen.
Unglücklicherweise war das Unendliche in der mathematischen Welt der Fels,
an dem Freges Logizismus zerschellte. Denn wir sahen im in Kap. 4, wie Russell’s
Antinomie den Konflikt offenlegte – zwischen dem Ziel des Logizisten, dem Un-
endlichen des klassischen Mathematikers gerecht zu werden, und seinem Wunsch,
das in einer Reduktion auf ein System zu tun, das in seiner Anwendbarkeit völlig
allgemein ist. In Kap. 3 haben wir erkundet, wie das Ziel erreicht werden könn-
te, ohne diesen Wunsch zu erfüllen, indem wir zeigten, wie mit den Mitteln der
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 195
A. George, D.J. Velleman, Zur Philosophie der Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-56237-6_8
196 8 Schluss

Mengenlehre eine Reduktion der Analysis erreicht werden kann. Diese Reduktion
enthielt natürlich einen substantiellen philosophischen Kompromiss, da das Fehlen
der Allgemeinheit in der Mengenlehre die Chance für viele der Fragen verpasst, die
uns mathematisch in erster Linie quälten. In ZFC wurde die Existenz unendlicher
Mengen nicht bewiesen, sondern einfach als Axiom angenommen.
Trotz allem ist Freges Logizismus in vieler Hinsicht eine große Errungenschaft.
Denn er hat uns mit einem Schatz an philosophischen Reflexionen über die Natur
der Sprache und der Mathematik ausgestattet, der immer weiter inspirieren wird.
Und Frege hat die formale Logik geschaffen. Beide, Reflexion der Sprache und for-
male Logik, sind Werkzeug und erstklassige Analyse der Begriffe. Freges Wunsch
war es, die Quelle des mathematischen Denkens offenzulegen und, auch wenn er
nicht fand, was er suchte, so gab er uns doch die Mittel an die Hand, die Suche
fortzusetzen. Frege machte es möglich, die zentralen Fragen zu stellen und die Ant-
worten zu prüfen, und das allein sind signifikante Leistungen. Die Untersuchung
der grundlegenden Werkzeuge, die sein Projekt möglich machten, führten schließ-
lich zu dem Urteil, dass es nicht realisierbar war.
Gödels weitreichendes Werk über die Natur der Logik und formaler Systeme
zeigt, dass es keine einzelne Theorie geben kann, aus der alle mathematischen
Wahrheiten abgeleitet werden können. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Gö-
dels bedeutende Resultate Freges Traum ein Ende setzten und ihm doch ihre eigene
Existenz verdankten. Denn es war Freges Werk, das zu der außerordentlichen Ver-
feinerung unseres Verständnisses von Logik und formalen Systemen führte, auf der
die Unvollständigkeitssätze fußen.1
Natürlich ist die heutige mengentheoretische Reduktion, die, auch wenn sie nicht
Freges Sache ist, viele seiner mathematischen Beiträge verwendete, nicht ohne ei-
genes Interesse, philosophisch wie mathematisch. Obwohl Mengenlehre nicht die
Allgemeinheit zeigt, die Frege verlangte, ist sie sehr allgemein darin, dass Mengen
jedes und alles als Elemente haben können. Ob es möglich wird, dass die Reduktion
auf Mengen alle dunklen philosophischen Wolken über der Mathematik vertreibt,
ist eine Frage weiterer Debatten. Sicher muss jeder Versuch, der die Reduktion auf
Mengen versucht, um philosophische Sorgen über Mathematik zu zerstreuen, die
Unvollständigkeit von ZFC berücksichtigen. Gödels Satz zeigt, dass, sofern ZFC
konsistent ist, ZFC nicht vollständig sein kann. Und in der Tat gibt es, wie wir
am Ende des Kap. 3 sahen, interessante mathematische Aussagen wie z. B. die
Kontinuumshypothese, die weder beweisbar noch widerlegbar in ZFC sind – im-
mer vorausgesetzt, dass ZFC widerspruchsfrei ist. Haben solche Aussagen einen
Wahrheitswert? Ihre Wahrheitswerte werden nicht aus der mengentheoretischen

1
Wie wir früher anmerkten, können die Peano-Axiome aus der Äquivalenz von (16) und (17) in
Kap. 2 abgeleitet werden. Diese Äquivalenz wird manchmal „Humes Prinzip“ genannt, da Frege
es mit einem Zitat von Hume (1748, Grundlagen, §63) einführte und die Ableitbarkeit der Peano-
Axiome in der Logik zweiter Stufe als „Freges Theorem“ tituliert wurde. Obwohl Frege schließlich
wenig philosophisches Interesse an diesem Satz hatte (da er Humes Prinzip nicht verwendete,
um eine adäquate Definition der natürlichen Zahlen zu geben), schätzen manche zeitgenössische
Philosophen diesen Satz hoch ein (vgl. Boolos (1998), Demopoulos (1995) und Hale und Wright
(2001)).
8 Schluss 197

Reduktion bestimmt. Wenn sie Wahrheitswerte haben, was bestimmt ihre Wahr-
heitswerte? Und wenn sie keine Wahrheitswerte haben, wie können wir in der
Mengenlehre das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten rechtfertigen, das behaup-
tet, dass jede Aussage entweder wahr oder falsch ist.
Dies bringt uns zum Intuitionismus. Auch er stellt in Aussicht, unsere Ratlosig-
keit über Mathematik etwas zu entlasten. Der Intuitionist lehnt den Gedanken ab,
dass mathematische Wahrheiten unabhängig von uns existieren, dass sie bestimmt
sind dadurch, wie die Dinge in einem separat existierenden Bereich stehen. Viel-
mehr ist mathematische Wahrheit im Intutitionismus strikt an menschliche Aktivität
gebunden, insbesondere an die Praxis des Beweisens von Sätzen. So gesehen ist un-
sere Fähigkeit, mathematische Wahrheiten zu besitzen, weniger mysteriös als sonst.
Denn sie ist eine Sache des Wissens über unsere eigenen Tätigkeiten, über etwas,
für das wir selbst stehen. Da weiter die intuitionistische Semantik durch die Bedin-
gungen des Beweisens, nicht die der Wahrheit, gegeben ist, ist es klar, warum dieser
besondere Weg zum Wissen die Rolle spielen kann, wie er es bei der Begründung
mathematischer Behauptungen tut. Und natürlich erledigt der Intuitionismus das
Problem des Unendlichen dadurch, dass er das aktual Unendliche verdammt und
nur das potentiell Unendliche billigt, das vernünftigerweise als innerhalb unseres
Horizontes liegend angenommen werden kann.
In der Frage nach der Anwendbarkeit ist die Situation weniger eindeutig. In
Kap. 5 sahen wir, dass ein frommer Intuitionist die klassische Mathematik nicht
in allen Teilen akzeptiert. Man vermutet daher natürlich zu Recht, dass der In-
tuitionist es daher besonders schwer hat, die Anwendbarkeit der Mathematik zu
erklären. Denn vieles aus der Mathematik, die in wissenschaftlichen Theorien ver-
wendet wird, ist zweifellos intuitionistisch sinnlos. Der Intuitionist sieht hier weit
schlechter aus als der klassische Kollege, der immerhin die Mathematik verstehen
kann, deren Anwendbarkeit in den Naturwissenschaften vielleicht geheimnisvoll
erscheint.
Aber das ist nicht entscheidend. Denn was wir wissen müssen, ist, ob die Ma-
thematik, die in der natürlichen Welt anwendbar ist, so modifiziert werden kann,
dass sie intuitionistisch akzeptabel ist. Das sind Dinge, die man gegenwärtig nicht
gut versteht. Ein Grund zu glauben, dass diese Modifikation möglich sein könnte,
liegt in der Art des Messens, der Mittel, mit denen unsere wissenschaftlichen Mo-
delle der Welt die Wirklichkeit erreichen. Ein zentraler Punkt in unserem Glauben
an eine empirische Theorie ist ihre Fähigkeit, dem, was wir beobachten, Sinn zu ge-
ben, wobei unsere Beobachtungen weitgehend aus Daten über Messungen bestehen.
Das ist bedeutsam, weil Messungen von ihrer Natur her endlich sind: Auch wenn es
möglich sein sollte, dass wir die Fähigkeit haben, im Prinzip Phänomene beliebig
genau zu messen, erreicht jede Messung nur einen endlichen Grad der Genauig-
keit. Wir haben gesehen, dass diese Eigenschaft der jeweiligen Endlichkeit, obwohl
sie ohne Grenze erweiterbar ist, die intuitionistische Konzeption des Unendlichen
charakterisiert. Das vielleicht liefert einen gewissen Grund zu glauben, dass mathe-
matische Theorien innerhalb von Wissenschaften intuitionistisch so umgeschrieben
werden können, dass kein Verlust für die erklärende oder vorhersagende Kraft der
wissenschaftlichen Beschreibung entsteht. Die physische Welt bietet keinen Raum
198 8 Schluss

für das vollendete, aktuale Unendliche. Warum also soll man annehmen, dass Theo-
rien über diese Welt Nachhilfe von einer mathematischen Welt brauchen, die einer
solchen Konzeption von Unendlichkeit verpflichtet ist?
Und wie steht es mit dem geradezu unheimlichen Nutzen der Mathematik in den
Wissenschaften? Da könnte vielleicht wieder der Blick auf die Messungen helfen,
um die Anwendbarkeit von Mathematik verständlicher zu machen. Intuitionistisch
ist die Basis der mathematischen Substanz immer die endliche, jedoch immer er-
weiterbare Aktivität des Mathematikers. Offensichtlich hat diese Aktivität etwas
gemeinsam gerade mit der Praxis, die wissenschaftlichen Theorien ihren Inhalt gibt,
nämlich den, den sie aus dem Messen der empirischen Welt entnehmen. Kann diese
fundamentale Verwandtschaft der Ursprünge ihres Inhalts etwas Licht auf die An-
wendbarkeit von Mathematik in der natürlichen Welt werfen? Wiederum: Solche
Fragen sind bis heute völlig ungeklärt.
Wenn wir Hilberts Programm beurteilen, müssen wir wie immer Verheißung und
Wirklichkeit unterscheiden. Wäre das Programm erfolgreich gewesen, wäre die
Aufgabe der Erklärung mathematischen Wissens weit einfacher geworden. Denn
das Wissen infinitistischer Mathematik könnte dann schlicht als Illusion angesehen
werden. Infinitistische Mathematik ist wirklich bedeutungslos, da es dort nichts zu
wissen gibt. Natürlich bleibt dann das Problem der Erklärung finitistischer Mathe-
matik. Hilbert jedoch glaubte, dass man diese geben könnte, dass es vermutlich ein
weit leichter zu lösendes Problem sei als das der Rechenschaft über das Wissens aus
der klassischen Mathematik oder selbst der intuitionistischen Mathematik. Die Rol-
le des klassischen Beweises wäre auch für Hilbert völlig geklärt gewesen, nicht als
Methode, um Wahrheiten aus Wahrheiten abzuleiten, sondern eher als eine brauch-
bare Technik, Symbole in formalen Systemen zu manipulieren. Ein Widerspruchs-
freiheitsbeweis hätte gezeigt, dass solche Manipulationen zuverlässig nur zu wahren
finitistischen Aussagen führten, was erklärte, warum Mathematiker sie verwenden.
Zur Anwendbarkeit von Mathematik hätte ein Hilbertscher Finitist gut darauf beste-
hen können, dass die meisten wissenschaftlichen Theorien, im Lichte ihrer Abhän-
gigkeit von infinitistischer Mathematik, inhaltsleer sind. Sie sind keine korrekten
Beschreibungen der Wirklichkeit, sondern vielmehr Rechenmethoden, die brauch-
bar die Ergebnisse von Messungen vorhersagen; die einzigen sinnvollen Aussagen
einer Theorie sind solche, die finitistische Behauptungen machen. Das Problem der
Erklärung, warum die klassische Mathematik Mittel bereitstellt, wahre Dinge über
die Welt zu sagen, kommt daher gar nicht auf. Sie wird ersetzt durch die zumutba-
re Aufgabe zu erklären, warum ein inhaltsloser mathematischer Apparat innerhalb
einer wissenschaftlichen Theorie sich darauf verlassen kann, von einer korrekten
Messung zu einer anderen korrekten Messung zu führen. Angenommen, Hilberts
Projekt wäre erfolgreich gewesen, so wäre diese Aufgabe lösbar erschienen.
Es ist klar, dass Hilberts Projekt nicht realisierbar ist. Eine Antwort wäre einfach
gewesen, die Idee der Rechtfertigung aufzugeben. Das heißt, man hielte weiterhin
infinitistische Mathematik für inhaltsleer und einen Beweis nur für ein formales
Spiel mit Symbolen, das korrekte Vorhersagen über endliche Berechnungen be-
wirken soll. Aber man versteht heute, dass es die Garantie nicht gibt, dass solche
Manipulationen immer so funktionieren. Man weiß nur, dass sie bisher funktioniert
8 Schluss 199

haben. Aus dieser Sicht ist Mathematik wie ein riskantes Spiel. Wenn man hinrei-
chend Platonist ist, um zu glauben, dass es eine Antwort über die Konsistenz von
ZFC geben wird – trotz unseres Unvermögens einer Lösung (die nur einen Pla-
tonismus für ein abzählbares Universum von endlichen Zeichenketten benötigt) –,
dann glaubt man, dass ZFC tatsächlich entweder konsistent oder inkonsistent ist.
Wenn ZFC konsistent ist, dann sind die Vorhersagen über endliche Rechnungen
korrekt und alles ist gut. Aber es besteht immer die Chance, dass eine Inkonsistenz
gefunden wird. Diejenigen, die wegen des Risikos besorgt sind, können in zweier-
lei Weise Trost finden: 1. Viele Mathematiker arbeiten seit Jahren mit ZFC, ohne
dass ein Widerspruch aufgetreten wäre. 2. Selbst wenn ein Widerspruch aufträte,
wäre es wahrscheinlich möglich, ihn mit kleinen Änderungen zu eliminieren, ohne
irgendwelche wichtige Mathematik dabei zu verlieren.2
Im Gegensatz dazu gibt es eine völlig andere Antwort, die das Nachdenken über
das Hilbertschen Programms inspiriert hat. Der amerikanische Mathematiker Ste-
phen Simpson (*1945) hat sie folgendermaßen beschrieben:3
Gödels Satz zeigt, dass es unmöglich ist, alle infinitistische Mathematik auf finitistische
zurückzuführen. Es bleibt das Problem, soviel wie möglich infinitistische Mathematik zu
sichern. Nämlich welcher Teil infinitistischer Mathematik kann auf finitistisches Denken
zurückgeführt werden.
Es hat bedeutende Fortschritte in dem Projekt gegeben, eine teilweise Ausführung
des Hilbertschen Programms zu erreichen. Der amerikanische Mathematiker Har-
vey Friedman (*1948) hat ein formales System angegeben – bekannt als WKL0 –, in
dem bedeutende Teile der infinitistischen Mathematik ausgeführt werden können.
Er hat bewiesen, dass WKL0 eine konservative Erweiterung finitistischer Mathe-
matik für finitistisch sinnvolle Aussagen ist. Kürzlich hat der deutsche Philosoph
Wilfried Sieg (*1948) einen finitistischen Beweis für dieses Resultat der Konser-
vativität gegeben. Sätze, die in WKL0 bewiesen werden können, beinhalten bei-
spielsweise solche, die viele der besonders wichtigen Eigenschaften stetiger reeller
Funktionen begründen. Jedoch umfasst WKL0 nicht das Studium unstetiger Funk-
tionen. Weiter wissen wir nach Gödels Unvollständigkeitssätzen, dass wir in WKL0
nicht alle Sätze von PA beweisen können. WKL0 enthält tatsächlich nur eine schwa-
che Form des Induktionsaxioms von PA. Während dieses Werk genau die Art der
Rechtfertigung zur Verfügung stellt, nach der Hilbert suchte, so tut sie dies also nur
für einen begrenzten Teil infinitistischer Mathematik.4
Diese Forschung zeigt, dass es möglich ist, durch finitistische Argumentationen
einen bedeutenden Teil infinitistischer Mathematik zu rechtfertigen. Ist man bereit,
über finitistische Argumentation hinauszugehen, dann ist es möglich, weitere infi-
nitistische Mathematik zu legitimieren. Wir haben bereits Beispiele gesehen.

2
Etwas wie diese Auffassung entspricht etwa derjenigen, auf die manche Mathematiker heute
zurückgreifen, wenn sie das Phänomen der Mathematik nicht anders erklären können. Die hier
beschriebene Auffassung ähnelt in gewisser Hinsicht der Auffassung in Henle (1991), vgl. Curry
(1951) und Remarks on the definition and nature of mathematics (1954) in Benacerraf und Putnam
(1983, S. 202–206).
3
Simpson (1988, S. 353).
4
Für Weiteres über diese Forschung vgl. Simpson (2009).
200 8 Schluss

Erinnern wir uns an Gödels Beweis in Kap. 5, dass jeder Satz von PA, der we-
der Disjunktionen noch Existenzquantoren enthält, auch ein Satz in HA ist, der
formalisierten intuitionistischen Arithmetik. Dieses Ergebnis sollte Intuitionisten
dazu führen, Beweisen in PA zu vertrauen, zumindest solchen über Sätze ohne
Disjunktionen und Existenzquantoren. 1936 lieferte Gentzen eine intuitionistische
Rechtfertigung von PA,5 indem er eine Erweiterung der Induktion nutzte, transfini-
te Induktion genannt.6 Eine Reihe von Forschern wie der japanische Mathematiker
Gaisi Takeuti (1926–2017), der amerikanische Mathematiker Solomon Feferman
(1928–2016) und Friedman haben in jüngerer Zeit die Methode Gentzens erweitert,
intuitionistische Rechtfertigungen für stärkere infinitistische Theorien anzugeben.
Diese Arbeiten gipfelten 1977 in den Sätzen von Sieg und den deutschen Mathe-
matikern Wilfried Buchholz (*1948) und Wolfram Pohlers (*1943). Sie gaben eine
Rechtfertigung für eine Theorie, die mit ˘11 – CA0 bezeichnet wird.7 Diese Theorie
ist stärker als PA und WKL0 und berücksichtigt spezielle nicht prädikative Defi-
nitionen von Mengen natürlicher Zahlen. Sätze, die in ˘11 – CA0 , aber nicht in
WKL0 beweisbar sind, sind Sätze wie der Satz von Bolzano-Weierstraß und Cantor-
Bendixson.8
Auch wenn Hilberts Projekt in der Form, wie Hilbert es sich ursprünglich vor-
stellte, nicht realisierbar ist, so sehen wir doch einen wichtigen Teilerfolg, wenn
wir das Projekt allgemeiner als einen Versuch ansehen, die klassische infinitistische
Mathematik von einem Standpunkt aus zu begründen, der das vollendete, aktuale
Unendliche nicht akzeptiert.9
Wir haben in diesem Kapitel skizziert, wie die drei unterschiedlichen Denkan-
sätze für eine mathematische Grundlegung den philosophischen Problemen, die wir
zu Anfang formulierten, begegnen und sie dabei umgestalten. Natürlich hat jeder
Ansatz Erwartungen enttäuscht. Dennoch: Jeder der Ansätze hatte die Kraft großer
Ideen, nämlich einfallsreiche Versuche zu fördern und zu belohnen, um Enttäu-
schung in Wohlgefallen zu verwandeln. Wir haben hier auch versucht, knapp auf
interessante Untersuchungsrichtungen – mathematische wie philosophische – hin-
zuweisen, die diese Ansätze inspirierten.
Es würde Bände füllen, um all den wertvollen Arbeiten gerecht zu werden, die
aus dem Logizismus, Intuitionismus und dem Formalismus kommen. In diesem
Buch haben wir nur versucht, mit dem Leser erste Schritte auf dem Wege zu gehen.

5
Anm. d. Übers.: Eine solche „transfinite“ Rechtfertigung würde ein Intuitionist kaum als „intui-
tionistisch“ akzeptieren.
6
The consistency of elementary number theory (1936), in Gentzen und Szabo (1969), vgl. Troelstra
und Schwichtenberg (2000).
7
Eine detailliertere Darstellung dieser Forschung kann man in dem Vorwort von Buchholz et al.
(2006) finden.
8
Die Ideen hinter der Entwicklung einer Analysis in ˘11 – CA0 kann man bis zu Bernays und Hil-
bert (1934 und 1939) zurückverfolgen, vgl. speziell das Supplement IV von Band 2. Zu weiteren
Informationen über die Stärke von ˘11 – CA0 vgl. Simpson (2009).
9
Anm. d. Übers.: Der Einschätzung, dass es hier um einen Standpunkt geht, der das aktual Unend-
liche nicht akzeptiert, können wir nicht folgen. Die transfinite Induktion geht über die gewöhnliche
finite Induktion hinaus, indem sie in dem Bereich der transfiniten Ordinalzahlen operiert, der ex-
plizit jenseits der kleinsten aktual unendlichen Ordinalzahl ! liegt.
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Personen- und Sachregister

p
2, 3 intuitionistische, 97
#, 120 klassische, 96
˘11 – CA0 , 200 Berkeley, G., 11
Bernays, P., 143, 183
A Berry, G. G., 158, 194
a posteriori, 5 Beweis
a priori, 5 in einer Erweiterung von PA, 163, 172
Abel, N. H., 11 unbestimmte Erweiterbarkeit der
Abschluss unter logischer Folgerung, 164 intuitionistischen Konzeption, 156,
abzählbar unendliche Menge, 75 157
abzählbare Menge, 75 Beweistheorie, 141, 142
Addition Brouwer, L. E. J., 154
ganzer Zahlen, 61, 62 Brouwer’sches Gegenbeispiel, 117, 122, 124
natürlicher Zahlen, 55, 56, 78, 79 Buchholz, W., 200
rationaler Zahlen, 65
reeller Zahlen, 70 C
Äquivalenzklasse, 60 Cantor, G., 45, 69, 75, 78
Äquivalenzrelation, 28, 59, 79, 80 Cauchy, A., 68
Algorithmus, 167 Cauchyfolge, 68, 80, 81, 114
Analysis, 65, 72 intuitionistisch, 118
Arithmetik Cohen, P., 77
Rückführungen, 83 Curry, H. B., 199
Assoziativität
der Addition natürlicher Zahlen, 56 D
beweisbar in PA, 190 Dedekind, R., 12, 34, 69
der Multiplikation natürlicher Zahlen, 79 Dedekind’sche Schnitte, 69
Auswahlaxiom, 44, 77 definierbare Menge, 173
Auswahlfunktion, 77 Definition, explizit vs. kontextbezogen, 26–28
axiomatisches System, 14, 45, 140–142 Definitionsbereich einer Funktion, 53
Axiomenschema, 50, 162 Diagonalisierung
als Beweismethode, 76
B einer Formel, 186, 187
Begriff Diagonalisierungslemma, 174, 185, 189
umfangsindefiniter, 88 Distributivgesetz
Begriff, Freges Definition, 19 der natürlichen Zahlen, 57
Stufe, 20 der rationalen Zahlen, 80
Behauptbarkeit, 96 Division rationaler Zahlen, 65

205
206 Personen- und Sachregister

doppelte Negation, 102 Zweiter, 152, 181–183


intuitionistisch, 117, 122 für ZFC, 183
doxastisch, 7 Gödelzahl, 168, 169, 171
Dreiecksungleichung, 69 Goldbach’sche Vermutung, 86
Dummet, M., 90 Grundgesetz (V), 38, 41, 42

E H
echte Klasse, 51, 53 HA, 113
eineindeutige Zuordnung, 27, 52, 53, 74 Hardy, G. H., 3, 6, 7, 10
Empirismus, 5 Herbrand, J., 146
endliche Menge, 58 Heyting Arithmetik, 155
entscheidbar Heyting, A., 113
Erweiterung von PA, 171 Hierarchie der Mengen, 86
Menge, 167 Hilbert, D., 135–153, 157, 181, 183
Erweiterung von PA, 162 Hilbert-Bernays-Beweisbarkeitseigenschaften,
Existenzquantor, 106 183, 184
Extensionalitätsaxiom, 46, 52 Hume, D., 10
Extremalklausel, 107 Humes Prinzip, 196

F I
Fakultät, 166 Imprädikativität, 32, 33, 44, 50, 107, 143
Fallunterscheidung, 103 Induktion
Feferman, S., 200 intuitionistisch, 108
Fermats letzter Satz, 145, 147 logizistisch, 107
finit, 97 transfinite, 200
finite Aussage, 136 vollständige, 4, 33, 56, 142, 143, 162
Finitismus, 136–139 Induktionsanfang, 4
Folge, 66 Induktionsschritt, 4
Codezahl, 165 Induktionsvoraussetzung, 4
formales System, 14, 140–142, 148, 159 infinit, 10
Formel, 159–161, 169 Interpretation, 96
atomar, 161 Intuition, 14, 136, 137, 141
Fraenkel A., 45 Intuitionismus, 89
Frege, G., 13–39, 45, 49–55, 58, 74, 195 irrationale Zahl, 3
Freges Theorem, 196 Isomorphismus, 35, 64, 178
Friedman, H., 199, 200
Funktion, 19, 53 J
Graph, 73 Julius Cäsar-Problem, 27–29

G K
ganze Zahlen, 58 Kant, I., 14
Abzählbarkeit, 75 Kardinalzahlen, 29
Definition in ZFC, 60, 61 Freges explizite Definition, 27, 38
Gegenstand (Frege), 18 Freges partielle, kontextbezogene
Gentzen, G., 114, 200 Definition, 26, 38
geordnetes Paar, 52 gegenständliche Natur, nach Frege, 24, 25,
Gesetz der doppelten Negation, 95 29, 30
getrennt liegen, 120 kartesisches Produkt, 52
gleichmächtig, 53 kategorische Theorie, 35, 178
gleichzahlig, 28, 38 Klasse, 84
Gödel, K., 77, 114, 147–157, 178–180, 196 echt, 84
Gödelsatz, 148, 175 kleinste, obere Schranke, 71
Gödelsche Unvollständigkeitssätze, 148 Kommutativität
Erster, 148, 176 der Addition ganzer Zahlen, 62
Personen- und Sachregister 207

der Addition natürlicher Zahlen, 56, 79 Freges Definition, 30


beweisbar in PA, 190 Nullteilerfreiheit, 122
der Multiplikation natürlicher Zahlen, 79
Komprehensionsaxiom, 50, 52, 76 O
konservative Erweiterung, 144, 146, 147 obere Schranke, 71
Konsistenz, 51, 163, 181, 182 !-Konsistenz, 175
Konstruktivismus, 89 ontologisch, 6
Kontinuumshypothese, 78 Ordnung
Korrektheit, 148, 153, 154 der ganzen Zahlen, 63
Korrektheitssatz, 178, 179 der Kardinalzahlen, 76
Kronecker, L., 12 der natürlichen Zahlen, 57
Kürzungsregel der Addition natürlicher der rationalen Zahlen, 65
Zahlen, 56, 61, 78, 161 der reellen Zahlen, 71
Kuratowski, K., 52
P
L :P , 9
Löb’scher Satz, 191, 193 P ^ Q, 9
Logik PA, 113
Allgemeinheit und universale Paarmengenaxiom, 48, 49, 52
Anwendbarkeit, 14, 16, 17, 29, 36 Pascal, B., 151
erststufige vs. höherstufige, 21, 50, 178, Peano, G., 34
179 Peano-Arithmetik, 153–156, 159–162
ontologische Behauptungen, 36 Peano-Axiome, 34
logische Zeichen, 9 beweisbar in ZFC, 55, 78
Logizismus, 16–18 Herleitbarkeit aus Freges Definition der
natürlichen Zahlen, 35–39
M Kategorizität, 35, 178, 179
Menge Platon, 1
in Stufen gebildet, 46–48, 51 Platonismus, 6
rein, 45 Pohlers, W., 200
Menge (erster Art), 127 Poincaré, H., 142, 143
Metamathematik, 141, 142 Potenzmenge, 47
Mill, J. S., 13 Potenzmengenaxiom, 49, 52, 76
Modell, 34, 54, 153, 154, 177, 178 Prädikat, 19
Multiplikation Stufe, 21
ganzer Zahlen, 62 Pränexform, 106
natürlicher Zahlen, 56 propositionale Funktion, 43
rationaler Zahlen, 65 Psychologismus, Freges Gegenargument, 16,
reeller Zahlen, 70 32, 33

N Q
Nachfolger Quantifikation
Definition in ZFC, 54 finit, 137–139
Freges Definition, 30, 31 intuitionistisch, 119
natürliche Zahlen, 4, 107 Quantoren
Definition in ZFC, 54 als zweitstufige Begriffe, 21, 22
Freges Definition, 29–33 beschränkt, 137
intuitionistisch, 90 intuitionistische, 105
intuitionistische Definition, 107 Zahlquantoren, 22, 23
Negation Quine, W. V., 185, 186, 189
doppelt, 102
Newton, I., 11 R
Null rationale Zahlen, 3, 58
Definition in ZFC, 54 Abzählbarkeit, 74, 75
208 Personen- und Sachregister

Definition in ZFC, 64 U
Realismus, 85 überabzählbare Menge, 75
reductio ad absurdum, 9, 87, 102 Überabzählbarkeit, 93
Axiom der Reduzierbarkeit, 44 Umfang
reelle Funktion Theorie, 83
intuitionistisch, 131 Umfang eines Begriffs, 19, 20, 29, 37, 38, 49
reelle Zahlen, 58, 114 unbestimmt erweiterbarer Begriff, 156
Definition in ZFC, 65–69 Unendlichkeit, 10, 195
intuitionistisch, 118 potentiell vs. aktual, 135, 136
Überabzählbarkeit, 75, 76 unendliche Menge, 58
reflexive Relation, 59 Unendlichkeitsaxiom, 44, 55
reflexiver, transitiver Abschluss (Frege), 33, 39 unentscheidbare Aussage, 78, 148
rekursive Definition, 22 universelle Menge, 51
Relation, 19, 53, 59 unter Nachfolgerbildung abgeschlossen, 31, 54
repräsentierbare Menge, 164
Rosser, J. B., 179 V
Rossersatz, 179, 192 Vereinigung, 49
Russell, B., 10, 41–45 Vereinigungsmengenaxiom, 49, 52, 54
Russell’sche Antinomie, 41–43, 50, 51, 84, 90 vollständige Induktion, 4
Vollständigkeit
der reellen Zahlen, 65, 71–73, 81
S
eines formalen Systems, 148, 163
Satz, 161, 169
Vollständigkeitssatz, 178
Satz vom ausgeschlossenen Dritten, 85, 101,
Voltaire, 11
135, 144, 149
von Neumann, J., 54
Selbstreferenz, 148, 174, 185, 186
Vorrang des Satzes, 26
Sieg, W., 199
Simpson, S., 199
W
Skølem, T., 45
Wahlfolge, 125, 139
spread, 126
Wahrheit
stetige Funktion, 72, 73
in einem Modell, 178
Substituierbarkeit, 162
Undefinierbarkeit, 180
Subtraktion
Wahrheitswerte, 19
der ganzen Zahlen, 63
Wahrheit, mathematisch
der rationalen Zahlen, 65
Anwendbarkeit, 17
symmetrische Relation, 59
Erkennbarkeit, 149, 150
Whitehead, A. N., 43–45
T Widerspruchsfreiheit, 139–156
Takeuti, G., 200 Wiedererkennungssatz, 26
Tarski, A., 180 Wiles, A., 145, 147
Teilmenge, 46 Wissen, mathematisches
Term, 159, 160, 169 a priori Natur, 13, 14
tertium non datur, 85, 101, 197 infinite Natur, 135, 136
Teufelskreisprinzip, 43, 46 Wittgenstein, L., 10
Theorem einer Erweiterung von PA, 163, 172, WKL0 , 199
181
transitive Relation, 59 X
Trichotomie :X, 98
der Kardinalzahlen, 77 8xF x, 96, 98
der natürlichen Zahlen, 57, 79 8xP , 9
beweisbar in PA, 188, 190 X ^ Y , 98
der reellen Zahlen, 71, 81 X ! Y , 98
Typentheorie, 43, 44, 46 X _ Y , 98
Personen- und Sachregister 209

Z Zahlzeichen, 137, 160


Zahl Zerlegung, 28, 59
irrationale, 3 Zermelo, E., 45, 77
natürliche, 4 Zermelo-Fraenkel-Mengentheorie, 44, 51, 183
rationale, 3 Zwischenwertsatz, 73, 81, 127
reelle, 114 intuitionistisch, 128
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A14445 | Image: Tashatuvango/iStock

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