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Grenzen Der Mathematik: Dirk W. Hoffmann
Grenzen Der Mathematik: Dirk W. Hoffmann
Hoffmann
Grenzen
der Mathematik
Eine Reise durch die Kerngebiete
der mathematischen Logik
3. Auflage
Grenzen der Mathematik
Dirk W. Hoffmann
Grenzen der
Mathematik
Eine Reise durch die Kerngebiete
der mathematischen Logik
3. Auflage
Dirk W. Hoffmann
Fakultät für Informatik und
Wirtschaftsinformatik
Hochschule Karlsruhe – Technik
und Wirtschaft
Karlsruhe, Deutschland
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Vorwort
Das Unmögliche zu erkennen, ist eine intellektuelle Leistung, die den Menschen einzigartig macht. In der Physik
haben uns die Einstein’sche Relativitätstheorie oder die Heisenberg’sche Unschärferelation Grenzen aufgezeigt,
die wir niemals überwinden werden. Die Aussagen sind negativ, und gerade deshalb verbreiten sie eine unwider-
stehliche Faszination. Es ist das Unmögliche, das uns noch stärker zu fesseln vermag als das Mögliche.
Auch die Mathematik ist von ähnlichen Negativresultaten betroffen. Die mathematische Logik des zwanzigsten
Jahrhunderts hat fundamentale Erkenntnisse hervorgebracht, die uns die Grenzen dieser präzisen Wissenschaft in
aller Klarheit vor Augen führen. So wissen wir heute, dass sich der Begriff der Wahrheit selbst für so scheinbar
einfache Theorien wie die Zahlentheorie nicht in Einklang mit dem Begriff der Beweisbarkeit bringen lässt. Es ist
unmöglich, die Mathematik in einem formalen System einzufangen, in dem alle wahren Aussagen beweisbar und
alle falschen Aussagen unbeweisbar sind.
Dieses Buch entführt Sie auf eine Reise durch die Kerngebiete der mathematischen Logik. Es ist mein erklärtes
Ziel, die Konzepte, Methoden und Ergebnisse dieser Disziplin in verständlicher Form offenzulegen, ohne einen
Verlust an Tiefe zu erleiden. Wo immer es möglich ist, habe ich versucht, die Definitionen und Sätze mit Beispie-
len zu motivieren und durch zahlreiche Querbezüge in ihren sachlichen und historischen Kontext einzuordnen.
Beweise von Sätzen, die nur am Rand eine Rolle spielen, sind bewusst nur skizzenhaft aufgenommen, oder es
wird darauf hingewiesen, wo ein Beweis nachgeschlagen werden kann. In diesem Sinn kann das vorliegende
Buch die formal präzise Literatur aus dem Bereich der mathematischen Logik nicht an jeder Stelle ersetzen – und
will es auch gar nicht. Allem Anderen voran möchte ich die Faszination transportieren, die dieses Teilgebiet der
Mathematik unzweifelhaft ausstrahlt. Sie, liebe Leser, müssen beurteilen, inwieweit mir dies gelungen ist.
Inzwischen sind die Grenzen der Mathematik in der dritten Auflage erschienen. Genau wie zur ersten Auflage
habe ich auch zur zweiten Auflage zahlreiche Zuschriften erhalten, über die ich mich sehr gefreut habe. Na-
mentlich erwähnen möchte ich Henning Dieterichs, Dr. Bernd Grave, Dr. Olaf von Grudzinski, Dr. Wolfgang
Heinrich, Tankred Hirschmann, Patrick Holzer, Thomas Klimpel, Joachim Lillig und Prof. Dr. Ronald Ortner, die
mir mit zahlreichen Hinweisen geholfen haben, Fehler im Manuskript der zweiten Auflage zu beseitigen. Eine
inhaltliche Änderung hat in dieser Auflage das Kapitel Modelltheorie erfahren. Ich habe es um eine skizzenhafte
Beschreibung der Forcing-Technik ergänzt, die im Jahr 1963 von Paul Cohen entdeckt wurde und heute zu den
Standardinstrumenten für das Führen von Unabhängigkeitsbeweisen gehört.
Definition
Satz, Lemma, Korollar
Leichte Übungsaufgabe
Mittelschwere Übungsaufgabe
Schwere Übungsaufgabe
1 Historische Notizen 1
1.1 Wahrheit und Beweisbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2.1 Rätsel des Kontinuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2.2 Auf den Spuren der Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.2.3 Macht der Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1.2.4 Aufbruch in ein neues Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1.2.5 Grundlagenkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
1.2.6 Axiomatische Mengenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
1.2.7 Hilberts Programm und Gödels Beitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
1.2.8 Grenzen der Berechenbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
1.2.9 Auferstanden aus Ruinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
1.3 Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
2 Formale Systeme 71
2.1 Definition und Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
2.2 Entscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
2.3 Aussagenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.3.1 Syntax und Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.3.2 Aussagenlogischer Kalkül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
2.4 Prädikatenlogik erster Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
2.4.1 Syntax und Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
2.4.2 Prädikatenlogischer Kalkül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
2.5 Prädikatenlogik mit Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
2.6 Prädikatenlogik höherer Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
2.6.1 Syntax und Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
2.6.2 Henkin-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
2.7 Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
4 Beweistheorie 201
4.1 Gödel’sche Unvollständigkeitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
4.2.1 Arithmetisierung der Syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
4.2.2 Primitiv-rekursive Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
4.2.3 Arithmetische Repräsentierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
4.2.4 Gödels Diagonalargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
4.2.5 Rossers Beitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
4.2.6 Das Diagonalisierungslemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
4.2.7 Das Wahrheitsprädikat von Tarski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
4.2.8 Das Berry-Paradoxon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
4.3 Der zweite Unvollständigkeitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
4.3.1 Hilbert-Bernays-Löb-Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
4.3.2 Der Satz von Löb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
4.4 Gödels Sätze richtig verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
4.5 Der Satz von Goodstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
4.6 Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
5 Berechenbarkeitstheorie 271
5.1 Berechnungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
5.1.1 Turing-Maschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
5.1.1.1 Erweiterungen des Basismodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
5.1.1.2 Alternative Beschreibungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
5.1.1.3 Universelle Turing-Maschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
5.1.2 Registermaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
5.2 Die Church’sche These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
5.3 Grenzen der Berechenbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
5.3.1 Das Halteproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
Inhaltsverzeichnis IX
7 Modelltheorie 367
7.1 Meta-Resultate zur Prädikatenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
7.1.1 Modellexistenzsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
7.1.2 Kompaktheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
7.1.3 Satz von Löwenheim-Skolem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
7.2 Nichtstandardmodelle von PA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
7.2.1 Abzählbare Nichtstandardmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
7.2.2 Überabzählbare Nichtstandardmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
7.3 Das Skolem-Paradoxon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
7.4 Boolesche Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
7.4.1 Boolesche Algebren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
7.4.2 Boolesche Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
7.4.3 Boolesche Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
7.5 Forcing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
7.6 Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Literaturverzeichnis 421
Bildnachweis 429
Namensverzeichnis 431
Sachwortverzeichnis 435
1 Historische Notizen
Dass die Natur elementaren Regeln folgt, wurde bis zu Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts von niemandem ernsthaft in Zweifel gezo-
gen. Schließlich entspricht es sowohl unserer Intuition als auch unse-
rer Erfahrung, dass jeder Wirkung eine Ursache vorausgeht und nichts
in der Welt ohne Grund geschieht. Dieses Prinzip des zureichenden
Grunds (lat. principium rationis sufficientis oder franz. principe de la Gottfried Wilhelm Leibniz
raison suffisante) ist die unausgesprochene Grundannahme aller Na- (1646 – 1716)
turwissenschaften. Ohne sie wäre die wissenschaftliche Methode ein
Abbildung 1.1: Gottfried Wilhelm Leib-
stumpfes Schwert. niz gehört zu den berühmtesten und außer-
gewöhnlichsten Gelehrten des ausgehenden
Das Prinzip des zureichenden Grunds findet seine Personifizierung in
17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Sei-
Gottfried Wilhelm Leibniz, dem wahrscheinlich letzten Universalge-
ne universelle Begabung war einzigartig.
lehrten der Welt (Abbildung 1.1). In Form eines metatheoretischen Zahllose Publikationen und Schriftwechsel
Grundsatzes ist das Prinzip eine tragende Säule in der Leibniz’schen aus den Bereichen der Philosophie, der Ma-
Philosophie. Nach ihr ist die Welt, in der wir leben, die perfektest mög- thematik, den Naturwissenschaften sowie
liche, eine Welt der vollständigen Harmonie, in der nicht nur jeder ein- der Geschichts- und Rechtskunde bilden
zelne physikalische Vorgang eine Ursache, sondern auch jede metaphy- einen beispiellosen Nachlass.
Mit seinem visionären Denken war Leibniz seiner Zeit weit voraus. Er
träumte von einer Characteristica universalis, einer universellen Spra-
che, in der sich alle Facetten der menschlichen Erkenntnis in präziser
Form erfassen lassen. Seine Sprache war nicht als Lautsprache konzi-
piert. Stattdessen hatte er eine symbolische Notation im Sinn, in der ein-
zelne Alphabetzeichen Objekte oder Konzepte der realen Welt repräsen-
tieren und die Beziehungen, die zwischen den Objekten oder Konzepten
Characteristica universalis
bestehen, auf der symbolischen Ebene sichtbar werden. Aufgrund der
formalen Natur seiner Sprache war Leibniz überzeugt, dass der Wahr-
heitsgehalt von Aussagen durch die Anwendung eines festen Regel-
werks, des Calculus ratiocinator, auf systematische Weise berechnet
werden kann (Abbildung 1.2).
Leibniz wusste um das Ausmaß seines ehrgeizigen Projekts und un-
ternahm zu keiner Zeit den Versuch, sein großes Ziel allein zu errei-
Calculus ratiocinator
chen. Nichtsdestotrotz hielt er konkrete Pläne für dessen Umsetzung
bereit. In einem ersten Schritt galt es eine Enzyklopädie zu erstellen,
die das gesamte bis dato verfügbare Menschheitswissen in sich vereint.
Im zweiten Schritt war eine formale Sprache zu definieren, mächtig ge-
nug, um alle Konzepte und Beziehungen der erarbeiteten Wissensbasis
Falsch Wahr zu beschreiben. Im letzten Schritt galt es, die logischen Schlussregeln
auf die symbolische Ebene zu übertragen. Hierdurch wäre der formale
Abbildung 1.2: Sein Leben lang war Leib-
Schlussapparat geschaffen, mit dem sich wahre Aussagen auf mecha-
niz von der Idee gefesselt, eine Universal-
sprache (Characteristica universalis) zu er- nische Weise erzeugen und verifizieren ließen. Leibniz war der festen
sinnen, in der sich die Objekte, Konzepte Überzeugung, das Projekt mit einer Gruppe ausgewählter Wissenschaft-
und Beziehungen der realen Welt symbo- ler in rund fünf Jahren verwirklichen zu können. Zu Lebzeiten wurde
lisch erfassen lassen. Er war davon über- ihm die Chance nie geboten, und so verblieb die Characteristica univer-
zeugt, dass für diese Kunstsprache ein Re- salis im Reich der Träume. Als vielleicht größter Visionär seiner Zeit
gelwerk (Calculus ratiocinator) erschaffen starb Gottfried Wilhelm Leibniz am 14. November 1716 im Alter von
werden könne, mit dem sich der Wahrheits- 70 Jahren – und mit ihm sein ehrgeiziges Projekt.
gehalt einer Aussage im Sinne einer me-
chanischen Prozedur systematisch berech- Es sollte noch mehr als 200 Jahre dauern, bis sein Traum zumindest teil-
nen lässt. weise in Erfüllung ging. Im neunzehnten Jahrhundert führten die Fort-
schritte im Bereich der symbolischen Logik zu der Entwicklung for-
maler Systeme, die einer Characteristica universalis im Leibniz’schen
Sinne in vielerlei Hinsicht nahe kommen. Heute sind wir mit der Aus-
sagenlogik und der Prädikatenlogik im Besitz künstlicher Sprachen, mit
denen wir mathematische Aussagen in symbolischer Form codieren und
durch die Anwendung fest definierter Schlussregeln logische Folgerun-
gen ableiten können. Beide Logiken sind Gegenstand von Kapitel 2. In
Kapitel 3 werden wir auf der Prädikatenlogik die axiomatische Men-
1.1 Wahrheit und Beweisbarkeit 3
genlehre errichten. Diese wird sich als stark genug erweisen, um alle
Gebiete der klassischen Mathematik zu beschreiben, und dient heute
als formaler Unterbau für die gesamte moderne Mathematik.
Die Überlegungen, die zu diesem Ergebnis führen, sind der Inhalt dieses
Buchs, und wir werden sie in den nächsten Kapiteln im Detail heraus-
arbeiten. Soviel vorweg: Sie werden von so grundlegender Natur sein,
dass es kein Entrinnen gibt; die Mathematik entzieht sich jedem forma-
len Korsett.
Jede gerade natürliche Zahl n > 2 lässt sich als Summe zweier
Primzahlen schreiben.
4 1 Historische Notizen
y
Goldbach'sche Vermutung
12000
10000
Das zweite Beispiel stammt ebenfalls aus dem Gebiet der Zahlentheorie
und ist nicht weniger prominent:
Abbildung 1.4: Im Jahr 1742 äußerte Christian Goldbach seine berühmte Vermutung in einem Brief an Leonhard Euler.
In Kapitel 5 werden wir noch einen Schritt weiter gehen und den Be-
griff der Beweisbarkeit um einen weiteren ergänzen. Die Rede ist von
der Berechenbarkeit, einem Schlüsselbegriff, der für uns in zweierlei
Hinsicht von Bedeutung ist. Zum einen wird er uns einen alternativen
Weg aufzeigen, der uns einen schnelleren und eleganteren Zugang zu
den Grenzen der Beweisbarkeit gewähren wird als jener, den wir in Ka-
pitel 4 beschreiten. Zum anderen spielt er eine zentrale Rolle in der
Informatik, wo sich die Grenzen der Berechenbarkeit ganz praktisch
auswirken. Heute wissen wir, dass es unmöglich ist, einen Algorithmus
zu formulieren, der für jedes vorgelegte Programm immer korrekt ent-
scheidet, ob es eine gewisse funktionale Eigenschaft erfüllt oder nicht.
Selbst so einfache Probleme wie die Frage nach der Existenz von End-
losschleifen liegen außerhalb des Berechenbaren. Genau dies ist der
Grund, warum selbst die modernsten Compiler heute nicht viel mehr
als eine syntaktische Prüfung der Quelltexte durchführen und nur we-
nige funktionale Fehler selbstständig erkennen. Auch hier sind wir mit
einer ebenso grundlegenden wie unvermeidlichen Beschränkung kon-
frontiert, die wir nicht überwinden können.
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 7
Bevor wir uns voll und ganz den technischen Details der umrissenen
Ideen widmen, wollen wir einen Rückblick auf die bewegte Geschichte
der mathematischen Logik wagen. Nur so ist es möglich, die Ergebnis-
se adäquat einzuordnen und in ihrer gesamten Tragweite zu verstehen.
Verlieren wir also keine Zeit!
x1 3 + x2 3 + x1 + x2 − 380 = 0
x3 + y3 + x + y − 380 = 0 (1.3)
Gleichung (1.3) hat eine geometrische Bedeutung und löst ein Problem
aus dem vierten Buch der Arithmetica. Wie in Abbildung 1.7 darge-
stellt, lassen sich x und y als die Seitenlängen zweier Würfel interpre-
tieren, deren gemeinsames Volumen gleich 370 ist und die Summe ihrer
Seitenlängen den Wert 10 ergibt. Mit x = 7, y = 3 und x = 3, y = 7 hat
die Gleichung genau zwei Lösungen in den natürlichen Zahlen.
Gleichung (1.4) können wir auf nahe liegende Weise verallgemeinern I Pythagoreische Tripel
und erhalten mit x
x n + yn − zn = 0 (1.5)
jene legendäre Gleichung, die Pierre de Fermat zu seiner berühmten
Vermutung veranlasste. Heute wissen wir, dass sie für n > 2 keine Lö-
sungen in den positiven ganzen Zahlen besitzt.
Dass wir den Begriff der diophantischen Gleichungen heute ausschließ- Berechnen lassen sich pythagoreische
lich dann verwenden, wenn wir Lösungen in den ganzen Zahlen suchen, Tripel über die Formeln
wird seinem Namensgeber nur teilweise gerecht. Diophantos stellte den
Leser der Arithmetica unter anderem vor das Problem, die pythagore- x = m(u2 − v2 )
ische Gleichung (1.4) für den Fall z2 = 16 zu lösen. Unter dieser Vor- y = m(2uv)
aussetzung hat die Gleichung keine Lösung in den ganzen Zahlen und z = m(u2 + v2 )
mit 12 16
5 und 5 genau eine Lösung in der Menge der rationalen Zahlen.
Hierin sind m, u, v positive natürliche
Genau wie die natürlichen Zahlen, die das Abzählen von Dingen er- Zahlen mit u > v.
möglichen, haben auch die rationalen Zahlen einen ganz praktischen
Hintergrund: Sie entstehen immer dann, wenn zwei geometrische Län- I Beispiele
gen p und q zueinander in Bezug gesetzt werden, und sind in diesem (m, u, v) (x, y, z)
Sinne die algebraischen Grundbausteine der Geometrie. 1 2 1 3 4 5
Wir wollen an dieser Stelle nicht vorschnell über die Tatsache hinweg- 1 3 1 8 6 10
gehen, dass die Bruchschreibweise nur eine von mehreren Darstellungs- 1 3 2 5 12 13
möglichkeiten ist. Beispielsweise können wir jede rationale Zahl qp auch 1 4 1 15 8 17
in Form eines periodischen Dezimalbruchs schreiben: 1 4 2 12 16 20
1 4 3 7 24 25
1
8 = 0,125 = 0,1250
2 2 1 6 8 10
1
3 = 0,3333 . . . = 0, 3 2 3 1 16 12 20
1
1 = 1, 0 = 0, 9 2 3 2 10 24 26
Umgekehrt lässt sich jeder periodische Dezimalbruch systematisch in 2 4 1 30 16 34
die Bruchdarstellung überführen. Um z. B. die Zahl 2 4 2 24 32 40
2 4 3 14 48 50
x = 0,0238095 (1.6) ...
p
in der Form darzustellen, wenden wir einen einfachen Trick an. Zu-
q Abbildung 1.8: Pythagoreische Tripel
nächst multiplizieren wir beide Seiten mit 1 000 000:
1 000 000x = 23809,5238095
10 1 Historische Notizen
ziemlich genau beziffern und kann durch die Angabe weiterer Nach-
kommastellen beliebig angenähert werden. Trotzdem wird es uns nie-
mals gelingen, den
√ Wert exakt niederzuschreiben. Schuld daran ist die
1 Eigenschaft von 2, keine Bruchdarstellung zu besitzen. Ihre Dezimal-
bruchdarstellung ist nichtperiodisch und setzt sich aus unendlich vielen,
unregelmäßig auftretenden Nachkommaziffern zusammen.
Indem wir die Lücken zwischen den rationalen Zahlen schließen, errei-
2 chen wir die Menge der reellen Zahlen R, den wichtigsten Zahlenraum
der gewöhnlichen Mathematik. Aufgrund ihrer Eigenschaft, den Zah-
lenstrahl lückenlos zu überdecken, wird die Menge der reellen Zahlen
als das Kontinuum bezeichnet.
√
Betrachten wir die Zahl 2 genauer, so tritt eine weitere wichtige Ei-
Abbildung 1.10: Die rationalen Zahlen
können den Zahlenstrahl nicht lückenlos
genschaft zum Vorschein. Sie ist eine reellwertige Lösung der algebrai-
überdecken. Beispielsweise lässt sich die schen Gleichung
Länge der Diagonalen eines Quadrats mit x2 − 2 = 0
der Seitenlänge 1 nicht durch eine rationale
Zahl ausdrücken.
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 11
Dies führt uns direkt zum Begriff der algebraischen Zahl. Eine komple-
xe Zahl x heißt algebraisch, wenn sie eine Gleichung der Form
löst, wobei die Koeffizienten ai allesamt aus der Menge der ganzen Zah-
len stammen.
p
Offensichtlich ist jede rationale Zahl q auch algebraisch, da sie die Lö-
sung der folgenden Gleichung ist:
q·x− p = 0
√
Mit 2 haben wir zudem eine irrationale Zahl kennen gelernt, die eben-
falls algebraisch ist. Dies wirft eine interessante Frage auf: Ist jede reel-
le Zahl auch algebraisch? Sollte es tatsächlich Zahlen geben, die keine
Lösung einer algebraischen Gleichung sind, so wären sie nicht einfach
zu erfassen, da wir diese Zahlen weder als Dezimalbruch hinschreiben
noch indirekt als Nullstelle eines algebraischen Terms charakterisieren ∞
können. L= ∑ 10−k!
k=1
Einer der Ersten, die fest an die Existenz solcher transzendenten Zahlen 1! 3! 5!
glaubten, war Leonhard Euler. Konkret hegte er die Vermutung, dass die
√
= 0,1100010 ... 010 ... 010 ...
Zahl a für alle rationalen Zahlen a = 1 und alle natürlichen Zahlen b,
b
die keine Quadratzahlen sind, außerhalb der Menge der algebraischen 2! 4!
Zahlen liegen müsse. Dennoch sollte es ihm zu Lebzeiten nicht gelin-
gen, einen Beweis für seine Vermutung zu finden.
Erst 1844 sollte Eulers Vermutung zur Gewissheit werden. In diesem
Jahr gelang es dem französischen Mathematiker Joseph Liouville als
erstem, die Existenz transzendenter Zahlen zweifelsfrei zu belegen [21].
Liouville führte den Beweis konstruktiv und konnte eine konkrete Zahl
angeben, die sich der Beschreibung durch eine algebraischen Gleichung
entzieht (Abbildung 1.11). Es ist die berühmte Zahl
∞
L := ∑ 10−k! ,
k=1
die nach ihrem Entdecker heute als Liouville’sche Zahl bezeichnet wird.
Ab dem Jahr 1844 war die Transzendenz nicht mehr länger eine pure
Möglichkeit; sie war zur mathematischen Realität geworden. Joseph Liouville
Liouvilles faszinierende Entdeckung blieb kein Einzelfall. 1873 bewies (1809 – 1882)
der französische Mathematiker Charles Hermite die Transzendenz der Abbildung 1.11: Im Jahr 1844 bewies der
berühmten eulerschen Konstante e, der Basis des natürlichen Logarith- französische Mathematiker Joseph Liou-
mus. Im Jahr 1882 machte der deutsche Mathematiker Ferdinand von ville die Existenz transzendenter Zahlen.
12 1 Historische Notizen
β1 eα1 + . . . + βn eαn = 0,
Es ist ein Kuriosum der Geschichte, dass ausgerechnet eine Frage der
Analysis den Anstoß zur Begründung der Mengenlehre gab. Auslöser
war die 1822 geäußerte Vermutung des französischen Mathematikers
Jean Baptiste Fourier, dass sich jede beliebige Funktion in Form einer
trigonometrischen Reihe darstellen lässt.2 Für stetige Funktionen war
Fouriers Vermutung weitgehend bewiesen, und immer mehr Mathema-
2 Heute wissen wir, dass Fouriers Vermutung in ihrer ursprünglichen Form falsch ist.
rz 6 Jan Der deutsche Mathematiker Georg Cantor schreckte nie davor zurück, neue Wege zu beschrei-
3 M
1845 1918
Cantor wurde am 3. März 1845 ten. Dennoch sollte das hohe Maß an Unverständnis, Miss-
in Sankt Petersburg geboren. Sein trauen und Feindseligkeit, das ihm auf seinem einsamen
Studium absolvierte er von 1862 Weg entgegenschlug, tiefe Furchen in seiner Psyche hinter-
bis 1867 in Zürich, Göttingen und Berlin, wo er berühm- lassen.
te Größen wie Karl Weierstraß, Ernst Eduard Kummer oder Es ist ein tragischer Aspekt in seinem Leben, dass vor allem
Leopold Kronecker zu seinen Lehrern zählen durfte. 1867 sein Lehrer Leopold Kronecker gegen ihn rebellierte und ihn
wurde ihm von der Universität Berlin die Doktorwürde ver- mit blinder Wut zu bekämpfen versuchte. Kronecker, der in
liehen. Danach wechselte er nach Halle, wo er zuerst als Pri- ihm einen „Verderber der Jugend“ sah, nutzte seinen Ein-
vatdozent, danach als Extraordinarius und schließlich als or- fluss geschickt aus, um einen Wechsel Cantors an die ehr-
dentlicher Professor lehrte und forschte. würdige Universität Berlin zu verhindern [219]. Halle sollte
Cantor gehört zu den bedeutendsten Mathematikern des spä- für Cantor die erste und zugleich letzte Station seiner wis-
ten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Er senschaftlichen Laufbahn sein.
gilt als der Begründer der Mengenlehre und legte mit dem Im Alter von 39 Jahren erkrankte Cantor an manischer De-
Begriff der Kardinalität den Grundstein für den Umgang pression – ein Leiden, das ihn bis zu seinem Lebensende be-
mit der Unendlichkeit. Der Begriff der Abzählbarkeit geht gleiten sollte. Kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag wur-
genauso auf Cantor zurück wie die Diagonalisierungsme- de er nach einem erneuten Krankheitsausbruch in die Uni-
thode, auf die wir gleich an mehreren Stellen dieses Buchs versitätsklinik Halle eingewiesen. Dort starb Georg Cantor
zurückgreifen werden. am 6. Januar 1918 im Alter von 72 Jahren.
tiker gingen dazu über, die Ergebnisse auf den unstetigen Fall zu über-
tragen. Der deutsche Mathematiker Georg Cantor war einer davon (Ab-
bildung 1.14). Cantor verfolgte den Plan, die Annahme der Stetigkeit
schrittweise abzuschwächen, um sie schließlich ganz zu eliminieren.
Seine Arbeit sollte schon bald Früchte tragen. In einem ersten Schritt
gelang es ihm zu zeigen, dass Fouriers Vermutung auf Funktionen zu-
trifft, die endlich viele Unstetigkeitsstellen besitzen. Von seinem An-
fangserfolg beflügelt, ging er daran, seine Ergebnisse auf Funktionen
mit unendlich vielen Unstetigkeitsstellen zu übertragen. Cantor gelang
dies nicht uneingeschränkt, sondern nur dann, wenn die Verteilung der
Unstetigkeitsstellen bestimmten Eigenschaften genügte. Indem er die
Unstetigkeitsstellen in Mengen (Mannigfaltigkeiten) zusammenfasste,
konnte er zeigen, dass sich die Verteilungseigenschaften auf struktu-
relle Eigenschaften der konstruierten Mengen übertragen ließen. Noch
wurden Cantors Mannigfaltigkeiten von vielen Mathematikern als be-
fremdliche Obskuritäten empfunden, die so gar nicht zu den bis dato
üblichen Begriffen passten. Bis sich die Mengenlehre als akzeptierte
Georg Cantor Grundlage der gesamten Mathematik etablieren konnte, war es noch
(1845 – 1918)
ein langer Weg.
Abbildung 1.14: Georg Cantor war der Be-
gründer der modernen Mengenlehre. Mit Das Instrumentarium, das Cantor für seine Untersuchungen geschaf-
zahlreichen Beiträgen zur Untersuchung fen hatte, war von so allgemeiner Natur, dass er sowohl endliche als
des Unendlichen führte er die Mathematik auch unendliche Mengen in der gleichen Weise untersuchen konnte.
in die Moderne. Der Schlüssel für den Umgang mit dem Unendlichen liegt in der Be-
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 15
trachtung der Mächtigkeit (Kardinalität) einer Menge M. Sie wird mit I Bijektive Abbildung von N+ nach N
|M| bezeichnet und entspricht für endliche Mengen schlicht der Anzahl
ihrer Elemente. Zum Beispiel gelten die folgenden Beziehungen: 1 2 3 4 5 6 7 ...
M1 = 0/ ⇒ |M1 | = 0
M2 = {, ♦, ◦} ⇒ |M2 | = 3
M3 = {2, 3, 5} ⇒ |M3 | = 3
0 1 2 3 4 5 6 7 ...
Die Mengen M2 und M3 sind gleichmächtig, da sie die gleiche Anzahl
an Elementen enthalten. In diesem und nur in diesem Fall sind wir in
der Lage, die Elemente beider Mengen eindeutig einander zuzuordnen. I Bijektive Abbildung von 2N nach N
Für unser Beispiel könnte die Zuordnung folgendermaßen aussehen:
0 2 4 6 ...
→ 2, ♦ → 3, ◦ → 5
Stimmt die Anzahl der Elemente nicht überein, so kann eine derartige
Zuordnung nicht gelingen.
Damit sind wir in der Lage, den Begriff der Mächtigkeit an die Existenz 0 1 2 3 4 5 6 7 ...
einer entsprechenden Abbildung zu knüpfen:
I Bijektive Abbildung von Z nach N
|M1 | = |M2 |
0 1 2 3 ...
wenn eine bijektive Abbildung f : M1 → M2 existiert. Wir schreiben
Abbildung 1.15: Die Existenz einer bijek-
|M1 | ≤ |M2 | tiven Abbildung zwischen den natürlichen,
den positiven, den geraden und den ganzen
wenn eine injektive Abbildung f : M1 → M2 existiert. Zahlen beweist die Gleichmächtigkeit die-
ser Mengen.
In Definiton 1.1 haben wir positiven ganzen Zahlen. Obwohl die Menge N+ eine echte Teilmenge
die Schreibweise von N ist, lässt sie sich mit der folgenden Zuordnungsvorschrift bijektiv
auf die natürlichen Zahlen abbilden (Abbildung 1.15 oben):
|M1 | ≤ |M2 |
f : x → (x − 1)
eingeführt, um auszudrücken, dass die
Menge M1 injektiv in die Menge M2 ab- In ähnlicher Weise können wir eine Abbildung zwischen 2N, der Menge
gebildet werden kann. An mehreren Stel- der geraden nichtnegativen Zahlen, und N herstellen (Abbildung 1.15
len werden wir ausnutzen, dass ‚≤‘ eine Mitte):
totale oder vollständige Relation ist. x
f : x →
Beide Begriffe drücken aus, dass zwei 2
beliebige Mengen M1 und M2 stets ver- Ebenso können wir die ganzen Zahlen, wie in Abbildung 1.15 (unten)
gleichbar sind, also Folgendes gilt: gezeigt, bijektiv auf die Menge der natürlichen Zahlen abbilden. Die
folgende Zuordnung ist eine von – Sie werden es ahnen – unendlich
|M1 | ≤ |M2 | oder |M2 | ≤ |M1 |
vielen Möglichkeiten:
Auch wenn diese Eigenschaft intuitiv wie −2x − 1 falls x < 0
eine Selbstverständlichkeit wirkt, ist ihr f : x →
2x falls x ≥ 0
Beweis keine mathematische Trivialität.
Dass wir das Symbol ‚≤‘ verwendet ha- Die Mengen der natürlichen und der ganzen Zahlen erweisen sich in
ben, ist ebenfalls kein Zufall. Es lässt sich der Tat als gleichmächtig. Doch damit nicht genug. Auch die Menge
zeigen, dass die Relation alle Eigenschaf- alle Paare natürlicher Zahlen lässt sich bijektiv auf N abbilden. Abbil-
ten einer Ordnung erfüllt. Die Reflexivität dung 1.16 zeigt, wie eine passende Abbildung konstruiert werden kann.
und Transitivität, also die Beziehungen Alle Elemente von N2 sind in einer Matrix angeordnet, die sich un-
|M1 | ≤ |M1 | endlich weit nach rechts und nach unten ausbreitet. Ein Element (x, y)
können wir mit einer eindeutigen Zahl πN (x, y) ∈ N versehen, indem wir
|M1 | ≤ |M2 |, |M2 | ≤ |M3 | ⇒ |M1 | ≤ |M3 |,
links oben, bei (0,0), beginnen und uns anschließend diagonal durch die
sind leicht einzusehen; beide ergeben sich Matrix bewegen. Die entstehende Abbildung πN : N2 → N heißt Can-
mit wenig Aufwand aus den Merkmalen tor’sche Paarungsfunktion und lässt sich über die nachstehende Formel
injektiver Funktionen. Härter ist die Ei- direkt berechnen:
genschaft der Antisymmetrie, die Folgen- x+y
(x + y)(x + y + 1)
des besagt: πN (x, y) = y + ∑ i = y +
i=0 2
|M1 | ≤ |M2 |, |M2 | ≤ |M1 | ⇒ |M1 | = |M2 |
Über die Existenz einer bijektiven Zuordnung zwischen N und N2 haben
Dass ‚≤‘ diese Eigenschaft tatsächlich er- wir gezeigt, dass beide Mengen die gleiche Mächtigkeit besitzen.
füllt, ist die Aussage des berühmten Theo-
rems von Cantor-Schröder-Bernstein, das Mithilfe der Cantor’schen Paarungsfunktion lassen sich weitere Men-
wir auf Seite 23 detaillierter besprechen. gen als gleichmächtig identifizieren. Durch die rekursive Anwendung
sind wir z. B. in der Lage, nicht nur jedem Paar (x, y) ∈ N2 , sondern
auch jedem Tripel (x, y, z) ∈ N3 ein eindeutiges Element in N zuzuord-
nen. Diesen Zweck erfüllt die Funktion πN3 : N3 → N mit
πN3 (x, y, z) := πN (πN (x, y), z)
Führen wir den Gedanken in dieser Richtung fort, so erhalten wir mit
πN1 (x1 ) := x1 (1.8)
πNn+1 (x1 , . . . , xn , xn+1 ) := πN (πNn (x1 , . . . , xn ), xn+1 ) (1.9)
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 17
...
2 4 7 11 16 22 29
Die Abbildung ist bijektiv und beweist,
...
5 8 12 17 23 30 dass N2 und N gleichmächtig sind.
...
9 13 18 24 31 Genauso können wir jedem gekürzten
Bruch der Form xy ∈ Q ein individuelles
...
14 19 25 32 Feld der Matrix zuordnen, indem wir x
als Spaltennummer und y als Zeilennum-
...
27 34
Bruch mit dem Nenner 0 entsprechen, so
erhalten wir eine bijektive Abbildung zwi-
...
35
schen den rationalen Zahlen Q und den
natürlichen Zahlen N. Demnach sind auch
...
...
eine bijektive Abbildung von Nn auf N. Damit ist bewiesen, dass der n-
dimensionale Zahlenraum Nn stets die gleiche Mächtigkeit besitzt wie
die Grundmenge N selbst – unabhängig davon, wie groß wir die Dimen-
sion n ∈ N auch wählen.
In einer berühmten Arbeit aus dem Jahr 1874 publizierte Cantor, wie
sich auch die Menge der algebraischen Zahlen bijektiv auf die Menge
der natürlichen Zahlen abbilden lässt [22]. Hierzu ordnete er jeder alge-
braischen Gleichung der Form (1.7) zunächst eine Höhe N zu, die sich
wie folgt berechnet:
Für jeden Wert von N existieren nur endlich viele algebraische Glei-
chungen, und jede dieser Gleichungen kann maximal N Lösungen be-
sitzen. Damit sind wir in der Lage, die algebraischen Zahlen der Reihe
nach aufzuzählen, und erhalten so eine eindeutige Zuordnung zu den
natürlichen Zahlen.
Cantors Arbeit aus dem Jahr einer entsprechenden Zuordnung entzieht. Offenbar scheint die Anzahl
1874 trägt den unscheinba- der reellen Zahlen jene der natürlichen Zahlen so sehr zu übersteigen,
ren Titel „Über eine Eigenschaft des In- dass es unmöglich ist, eine Eins-zu-eins-Zuordnung zwischen beiden
begriffs aller reellen algebraischen Zah- Mengen herzustellen. Damit hatte Cantor gezeigt, dass die Menge der
len“. Die Frage, warum Cantor einen Ti-
natürlichen Zahlen und die Menge der reellen Zahlen stellvertretend für
tel wählte, der dem Leser keinerlei Hin-
weis auf sein erzieltes Hauptergebnis,
verschiedene Unendlichkeiten stehen. Begrifflich bringen wir den Un-
die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen, terschied wie folgt zum Ausdruck:
gibt, ist in Historikerkreisen umstritten.
Zum einen gibt es Anlass für die Vermu-
Definition 1.2 (Abzählbarkeit, Überabzählbarkeit)
tung, dass Cantor das eigentlich Revolu-
tionäre seiner Arbeit zur Zeit der Veröf-
Eine Menge M heißt
fentlichung selbst nicht gesehen hat und
ausschließlich an einem alternativen Be- I abzählbar, falls |M| = |N|,
weis des Liouville’schen Satzes interes-
siert war. Hinweise darauf finden sich in I höchstens abzählbar, falls |M| ≤ |N|, und
einem Brief Cantors an Richard Dedekind
vom 2.12.1873: [140] I überabzählbar, falls |M| ≤ |N|.
„Übrigens möchte ich hinzufügen, dass
ich mich nie ernstlich mit ihr [der Frage
nach der Abzählbarkeit des Kontinuums] In Worten ausgedrückt ist eine Menge M höchstens abzählbar, wenn sie
beschäftigt habe, weil sie kein besonderes endlich oder abzählbar ist.
praktisches Interesse für mich hat und ich
trete Ihnen ganz bei, wenn Sie sagen, dass
sie aus diesem Grund nicht zu viel Mü- Cantors erster Überabzählbarkeitsbeweis
he verdient. Es wäre nur schön, wenn sie
beantwortet werden könnte; z.B., voraus-
gesetzt dass sie mit nein beantwortet wür- Um die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen zu zeigen, führte Cantor
de, wäre damit ein neuer Beweis des Liou- einen klassischen Widerspruchsbeweis. Zunächst nahm er an, dass sich
ville’schen Satzes geliefert, dass es tran- die reellen Zahlen vollständig in Form einer unendlich langen Liste auf-
szendente Zahlen gibt.“ zählen lassen:
Dagegen ist der Cantor-Biograph Joseph ω1 , ω2 , ω3 , . . . (1.10)
Dauben davon überzeugt, dass die Titel-
wahl politisch motiviert war und nur dazu
Jedes Element ωi bezeichnet eine reelle Zahl, und für jede reelle Zahl
dienen sollte, seinen Erzfeind Kronecker x existiert per Annahme ein Index i mit ωi = x. Cantor gelang es zu
nicht auf die Arbeit aufmerksam zu ma- zeigen, dass in jedem nichtleeren Intervall (α1 , β1 ) dennoch mindestens
chen [39]. eine reelle Zahl ν existieren muss, die nicht in der Liste (1.10) auftaucht.
„Had Cantor been more direct with a Den Widerspruch leitete er her, indem er das Startintervall (α1 , β1 ) zu
title like ’The set of real numbers is non- einer Intervallfolge der folgenden Bauart ergänzte:
denumerably infinite’ or ’A new and in-
dependent proof of the existence of tran- (α1 , β1 ), (α2 , β2 ), (α3 , β3 ), . . .
scendental numbers’, he could have coun-
ted on a strongly negative reaction from Um das Folgeintervall (αi+1 , βi+1 ) zu bestimmen, wird die aufgestell-
Kronecker. After all, when Lindemann la- te Liste der reellen Zahlen von links nach rechts durchsucht, bis zwei
ter established the transcendence of π in Zahlen gefunden werden, die innerhalb des Intervalls (αi , βi ) liegen.
1882, Kronecker asked what value the re- Die kleinere von beiden bildet die linke Grenze und die größere die
sult could possibly have, since irrational rechte Grenze des neuen Intervalls (Abbildung 1.17). Anschließend un-
numbers did not exist.“ terschied Cantor die nachstehenden Fälle:
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 19
I Fall 1: Die Anzahl der geschachtelten Intervalle ist endlich (Abbil- 3 4 9 10 11 7
dung 1.18 oben). Dann gäbe es ein letztes Intervall (αν , βν ), und
wir hätten mit αν +β
2
ν
und 2αν3+βν zwei Zahlen vor uns, von denen
mindestens eine nicht in (1.10) vorkommt. 2 8 6 5 1
1 = 2 1 = 1
I Fall 2: Die Anzahl der geschachtelten Intervalle ist unendlich. Aus
der Tatsache, dass die Intervallgrenzen αi und βi beschränkt und 1 1
gleichzeitig streng monoton steigend bzw. fallend sind, müssen bei-
de Folgen einem Grenzwert zustreben, den Cantor als α∞ bzw. β∞ 2 = 4 2 = 5
bezeichnet. Wäre α∞ < β∞ , so könnten wir mit α∞ +β 2
∞
erneut eine
Zahl konstruieren, die in (1.10) nicht vorkommt (Abbildung 1.18 1 2 2 1
Mitte). Aber auch die letzte Alternative, α∞ = β∞ , führt zu einem
Widerspruch (Abbildung 1.18 unten). Einerseits ist der Grenzwert 3 = 8 3 = 6
in jedem der gebildeten Intervalle enthalten. Andererseits stellt die
Konstruktionsvorschrift sicher, dass jedes ωi ab einem gewissen In- 1 2 3 3 2 1
dex j nicht mehr in (α j , β j ) liegt. Damit kann der Grenzwert nicht
in (1.10) auftauchen.
...
Offensichtlich gibt es kein Entrinnen! Die entstehenden Widersprüche
bringen unsere Annahme zu Fall, dass eine bijektive Abbildung zwi- Abbildung 1.17: Cantors erster Beweis der
Überabzählbarkeit des Kontinuums. Ausge-
schen den reellen und den natürlichen Zahlen existieren kann.
hend von einer Aufzählung ωi der reellen
Aus den von Cantor erzielten Teilergebnissen ergibt sich eine weitrei- Zahlen konstruierte Cantor zunächst eine
chende Konsequenz für die Menge der transzendenten Zahlen. Da die Intervallfolge der Form (α1 , β1 ), (α2 , β2 ),
(α3 , β3 ), . . .
Menge der algebraischen Zahlen abzählbar und die Menge der reel-
len Zahlen überabzählbar ist, kann keine Abbildung der transzendenten
Zahlen auf die natürlichen Zahlen gelingen. Genau wie das Kontinuum
ist auch die Menge der transzendenten Zahlen überabzählbar. I Fall 1
α1 α2 ... αν βν ... β2 β1
Waren in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nur eine Handvoll
transzendenter Zahlen bekannt, so wissen wir heute, dass die Transzen-
denz alles andere als eine exotische Eigenschaft ausgewählter Zahlen I Fall 2
ist. Bis auf eine kleine Teilmenge sind sämtliche Elemente des Konti- α1 α2 ... α∞ β∞ ... β2 β1
nuums transzendent!
oder
Cantor hatte für diese Behauptung einen wahrhaft eleganten Beweis
α1 α2 ... α∞ ... β2 β1
geliefert. Die inhaltliche Aussage seines Satzes war jedoch nicht neu;
Liouville hatte bereits ein paar Jahre zuvor ein ähnliches Ergebnis er- β∞
zielt. Der historisch bedeutende Teil in Cantors Arbeit ist in einem sei-
ner Teilergebnisse versteckt: Es ist der Beweis der Überabzählbarkeit Abbildung 1.18: Gleichgültig, wie die
der reellen Zahlen. Konstruktion der Intervallfolge verlaufen
wird: Sämtliche Möglichkeiten führen zu
einem Widerspruch.
20 1 Historische Notizen
...
...
...
...
...
...
...
...
...
nicht möglich ist. Kurzum: Die Menge der
reellen Zahlen ist nicht abzählbar.
Drei Jahre später bewies Cantor seine Aussage erneut – diesmal auf
verblüffend einfache Weise. Den Kern des Beweises bildet das von ihm
entwickelte Diagonalisierungsargument, eine genauso leistungsfähige
wie intuitive Methode, um eine Menge als überabzählbar zu identifizie-
ren. Cantor stellte die folgende Überlegung an: Wenn die beiden Men-
gen N und R gleichmächtig wären, dann müsste eine bijektive Abbil-
dung f : N → R existieren, die jedes Element x ∈ N eineindeutig auf
ein Element f (x) ∈ R abbildet. Listen wir die Nachkommaanteile von
f (1), f (2), f (3), . . . von oben nach unten auf, so entsteht eine Matrix,
wie sie in Abbildung 1.19 skizziert ist. Formal entspricht das Element in
Spalte x und Zeile y der x-ten Nachkommaziffer der Dezimalbruchdar-
stellung von f (y). Natürlich können wir nur einen winzigen Ausschnitt
der entstehenden Matrix zeichnen, da die Funktion f für unendlich vie-
le Werte y ∈ N definiert ist und sich die Dezimalbruchdarstellung der
reellen Zahlen f (y) über unendlich viele Ziffern erstreckt.
...
ren eine solche Zahl, indem wir uns entlang der Hauptdiagonalen von
7
links oben nach rechts unten bewegen und die vorgefundenen Ziffern 0
4
jeweils um eins erhöhen oder erniedrigen. Die entstehende Ziffernfolge 8
5 0
interpretieren wir als die Nachkommaziffern einer reellen Zahl r. Wä- 3 5
0 , 1
re f eine bijektive Abbildung von N auf R, so müsste auch die Zahl r
in irgendeiner Zeile vorkommen. Aufgrund des gewählten Konstrukti- 0 , 1 4 3 2 5 1 5 0 0 0 8 7 4 5 0 9 7 ...
onsschemas ist jedoch sichergestellt, dass sich die reelle Zahl der i-ten
0 , 4 2 1
Zeile in der i-ten Ziffer von r unterscheidet. Die Annahme, eine bijek- 0 0 7
tive Zuordnung zwischen N und R könnte existieren, führt zu einem 5
unmittelbaren Widerspruch. Folgerichtig ist jeder Versuch, die reellen 9
...
Zahlen nacheinander durchzunummerieren, zum Scheitern verurteilt.
Abbildung 1.20: Im Reißverschlussverfah-
Trotzdem gelten einige der Eigenschaften, die wir für die Menge N her- ren lassen sich zwei reelle Zahlen zu einer
ausgearbeitet haben, auch in der Menge der reellen Zahlen. So sind wir einzigen reellen Zahl verschmelzen. Auf
auch hier in der Lage, ein Tupel (x, y) ∈ R2 bijektiv auf die Menge diese Weise lässt sich eine bijektive Abbil-
R abzubilden. Abbildung 1.20 skizziert die zugrunde liegende Kon- dung von R2 auf R konstruieren und damit
struktionsidee. Die beiden reellen Zahlen x ∈ R und y ∈ R werden die Gleichmächtigkeit der beiden Mengen
zu einer gemeinsamen reellen Zahl πR (x, y) ∈ R verschmolzen, indem zeigen.
die Vor- und Nachkommaziffern reißverschlussartig miteinander ver-
schränkt werden.
Erneut hat uns der Cantor’sche Zugang zur Unendlichkeit eine verblüf-
fende Eigenschaft von Zahlenmengen offengelegt. Die Gleichmächtig-
...
keit von R und R2 bedeutet, dass eine Gerade in der Ebene gleich viele
Punkte besitzt wie die Ebene selbst (Abbildung 1.21). Wir sind damit
in der Lage, die Punkte der Ebene verlustfrei auf die Punkte einer Ge-
raden abzubilden. Ebenso ist es möglich, die Ebene lückenlos mit den
Punkten einer Geraden zu belegen. ... ...
folgt definiert:
πR1 (x1 ) := x1
... ...
πRn+1 (x1 , . . . , xn , xn+1 ) := πR (πRn (x1 , . . . , xn ), xn+1 )
Abbildung 1.21: Die zweidimensionale
Am Beispiel der reellen Zahlen haben wir gesehen, dass eine Unend- Ebene und die eindimensionale Gerade
lichkeit existiert, die mächtiger ist als jene der natürlichen Zahlen. Das beinhalten die gleiche „Anzahl“ reeller
Ergebnis wirft die Frage auf, ob es eine weitere Unendlichkeit gibt, die Punkte. Jeder Punkt des einen geometri-
wiederum mächtiger ist als jene der reellen Zahlen. Der folgende Satz schen Objekts lässt sich eindeutig auf einen
von Cantor beantwortet diese Frage positiv: Punkt des anderen abbilden.
22 1 Historische Notizen
Wir können diese Aussage beweisen, indem wir ein ähnliches Diagona-
lisierungsargument verwenden, mit dem wir bereits die Überabzählbar-
keit der reellen Zahlen zeigen konnten. Auch hier gehen wir wieder von
der Existenz einer bijektiven Abbildung f : M → P(M) aus und führen
die Annahme zu einem Widerspruch.
Sei f eine Funktion, die M bijektiv auf die Menge P(M) abbildet. Für
jedes Element x ∈ M können wir zwei Fälle unterscheiden: Entweder
ist x im Bildelement f (x) enthalten (x ∈ f (x)) oder nicht (x ∈ f (x)).
Alle Elemente, auf die Letzteres zutrifft, fassen wir in der Menge T
zusammen:
T := {x ∈ M | x ∈ f (x)}
Da f bijektiv und damit insbesondere auch surjektiv ist, muss ein Urbild
xT existieren mit f (xT ) = T . Wie für alle Elemente aus M gilt auch für
das Element xT entweder die Eigenschaft xT ∈ T oder xT ∈ T . Beide
Fälle führen jedoch unmittelbar zu einem Widerspruch:
xT ∈ T ⇒ x T ∈
f (xT ) ⇒ xT ∈
T
xT ∈ T ⇒ xT ∈ f (xT ) ⇒ xT ∈ T
|N| < |P(N)| < |P(P(N))| < |P(P(P(N)))| < |P(P(P(P(N))))| < . . .
die Kardinalzahl ℵ1 beschrieben und so fort. Besitzt eine Menge M die I Injektionen f und g
Kardinalität ℵn , so bezeichnen wir die Kardinalität der Potenzmenge (1;1) [1;1]
P(M) mit 2ℵn . 1 1
1/4 1/4
Satz 1.2 (Cantor-Schröder-Bernstein-Theorem)
... 0 0 0 3 4 8 6 0 7 , 5 7 3 0 0 9 1 2 ... Eine injektive Einbettung von [0; 1] in R ist trivial. Umgekehrt können
wir durch die Zuordnung
∞ ∞
∑ bi 10i → b0 10−1 + ∑ b−i 10−2i + bi 10−2i−1
i=−∞ i=1
jede reellen Zahl in das Intervall [0; 1] abbilden, ohne ein Element der
Zielmenge doppelt zu belegen (Abbildung 1.23). Damit haben wir er-
0 , 7 5 0 7 6 3 8 0 4 0 3 9 0 1 0 2 0 ...
neut die Voraussetzungen des CSB-Theorems erfüllt und die Gleich-
Abbildung 1.23: Durch die Umsortierung mächtigkeit von [0; 1] und R bewiesen.
der Ziffernfolge lassen sich alle reellen Zah-
len injektiv in das Intervall [0; 1] einbetten.
Dass sich die reellen Zahlen bijektiv auf das Intervall [0; 1] abbilden
lassen, bringt eine entscheidende Vereinfachung mit sich, die wir in den
nachfolgenden Kapiteln mehrfach ausnutzen werden. Anstatt die reel-
len Zahlen als Ganzes zu behandeln, ist es völlig ausreichend, unsere
Betrachtungen auf die reellen Zahlen mit dem Vorkommaanteil 0 zu
beschränken.
Jetzt sind wir gewappnet, um einen wichtigen Zusammenhang zwischen
den reellen Zahlen und der Potenzmenge der natürlichen Zahlen her-
zustellen. Schreiben wir eine reelle Zahl x aus dem Intervall [0; 1] im
Binärsystem auf, so besitzt sie die folgende Form:
∞
x = ∑ bi 2−i
i=1
Das CSB-Theorem liefert uns das Ergebnis, nach dem wir gesucht ha-
ben. Es zeigt, dass die Menge der reellen Zahlen die gleiche Mächtigkeit
besitzt wie die Potenzmenge der natürlichen Zahlen:
Cantor beschäftigte sich intensiv mit der Frage, ob sich zwischen den
Mengen N und R weitere Unendlichkeiten verbergen. Schon früh hegte
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 25
er die Vermutung, dass es keine Menge geben kann, die bezüglich ihrer Über die Zuordnungsvor-
Kardinalität zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen liegt. schrift (1.11) haben wir es
geschafft, die reellen Zah-
Demnach befänden sich die reellen Zahlen an zweiter Position (ℵ1 ) len aus dem Intervall [0; 1]
in der unendlich langen Liste der Unendlichkeiten. Genau dies ist der injektiv in die Menge P(N) einzubetten.
Inhalt der berühmten Kontinuumshypothese, die in ihrer symbolischen Die Abbildung haben wir über die Bi-
Form wie folgt lautet: närdarstellung einer reellen Zahl definiert,
? und genau hier laufen wir in eine tech-
|R| = ℵ1 (1.14) nische Schwierigkeit hinein, die auf den
Aufgrund der oben herausgearbeiteten Äquivalenz (1.13) können wir ersten Blick gern übersehen wird. Ausge-
Gleichung (1.14) auch in der Form löst wird sie durch die Eigenschaft man-
cher reeller Zahlen, mehrere Binärdarstel-
2ℵ0 = ℵ1
? lungen zu besitzen. Beispielsweise besitzt
die Zahl 12 die beiden Darstellungen 0,1
schreiben und in naheliegender Weise verallgemeinern: und 0,0111 . . .. Das bedeutet, dass die Vor-
schrift (1.11) der Zahl 12 sowohl die Men-
2ℵn = ℵn+1
?
(1.15) ge {1} als auch die Menge {2, 3, 4, . . .}
zuordnet und damit streng genommen gar
Die in Gleichung (1.15) geäußerte Vermutung heißt allgemeine Konti- keine Abbildung definiert. Glücklicher-
nuumshypothese. Plakativ besagt sie, dass die Potenzmengenoperation, weise lässt sich dieses Problem einfach
lösen. Die Mehrdeutigkeit verschwindet,
während sie uns von einer Unendlichkeit zur nächsten führt, keine Un-
wenn wir per Definition immer diejeni-
endlichkeiten überspringt. ge Darstellung mit der geringsten Anzahl
Einsen zugrunde legen.
Die Kontinuumshypothese sollte Cantor bis zu seinem Lebensende be-
Bei der Einbettung von P(N) in [0; 1]
schäftigen. Einige Male glaubte er sich im Besitz eines Beweises, an- müssen wir ebenfalls vorsichtig sein.
dere Male dachte er, die Hypothese widerlegt zu haben. Doch immer Würden wir z. B. die Abbildungsvor-
wieder tauchten Fehler auf, die seinen schon sicher geglaubten Erfolg schrift
zunichte machten. So sehr er sich auch bemühte, es blieb ihm zu Leb-
zeiten verwehrt, dieses große Rätsel des Kontinuums zu lüften. Cantor {n1 , n2 , . . .} → ∑ 2−n −1
i
i
konnte nicht wissen, wie sehr er zum Scheitern verdammt war.
verwenden, so wäre die Abbildung nicht
Dass Cantors Mengenbegriff von vielen seiner Zeitgenossen abgelehnt
mehr injektiv. Beispielsweise würden die
und von einigen sogar heftig bekämpft wurde, lässt sich nur im histo-
Mengen {0} und {1, 2, 3, . . .} beide der
rischen Kontext verstehen. Cantor schuf seinen Mengenbegriff in einer Zahl 12 zugeordnet. Genau dies ist der
Zeit, in der die Diskussion um das Wesen der Unendlichkeit in vollem Grund, weshalb ni in Gleichung (1.12)
Gange war. Zwei Begriffe standen im Mittelpunkt des Diskurses: Die mit 2 multipliziert wird. Erst durch die-
potenzielle Unendlichkeit und die aktuale Unendlichkeit. sen Trick wird die Zuordnung injektiv,
d. h., verschiedene Teilmengen der natür-
Den Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen wollen wir am Bei- lichen Zahlen werden auf verschiedene re-
spiel der natürlichen Zahlen elle Zahlen abgebildet.
0, 1, 2, 3, . . .
oben beschränkt ist. Wir sagen, die Anzahl der Iterationen ist potenziell
unendlich. Diese Art der Unendlichkeit birgt keinerlei Risiken in sich.
Auch wenn die Anzahl der Iterationen keiner Grenze unterliegt, errei-
chen wir jede natürliche Zahl nach endlich vielen Schritten und müssen
die Nachfolgeroperation daher niemals unendlich oft anwenden.
Reden wir stattdessen von den Zahlen, die sich durch die endliche Ite-
ration der Nachfolgeroperation erzeugen lassen, als Ganzes, so haben
wir den Sprung von der potenziellen Unendlichkeit in die aktuale Un-
endlichkeit vollzogen. Das besagte Ganze ist in diesem Fall nichts an-
deres als die Menge der natürlichen Zahlen selbst und besitzt unendlich
„So protestiere ich gegen den Gebrauch viele Elemente. Ob wir die natürlichen Zahlen tatsächlich als ein ab-
einer unendlichen Größe als einer geschlossenes Ganzes betrachten können oder lediglich das potenziell
Vollendeten, welches in der Mathematik Unendliche als alleinige Grundlage akzeptieren dürfen, wurde in der
niemals erlaubt ist.“ [65] Vergangenheit kontrovers diskutiert. Schon Aristoteles gehörte zu den
Kritikern der aktualen Unendlichkeit [168].
Befeuert wurde die Kritik durch die scheinbaren Widersprüche, die sich
im Umgang mit der Unendlichkeit ergeben. Weiter oben haben wir her-
ausgearbeitet, dass eine Eins-zu-eins-Zuordnung zwischen den ganzen
Zahlen Z und den natürlichen Zahlen N besteht, obwohl uns die Inklu-
sionsbeziehung N ⊂ Z das Gegenteil suggeriert. In analoger Weise lässt
sich zeigen, dass jede unendliche Teilmenge von N die gleiche Mäch-
tigkeit besitzt wie die natürlichen Zahlen selbst. Einige Wissenschaft-
ler, wie der namhafte Astronom Galileo Galilei, sahen hierin die Be-
stätigung dafür, dass Größenvergleiche zwischen unendlichen Mengen
unzulässig sind und nur im Falle endlicher Mengen einen Sinn erge-
ben [63, 111]. Andere Wissenschaftler, wie der berühmte Mathematiker
Carl Friedrich Gauß, lehnten den Umgang mit unendlichen Mengen als
in sich geschlossene Größen vollständig ab (Abbildung 1.24).
Carl Friedrich Gauß
(1777 – 1855) Für Cantor waren die angeblichen Paradoxien nichts weiter als Ei-
genschaften unendlicher Mengen. Er sah, dass die augenscheinlichen
Abbildung 1.24: Der deutsche Mathema- Widersprüche lediglich von der unbegründeten Annahme herrühren,
tiker Carl Friedrich Gauß zählt zu den ge- dass unendliche Mannigfaltigkeiten die gleichen Eigenschaften besit-
nialsten Mathematikern des ausgehenden zen müssen, wie die uns vertrauten endlichen Mengen. Einen Fürspre-
achtzehnten und beginnenden neunzehnten
cher fand Cantor in Richard Dedekind. Genau wie er sah Dedekind in
Jahrhunderts. Gauß hat in verschiedenen
Gebieten der Mathematik, Astronomie und
dem, was andere als Paradoxie bezeichneten, eine definierende Eigen-
Physik Bahnbrechendes geleistet und führ- schaft unendlicher Mengen. Offensichtlich hat eine Menge genau dann
te die Göttinger Mathematik zu Weltruhm. unendlich viele Elemente, wenn eine echte Teilmenge mit der gleichen
Eine Gedenkmünze, die ein Jahr nach sei- Mächtigkeit existiert.
nem Tod ausgegeben wurde, ehrt den bril-
lanten Mathematiker mit dem Titel „Ma- Obgleich das hohe Maß an Unverständnis, Misstrauen und Feindselig-
thematicorum Principi“ (lat. „Dem Fürsten keit tiefe Furchen in Cantors Psyche hinterließ, hielt er Kurs. Unbeirrt
der Mathematiker“). steuerte er in Richtung einer neuen Mathematik, die das aktual Unend-
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 27
Abbildung 1.25: Der deutsche Mathematiker Gottlob Frege begründete mit dem Logizismus eine neue Denkrichtung. Auch er
schreckte nicht vor dem aktual Unendlichen zurück; wie Cantor sah er darin den Schlüssel zu einer modernen Mathematik.
liche zum Protagonisten erheben und damit ein für allemal von seiner
Statistenrollen befreien sollte. Noch ahnte Cantor nicht, dass sein Ge-
dankengerüst schon bald ins Wanken geraten würde.
Genau wie Cantor war auch der drei Jahre später geborene Gottlob
Frege ein Verfechter des aktual Unendlichen (Abbildung 1.25). Frege
sah früh voraus, dass sich der Umgang mit der Unendlichkeit zu ei-
ner Grundsatzfrage der gesamten Mathematik entwickeln würde, die
kontrovers genug war, um die Wissenschaftsgemeinde für lange Zeit
zu spalten. Nichtsdestotrotz war er davon überzeugt, dass sich das ak-
tual Unendliche über kurz oder lang als akzeptiertes Instrument in der
Mathematik etablieren würde. Genau wie Cantor sah er die Mathema-
tik von einer „mächtigen akademisch-positivistischen Skepsis“ [56] be-
herrscht, die den Fortschritt zwar verzögern konnte, aber nicht im Stan-
de war, ihn dauerhaft aufzuhalten.
Im Jahr 1879 publizierte Gottlob Frege sein wichtigstes Werk, die Be-
griffsschrift. In der Rückschau markiert das knapp hundertseitige Buch
einen Meilenstein in der Geschichte der mathematischen Logik und ge-
hört zu den wichtigsten Einzelpublikation in diesem Bereich. In seinem
Werk schuf Frege das, was wir heute als symbolische Logik bezeichnen.
28 1 Historische Notizen
v Friedrich Ludwig Gottlob Frege sagenlogik von George Boole hinausging. Mit den einge-
8 No 26 Jul
1848 1925
wurde am 8. November 1848 im führten Begriffen und Konzepten schuf er die Grundlage der
mecklenburgischen Wismar gebo- modernen Prädikatenlogik.
ren. 1869 schrieb er sich an der Die meiste Zeit seines Lebens vertrat Frege die Auffassung,
Universität Jena ein, wo er in Ernst Abbe, dem Direktor der dass die Mathematik ein Teil der Logik sei, und war damit
Carl-Zeiss-Werke, einen einflussreichen Lehrer und lebens- ein überzeugter Verfechter des Logizismus. Nach Frege müs-
langen Unterstützer fand. Wahrscheinlich war es ein Vor- sen sich alle Wahrheiten auf eine Menge von Axiomen zu-
schlag Abbes, der Frege bewog, nach vier Semestern an die rückführen lassen, die nach seinen Worten „eines Beweises
renommierte mathematische Fakultät der Universität Göttin- weder fähig noch bedürftig“ seien. Er stand damit in einer
gen zu wechseln. Dort promovierte er im Jahr 1873 auf dem Gegenposition zu anderen Mathematikern seiner Zeit, von
Gebiet der Geometrie. Zurück in Jena reichte er 1874 seine denen viele die Logik als isoliertes Teilgebiet der Mathema-
Habilitationsschrift ein. Nach einigen Jahren der Privatdo- tik begriffen.
zentur wurde er 1879 zum Extraordinarius und 1896 schließ- Frege zog sich nach der niederschmetternden Entdeckung
lich zum ordentlichen Professor berufen. der Russell’schen Antinomie weitgehend aus der Wissen-
Frege zählt zu den Begründern der mathematischen Logik schaft zurück und sollte keine bedeutenden Arbeiten mehr
und der analytischen Philosophie. Im Jahr 1879 schuf er mit publizieren. Die Trümmer seines logizistischen Programms
seiner berühmten Begriffsschrift einen axiomatischen Zu- vor Augen, starb Frege als verbitterter Mann am 26. Juli
gang zur Logik [62], der weit über die bereits bekannte Aus- 1925 im Alter von 76 Jahren.
Aber was war es genau, das Freges Arbeit so besonders machte? Schon
ein paar Jahre zuvor hatte George Boole mit der Aussagenlogik das
Grundgerüst erschaffen, um logische Relationen zwischen Elementar-
aussagen mithilfe symbolischer Operatoren auszudrücken [12, 13]. Fre-
ges Ansatz ging jedoch weit über die boolesche Logik hinaus. Er er-
kannte, dass sich die logischen Direktiven nicht nur dazu verwenden
ließen, um die Zusammenhänge zwischen elementaren Aussagen zu be-
schreiben; sie entpuppten sich als stark genug, um die Struktur der Ele-
mentaraussagen selbst zu formalisieren. Damit hob Frege eine wichtige
Einschränkung der booleschen Logik auf, die streng zwischen der Ebe-
ne der Elementaraussagen (Boolesche Variablen, primary propositions)
und der Ebene der logischen Relationen (Aussagenlogische Ausdrücke,
secondary propositions) unterschied.
„Für alle x gilt: Wenn x ein Mensch ist, dann ist x sterblich.“ A ¬A
I Implikation („Aus B folgt A“)
In ähnlicher Weise lässt sich die Aussage
A
„Manche Menschen sind reich“ B→A
B
auf die Und-Verknüpfung (Konjunktion) zurückführen: I Konjunktion („B und A“)
ausdrücken.
Abbildung 1.26: Die Notation in Freges
Der Allquantor ‚∀‘ und der Existenzquantor ‚∃‘ werden verwendet, um Begriffsschrift und die Schreibweise der
quantitative Aussagen über die Elemente der Grundmenge (hier die modernen Prädikatenlogik im Vergleich
Menge aller Menschen) zu machen. Gelesen wird ∀ x als „Für alle x
gilt ...“ und ∃ x als „Es existiert ein x, für das gilt: ...“. Die Zeichen ‚→‘
und ‚∧‘ sind die heute üblichen Symbole für die logische Wenn-Dann-
Beziehung (Implikation) und die Und-Verknüpfung (Konjunktion).
Obwohl sich der konzeptionelle Kern der Begriffsschrift kaum von je-
nem der modernen Prädikatenlogik unterscheidet, könnten ihre Erschei-
nungsformen kaum unterschiedlicher sein. Verantwortlich hierfür ist die I „Alle Menschen sind sterblich“
komplizierte zweidimensionale Notation, in der Frege seine Formeln
niederschrieb (Abbildung 1.26). Die Art der Darstellung hat nicht nur x S(x) ∀ x (M(x) → S(x))
die Zunft der Buchdrucker vor neue Herausforderungen gestellt; sie ist M(x)
ebenso dafür verantwortlich, dass wir Freges Buch heute nur nach einer
I „Manche Menschen sind reich“
gründlichen Einarbeitung lesen können. Um einen plastischeren Ein-
druck von der Notation zu erhalten, zeigt Abbildung 1.27, wie sich die x R(x) ∃ x (M(x) ∧ R(x))
Formeln (1.18) und (1.19) in Freges Notation ausdrücken lassen. M(x)
Mit der Begriffsschrift war es Frege gelungen, das logische Denken auf
eine symbolische Ebene zu heben. Doch seine eigentlichen Ambitionen Abbildung 1.27: Zusammengesetzte Aus-
gingen deutlich weiter. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, zu drücke in Freges Notation
30 1 Historische Notizen
denen auch Cantor und Boole gehörten, sah er die Logik nicht als Teil
der Mathematik, sondern umgekehrt die Mathematik als Teil der Logik
an. Mit Vehemenz verfolgte er das Ziel, sämtliche mathematischen Be-
griffe und Konzepte auf elementare Begriffe der Logik zurückzuführen
und auf diese Weise die gesamte Mathematik mit einem soliden Unter-
bau zu versehen. Mit seinem ambitionierten Projekt begründete Frege
eine neue philosophische Denkrichtung, die wir heute als Logizismus
bezeichnen.
Einen wichtigen Teilerfolg erzielte Frege im Jahr 1884 mit der Publika-
tion der Grundlagen der Arithmetik [61]. In diesem Werk unternahm er
den Versuch, den Zahlenbegriff formal zu definieren, und erläuterte den
Plan für die Durchführung seines logizistischen Programms. Anders als
die Begriffsschrift war sein neues Werk eine rein umgangssprachliche
Abhandlung.
Frege hatte sein Ziel klar vor Augen und sollte die nächsten zwanzig
Jahre seines Lebens fast vollständig der Formalisierung seiner Ideen
widmen. Die Früchte seiner Arbeit waren die Grundgesetze der Arith-
metik, ein zweibändiges Buch, das wir neben der Begriffsschrift als das
zweite Hauptwerk Freges ansehen dürfen (Abbildung 1.28) [58, 59].
Genau wie Cantor war auch Frege von der Korrektheit seiner Arbeit
überzeugt. Noch waren die Wolken außer Sichtweite, die sich hinter
dem Horizont zusammenzogen und den strahlend blauen Himmel der
neu geschaffenen Mathematik schon bald verdunkeln sollten.
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 31
Abbildung 1.28: Auszug aus dem 1. Band der Grundgesetze der Arithmetik. Gottlob Frege schrieb das zweibändige Werk als
Teil seines logizistischen Programms. Es war der erste umfassende Versuch, die Mathematik auf die Logik zurückzuführen.
In der Nacht zum 1.1.1900 begrüßten die Menschen das neue Jahrhun-
dert voller Euphorie. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse des neun-
zehnten Jahrhunderts hatten die Allmachtsphantasie der Menschen be-
feuert, und auch die Mathematik wähnte sich dank der errungenen Er-
folge auf dem richtigen Pfad. Vor diesem Hintergrund verwundert es
nicht, dass auf dem 2. internationalen Kongress der Mathematiker in
Paris ein Vortrag gehalten wurde, dessen alleiniger Inhalt ein Ausblick
auf das kommende Jahrhundert war. Die Rede fand am Morgen des 8.
August 1900 statt und begann mit den folgenden Worten:
„Wer von uns würde nicht gern den Schleier lüften, unter
dem die Zukunft verborgen liegt, um einen Blick zu werfen
auf die bevorstehenden Fortschritte unserer Wissenschaft
32 1 Historische Notizen
n 14 Feb David Hilbert wurde am 23.1.1862 Hilbert war nicht nur ein außerordentlich begabter, sondern
23 Ja
1862 1943
in Königsberg als ältestes Kind ei- auch ein ungewöhnlich vielseitiger Mathematiker. Im Lau-
ner ostpreußischen Juristenfamilie fe seiner akademischen Karriere hat er seinen Forschungs-
geboren. Die in seiner Heimatstadt schwerpunkt mehrfach gewechselt und nicht nur im Bereich
ansässige Albertus-Universität (Albertina) bot ihm optimale der mathematischen Logik, sondern auch in der Geometrie,
Voraussetzungen, um seine Talente zu entwickeln. Das Stu- der Zahlentheorie, der Analysis und der theoretischen Phy-
dium der Mathematik beendete er 1884 mit der Promotion, sik seine Spuren hinterlassen.
1886 folgte die Habilitation. Nach einigen Jahren der Pri- Wie kein anderer beeinflusste Hilbert die Mathematik des
vatdozentur wurde er 1892 von der Albertina zum Professor beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Im Jahr 1900 hielt
berufen. er auf dem internationalen Kongress der Mathematiker in
1895 folgte Hilbert einem Ruf an die mathematische Fakul- Paris seine berühmte Jahrhundertrede, in der er 23 ungelöste
tät der Universität Göttingen. Es waren Größen wie Gauß, Probleme vortrug, die Mathematiker für Jahrzehnte beschäf-
Dirichlet und Riemann, die der Göttinger Mathematik einst tigen sollten. Noch heute sind einige Probleme offen.
zu großem Ruhm verhalfen. Gegen Ende des neunzehnten Hilbert starb am 14.2.1943 im Alter von 81 Jahren. Ein un-
Jahrhunderts drohte dieser aufgrund mangelnder Nachfolger auffälliger Grabstein auf dem Göttinger Stadtfriedhof erin-
allmählich zu verblassen. Die Berufung Hilberts war Teil nert leise und bescheiden an einen der größten Visionäre sei-
eines Neuanfangs, der die Göttinger Mathematik zu neuer ner Zeit. In Stein gemeißelt trägt er seine berühmten Worte:
Blüte führen sollte. „Wir müssen wissen. Wir werden wissen.“
Der Redner auf dem Podium war der erst 38 jährige David Hilbert (Ab-
bildung 1.29). Trotz seines ungewöhnlichen Alters war der junge Ma-
thematiker kein Unbekannter. Durch zahlreiche Erfolge auf verschiede-
nen Gebieten der Mathematik stieg er früh in den Olymp der bedeu-
tendsten Mathematiker auf.
habe der liebe Gott geschaffen“ [207], so dass sich jede Definition der-
selben als genauso überflüssig wie sinnlos erweisen müsse.
Hilberts Weg aus dem Dilemma war ein formalistischer. Anstatt die
mathematischen Grundelemente ihrem Wesen nach zu erklären, be-
schränkte er sich auf die Benennung der logischen Beziehungen, die
zwischen den betrachteten Objekten bestehen. Mit seiner Vorgehens-
weise konnte er im Jahr 1899 mit der Neuformulierung der euklidischen
Geometrie einen durchschlagenden Erfolg erzielen. Aus insgesamt 20
Axiomen, eingeteilt in 5 Axiomengruppen, lassen sich alle Sätze der
euklidischen Geometrie ableiten, ohne die verwendeten Symbole mit
einer speziellen Interpretation zu versehen [87]. Mit dieser Arbeit wies
Hilbert den Weg, auf dem ihn viele Mathematiker über Jahre hinweg be-
gleiten sollten. In der Folgezeit wurden weite Bereiche der Mathematik
in der gleichen Art und Weise axiomatisiert und damit einer präzisen
Betrachtung zugänglich gemacht. In diesem modernen Sinn wird die
Mathematik zu einem symbolischen Spiel, in dem die Regeln und nicht
die Bedeutungen der Figuren die Partie bestimmen. Hilberts formali-
stische Methode bringt das Maß an Ehrlichkeit und Klarheit mit sich,
nach dem Mathematiker von jeher streben: Sie ist frei von Interpretati-
onsspielräumen jeglicher Art.
In seiner Pariser Rede adressierte Hilbert 23 Probleme, die für die Ma-
thematik von immenser Wichtigkeit, aber bis dato eben ungelöst waren.
Nur die ersten 10 Probleme wurden vorgetragen, die letzten 13 sind nur
in der schriftlichen Ausarbeitung der Rede enthalten.
An zweiter Stelle forderte Hilbert dazu auf, einen Beweis für die Wi-
derspruchsfreiheit der arithmetischen Axiome zu liefern.
34 1 Historische Notizen
Konkret handelt es sich um eine Reihe von Axiomen, die nach Giuseppe
Peano benannt sind. Der italienische Mathematiker hatte sie im Jahr
1889 in einer Arbeit mit dem Titel Arithmetices principia publiziert,
die rückblickend zu seinen wichtigsten Werken zählt [142]. Die Arbeit
ist in lateinisch geschrieben und wurde erst später unter dem Titel The
principles of arithmetic in das Englische übersetzt [143].
Wenn wir heute von den Peano-Axiomen reden, so sind die fünf Axio-
me 1, 6, 7, 8 und 9 aus Abbildung 1.30 gemeint. Sie drücken jene fünf
Eigenschaften aus, über die sich die Ordnungsstruktur der natürlichen
Zahlen eindeutig charakterisieren lässt.3 In Abschnitt 3.1 werden wir
die Axiome in einer leicht modernisierten Form wieder aufgreifen und
in die moderne Prädikatenlogik übersetzen.
mit der 0, spielt nur eine untergeordnete Rolle, schließlich haben wir in Abschnitt 1.2.2
gezeigt, dass sich die Mengen {0, 1, 2, . . .} und {1, 2, 3, . . .} bijektiv aufeinander abbilden
lassen.
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 35
1.2.5 Grundlagenkrise
Das neue Jahrhundert war noch jung, als Gottlob Frege im Juni 1902
einen Brief des britischen Mathematikers und Philosophen Bertrand
Russell erhielt (Abbildung 1.32). Was Frege las, sollte nicht nur seine
eigene Arbeit im Mark erschüttern, sondern die gesamte Mathematik
in die größte Krise ihrer mehrere tausend Jahre alten Geschichte stür-
zen. Frege erreichte der Brief just zu der Zeit, als er den zweiten Band
der Grundgesetze der Arithmetik fertigstellte. Viele Jahre seines Le-
bens hatte er auf diese Arbeit verwendet und sah sie auf einen Schlag in
Trümmern liegen. Für größere Änderungen war es ohnehin zu spät, und
so schließt der zweite Band mit dem folgenden Nachwort [57, 60]:
ai 2 Feb Bertrand Arthur William Russell keit, in Cambridge ohne Lehrverpflichtungen zu forschen,
18 M
1872 1970
war der Enkel des zweimaligen und wurde 1908 in die Royal Society aufgenommen.
britischen Premierministers Lord Eine einschneidende Veränderung erfuhr sein Leben durch
John Russell und wurde am 18. den ersten Weltkrieg. Im Jahr 1916 wurde er aufgrund wie-
Mai 1872 als drittes Kind einer liberalen Aristokratenfamilie derholter pazifistischer Aktivitäten zu einer Geldstrafe ver-
geboren. Als er 2 Jahre alt war, fielen Mutter und Schwester urteilt und seiner Anstellung am Trinity College entho-
der Diphtherie zum Opfer. Als er 1876 auch noch seinen Va- ben [77]. Zwei Jahre später wurde ihm erneut der Prozess
ter verlor, erstritten seine Großeltern das Sorgerecht. Zwei gemacht und eine zweijährige Gefängnisstrafe auferlegt.
Jahre später verstarb sein Großvater, und seine Großmutter In der Folgezeit verfasste er eine Vielzahl bedeutender Wer-
übernahm allein die Erziehung. Schon in frühen Jahren wur- ke über philosophische und gesellschaftliche Themen und
de Russells einzigartige Begabung für Mathematik und Phi- wurde im Jahr 1950 mit dem Literaturnobelpreis geehrt.
losophie sichtbar. Zunächst wurde er privat und später am Durch seine literarische Arbeit gelangte er zu Weltruhm,
renommierten Trinity College in Cambridge unterrichtet. und etliche Menschen verbinden seinen Namen heute aus-
In den Jahren 1890 bis 1894 widmete er sich dem Studium schließlich mit seinem philosophischen Werk. Viele wissen
der Mathematik und lernte in dieser Zeit seinen Lehrer und nicht, dass sich hinter dem berühmten Philosophen Bertrand
späteren Freund Alfred North Whitehead kennen. Nach sei- Russell zugleich einer der größten Mathematiker des zwan-
nem Studium nutzte er bis 1901 die ihm gebotene Möglich- zigsten Jahrhunderts verbirgt.
∃ y ∀ x ((x ∈ y) ↔ ϕ(x))
Hierin ist ϕ eine frei wählbare Formel, in der die Variable y nicht vor-
kommt. In Worten liest sich das allgemeine Komprehensionsaxiom wie
folgt: Es existiert eine Menge y, die genau diejenigen Elemente x ent-
hält, auf die die Eigenschaft ϕ zutrifft. Beschreibt ϕ beispielsweise die
Eigenschaft, eine Primzahl zu sein, so sichert uns das Komprehensions-
axiom zu, von der Menge aller Primzahlen reden zu dürfen. Das Axiom
Bertrand Russell
wird häufig auch als Separationsaxiom bezeichnet, da die Bedingung (1872 – 1970)
ϕ diejenigen Elemente, die in y enthalten sind, von jenen separiert, die
nicht in y enthalten sind. Abbildung 1.32: Dem britischen Mathe-
matiker und Philosophen Bertrand Russell
Es ist ein entscheidendes Merkmal der Frege’schen Logik, dass die For- gelang es, die Logik der naiven Mengenleh-
mel ϕ keinerlei Einschränkungen unterliegt. Russell erkannte die Ge- re als widersprüchlich zu entlarven. Seine
fahr dieser Freiheit und traf die folgende Wahl: Entdeckung stürzte die Mathematik in die
größte Krise ihrer mehrere tausend Jahre al-
ϕ(x) := (x ∈ x) ten Geschichte.
38 1 Historische Notizen
BARBIER -PARADOXON Die Formel beschreibt eine harmlos erscheinende Eigenschaft: Sie trifft
auf alle Mengen x zu, die sich nicht selbst als Element enthalten. ϕ ist
„You can define the barber as ’one who
für die meisten Mengen wahr. So ist die Menge aller Menschen selbst
shaves all those, and those only, who do
not shave themselves’. The question is, kein Mensch und auch die Menge aller Primzahlen selbst keine Prim-
does the barber shave himself?“ [170] zahl. Dagegen ist ϕ für die Menge aller Mengen falsch. Da sie selbst
eine Menge ist, enthält sie sich auch selbst als Element.
Fall 1: Der Barbier
rasiert sich selbst. Mit der getätigten Wahl von ϕ garantiert uns das Komprehensionsaxiom
Hieraus folgt... die Existenz einer Menge y mit der folgenden Eigenschaft:
∀ x ((x ∈ y) ↔ (x ∈ x))
In Worten: Die Menge y ist die Menge aller Mengen, die sich nicht
selbst als Element enthalten. Jetzt können wir über die sogenannte In-
stanziierungsregel den Allquantor eliminieren, indem wir x durch ein
beliebiges Element ersetzen. Wählen wir für x die besagte Menge y, so
erhalten wir den Widerspruch, dass sich die Menge y genau dann selbst
enthält, wenn sie sich nicht selbst enthält:
(y ∈ y) ↔ (y ∈ y)
X
rasiert sich nicht selbst. le. Durch ihr Wegbrechen stand die neue Mathematik mit einem Schlag
Hieraus folgt... auf wackligen Füßen.
Die Russell’sche Antinomie macht deutlich, dass sowohl Frege als auch
Cantor im Umgang mit dem aktual Unendlichen zu unvorsichtig waren.
Abbildung 1.33: Der besagte Barbier ra- So harmlos das allgemeine Komprehensionsaxiom auch wirken mag –
siert genau diejenigen Männer, die sich es lässt uns Mengen konstruieren, die wir nicht als abgeschlossenes
nicht selbst rasieren. Die Frage, ob sich der Ganzes ansehen dürfen. Betrachten wir die Menge aller Mengen, die
Barbier selbst rasiert oder nicht, führt zu sich nicht selbst als Element enthalten, tatsächlich als aktual existent,
demselben Zirkelschluss, der auch der Rus-
so sind die entstehenden Widersprüche unausweichlich.
sell’schen Antinomie zugrunde liegt.
Heute wird der Zirkelschluss der Russell’sche Antinomie gern am Bei-
spiel des Barbier-Paradoxons erklärt (Abbildung 1.33). Russell selbst
griff auf dieses Paradoxon zurück, um seine Antinomie mit Begriffen
des Alltags einem größeren Leserkreis nahe zu bringen.
Der hohe Bekanntheitsgrad der Russell’schen Antinomie täuscht häufig
darüber hinweg, dass der Mengenbegriff schon vorher für Ungereimt-
heiten gesorgt hatte. So bemerkte Cantor im Jahr 1897, dass die Men-
ge aller Kardinalzahlen ihre eigene Kardinalzahl nicht umfassen kann.
Zwei Jahre später stieß er auf das Burali-Forti-Paradoxon, auf das wir
in Abschnitt 3.2.2 zurückkommen werden. Benannt ist es nach dem ita-
lienischen Mathematiker Cesare Burali-Forti, der schon 1897 entdeckt
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 39
Cantor hat die Entdeckung der Antinomien niemals publiziert, und wir
wissen von seinen Erkenntnissen ausschließlich aus Briefwechseln mit
Hilbert und Dedekind. Auch sie hielten die Antinomien wohl eher für
Kuriositäten, die aus dem unzulässigen, weil informellen Gebrauch ver-
schiedener Begriffe herrührten.
Die Russell’sche Antinomie war anders. Zum einen war sie so elemen-
tar, dass alle Bereiche der Mathematik betroffen waren, die in irgendei-
ner Form auf den Begriff der Menge zurückgriffen. Zum anderen hatte
Russell nicht nur gezeigt, dass die Menge aller Mengen, die sich nicht
selbst enthalten, zu Widersprüchen führt, sondern auch, dass diese Men-
ge innerhalb der Logik formal konstruiert werden kann. Anders als die
Antinomien der Ordinal- oder Kardinalzahltheorien, die als kuriose Be-
gleiterscheinungen am Rande eines ansonsten intakten mathematisch-
en Kerns gewertet wurden, ließ sich die Russell’sche Antinomie nicht
ignorieren. Was Russell entdeckte, war eine tektonische Verwerfung rie-
sigen Ausmaßes, mitten im Herzen der Mathematik.
Frege empfand die Entdeckung der Antinomie als schweren Schlag, der
sein Lebenswerk wie eine Seifenblase zerplatzen ließ. Als zwei Jahre
später seine Frau Margarete verstarb, verfiel er in eine tiefe Depression,
von der er sich zeitlebens nicht mehr erholen sollte.
Nach zehn Jahren intensiver Arbeit war das Ergebnis greifbar: Die Prin-
cipia Mathematica, erschienen in den Jahren 1910 bis 1913, waren fer-
tiggestellt (Abbildung 1.34). Russell und Whitehead schufen ein mo-
numentales Werk, das in Umfang und Tiefe weit über die Frege’sche
Arbeit hinausgeht. Auf über 1800 Seiten, verteilt auf 3 Bände, unter-
nahmen die Autoren den Versuch, alle mathematischen Erkenntnisse
aus einer kleinen Menge von Axiomen systematisch herzuleiten. Auch
40 1 Historische Notizen
Vor dem historischen Hintergrund wird deutlich, warum ein großer Teil
der Principia der Typentheorie gewidmet ist. Hierbei handelt es sich
um eine spezielle Form der Mengenlehre, in der sich die Widersprüche
der Frege’schen Logik nicht reproduzieren lassen. Um die Antinomi-
en zu umgehen, verfolgte Russell den Ansatz, Mengen hierarchisch zu
ordnen. Auf der untersten Stufe befinden sich die Typ-1-Mengen, die
lediglich Elemente des Individuenbereichs umfassen. Auf der nächs-
ten Stufe befinden sich die Typ-2-Mengen, die aus Individuenelemen-
ten und Typ-1-Mengen bestehen. Dann folgen die Typ-3-Mengen, die
zusätzlich Typ-2-Mengen enthalten dürfen, und so fort. Da eine Typ-n-
Menge niemals selbst ein Element vom Typ n besitzen darf, kann sich
eine Menge in der Typentheorie der Principia niemals selbst enthal-
ten. Durch die Einführung dieser Mengenhierarchie war es Russell und
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 41
Abbildung 1.35: Formaler Beweis der arithmetischen Beziehung 1 + 1 = 2 im System der Principia Mathematica
Dennoch hat die Typentheorie die Zeit nicht überdauert, was im We-
sentlichen an zwei Gründen liegt. Zum einen schränkt sie den Begriff
der Menge so stark ein, dass sich etliche als harmlos geltende Mengen
nicht mehr bilden lassen. Zum anderen führt ihre klobige Hierarchie da-
zu, dass viele Beweise im System der Principia deutlich umständlicher
geführt werden müssen als beispielsweise in der Frege’schen Logik.
42 1 Historische Notizen
I Axiom V (Axiom der Vereinigung) „Ersetzt man die Elemente x einer Menge m eindeutig
durch beliebige Elemente x des Bereiches, so enthält
„Jeder Menge T entspricht eine Menge ST (die ‚Verei-
dieser auch eine Menge m , welche alle diese x zu Ele-
nigungsmenge‘ von T ), welche alle Elemente der Ele-
menten hat.“
mente von T und nur solche als Elemente enthält.“
I Axiom der Fundierung (F)
I Axiom VI (Axiom der Auswahl)
„Jede (rückschreitende) Kette von Elementen, in wel-
„Ist T eine Menge, deren sämtliche Elemente von 0/
cher jedes Glied Element des vorangehenden ist, bricht
verschiedene Mengen und untereinander elementfremd
mit endlichem Index ab bei einem Urelement. Oder, was
sind, so enthält ihre Vereinigung ∪T mindestens eine
gleichbedeutend ist: Jeder Teilbereich T enthält wenig-
Untermenge S1 , welche mit jedem Element von T ein
stens ein Element t0 , das kein Element t in T hat.“
und nur ein Element gemein hat.“
I Optional: Axiom der Auswahl (AC)
I Axiom VII (Axiom des Unendlichen)
„Ist T eine Menge, deren sämtliche Elemente von 0/
„Der Bereich enthält mindestens eine Menge Z, welche
verschiedene Mengen und untereinander elementfremd
die Nullmenge als Element enthält und so beschaffen
sind, so enthält ihre Vereinigung ∪T mindestens eine
ist, dass jedem ihrer Elemente a ein weiteres Element
Untermenge S1 , welche mit jedem Element von T ein
der Form {a} entspricht, oder welche mit jedem ihrer
und nur ein Element gemein hat.“
Elemente a auch die entsprechende Menge {a} als Ele-
ment enthält.“
Abbildung 1.37: Links: Zermelo-Mengenlehre in der Formulierung von Ernst Zermelo aus dem Jahr 1908 [223]. Rechts:
Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre in der Formulierung von Ernst Zermelo aus dem Jahr 1930 [224]
44 1 Historische Notizen
I Vollständigkeit
Ein formales System heißt vollständig, wenn jede wahre Aussage,
die in der betrachteten Logik formuliert werden kann, innerhalb des
Systems beweisbar ist. Mit anderen Worten: Für jede wahre Aussage
ϕ muss es eine endliche Kette von Regelanwendungen geben, die
ϕ aus den Axiomen deduziert. Beachten Sie, dass ein vollständiges
formales System nicht preisgeben muss, wie eine solche Kette zu
finden ist. Die Vollständigkeit garantiert lediglich deren Existenz.
I Widerspruchsfreiheit
Ein formales System heißt widerspruchsfrei, wenn für eine Aussa-
ge ϕ niemals gleichzeitig ϕ und die Negation von ϕ (geschrieben
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 45
als ¬ϕ) abgeleitet werden kann. Erfüllt ein formales System diese Der Intuitionismus war ne-
Eigenschaft nicht, so könnte es kaum wertloser sein. Es würde uns ben dem Logizismus und
gestatten, jede beliebige Aussage zu beweisen. dem Formalismus die dritte
philosophische Strömung in
I Entscheidbarkeit der Mathematik des zwanzigsten Jahrhun-
derts. Er wurde im Jahr 1907 von dem nie-
Ein formales System heißt entscheidbar, wenn ein systematisches derländischen Mathematiker Luitzen Eg-
Verfahren existiert, mit dem für jede Aussage entschieden werden bertus Jan Brouwer begründet und fand in
kann, ob sie innerhalb des Kalküls beweisbar ist. Hinter der Eigen- Arend Heyting, Stephen Kleene, und Mi-
schaft der Entscheidbarkeit verbirgt sich nichts Geringeres als der chael Dummett prominente Fürsprecher.
Wunsch nach einer mechanisierten Mathematik. Wäre z. B. die Zah- Nach Brouwer baut die Mathematik auf
lentheorie vollständig und entscheidbar, so ließe sich für jede wah- intuitiv einsichtigen Begriffen auf, die
re zahlentheoretische Aussage auf maschinellem Wege ein Beweis keiner Definition bedürfen. Beispiele sind
konstruieren. Der Traum vieler Mathematiker würde wahr. die natürlichen Zahlen oder die kontinu-
ierlich verstreichende Zeit. Als existent
akzeptierte er ausschließlich Objekte, die
Hilbert war überzeugt, dass eine vollständige, widerspruchsfreie und sich gedanklich konstruieren lassen.
entscheidbare Axiomatisierung der Mathematik gefunden werden kann. Brouwer setzte die Wahrheit einer Aus-
sage mit deren Beweisbarkeit gleich. Das
Seine Bemühungen, die mathematische Methode mit einem sicheren
bedeutet, dass beispielsweise eine Aussa-
Fundament zu versehen, konkretisierte er in den zwanziger Jahren. Hil- ge der Form ϕ ∨ ψ nur dann als wahr an-
bert hatte im Sinn, die gewöhnliche Mathematik in ein formales Sys- gesehen wird, wenn ein Beweis für ϕ oder
tem zu überführen, das alle gebräuchlichen Beweismethoden umfasst. ein Beweis für ψ konstruiert werden kann.
Von innen betrachtet wäre dieses System eine formale Variante der ge- Damit ist die Aussage ϕ ∨ ¬ϕ in der in-
wöhnlichen Mathematik. Von außen betrachtet erschiene es als eine An- tuitionistischen Logik nicht allgemeingül-
sammlung von Axiomen und Schlussregeln. Gelänge es sicherzustellen, tig; sie ist nur dann wahr, wenn es gelingt,
dass durch die Anwendung der Schlussregeln keine Widersprüche aus einen Beweis für ϕ oder einen Beweis für
den Axiomen abgeleitet werden können, so wäre die Korrektheit aller ¬ϕ zu entwickeln. Altbewährte Grundan-
innerhalb des Systems verankerten Beweismethoden gesichert. nahmen wie der Satz vom ausgeschlosse-
nen Dritten (Tertium non datur) und der
Zugegebenermaßen wäre wenig gewonnen, wenn der Beweis der Wi- daraus resultierende Beweis durch Wider-
derspruchsfreiheit mit den gleichen umstrittenen Beweismethoden ge- spruch verlieren hierdurch ihre Gültigkeit.
führt würde, die im Inneren des Systems vorhanden sind. Hilbert hat- In [89] äußerte sich Hilbert wie folgt über
te im Sinn, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik ausschließlich die intuitionistische Strömung:
mit finiten Mitteln zu führen. Grob gesprochen fasste dieser Begriff „Das Tertium non datur dem Mathemati-
ker zu nehmen, wäre etwa, wie wenn man
all jene Beweismittel zusammen, deren Korrektheit außer Frage stand.
dem Astronomen das Fernrohr oder dem
Ausgeschlossen waren Beweismethoden, die den Begriff des Unend-
Boxer den Gebrauch der Fäuste untersa-
lichen strapazieren. Ebenfalls ausgeschlossen waren nichtkonstruktive gen wollte.“
Schlussweisen wie der indirekte Beweis (reductio ad absurdum), der Heute spielt der Intuitionismus fast nur
auf dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten beruht (tertium non datur). noch im Bereich der mathematischen Phi-
Der Ausschluss dieser Methoden war ein Tribut an den Intuitionismus, losophie eine Rolle. Aus der Schulmathe-
eine philosophische Strömung in der Mathematik, die zu Beginn des matik wurde die intuitionistische Denk-
zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend an Popularität gewann und eine weise gegen Ende des zwanzigsten Jahr-
konstruktive Mathematik einforderte. hunderts nahezu vollständig verdrängt, als
die Auseinandersetzung mit philosophi-
Würde Hilberts Vorhaben gelingen, so wäre ein für alle Mal geklärt, schen Fragestellungen allmählich zu ver-
dass das Fundament, auf dem wir die moderne Mathematik errichtet blassen begann.
46 1 Historische Notizen
haben, ein sicheres ist. Vor einem tektonischen Beben, wie es Jahre zu-
vor die Frege’sche Logik ereilte, bräuchten wir uns dann nicht mehr
zu fürchten. Nebenbei hätte Hilbert auch auf einem anderen Schauplatz
einen Kantersieg errungen. Dem Intuitionismus, den Hilbert zeitlebens
zu bekämpfen versuchte, käme das Gelingen des Programms einem fi-
nalen Dolchstoß gleich.
1930 war das Jahr, in dem die Entwicklung eine abrupte Kehrtwende
nehmen sollte. Am 8. September bekräftigte Hilbert vor der Versamm-
lung Deutscher Naturforscher und Ärzte in seiner Heimatstadt Königs-
berg seine tiefe Überzeugung, dass es in der Wissenschaft keine unlös-
baren Probleme gebe. Ein Auszug aus seiner Rede wurde als Radioan-
sprache ausgestrahlt (Abbildung 1.39).
Zum Zeitpunkt seiner Rede wusste Hilbert noch nichts von den Ereig-
(1906 – 1978) nissen, die sich am Vortag an anderer Stelle in Königsberg abspielten.
Es war die Tagung der exakten Erkenntnislehre, die die Mathematik
Abbildung 1.38: Kurt Gödel ging als ei- für immer verändern sollte. Abgehalten wurde die dreitägige Konfe-
ner der größten Logiker aller Zeiten in die renz von 5. bis zum 7. September 1930 von der Berliner Gesellschaft
Geschichte ein. Seine bahnbrechenden Ent-
deckungen haben dazu geführt, dass wir un- 4 DerBegriff des engeren Funktionenkalküls wurde durch die Hilbert’sche Schule ge-
ser Verständnis der mathematischen Metho- prägt und beschreibt im Wesentlichen das, was wir heute als Prädikatenlogik erster Stufe
de von Grund auf überdenken mussten. bezeichnen.
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 47
„Das Instrument, welches die Trotzdem haben es alle Mathematiker abgelehnt, die An-
Vermittlung bewirkt zwischen wendungen als Wertmesser für die Mathematik gelten zu
Theorie und Praxis, zwischen lassen. Gauß spricht von dem zauberischen Reiz, den die
Denken und Beobachten, ist Zahlentheorie zur Lieblingswissenschaft der ersten Mathe-
die Mathematik; sie baut die matiker gemacht habe, ihres unerschöpflichen Reichtums
verbindende Brücke und ge- nicht zu gedenken, woran sie alle anderen Teile der Ma-
staltet sie immer tragfähiger. thematik so weit übertrifft. Kronecker vergleicht die Zah-
Daher kommt es, dass unsere ganze gegenwärtige Kultur, lentheoretiker mit den Lotophagen, die, wenn sie einmal
soweit sie auf der geistigen Durchdringung und Dienstbar- von dieser Kost etwas zu sich genommen haben, nie mehr
machung der Natur beruht, ihre Grundlage in der Mathe- davon lassen können. Der große Mathematiker Poincaré
matik findet. Schon Galilei sagt: ‚Die Natur kann nur der wendet sich einmal in auffallender Schärfe gegen Tolstoi,
verstehen, der ihre Sprache und die Zeichen kennengelernt der erklärt hatte, dass die Forderung ‚die Wissenschaft der
hat, in der sie zu uns redet; diese Sprache aber ist die Ma- Wissenschaft wegen‘ töricht sei. Die Errungenschaften der
thematik, und ihre Zeichen sind die mathematischen Figu- Industrie, zum Beispiel, hätten nie das Licht der Welt er-
ren‘. Kant tat den Ausspruch: ‚Ich behaupte, dass in jeder blickt, wenn die Praktiker allein existiert hätten und wenn
besonderen Naturwissenschaft nur so viel eigentliche Wis- diese Errungenschaften nicht von uninteressierten Toren
senschaft angetroffen werden kann, als darin Mathematik gefördert worden wären. ‚Die Ehre des menschlichen Gei-
enthalten ist‘. In der Tat: Wir beherrschen nicht eher ei- stes‘, so sagte der berühmte Königsberger Mathematiker
ne naturwissenschaftliche Theorie, als bis wir ihren mathe- Jacobi, ‚ist der einzige Zweck aller Wissenschaft‘.
matischen Kern herausgeschält und völlig enthüllt haben. Wir dürfen nicht denen glauben, die heute mit philosophi-
Ohne Mathematik ist die heutige Astronomie und Physik scher Miene und überlegenem Tone den Kulturuntergang
unmöglich; diese Wissenschaften lösen sich in ihren theo- prophezeien und sich in dem Ignorabimus gefallen. Für uns
retischen Teilen geradezu in Mathematik auf. Diese wie die gibt es kein Ignorabimus, und meiner Meinung nach auch
zahlreichen weiteren Anwendungen sind es, denen die Ma- für die Naturwissenschaft überhaupt nicht. Statt des törich-
thematik ihr Ansehen verdankt, soweit sie solches im wei- ten Ignorabimus heiße im Gegenteil unsere Losung: Wir
teren Publikum genießt. müssen wissen, wir werden wissen.“
Abbildung 1.39: Aus der Radioansprache von David Hilbert aus dem Jahr 1930 [90, 159]
Die Bombe platzte am dritten Tag, als sich Gödel während der abschlie-
ßenden Podiumsdiskussion zu Wort meldete. Zunächst gab er zu beden-
ken, dass die Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems, wie das der
Principia Mathematica, nicht garantieren könne, dass alle abgeleiteten
Theoreme wahre Aussagen sind. Selbst wenn die Widerspruchsfreiheit
der Principia bewiesen sei, wäre nicht auszuschließen, dass sich inner-
halb des Systems eine Aussage über die natürlichen Zahlen ableiten lie-
48 1 Historische Notizen
pr 14 Jan Kurt Gödel wurde am 28. April Obwohl sich die Verhältnisse in Wien nach der Machter-
28 A
1906 1978
1906 im österreichisch-ungarisch- greifung Hitlers sukzessive verschärften, war sich Gödel des
en Brünn geboren. Seine Geburts- Ausmaßes der Gefahr nicht bewusst. Erst im Jahr 1940 nutz-
stadt wurde 1918 Teil der neu ge- te er die wahrscheinlich letzte Möglichkeit zur Flucht in die
gründeten Tschechoslowakischen Republik, die er stets als USA. Sein Ziel war das Institute for Advanced Study in Prin-
Exil empfand. Im Alter von 17 Jahren nahm er die österrei- ceton, an dem er zuvor mehrere Gastaufenthalte absolviert
chische Staatsbürgerschaft an und zog ein Jahr später nach hatte. Aufgrund seines speziellen Charakters und seiner aus-
Wien, um das Studium der theoretischen Physik zu begin- geprägten Neigung zur Hypochondrie war Gödel nicht un-
nen. Die legendäre Vorlesung über Zahlentheorie von Phil- umstritten, und es dauerte bis zum Jahr 1953, bis ihn das
ipp Furtwängler lenkte Gödels Interesse aber schon bald auf IAS zum Professor ernannte. Einen treuen Fürsprecher fand
die Grundlagen der Mathematik. er in Albert Einstein, mit dem ihm eine lebenslange Freund-
Gödel war von dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben schaft verband.
Wiens angetan. Unter anderem trat er dem Wiener Kreis bei, Gödels geistiger Zustand war seit seiner Kindheit labil
einem akademischen Zirkel um Moritz Schlick, der sich mit und sollte sich mit zunehmendem Alter kontinuierlich ver-
wissenschaftsphilosophischen Fragen beschäftigte. Es war schlimmern. Von starker Hypochondrie, Paranoia und De-
die Zeit in Wien, in der Gödel die beiden Unvollständig- pression gezeichnet, starb Kurt Gödel am 14. Januar 1978
keitssätze entdeckte, die unser mathematisches Weltbild so an den Folgen einer selbst herbeigeführten Unterernährung.
grundlegend verändert haben.
ße, die sich außerhalb des Systems betrachtet als falsch erweist. Dann
folgte der entscheidende Satz:
Dies ist die erste öffentliche Formulierung des ersten Gödel’schen Un-
vollständigkeitssatzes. Die Bombe war geplatzt, und doch schien nie-
mand ihre seismischen Wellen zu spüren. Wir wissen nicht, ob sein zu-
rückhaltendes Auftreten oder die Vermessenheit seiner Aussage dazu
führte, dass niemand im Saal Gödels Beitrag kommentierte. Es ist wahr-
scheinlich, das kaum einer der Anwesenden richtig verstand, wovon der
junge Mathematiker überhaupt sprach.
Der Brief kam zu spät. Was von Neumann beschrieb, ist der Inhalt des
zweiten Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes, den Gödel unabhängig
entdeckt und zusammen mit seinem ersten Unvollständigkeitssatz be-
reits zur Publikation eingereicht hatte (Abbildung 1.41). Seine Arbeit
trägt den unscheinbaren Namen „Über formal unentscheidbare Sätze
der Principia Mathematica und verwandter Systeme I“. Der Hauptteil
seiner Publikation beschäftigt sich mit der Herleitung des ersten Un-
vollständigkeitssatzes; dagegen wird der Beweis des zweiten Unvoll-
ständigkeitssatzes nur skizziert. Gödel hatte vor, seine Beweisskizze in
50 1 Historische Notizen
Abbildung 1.41: 1931 publizierte Kurt Gödel seine beiden Unvollständigkeitssätze, die unser mathematisches Grundverständ-
nis für immer verändern sollten [69]. Gödels Sätze manifestieren, dass sich die Begriffe der Beweisbarkeit und der Wahrheit
nicht in Kongruenz bringen lassen; sie zeigen der mathematischen Methode Grenzen auf, die wir niemals überwinden werden.
Anders als von Neumann sah Gödel das Hilbert’sche Programm kei-
nesfalls als gescheitert an. Auch wenn die Widerspruchsfreiheit der ge-
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 51
Doch wie sollte ein derartiges System aussehen, mit dem sich die
Widerspruchsfreiheit der gewöhnlichen Mathematik beweisen lassen
könnte? Zunächst müsste es neue Beweismittel umfassen, die in der ge-
wöhnlichen Mathematik heute nicht enthalten sind. Des Weiteren müss-
ten die neuen Beweismittel zu den finiten Mitteln zählen, d. h., sie müss-
ten aus offensichtlichen Überlegungen heraus korrekt sein. Auch wenn
die Existenz durch die Gödel’schen Unvollständigkeitssätze nicht aus-
geschlossen wird, hat noch niemand ein solches System bisher gefun-
den, geschweige denn eine Vorstellung davon, wie es aufgebaut sein
könnte. Nur wenige Experten sind der Meinung, dass ein solches Sys-
tem existiert.
des ENIAC, den wir rückblickend als den ersten universellen Compu-
ter der Welt ansehen dürfen (Abbildung 1.42). Im Jahr 1946 publizierte
von Neumann ein wegweisendes Konzept für die Organisation von Mi-
krorechnern und auch heute noch ist die Von-Neumann-Architektur die
Grundlage für den Bau vieler moderner Computersysteme [138].
Auch Bertrand Russell zog sich in den Folgejahren fast vollständig von
der Logik zurück. Rückblickend ist es schwer zu ermessen, welche in-
tellektuelle Leistung das Verfassen der Principia Mathematica erfordert
haben muss. Fest steht, dass die zehnjährige Arbeit an diesem epocha-
len Werk auch in Russells brillantem Geist Spuren hinterließ (Abbil-
dung 1.43).
Ist die von Gödel entdeckte Unvollständigkeit wirklich nur eine Lau-
ne der Logik, die in der gewöhnlichen Mathematik so gut wie kei-
ne Rolle spielt? In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 53
wurde auch diese Hoffnung zerstört. Im Jahr 1977 gelang es den Ma- „[...] I always found myself hoping that
thematikern Jeff Paris und Leo Harrington, eine Variante des Ramsey- perhaps Principia Mathematica would be
Theorems zu finden, die sich innerhalb der Peano-Arithmetik formu- finished some day. Moreover the difficulties
appeared to me in the nature of a
lieren, aber nicht innerhalb der Peano-Arithmetik beweisen lässt. Das
challenge, which it would be pusillanimous
Ramsey-Theorem ist ein mathematisches Problem aus der Kombinato-
not to meet and overcome. So I persisted,
rik, benannt nach dem britischen Mathematiker Frank Plumpton Ram- and in the end the work was finished, but
sey [157]. Äußerlich unterscheidet es sich eklatant von den trickreich my intellect never quite recovered from the
konstruierten Formeln, mit denen Gödel die Unvollständigkeitssätze be- strain. I have been ever since definitely less
wies. Das Ramsey-Theorem ist frei von Selbstbezügen jeglicher Art, capable of dealing with difficult
und trotzdem ist es eine unbeweisbare Formel im Gödel’schen Sin- abstractions than I was before. This is part,
ne. Heute wissen wir, dass die Aussage der von Paris und Harrington though by no means the whole, of the
gefundenen Variante äquivalent zur Widerspruchsfreiheit der Peano- reason for the change in the nature of my
Arithmetik ist. Damit ergibt sich die Unbeweisbarkeit als zwangsläufige work.“ [171]
Folgerung aus dem zweiten Gödel’schen Unvollständigkeitssatz.
In Abschnitt 4.5 werden wir mit dem Satz von Goodstein ein ebenso
harmlos anmutendes Theorem der Zahlentheorie besprechen, das der
englische Logiker Reuben Louis Goodstein im Jahr 1944 mit den Mit-
teln der Mengenlehre bewies [75]. Auch hier handelt es sich um einen
wahren Satz, der sich innerhalb der Peano-Arithmetik formulieren, aber
nicht innerhalb der Peano-Arithmetik beweisen lässt. Dies ist das er-
staunliche Ergebnis einer Arbeit von Laurie Kirby und Jeff Paris aus
dem Jahr 1982 [108].
Bertrand Russell
(1872 – 1970)
1.2.8 Grenzen der Berechenbarkeit
Abbildung 1.43: In hohem Alter verfasste
Bertrand Russell seine dreibändige Auto-
Gödels Arbeit verwies die Mathematik zweifelsohne in ihre Grenzen; biographie, die in den Jahren 1967 bis 1969
unmissverständlich machte sie klar, dass ein widerspruchsfreier und zu- erschien.
gleich vollständiger Kalkül für die Theorie der natürlichen Zahlen nicht
existieren kann. Dennoch blieb die Hoffnung, dass zumindest die Frage
nach der Entscheidbarkeit positiv beantwortet werden könnte. Die Un-
vollständigkeitssätze schließen nicht aus, dass ein systematisches Ver-
fahren existiert, das für jede Aussage bestimmt, ob sie innerhalb des
Systems beweisbar ist oder nicht.
Abbildung 1.44: 1936 gelang es Alan Turing, eine endgültige Klärung für das Hilbert’sche Entscheidungsproblem herbeizu-
führen [200]. Mit der Turing-Maschine schuf er ein abstraktes Maschinenmodell, auf dem weite Teile der modernen Berechen-
barkeitstheorien beruhen.
Denken durch den täglichen Umgang mit dem Computer gut geschult.
In den dreißiger Jahren war der Computer dem Reißbrett noch nicht
entsprungen, und es herrschte nur eine vage Vorstellung davon, was es
bedeutet, etwas „zu berechnen“.
Übersprungen wurde diese Hürde im Jahr 1936, als der britische Mathe-
matiker Alan Turing seine grundlegende Arbeit „On computable num-
bers, with an application to the Entscheidungsproblem“ der Öffentlich-
keit präsentierte (Abbildung 1.44). Um den Begriff der Berechenbarkeit
formal zu erfassen, konstruierte Turing ein abstraktes Maschinenmo-
dell, das dem Funktionsprinzip moderner Computer sehr nahe kommt.
In der Originalarbeit motivierte Turing die Konzeption seiner Maschi-
ne, die wir heute als Turing-Maschine bezeichnen, mit den folgenden
Worten:
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 55
Maschine
beit zieht. Er startete seine Überlegungen über die Berechenbarkeit mit
Turing-
dem, was er seit seiner Kindheit zum Rechnen verwendete: einem lee-
ren Stück karierten Papier. Unmittelbar danach nahm Turing dann doch
eine erste Abstraktion vor. Er sah, dass die zweidimensionale Gestalt
des Rechenpapiers im Grunde genommen keine Rolle spielt. Alle Be-
I Kopf bewegen
rechnungen, die wir per Hand auf Papier durchführen können, sind auch
auf einem eindimensionalen Band möglich – wenngleich nicht immer
mit der gleichen Eleganz. ... 1 1 0 ...
Band
„[...] I think that it is agreed that the two-dimensional
Maschine
character of paper is no essential of computation. I as-
Turing-
sume then that the computation is carried out on one-
dimensional paper, i.e. on tape divided into squares.“
Turing lässt weitere Annahmen folgen. Zunächst geht er davon aus, dass I Zustand wechseln
es nur endlich viele Symbole gibt, mit denen die Felder seines Ban-
des gefüllt werden können. Er ging außerdem davon aus, dass sich das 1 1 0
... ...
menschliche Gehirn im Zuge einer Berechnung zu jedem Zeitpunkt in
Band
einem von endlich vielen Zuständen befindet.
Maschine
Turing-
„We may suppose that there is a bound B to the number of
symbols or squares which the computer can observe at one
moment. [...] We will also suppose that the number of states
of mind which will be taken into account is finite.“
Abbildung 1.45: Turing definierte wenige
primitive Elementaroperationen, aus denen
Anschließend definiert Turing eine Menge von Elementaroperationen,
komplexe Berechnungen erwachsen. In je-
aus denen sich komplexe Berechnungen zusammensetzen. Diese erlau- dem Bearbeitungsschritt kann eine Turing-
ben, das Symbol des aktuell betrachteten Felds auszutauschen und die Maschine das aktuell betrachtete Symbol
Aufmerksamkeit auf eines der Nachbarfelder zu lenken: durch ein anderes ersetzen und das Betrach-
tungsfenster (observed square) verschie-
„The simple operations must therefore include: (a) Chan- ben. Die ausgeführten Aktionen gehen mit
einem potenziellen Wechsel des inneren
ges of the symbol on one of the observed squares. (b) Chan-
Zustands (state of mind) einher.
ges of one of the squares observed to another square within
L squares of one of the previously observed squares.“
„The machine is to have the four m-configurations ’b’, ’c’, ’f’, ’e’ and
is capable of printing ’0’ and ’1’. The behaviour of the machine is
described in the following table in which ’R’ means ’the machine
moves so that it scans the square immediately on the right of the one it
was scanning previously’. Similarly for ’L’. ’E’ means ’the scanned
symbol is erased’ and ’P’ stands for ’prints’.“ [200]
Configuration Behaviour
m-config. symbol operations final m-config.
b None P0, R c
c None R e
e None P1, R f
f None R b
Abbildung 1.46: Das erste Beispiel einer Turing-Maschine. In seiner Arbeit aus dem Jahr 1936 bezeichnete sie Turing noch
schlicht als computing machine. Der Begriff der Turing-Maschine wurde 1937 durch Alonzo Church geprägt [85].
I Start I Schritt 3
... ... ... 0 1 ...
I Schritt 1 I Schritt 4
... 0 ... ... 0 1 ...
I Schritt 2 I Schritt 5
... 0 ... ... 0 1 0 ...
diesem Zustand wird das Band nicht verändert; die Maschine bewegt
den Schreib-Lese-Kopf lediglich ein Feld nach rechts und wechselt in
den Zustand e. Jetzt schreibt die Maschine eine 1 auf das Band, bewegt
den Schreib-Lese-Kopf erneut nach rechts und nimmt den Zustand f
ein. Nach einer weiteren Rechtsbewegung wird wieder der Startzustand
b erreicht (Abbildung 1.47). Indem die Maschine diesen Zyklus konti-
58 1 Historische Notizen
n 7 Jun Alan Mathison Turing wurde am Danach diktierte der zweite Weltkrieg den Lauf der Dinge.
23 Ju
1912 1954
23. Juni 1912 in London-Padding- Turing begab sich nach Bletchley Park, wo er zusammen mit
ton geboren. Zusammen mit sei- anderen Wissenschaftlern im Geheimen daran arbeitete, den
nem älteren Bruder wuchs Alan in Verschlüsselungscode der deutschen Wehrmacht zu brechen.
England bei Freunden der Familie auf, während seine Mut- In dieser Zeit entstand mit der Turing-Bombe eine Rechen-
ter und sein Vater, ein Staatsdiener des britischen Empire, maschine, mit der sich der feindliche Funkverkehr in we-
die meiste Zeit im indischen Chatrapur verbrachten. Bereits nigen Stunden entschlüsseln ließ. Für Turing hatte ihr Bau
in seiner frühen Jugend wurde Turings außerordentliche ma- eine ganz besondere Bedeutung. Obwohl sich die Maschi-
thematische Begabung sichtbar, genauso wie sein Unvermö- ne in wichtigen Punkten von seiner theoretisch ersonnenen
gen, sich gesellschaftlichen Normen und staatlichen Autori- computing machine unterschied, wurden viele Aspekte sei-
täten zu beugen. ner Idee dennoch real.
Turing begann seine Ausbildung in einer Ganztagsschule in Nach dem zweiten Weltkrieg wandte sich Turing wieder ver-
St. Michaels und wechselte im Alter von 14 Jahren an das mehrt theoretischen Themen zu. Im Jahr 1950 schlug er mit
bekannte Sherborne-Internat in Dorset. Nach seinem Schul- dem Turing-Test ein Verfahren vor, mit dem sich der Intelli-
abschluss schrieb er sich als Mathematikstudent am King’s genzbegriff auf Maschinen übertragen lässt [202].
College in Cambridge ein. Für Turing war dies nur die zwei- Im Jahr 1952 sollte Turings Karriere ein abruptes Ende fin-
te Wahl; das renommiertere Trinity-College blieb ihm auf- den. Als die Polizei sein Haus nach einem Einbruch unter-
grund motivationsbedingter schlechter Noten in den nicht- suchte, gestand er eine homosexuelle Beziehung ein. Das
naturwissenschaftlichen Fächern verwehrt. prüde England der Fünfzigerjahre reagierte erbarmungslos
Bereits ein Jahr nach seinem Abschluss gelang ihm der und sprach Turing in einem Strafverfahren der sexuellen Per-
wissenschaftliche Durchbruch. 1936 publizierte er mit „On version schuldig. Die angeordnete Zwangstherapie machte
computable numbers, with an application to the Entschei- aus ihm einen gebrochenen Mann. Zwei Jahre später wur-
dungsproblem“ eine der historisch wichtigsten Arbeiten auf de er, kurz vor seinem 42ten Geburtstag, neben den Resten
dem Gebiet der mathematischen Logik. eines vergifteten Apfels tot aufgefunden.
... 0 1 0 1 0 ...
Einer der ersten, die sich der Herausforderung annahmen, war Posts
Schüler Martin Davis. Im Jahr 1953 erreichte er ein wichtiges Zwi-
schenresultat [41], das er 1961 zusammen mit Hilary Putnam und Julia
Robinson zu einem fast vollständigen Beweis für die Unentscheidbar-
keit des zehnten Hilbert’schen Problems erweitern konnte [45]. In die-
ser Arbeit bewiesen die Autoren, dass kein Entscheidungsverfahren für
exponentielle diophantische Gleichungen existieren kann. Hier dürfen
Variablen, im Gegensatz zu gewöhnlichen diophantischen Gleichungen,
auch als Exponent verwendet werden.
Im Jahr 1984 publizierten James Jones und Yuri Matijasevič einen neu-
en Beweis, der die Unlösbarkeit des zehnten Hilbert’schen Problems auf
verblüffend einfache Weise belegt [101]. Im Kern steht die Idee, Regi-
stermaschinen so in diophantische Gleichungen zu übersetzen, dass die
übersetzte Maschine genau dann terminiert, wenn die generierte Glei-
chung eine Lösung in den ganzen Zahlen besitzt. Würde das von Hilbert
gesuchte Verfahren für die Lösung diophantischer Gleichungen tatsäch-
lich existieren, so wäre das Unmögliche geschafft: Wir hätten einen Yuri Matijasevič
Weg gefunden, das Halteproblem für Registermaschinen zu entschei- (geb. 1947) [123]
den, und könnten auf diesem Weg auch das Halteproblem für Turing-
Maschinen lösen. Damit hat Turings fundamentaler Beweis aus dem Abbildung 1.49: Im Jahr 1970 gelang es
Jahr 1936 nicht nur das Hilbert’sche Entscheidungsproblem zu Fall ge- dem russischen Mathematiker Yuri Matija-
bracht; er liefert uns zugleich eine plausible Begründung für die Unlös- sevič, die letzte Lücke im Beweis der Un-
barkeit des zehnten Hilbert’schen Problems. lösbarkeit des zehnten Hilbert’schen Pro-
blems zu schließen.
Die Arbeiten von Gödel und Turing waren ein Frontalangriff auf die
Grundfesten der Mathematik. Ende der dreißiger Jahre lag das Hil-
bert’sche Programm in Trümmern, genauso wie die Vision einer me-
chanisierbaren Mathematik. Und dennoch sollten die Erkenntnisse des
zwanzigsten Jahrhunderts einen Bereich der Mathematik ganz beson-
ders beflügeln: die Mengenlehre.
Kurt Gödel begann Ende der dreißiger Jahre, sich intensiv mit mengen-
theoretischen Problemen auseinanderzusetzen, und schon bald war er in
der Lage, die ersten Früchte seiner Arbeit zu ernten. In den Mittelpunkt
seines Interesses rückten relative Beweise der Widerspruchsfreiheit. In
einem solchen Beweis wird die Widerspruchsfreiheit eines Systems B
nicht direkt gezeigt; es wird lediglich bewiesen, dass sich die Wider-
spruchsfreiheit eines Systems A auf das System B überträgt.
Am Beispiel der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre (ZF) und der Peano-
Arithmetik (PA) wollen wir skizzieren, wie sich ein relativer Wider-
spruchsbeweis führen lässt. Im Vorgriff auf Abschnitt 3.2.2 halten wir
62 1 Historische Notizen
I Konstruktionsschema fest, dass jede natürliche Zahl in Form einer speziell konstruierten Men-
ge dargestellt werden kann (Abbildung 1.50) [134, 137]. Damit dürfen
0 := 0/
wir PA ruhigen Gewissens als ein Teilsystem von ZF ansehen und kön-
n+1 := n ∪ {n} nen jede zahlentheoretische Aussage aus PA in eine entsprechende men-
gentheoretische Aussage aus ZF übersetzen. Beispielsweise lässt sich
I Beispiele
eine arithmetische Aussage der Form
1 = {0}
„Für alle Zahlen x gilt ...“
= {0}
/
2 = {0, 1} wie folgt innerhalb von ZF darstellen:
= {0,
/ {0}}
/
3 = {0, 1, 2}
„Für alle Mengen x, falls x eine Zahl repräsentiert, gilt: ...“
= {0,
/ {0},
/ {0,
/ {0}}}
/ Gelingt die Übersetzung derart, dass jede in PA beweisbare Aussage
zu einer in ZF beweisbaren Aussage wird, so sind wir am Ziel. Jeder
Abbildung 1.50: Mengendarstellung der Widerspruch, der sich innerhalb von PA ableiten ließe, würde zugleich
natürlichen Zahlen einen Widerspruch in ZF ergeben (Abbildung 1.51). Mit anderen Wor-
ten: Aus der Widerspruchsfreiheit von ZF folgt die Widerspruchsfrei-
Widerspruch in PA heit von PA.
Durch eine ähnliche Konstruktion gelang es Gödel, die relative Wider-
¬φ1 spruchsfreiheit zwischen der ZF- und der ZFC-Mengenlehre (Zermelo-
Arithmetik (PA)
φ1
Fraenkel-Mengenlehre mit Auswahlaxiom) zu zeigen [71]. Hierzu ori-
φ2
Peano-
entierte er sich an einer Idee von John von Neumann, Mengen hierar-
Einbettung von PA in ZF
ψ3
ψ2
offensichtlich die Beziehung L ⊆ V .
ψ1 ψ5
¬ψ1 Gödel interessierte sich für die Konsequenzen, die sich aus der Annah-
ψ4 me ergeben, ausnahmslos jede Menge sei konstruktibel. Er tat dies, in-
dem er den ZF-Axiomen das Konstruktibilitätsaxiom, kurz (V =L), hin-
zufügte. Durch eine trickreiche Konstruktion gelang es ihm, die Theo-
Widerspruch in ZF
rie ZF+(V =L) so in ZF einzubetten, dass jede in ZF+(V =L) beweisbare
Aussage in eine Aussage übersetzt werden kann, die in ZF beweisbar
Abbildung 1.51: Relativer Beweis der ist. Aufgrund dieser Konstruktion führt jeder Widerspruch, der sich in
Widerspruchsfreiheit. Jede Formel ϕi der
ZF+(V =L) ableiten lässt, auch zu einem Widerspruch in ZF. Ist also ZF
Peano-Arithmetik (PA) wird so auf eine
Formel ψi der Zermelo-Fraenkel-Mengen-
widerspruchsfrei, so ist es auch ZF+(V =L). Jetzt kommt der entschei-
lehre (ZF) abgebildet, dass aus der Beweis- dende Schritt. In ZF+(V =L) lässt sich das Auswahlaxiom als Theorem
barkeit von ϕi in PA die Beweisbarkeit von beweisen. Daraus folgt, dass das Auswahlaxiom mit den Axiomen von
ψi in ZF folgt. Jeder Widerspruch innerhalb ZFC+(V =L) und damit erst recht mit den Axiomen von ZF verträglich
von PA wäre jetzt auch in ZF sichtbar, so ist. Mit anderen Worten: Ist die ZF-Mengenlehre selbst frei von Wider-
dass aus der Widerspruchsfreiheit von ZF sprüchen, so lässt sich das Auswahlaxiom widerspruchsfrei als weiteres
die Widerspruchsfreiheit von PA folgt. Axiom hinzufügen. In der gleichen Weise gelang es Gödel, zu zeigen,
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 63
pr 23 Mrz Paul Joseph Cohen wurde am 2. konnte als erster einen lückenlosen Beweis für die lang ge-
2 A
1934 2007
April 1934 in Long Branch, New hegte Vermutung vorlegen, dass sich sowohl das Auswahl-
Jersey, geboren. Schon in jungen axiom als auch die Kontinuumshypothese im System der
Jahren galt Cohen als mathemati- Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre weder beweisen noch wi-
sches Wunderkind. Nach zwei Jahren am Brooklyn Colle- derlegen lassen.
ge in New York wechselte er an die University of Chicago. 1966 wurde er für sein Werk mit der Fields-Medaille geehrt.
Dort erhielt er im Jahr 1954 seinen Master-Abschluss, vier Die alle vier Jahre verliehene Auszeichnung ist die höchste
Jahre später folgte die Promotion. 1958 führte ihn sein Weg im Bereich der Mathematik und hat eine ähnliche Bedeutung
an das Massachusetts Institute of Technology. Die Zeit zwi- wie der Nobelpreis in anderen Wissenschaftsdisziplinen.
schen 1959 und 1961 verbrachte er am Institute for Advan- In den 70er Jahren setzte sich Cohen vermehrt mit Proble-
ced Study in Princeton. 1961 wechselte er an die Stanford men aus der Zahlentheorie auseinander, und mit der Rie-
University, die ihn 1964 zum Professor ernannte. mann’schen Vermutung sollte erneut eines der bedeutendsten
In Kalifornien hatte Cohen eine neue Heimat gefunden, die ungelösten Probleme der Mathematik sein Interesse wecken.
er als weniger hektisch empfand als seine vorherigen Sta- Mit großer Hingabe beschäftigte sich Cohen bis zu seinem
tionen an der Ostküste. In Stanford fand er die Ruhe, um Lebensende mit dieser Vermutung; ein Beweis sollte ihm
sich intensiv mit den Grundlagenproblemen der Mengenleh- aber nicht mehr gelingen. Paul J. Cohen starb am 23. März
re auseinanderzusetzen. Im Jahr 1963 war es soweit. Cohen 2007 an den Folgen einer seltenen Lungenkrankheit.
Hatte Gödel mit seinem erneuten Coup das geschafft, wonach Cantor
bis zu seinem Lebensende trachtete? War es ihm tatsächlich gelun-
gen, dem Kontinuum das letzte große, über lange Zeit so vehement
gehütete Geheimnis endlich zu entlocken? Auch wenn Gödels Arbeit
von unschätzbarem Wert ist, war sie nur ein Teilerfolg. Aus der Tat-
sache, dass die Kontinuumshypothese mit den ZF-Axiomen verträglich
ist, folgt nicht, dass sie wahr ist. Gödel war längst davon überzeugt,
dass auch die Negation zu den ZF-Axiomen hinzugefügt werden kann,
ohne einen Widerspruch zu erzeugen. Sollte seine Überzeugung zur
Gewissheit werden, so wäre die Kontinuumshypothese innerhalb der
Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre unentscheidbar, d. h., es gäbe innerhalb
von ZF weder einen Beweis für ihre Wahrheit noch einen Beweis für ih-
re Falschheit. Mehre Male glaubte Gödel, einen Beweis für seine Unab-
hängigkeitsvermutung in Händen zu halten, doch bei genauerer Analyse
fanden sich stets Fehler in seiner Beweisführung.
Erst im Jahr 1963 sollte Gödels Vermutung zur Gewissheit werden, als
Paul Cohen bewies, dass sowohl die Negation des Auswahlaxioms wie
auch die Negation der Kontinuumshypothese widerspruchsfrei zu den
ZF-Axiomen hinzugefügt werden können [35–37] (Abbildung 1.52).
Aus Gödels und Cohens Ergebnissen folgt, dass sich das Auswahl-
axiom und die Kontinuumshypothese innerhalb der Zermelo-Fraenkel-
Mengenlehre weder beweisen noch widerlegen lassen.
64 1 Historische Notizen
Abbildung 1.52: Im Jahr 1963 bewies der amerikanischen Mathematiker Paul Cohen, dass sich die Negation der Kontinuums-
hypothese widerspruchsfrei zu den Axiomen der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre hinzufügen lässt. Ab da war gewiss, dass sich
die Kontinuumshypothese innerhalb der ZF-Mengenlehre weder beweisen noch widerlegen lässt.
Cohens Arbeit ist ein Meilenstein auf dem Weg zur modernen Men-
genlehre. Um die Unabhängigkeit beider Axiome zu beweisen, führte
er eine neue Methode namens Forcing ein. Mit ihr lassen sich spezi-
elle Modelle konstruieren, aus deren Existenz die Widerspruchsfreiheit
eines Axiomensystems folgt. Anders als Gödel, der mithilfe des Kon-
struktibilitätsaxioms (V =L) ein inneres Modell der Mengenlehre kon-
struierte, führte Cohen eine Modellerweiterung durch. Unter gewissen
Voraussetzungen lassen sich in diesem größeren Modell gewisse Eigen-
schaften erzwingen, wie z. B. die Falschheit der Kontinuumshypothese.
Auf diese Weise konnte Cohen zeigen, dass die negierte Kontinuumshy-
pothese mit den ZF-Axiomen verträglich ist, d. h. widerspruchsfrei zu
den Axiomen hinzugefügt werden kann. Cohens Forcing-Methode ist so
allgemein, dass sie in der Folgezeit auch auf andere Eigenschaften an-
gewandt werden konnte. Heute gehört sie zu den Standardinstrumenten,
1.2 Der Weg zur modernen Mathematik 65
die uns im Bereich der Mengenlehre für das Führen von Unabhängig-
keitsbeweisen zur Verfügung stehen.
Cohens Vorgehensweise ist eng verwandt mit der Methode der boole-
schen Modelle [8, 175]. Diese wurde in den sechziger Jahren von Dana
Scott, Robert Solovay, and Petr Vopěnka mit dem Ziel eingeführt, einen
intuitiveren Zugang zur Forcing-Methode zu schaffen. In Abschnitt 7.4
werden wir die Grundidee umreißen, die sich hinter booleschen Model-
len verbirgt.
Für Gödel war das Rätsel der Kontinuumshypothese damit immer noch
nicht gelöst. Lange bevor Cohen seinen Beweis veröffentlichte, hatte er
ausdrücklich darauf verwiesen, dass der damals noch ausstehende Un-
entscheidbarkeitsbeweis die Kontinuumshypothese nicht klären würde.
Was Gödel damals zum Ausdruck brachte, war Zeugnis seiner platoni-
schen Weltauffassung. Für ihn waren Mengen real existierende Gebilde
der Gedankenwelt, so dass die Kontinuumshypothese in einem absolu-
ten Sinn entweder wahr oder falsch sein muss. Dementsprechend ist die
Unentscheidbarkeit lediglich der Beweis dafür, dass die zugrunde lie-
genden Axiome zu schwach sind, um die Wahrheit oder Falschheit der
Kontinuumshypothese zu belegen. Um eine endgültige Klärung herbei-
zuführen, war es nach Gödels Meinung unausweichlich, die Mengen-
lehre um weitere Axiome zu ergänzen.
In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1947 bringt Gödel seine Ansicht
wie folgt zum Ausdruck:
Der Positivismus und der dennoch akzeptieren wir sie als ernstzunehmende Theorie. Wir akzep-
Platonismus sind philoso- tieren sie deshalb, weil die Folgerungen, die sich aus ihnen ergeben, mit
phische Denkrichtungen in den Phänomenen der Natur in Einklang stehen.
der Wissenschaft, die auf
völlig unterschiedlichen mathematischen Doch welche Axiome sind die richtigen, um die Zermelo-Fraenkel-
und physikalischen Weltbildern beruhen. Mengenlehre so zu erweitern, dass sie zum einen den Begriff der Menge
Der Positivismus koppelt den Existenzbe- adäquat beschreibt und zum anderen Auskunft über bisher ungeklärte
griff an das Beobachtbare. Dementspre-
Fragen liefert? Gödel vermutete die Antwort im Bereich der Unend-
chend wird einer Fragestellung überhaupt
nur dann ein Sinn zugesprochen, wenn sie
lichkeitsaxiome. Durch die Hinzunahme eines solchen Axioms wird,
sich im Rahmen eines Experiments objek- grob gesprochen, die Existenz von sehr großen Zahlen postuliert – Zah-
tiv entscheiden lässt. Metaphysische An- len, die so groß sind, dass sich deren Existenz innerhalb der Zermelo-
schauungen oder Theorien gelten als be- Fraenkel-Mengenlehre weder beweisen noch widerlegen lässt.
deutungslos. Die Frage, ob z. B. die na-
türlichen Zahlen als Teil einer realen Ge- Anhand des „kleinsten“ Unendlichkeitsaxioms wollen wir einen Ein-
dankenwelt eigenständig existieren oder blick gewähren, wie die Hinzunahme eines solchen Axioms die Aus-
lediglich der menschlichen Phantasie ent- drucksstärke des entstehenden Systems verändert. Das besagte Axiom
springen, wird von einem Positivisten we- ist das Axiom des Unendlichen, das wir weiter oben schon kennen ge-
der bejaht noch verneint; stattdessen wird lernt haben. Es ist bereits Bestandteil von ZF und fordert die Existenz
sie als bedeutungsleer zurückgewiesen. einer Menge mit unendlich vielen Elementen. Die Theorie, die durch die
Der Platonismus erkennt mathematische Entnahme des Unendlichkeitsaxioms entsteht, sei mit ZF−ω bezeich-
Begriffe und Zusammenhänge als reale net. Zwischen ZF und ZF−ω besteht der erstaunliche Zusammenhang,
Gedankengebilde an, die in einem objek-
dass sich die Widerspruchsfreiheit von ZF−ω innerhalb von ZF bewei-
tiven Sinne existieren. Die Wahrheit oder
die Falschheit einer Aussage ist damit ei-
sen lässt. ZF−ω selbst ist aber stark genug, um die Zahlentheorie zu
ne Eigenschaft, die auch ohne das Vorhan- formalisieren, und kann nach dem zweiten Gödel’schen Unvollständig-
densein eines Beweises oder Gegenbewei- keitssatz ihre eigene Widerspruchsfreiheit nicht selbst beweisen. Das
ses existiert. Nicht nur in der Physik, son- bedeutet, dass wir durch die Hinzunahme des Unendlichkeitsaxioms in
dern auch in der Mathematik sehen Plato- der Lage sind, Theoreme zu beweisen, die in der alten Theorie unent-
niker den Wissenschaftler in der Rolle des scheidbar sind.
Entdeckers und nicht des Schöpfers.
Heute gehört die Erforschung von Unendlichkeitsaxiomen zu den ak-
tiven Forschungsschwerpunkten der Mengenlehre. Viele Male konnten
neue Axiome gefunden werden, mit denen sich die Zermelo-Fraenkel-
Mengenlehre zu immer stärkeren Theorien ausbauen lässt. Ob die Zah-
len überhaupt existieren, die durch die Hinzunahme großer Unendlich-
keitsaxiome postuliert wird, wissen wir nicht; die Existenz dieser Zah-
len ist ohne das Axiom weder beweisbar noch widerlegbar. Aber dür-
fen wir eine große unendliche Zahl überhaupt als existent bezeichnen?
Existieren diese Zahlen in einem platonisch absoluten Sinn, oder sind
wir gezwungen, auf eine positivistische Sichtweise auszuweichen, die
zwischen der Existenz und der Beweisbarkeit riesiger Zahlen nicht un-
terscheidet? Sie sehen, dass die Ergebnisse der modernen Mengenlehre
nicht nur aus inhaltlicher Sicht interessant sind. Mit ihr scheint eine
philosophische Auseinandersetzung in die Mathematik zurückzukeh-
ren, die der zunehmenden Formalisierung im zwanzigsten Jahrhundert
fast vollständig zum Opfer viel. Hier schließt sich der Kreis.
1.3 Übungsaufgaben 67
1.3 Übungsaufgaben
Die nachstehend aufgelisteten Axiome stammen aus Freges berühmter Begriffsschrift: Aufgabe 1.1
I Aussagenlogische Axiome
Webcode
§14 §15 §16 §17 §18 §19 1293
a a a b a a
b c d a a a
a b b a
c a b
a b
b d
c
I Prädikatenlogische Axiome
§20 §21 §22
f (d) (c ≡ c) f (c)
f (c) a f (a)
(c ≡ d)
In Abschnitt 1.2.2 haben wir herausgearbeitet, wie Cantor in seiner 1874 publizierten Arbeit Aufgabe 1.2
die Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen bewies. Hierzu ordnete er jeder Gleichung der
Form Webcode
an xn + an−1 xn−1 + . . . + a1 x + a0 1060
eine Höhe N zu, die sich wie folgt berechnet:
N = n − 1 + |an | + . . . + |a3 | + |a2 | + |a1 | + |a0 |
War Cantor gezwungen, die Definition in dieser komplizierten Form zu wählen, oder hätte er
sie durch eine der nachstehenden, leicht vereinfachten Definitionen ersetzen können?
a) N = n
b) N = |an | + . . . + |a3 | + |a2 | + |a1 | + |a0 |
c) N = n + |an | + . . . + |a3 | + |a2 | + |a1 | + |a0 |
68 1 Historische Notizen
Aufgabe 1.3 In Abschnitt 1.2.1 wurde gezeigt, wie sich die periodische Dezimalzahl 0,0238095 in den
1
Bruch 42 überführen lässt.
Webcode
1898 a) Beweisen Sie auf die gleiche Weise die Beziehung 1 = 0, 9.
b) Hat der Trick, den wir zur Umwandlung verwendet haben, ein gewisses Unbehagen bei
Ihnen ausgelöst? Falls ja, dann besitzen Sie bereits ein gutes Gespür für die Gefahren im
Umgang mit dem aktual Unendlichen. Versuchen Sie, die Beziehung 1 = 0, 9 zu beweisen,
indem Sie vermeiden, eine unendliche Folge von Nachkommaziffern als ein abgeschlos-
senes Ganzes zu interpretieren.
Aufgabe 1.4 In Abbildung 1.20 haben wir gezeigt, wie sich zwei reelle Zahlen im Reißverschlussver-
fahren zu einer einzigen reellen Zahl verschmelzen lassen. Auf diese Weise hatten wir eine
Webcode bijektive Abbildung zwischen R2 und R hergestellt und damit die Gleichmächtigkeit beider
1001 Mengen bewiesen.
...
...
0
9
0 9
0 9
0 0 9 9
0 0 9 9
0 , 1 0 0 , 1 9
0 , 1 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 ... 0 , 1 0 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 ...
0 , 1 0 0 0 , 0 9 9
0 0 9 9
0 9
0 9
0 9
... ...
In Wirklichkeit haben wir an dieser Stelle ein wenig geschummelt, da die Dezimalbruchdar-
stellung einer reellen Zahl nicht immer eindeutig ist. Beispielsweise ist 0,11 = 0,109.
Das bedeutet, dass die von uns konstruierte Abbildung von R2 auf R nicht injektiv und da-
mit erst recht nicht bijektiv ist. Wie könnte man mit diesem Problem umgehen, ohne die
Grundidee der Reißverschlusskonstruktion komplett aufzugeben?
Aufgabe 1.5 Mit der Goldbach’schen Vermutung haben Sie eines der wichtigsten bis dato ungelösten
Probleme der Zahlentheorie kennen gelernt. In ihrer starken Form lautet sie so:
Webcode
1367 „Jede gerade natürliche Zahl n > 2 lässt sich als Summe zweier Primzahlen schreiben.“
Zeigen Sie, dass aus der starken Goldbach’schen Vermutung die folgende Aussage folgt:
„Jede ungerade natürliche Zahl n > 5 lässt sich als Summe dreier Primzahlen schreiben.“
1.3 Übungsaufgaben 69
c) Lässt sich das Ergebnis auf die Vermutung über die Existenz unendlich vieler Primzahl-
zwillinge übertragen?
d) Ist die Fermat’sche Vermutung ein mathematischer Satz vom Goldbach’schen Typ?
Könnten wir die Vermutung lösen, wenn wir im Besitz eines Entscheidungsverfahrens für
diophantische Gleichungen wären?
können. Für jede ableitbare Formel ϕ schreiben wir ϕ und nennen ϕ Axiome (Kalkül E)
ein Theorem von E. Der Ausdruck ϕ ist damit nichts anderes als die
symbolische Schreibweise für die Aussage: „ϕ ist in E beweisbar“.
(0 = 0) (A1)
Beachten Sie bei der Betrachtung der Schlussregeln, dass die Variablen
lediglich Platzhalter sind, die durch beliebige Terme substituiert wer- Schlussregeln (Kalkül E)
den können. So lassen sich aus dem Formelschema (s(σ ) > τ) unter
anderem die folgenden Instanzen bilden:
(σ = τ)
(S1)
(s(σ ) = s(τ))
I Substitution 1: S := [σ ← s(s(0)), τ ← 0]
(σ = τ)
(s(σ ) > τ)S = (s(s(s(0))) > 0) (S2)
(s(σ ) > τ)
I Substitution 2: S := [σ ← s(0), τ ← s(s(0))] (σ > τ)
(S3)
(s(σ ) > τ)S = (s(s(0)) > s(s(0))) (s(σ ) > τ)
(σ > τ)
(S4)
Mit den geleisteten Vorarbeiten sind wir in der Lage, den Kalkül ¬(σ = τ)
zum Leben zu erwecken und durch die systematische Anwendung von (σ > τ)
Schlussregeln neue Theoreme abzuleiten. (S5)
¬(τ = σ )
I Beispiel 1: Ableitung von (s(s(s(s(0)))) > s(s(0))) (σ > τ)
(S6)
¬(τ > σ )
1. (0 = 0) (A1)
2. (s(0) = s(0)) (S1, 1)
3. (s(s(0)) = s(s(0))) (S1, 2) Tabelle 2.1: Axiome und Schlussregeln des
Beispielkalküls E. Alle Schlussregeln sind
4. (s(s(s(0))) > s(s(0))) (S2, 3)
nach einem einheitlichen Schema aufge-
5. (s(s(s(s(0)))) > s(s(0))) (S3, 4) baut. Über dem Mittelstrich ist die Prämisse
notiert. Sie beschreibt, auf welche Formeln
I Beispiel 2: Ableitung von ¬(s(s(0)) = s(s(s(0)))) die Schlussregel angewendet werden darf.
Die unter dem Mittelstrich notierte Aussa-
1. (0 = 0) (A1) ge ist die Konklusion, d. h. die Schlussfol-
gerung, die aus der Prämisse abgeleitet wer-
2. (s(0) = s(0)) (S1, 1)
den kann.
3. (s(s(0)) = s(s(0))) (S1, 2)
4. (s(s(s(0))) > s(s(0))) (S2, 3)
5. ¬(s(s(0)) = s(s(s(0)))) (S5, 4)
Beweisbare Unbeweisbare Jetzt ist der Weg frei, um den Begriff des Beweises mit mathematischer
Aussagen Aussagen Präzision zu erfassen.
Syntaktische Ebene
(s(s(s(s(0)))) (0 > s(0))
> s(s(0))) Definition 2.1 (Beweis)
¬(s(s(0)) ¬(s(0) > s(0)) Ein formaler Beweis ist eine Kette von Formeln ϕ1 , ϕ2 , . . . , ϕn , die
Interpretation
= s(s(s(0))))
nach den folgenden Konstruktionsregeln gebildet wird:
I ϕi ist ein Axiom oder
23 Semantische Ebene I ϕi entsteht aus den vorangegangenen Gliedern der Beweiskette
durch die Anwendung einer Schlussregel.
11 0>1
4>2 Die letzte Formel dieser Kette ist das bewiesene Theorem.
Wahre Falsche
Aussagen Aussagen
Semantik
Abbildung 2.1: Eine Interpretation weist
den Formeln eines Kalküls eine Bedeutung
zu. In diesem Beispiel werden die Terme Nachdem wir die Sprache festgelegt und mit den Axiomen und den
als natürliche Zahlen, das Zeichen ‚=‘ als Schlussregeln die Grundlage für die Ableitung neuer Theoreme ge-
die Gleichheit und das Zeichen ‚>‘ als die schaffen haben, ist es Zeit, den Kalkül mit einer Semantik zu verse-
Größer-Relation auf den natürlichen Zahlen hen. Die Semantik bestimmt, wie wir die einzelnen Bestandteile einer
interpretiert. Das Symbol ‚¬‘ hat in allen Formel zu interpretieren haben, und verleiht den Formeln hierdurch ei-
Kalkülen die gleiche Bedeutung und steht
ne Bedeutung. Erst die Wahl einer konkreten Interpretation berechtigt
für die logische Negation (Verneinung).
uns dazu, von wahren und von falschen Formeln zu sprechen (Abbil-
dung 2.1). Behalten Sie dabei stets im Auge, dass der Wahrheitswert der
meisten Formeln von der gewählten Interpretation abhängt. Je nachdem,
für welche Interpretation wir uns entscheiden, kann eine Formel einmal
einer wahren und ein anderes Mal einer falschen Aussage entsprechen.
Die nachstehenden Beispiele zeigen, dass sich die meisten Formeln von
2.1 Definition und Eigenschaften 75
Weiter oben haben wir mit der Beweisbarkeitsrelation ‚‘ eine Schreib-
weise eingeführt, mit der die Ableitbarkeit einer Formel ausgedrückt
werden kann. In analoger Weise werden wir die Modellrelation ‚|=‘ ver-
wenden, um die Wahrheit einer Aussage zu äußern.
|= (4 > 2)
|= ¬(2 = 3)
|= (0 > 1)
|= ¬(1 > 0)
|= (n = m) :⇔ n = m (2.2)
|= (n > m) :⇔ n > m (2.3)
|= ¬ϕ :⇔ |= ϕ (2.4)
Satz 2.1
Satz 2.2
I Ist ein Kalkül vollständig und gilt für alle Formeln immer ent-
weder |= ϕ oder |= ¬ϕ, so ist er auch negationsvollständig.
Die erste Aussage folgt direkt aus der Tatsache, dass zu jeder Formel ϕ
entweder ϕ selbst oder deren Negation ¬ϕ eine wahre Aussage ist (es
gilt nach Voraussetzung entweder |= ϕ oder |= ¬ϕ). Damit ist in einem
vollständigen Kalkül immer mindestens eine der beiden Formeln ab-
leitbar und der Kalkül damit negationsvollständig. Die zweite Aussage
folgt aus der Tatsache, dass sich in einem korrekten Kalkül nur wahre
Aussagen beweisen lassen. Da immer nur eine der beiden Formeln ϕ
und ¬ϕ wahr sein kann, ist immer auch nur eine der beiden Formeln
ableitbar und der Kalkül damit widerspruchsfrei.
Damit ist es an der Zeit, einen erneuten Blick auf das Beispielkalkül
E zu werfen und zu untersuchen, welche der in Definition 2.2 einge-
führten Eigenschaften erfüllt sind und welche nicht. Aus der genaueren
Analyse der Axiome und der Schlussregeln lassen sich die nachstehen-
den Schlussfolgerungen ziehen:
Wir beginnen mit der Diskussion des Kalküls E2 , das sich von E le-
diglich durch die Hinzunahme der Schlussregel (S7) unterscheidet (Ta-
belle 2.2 links). Auf den ersten Blick geht durch die neue Regel die
Eigenschaft der Korrektheit verloren, da wir (S7) verwenden können,
um aus der Prämisse ¬(n > n) die Konklusion (n > n) abzuleiten. Über
den natürlichen Zahlen interpretiert, repräsentiert die erste Formel eine
wahre Aussage, die zweite aber ganz offensichtlich eine falsche.
Ein gezielter Blick auf die Schlussregeln zeigt, dass wir die Formel
¬(n > n) aber gar nicht innerhalb von E2 ableiten können. Die immer
noch nicht vorhandene Negationsvollständigkeit verhindert hier, dass
sich eine falsche Aussage beweisen lässt. Damit bleibt E2 trotz der
Hinzunahme der semantisch inkorrekten Schlussregel (S7) korrekt und
nach Satz 2.2 auch widerspruchsfrei.
Als Nächstes betrachten wir den Kalkül E3 , der aus E2 durch die erneu-
te Hinzunahme einer Schlussregel entsteht (Tabelle 2.2 Mitte). Durch
die neue Regel (S8) wird E3 in der Tat vollständig, d. h., jede wahre
Aussage, die sich in der begrenzten Sprache unserer Beispielkalküle
2.1 Definition und Eigenschaften 79
(σ = τ) (σ = τ) (σ = τ)
(S1) (S1) (S1)
(s(σ ) = s(τ)) (s(σ ) = s(τ)) (s(σ ) = s(τ))
(σ = τ) (σ = τ) (σ = τ)
(S2) (S2) (S2)
(s(σ ) > τ) (s(σ ) > τ) (s(σ ) > τ)
(σ > τ) (σ > τ) (σ > τ)
(S3) (S3) (S3)
(s(σ ) > τ) (s(σ ) > τ) (s(σ ) > τ)
(σ > τ) (σ > τ) (σ > τ)
(S4) (S4) (S4)
¬(σ = τ) ¬(σ = τ) ¬(σ = τ)
(σ > τ) (σ > τ) (σ > τ)
(S5) (S5) (S5)
¬(τ = σ ) ¬(τ = σ ) ¬(τ = σ )
(σ > τ) (σ > τ) (σ > τ)
(S6) (S6) (S6)
¬(τ > σ ) ¬(τ > σ ) ¬(τ > σ )
¬(σ > τ) ¬(σ > τ)
(S7) (S7)
(τ > σ ) (τ > σ )
(σ = τ) (σ = τ)
(S8) (S8)
¬(σ > τ) ¬(σ > τ)
formulieren lässt, ist ein Theorem von E3 . Nach Satz 2.2 ist E3 damit
automatisch auch negationsvollständig.
Gleichzeitig hat E3 durch die Hinzunahme von (S8) die nötige Aus-
drucksstärke erlangt, um den oben geschilderten Widerspruch innerhalb
des Kalküls nachvollziehen zu können. Der folgende Beweis demons-
triert, wie sich mit ¬(0 > 0) und (0 > 0) ein komplementäres Formel-
paar ableiten lässt:
1. (0 = 0) (A1)
2. ¬(0 > 0) (S8, 1)
3. (0 > 0) (S7, 2)
80 2 Formale Systeme
Axiome (Kalkül E5 ) E3 ist somit widersprüchlich und nach Satz 2.2 erst recht inkorrekt.
Tabelle 2.3: Axiome und Schlussregeln des Alle formalen Systeme basieren auf demselben Kerngedanken, Theore-
Kalküls E5 me durch die Anwendung fest definierter Schlussregeln aus den Axio-
men herzuleiten. Erst aus der Nähe betrachtet werden die großen Unter-
schiede in ihren Erscheinungsformen sichtbar. Einige Kalküle, zu de-
nen auch die bisher besprochenen gehören, besitzen wenige Axiome
und erlangen ihre Aussagekraft durch ein umfangreiches Repertoire an
Schlussregeln. Andere sind reich an Axiomen und kommen dafür mit
wenigen Schlussregeln aus. Nicht selten verfügen solche Kalküle über
unendlich viele Axiome, die aus einem oder mehreren Axiomenschema-
ta erzeugt werden.
Was wir darunter im Detail zu verstehen haben, klärt ein Blick auf Ta-
belle 2.4. Der dargestellte Kalkül E6 verfügt neben dem bekannten Axi-
om (A1) über sieben Schemata, aus denen eine unendliche Anzahl wei-
terer Axiome gewonnen werden kann. Dagegen gibt es mit dem Modus
2.1 Definition und Eigenschaften 81
ponens (MP) nur noch eine einzige Schlussregel. Ein direkter Vergleich Axiome (Kalkül E6 )
zwischen E6 und dem vollständigen und korrekten Kalkül E4 zeigt, dass
zwischen beiden zwar ein struktureller, aber kein inhaltlicher Unter- (0 = 0) (A1)
schied besteht. In beiden Kalkülen lassen sich ausnahmslos die gleichen
Theoreme ableiten. (σ = τ) → (s(σ ) = s(τ)) (A2)
In der Tat sind die meisten Kalküle, die wir später kennen lernen wer-
den, in dieser Form gestaltet. Die Beziehungen zwischen den unter-
suchten Objekten werden in den Axiomen codiert sein und nicht in den
Schlussregeln. Der gewählte Ansatz besticht vor allem durch seine All-
gemeinheit. Gleichgültig, ob wir es später mit der Zahlentheorie, der
Mengenlehre oder einem anderen Gebiet der Mathematik zu tun haben
werden: Der formale Schlussapparat bleibt stets der gleiche.
An dieser Stellen wollen wir den Begriff des formalen Systems noch um
einen wichtigen Baustein ergänzen. Die Rede ist von Annahmen, die in
der klassischen Mathematik in den verschiedensten Formen gemacht
werden und nicht notwendigerweise selbst wahr sein müssen. Um auch
Aussagen der Form „Unter der Annahme, dass M gilt, folgt . . . “ mithil-
fe eines formalen Systems modellieren zu können, erlauben wir, einen
Beweis um eine Menge von Voraussetzungen zu ergänzen. In diesem er-
weiterten Kalkül ist ein Beweis eine Kette von Formeln ϕ1 , ϕ2 , . . . , ϕn ,
die nach den folgenden Konstruktionsregeln gebildet wird:
Satz 2.4
I {ϕ} ∪ M ϕ
Die Korrektheit der ersten drei Aussagen folgt unmittelbar aus den oben
genannten Konstruktionsregeln. Einzig die letzte Aussage verdient un-
sere Beachtung. Sie gilt, da jeder Beweis aus einer endlichen Kette von
Formeln besteht. Das bedeutet, dass wir M ganz einfach aus einem
vorliegenden Beweis konstruieren können, indem wir alle verwendeten
Voraussetzungen aufsammeln. Die endliche Anzahl von Beweisschrit-
ten stellt dann sicher, dass auch M endlich ist.
2.2 Entscheidungsverfahren 83
2.2 Entscheidungsverfahren
I Für jede Zeichenkette lässt sich entscheiden, ob sie eine Formel ist.
I Für jede Formelfolge lässt sich entscheiden, ob sie ein Beweis ist.
Für Hilbert war die Suche nach einem Entscheidungsverfahren ein zen-
(0 = 0) traler Baustein seines Programms. In Kapitel 5 werden wir zeigen,
warum Hilberts Traum für weite Teile der Mathematik niemals Rea-
lität werden konnte, doch bevor wir dieses negative Resultat im Detail
diskutieren, wollen wir ein positives vorausschicken:
(s(0) = s(0))
(0 = 0)
Satz 2.5
wenn die Axiome als Schemata ausgelegt sind, die mit beliebigen
Teilausdrücken instanziert werden dürfen. In diesem Fall müssten Ist die Formel
wir mit einer unendlichen Anzahl an Axiomen beginnen. Ebenfalls = (s(s(0)) > s(0))
denkbar ist, dass die Schlussregeln schematisch definiert sind. Dann beweisbar?
wäre es möglich, dass in einem einzigen Schritt unendlich viele neue
Theoreme entstehen. Für solche Kalküle könnten wir das geschilder-
te Verfahren zunächst nicht anwenden.
= (s(s(0)) > s(0))
Dennoch lassen sich auch solche Kalküle entscheiden, z. B. mit dem
Top-Down-Verfahren. Dieses ist so allgemein gehalten, dass es ohne Nein Erzeuge eine neue
Nachdenken auf jeden Kalkül anwendbar ist, der die oben formulier- Zeichenkette aus
ten Minimaleigenschaften erfüllt. den Symbolen der
Kalkülsprache
I Top-down-Entscheidungsverfahren (Abbildung 2.4)
Um zu entscheiden, ob eine Formel ϕ beweisbar ist, gehen wir fol-
gendermaßen vor: Ist die Zeichenkette
eine Formelfolge?
• Alle Zeichenketten, die mit Symbolen der Kalkülsprache aufge-
baut sind, werden der Reihe nach aufgezählt. Eine einfache Mög- Ja
lichkeit besteht darin, zunächst die Zeichenketten der Länge 1
aufzuzählen, danach die Zeichenketten der Länge 2 und so fort. Ist die Zeichenkette
ein Beweis?
Da wir nur endlich viele Alphabetzeichen zulassen, muss jede
Zeichenkette irgendwann in der Aufzählung erscheinen. Ja
• Alle Zeichenketten, die keiner Formelfolge entsprechen, werden
verworfen. Das Gleiche gilt für Formelfolgen, die keine Beweise Ist die letzte Formel
sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine zufällig gebildete Zei- gleich ? Ja
chenkette diese Überprüfungsschritte übersteht, ist denkbar ge-
Nein
ring. Dennoch stellt die systematische Aufzählung sicher, dass
jeder Beweis, unabhängig von seiner Komplexität, irgendwann
Ist die letzte Formel
einmal erscheinen wird. gleich ¬ ? Ja
• Für jede gefundene Zeichenkette, die einem Beweis entspricht,
wird geprüft, ob die letzte Formel gleich ϕ oder gleich ¬ϕ ist.
Im ersten Fall ist bewiesen, dass ϕ ein Theorem ist, im zweiten Abbildung 2.4: Top-down-Entscheidungs-
Fall, dass ϕ kein Theorem ist. Die Negationsvollständigkeit stellt verfahren für negationsvollständige und wi-
sicher, dass für mindestens eine der beiden Formeln ein Beweis derspruchsfreie Kalküle
existiert und der Algorithmus damit für jede Eingabe terminiert.
Satz 2.6
2.3 Aussagenlogik
Konjunktion
Disjunktion
Implikation
Äquivalenz
Negation
Der Operator ‚¬‘ ist die Negation, ‚∧‘ die Konjunktion (UND-
Operator), ‚∨‘ die Disjunktion (ODER-Operator) und ‚→‘ die Impli-
kation. Ferner bezeichnen wir ‚↔‘ als Äquivalenz- und ‚‘ als Antiva-
−ϕ ∪ ∩ . =
C
Peano
lenzoperator (XOR-Operator).
Russell ∼ϕ ∨ . ⊃ ≡
Eine Formel, die lediglich aus einem Wahrheitswert oder einer aussa-
genlogischen Variablen besteht, heißt atomar. Sie besitzt die Eigen- Hilbert ϕ ∨ & → ∼
schaft, dass sie nicht weiter zerlegt werden kann. Eine Formel ϕ, die Hermes ¬ϕ ∨ ∧ → ↔
als Teil einer anderen Formel ψ vorkommt, bezeichnen wir als Teilfor-
mel von ψ und verwenden hierfür die etwas informelle Notation ϕ ∈ ψ.
Ist ϕ keine Teilformel von ψ, so schreiben wir ϕ ∈ ψ. Variablen wer- Tabelle 2.5: Alternative Schreibweisen der
den im Folgenden durchweg mit Großbuchstaben bezeichnet, allerdings aussagenlogischen Operatoren [127]
88 2 Formale Systeme
I Bindungsregeln (Beispiele) werden wir von Fall zu Fall den Symbolvorrat anpassen und z. B. A, B, C
anstelle von A1 , A2 , A3 verwenden.
¬A ∧ B = ((¬A) ∧ B)
A ∨ B ∧ C = (A ∨ (B ∧ C)) Ferner werden wir auf die Niederschrift des einen oder anderen Klam-
A → C ∨ B = (A → (C ∨ B)) merpaars verzichten, wenn eine Formel hierdurch leichter lesbar wird.
A → B C = ((A → B) C) Wie in Abbildung 2.5 gezeigt, legen wir die übliche Konvention zugrun-
A B → C = ((A B) → C) de, dass die Negation ‚¬‘ stärker bindet als die Konjunktion ‚∧‘ und
diese wiederum stärker als die Disjunktion ‚∨‘. Die Operatoren ‚→‘,
I Kettenregeln (Beispiele) ‚↔‘ und ‚‘ binden am schwächsten; kommen sie in einem Ausdruck
gemischt vor, so erfolgt die Klammerung linksassoziativ. Werden Teil-
¬¬A = (¬(¬A)) terme mit demselben Operator verknüpft, so betrachten wir die entste-
A ∧ B ∧ C = ((A ∧ B) ∧ C) hende Kette ebenfalls als linksassoziativ geklammert. Die einzige Aus-
A ∨ B ∨ C = ((A ∨ B) ∨ C) nahme bildet der (einstellige) Negationsoperator, der rechtsassoziativ
A → B → C = ((A → B) → C) gruppiert wird.
A ↔ B ↔ C = ((A ↔ B) ↔ C) Die zweistelligen Operatoren ‚∧‘ und ‚∨‘ lassen sich zu mehrstelligen
A B C = ((A B) C) Operatoren verallgemeinern. Hierzu vereinbaren wir für die endlich vie-
len Formeln ϕ1 , . . . , ϕn die folgende Schreibweise:
Abbildung 2.5: Zur Vereinfachung der
n
n
Schreibweise dürfen Klammerpaare weg- ϕi := ϕ1 ∧ . . . ∧ ϕn ϕi := ϕ1 ∨ . . . ∨ ϕn
gelassen werden. Zweideutigkeiten werden i=1 i=1
mithilfe von Bindungs- und Kettenregeln
beseitigt. Erstere teilen die Operatoren in Nachdem wir den syntaktischen Aufbau einer Formel vollständig fixiert
schwächer bindende und stärker bindende haben, wollen wir im nächsten Schritt die Semantik der Aussagenlogik
Operatoren ein, Letztere regeln den Um- festlegen. Hierzu werden wir vorab klären, was sich hinter dem bereits
gang mit Ausdrücken, in denen der glei- mehrfach zitierten Begriff der Interpretation genau verbirgt, und im An-
che Operator mehrmals hintereinander vor- schluss daran die Modellrelation ‚|=‘ definieren.
kommt.
I : {A1 , . . . , An } → {0, 1}
Mit dem Begriff der Interpretation haben wir die Grundlage geschaffen,
um die Semantik der Aussagenlogik formal zu definieren:
2.3 Aussagenlogik 89
I |= 1 I |= (A→B)→(B→A)
I |= 0
I 2. Interpretation: I(A) = 0, I(B) = 1
I |= Ai :⇔ I(Ai ) = 1
( A → B )→( B → A )
I |= (¬ϕ) :⇔ I |= ϕ
I |= A I |= B I |= B I |= A
I |= (ϕ ∧ ψ) :⇔ I |= ϕ und I |= ψ
I |= (ϕ ∨ ψ) :⇔ I |= ϕ oder I |= ψ I |= A→B I |= B→A
I |= (ϕ ↔ ψ) :⇔ I |= ϕ → ψ und I |= ψ → ϕ
I 3. Interpretation: I(A) = 1, I(B) = 0
I |= (ϕ ψ) :⇔ I |= (ϕ ↔ ψ)
( A → B )→( B → A )
Eine Interpretation I mit I |= ϕ heißt Modell für ϕ. I |= A I |= B I |= B I |= A
ϕ = ¬A ϕ = A∧B ϕ = A∨B
A ϕ A B ϕ A B ϕ
0 1 0 0 0 0 0 0
1 0 0 1 0 0 1 1
Negation 1 0 0 1 0 1
1 1 1 1 1 1
Konjunktion Disjunktion
Alle Begriffe aus Definition 2.8 lassen sich auf Mengen von aussa- I ϕ1 := (A → B) → (B → A)
genlogischen Formeln erweitern. Eine Menge M = {ϕ1 , . . . , ϕn } heißt ψ1 ψ2
erfüllbar, wenn eine Interpretation I existiert, die für alle ϕi ∈ M ein A B ψ1 ψ2 ϕ1
Modell ist. Die Unerfüllbarkeit und Allgemeingültigkeit von Formel- 0 0 1 1 1
mengen definieren wir analog. M ist unerfüllbar, wenn ϕ1 , . . . , ϕn kein 0 1 1 0 0
gemeinsames Modell besitzen. Ist dagegen jede Interpretation ein Mo-
1 0 0 1 1
dell für die Elemente von M, so nennen wir M allgemeingültig.
1 1 1 1 1
Mit der Modellrelation in Händen sind wir gerüstet, um den Begriff der
logischen Folgerung formal zu definieren: I ϕ2 := (A ∨ B) → (B ∨ A)
ψ3 ψ4
A B ψ3 ψ4 ϕ2
Definition 2.9 (Logische Folgerung)
0 0 0 0 1
Seien ϕ1 , . . . , ϕn , ψ aussagenlogische Formeln. Wir schreiben 0 1 1 1 1
1 0 1 1 1
{ϕ1 , . . . , ϕn } |= ψ, 1 1 1 1 1
wenn jedes Modell von {ϕ1 , . . . , ϕn } auch ein Modell von ψ ist.
I ϕ3 := (A ∨ ¬A) → (B ∧ ¬B)
ψ5 ψ6
I Kommutativgesetze In den kommenden Betrachtungen wird der Begriff der Äquivalenz im-
ϕ ∧ψ ≡ ψ ∧ϕ mer wieder auftauchen:
ϕ ∨ψ ≡ ψ ∨ϕ
Definition 2.10 (Äquivalenz)
I Distributivgesetze
ϕ ∧ (ψ ∨ χ) ≡ (ϕ ∧ ψ) ∨ (ϕ ∧ χ) Seien ϕ und ψ zwei aussagenlogische Formeln. Die Relation ’≡’
ϕ ∨ (ψ ∧ χ) ≡ (ϕ ∨ ψ) ∧ (ϕ ∨ χ) ist wie folgt definiert:
I Neutrale Elemente ϕ ≡ ψ :⇔ ϕ |= ψ und ψ |= ϕ
ϕ ∧1 ≡ ϕ
ϕ ∨0 ≡ ϕ Zwei Formeln ϕ und ψ mit ϕ ≡ ψ heißen äquivalent.
I Inverse Elemente
ϕ ∧ ¬ϕ ≡ 0 In Worten ausgedrückt, sind zwei Formeln ϕ und ψ genau dann äquiva-
ϕ ∨ ¬ϕ ≡ 1 lent, wenn sie exakt dieselben Modelle besitzen. In Abbildung 2.10 sind
wichtige Äquivalenzen zusammengefasst, die sich durch das Aufstellen
I Assoziativgesetze von Wahrheitstafeln leicht verifizieren lassen.
(ϕ ∧ ψ) ∧ χ ≡ ϕ ∧ (ψ ∧ χ)
Vielleicht haben Sie sich gewundert, dass Abbildung 2.10 ausschließ-
(ϕ ∨ ψ) ∨ χ ≡ ϕ ∨ (ψ ∨ χ)
lich Formeln enthält, in denen die aussagenlogischen Elementaropera-
I Idempotenzgesetze toren ‚¬‘, ‚∧‘ und ‚∨‘ vorkommen. Dies ist der Tatsache geschuldet,
dass sich alle anderen auf diese drei zurückführen lassen. Es ist
ϕ ∧ϕ ≡ ϕ
ϕ ∨ϕ ≡ ϕ ϕ → ψ ≡ ¬ϕ ∨ ψ
I Absorptionsgesetze ϕ ↔ ψ ≡ (¬ϕ ∨ ψ) ∧ (ϕ ∨ ¬ψ)
(ϕ ∧ ψ) ∨ ϕ ≡ ϕ ϕ ψ ≡ (¬ϕ ∨ ¬ψ) ∧ (ϕ ∨ ψ)
(ϕ ∨ ψ) ∧ ϕ ≡ ϕ
Genauso gut können wir uns aufgrund der Äquivalenzen
I De Morgan’sche Regeln
ϕ ∧ ψ ≡ ¬(ϕ → ¬ψ)
¬(ϕ ∧ ψ) ≡ ¬ϕ ∨ ¬ψ
¬(ϕ ∨ ψ) ≡ ¬ϕ ∧ ¬ψ ϕ ∨ ψ ≡ ¬ϕ → ψ
ϕ ∧ ψ ≡ ¬(¬ϕ ∨ ¬ψ)
I Eliminationsgesetze
ϕ ∨ ψ ≡ ¬(¬ϕ ∧ ¬ψ)
ϕ ∧0 ≡ 0
ϕ ∨1 ≡ 1 auf eine der Mengen {¬, →}, {¬, ∨} oder {¬, ∧} beschränken und die
jeweils anderen Operatoren als syntaktische Abkürzungen für komple-
I Doppelnegationsgesetz
xere Formeln interpretieren.
¬¬ϕ ≡ ϕ
Im nächsten Abschnitt werden wir diesen Umstand ausnutzen und einen
Kalkül vorstellen, in dem ausschließlich Operatoren aus der Menge
Abbildung 2.10: Grundlegende Äquivalen- {¬, →} genannt werden. Der Ausschluss der anderen logischen Ver-
zen aussagenlogischer Ausdrücke knüpfungen ist keine Beschränkung im eigentlichen Sinne, da wir gera-
de gezeigt haben, dass sich alle aussagenlogischen Operatoren auf die
Negation und die Implikation zurückführen lassen.
2.3 Aussagenlogik 93
In Abschnitt 2.3.1 haben wir die Semantik der Aussagenlogik über die
Modellrelation ‚|=‘ festgelegt. Wir wollen nun ein formales System ein-
führen, in dem sich alle allgemeingültigen Formeln, und nur diese, aus
den Axiomen ableiten lassen. Wie wir es mittlerweile gewohnt sind,
erfolgt die Ableitung ausschließlich auf der syntaktischen Ebene. Das
bedeutet, dass wir zum Beweis einer Aussage nichts über Interpreta-
tionen, Modelle oder andere Begriffe wissen müssen, die sich mit den
semantischen Eigenschaften von Formeln beschäftigen.
Axiome
ϕ → (ψ → ϕ) (A1)
Schlussregeln
ϕ, ϕ → ψ
(MP)
ψ
Tabelle 2.6: Axiome und Schlussregeln
des aussagenlogischen Kalküls
94 2 Formale Systeme
Dass die hier gewählte Bei- Die folgende Ableitung zeigt, wie die Tautologie ϕ = A → A aus den
spielformel A → A wahr ist, Axiomen abgeleitet werden kann:
folgt sofort aus der Defini-
tion des Implikationsopera- 1. (A → ((A → A) → A)) → ((A → (A → A)) → (A → A)) (A2)
tors ‚→‘. Warum haben wir uns dann die
2. A → ((A → A) → A) (A1)
Mühe gemacht, sie so aufwendig zu be-
weisen? Der Grund ist, dass die Beweis- 3. (A → (A → A)) → (A → A) (MP, 1,2)
barkeit und die Wahrheit zwei völlig un- 4. A → (A → A) (A1)
terschiedliche Begriffe sind. Um zu zei-
gen, dass die Formel A → A ein Theo-
5. A → A (MP, 3,4)
rem ist, müssen wir ihre Beweisbarkeit
demonstrieren. Im formalen Sinne bedeu- Die ersten beiden Glieder der Beweiskette sind Instanzen des Distri-
tet dies nicht, dass sie wahr ist, sondern le- butivitätsaxioms und des Abschwächungsaxioms. Das dritte Glied ent-
diglich, dass sie innerhalb des Kalküls aus steht durch die Anwendung der Schlussregel auf die vorher erzeugten
den Axiomen hergeleitet werden kann. Formeln, und das vierte ist wiederum eine Instanz des Abschwächungs-
Kurzum: Die Beweisbarkeit einer Formel axioms. Jetzt lässt sich ϕ aus den Gliedern 3 und 4 durch die erneute
ist eine syntaktische Eigenschaft und die Anwendung der Modus-Ponens-Schlussregel ableiten.
Wahrheit einer Formel eine semantische.
Es ist der natürliche Wunsch der Mathe- Am Ende von Abschnitt 2.1 haben wir die Schreibweise M ϕ einge-
matiker, beide Begriffe in Kongruenz zu führt. Sie drückt aus, dass wir ϕ mit einer Formelkette ϕ1 , . . . , ϕn ablei-
bringen, so dass aus der Beweisbarkeit die ten können, die nach dem folgenden Schema aufgebaut ist:
Wahrheit und aus der Wahrheit die Be-
weisbarkeit einer Formel folgt. Doch ge-
nau dies ist, wie wir in den nächsten Ka- I ϕi ist ein Axiom oder
piteln zeigen werden, für weite Teile der
Mathematik unmöglich. I ϕi ist eine Formel aus der Menge M oder
Vielleicht haben Sie sich die Frage gestellt, ob diese Erweiterung wirk-
lich notwendig ist; schließlich sind wir in der Lage, beliebige Wenn-
dann-Beziehungen mithilfe des Implikationsoperators zu formulieren.
Der Unterschied zwischen beiden Konstrukten besteht darin, dass der
Operator ‚→‘ innerhalb der Logik existiert, während die Folgerungs-
beziehung M ϕ eine Aussage über die Beweisbarkeit der Aussage ϕ
macht. Mit anderen Worten: M ϕ ist eine Meta-Aussage, die außer-
halb der Logik steht.
Alter Beweis
...
{ϕ1 , . . . , ϕn } ∪ {ϕ} ψ ⇔ {ϕ1 , . . . , ϕn } ϕ → ψ
m 1
Beweis: Die Richtung von rechts nach links ist nahezu trivial. Gilt
1
{ϕ1 , . . . , ϕn } ϕ → ψ,
2
so existiert ein formaler Beweis, der ϕ → ψ aus {ϕ1 , . . . , ϕn } ableitet.
Neuer Beweis
...
Diese Schlusskette können wir auf einfache Weise zu einem Beweis m 1
verlängern, der ψ aus {ϕ1 , . . . , ϕn , ϕ} deduziert. Hierzu setzen wir ϕ
zunächst als Instanz ein und leiten ψ anschließend durch die Modus-
ponens-Schlussregel aus ϕ → ψ und ϕ ab (vgl. Abbildung 2.11).
Die Schlussrichtung von links nach rechts erfordert etwas mehr Auf-
wand, folgt aber dem gleichen Schema. Ausgehend von einem Beweis
für ψ aus {ϕ1 , . . . , ϕn } ∪ {ϕ} werden wir einen Beweis für ϕ → ψ aus Abbildung 2.11: Beweisschema des De-
{ϕ1 , . . . , ϕn } konstruieren. duktionstheorems (Richtung von rechts
nach links)
Das Grundschema des neuen Beweises ist in Abbildung 2.12 skizziert.
Aus der vorhandenen Beweiskette χ1 , . . . , χm−1 , ψ erzeugen wir eine 1
neue, in der nacheinander die Formeln ϕ → χi abgeleitet werden und 2
Alter Beweis
am Ende die zu beweisende Behauptung ϕ → ψ steht.
...
Damit ist die Grobstruktur festgelegt. Jetzt müssen wir noch überlegen, m 1
wie die verbleibenden Lücken in der Beweiskette geschlossen werden
können. Wir unterscheiden drei Fälle:
...
I χi ist ein Axiom oder eine Voraussetzung
1
χi
Neuer Beweis
...
χi → (ϕ → χi ) (A1)
2
ϕ → χi (MP)
...
(ϕ → (ϕ → ϕ)) → (ϕ → ϕ) (MP)
ϕ → (ϕ → ϕ) (A1) Abbildung 2.12: Beweisschema des De-
duktionstheorems (Richtung von links nach
ϕ →ϕ (MP) rechts)
96 2 Formale Systeme
Ableitbare Theoreme
I Theorem T1 I Theorem T6 I Theorem T11
ϕ →ϕ (ϕ → ψ) → (¬ψ → ¬ϕ) ¬(ϕ → ψ) → ¬ψ
Tabelle 2.7: Eine kleine Auswahl von Formeln, die sich im aussagenlogischen Kalkül ableiten lassen.
1. ϕ →ψ
2. ψ→χ
3. (ϕ → ψ) → ((ψ → χ) → (ϕ → χ)) (T2)
4. (ψ → χ) → (ϕ → χ) (MP, 1,3)
5. ϕ→χ (MP, 2,4)
1. Axiom: CpCqp wir mit |= ϕ aus, dass ϕ allgemeingültig ist, d. h. unter jeder möglichen
Interpretation wahr ist. In diesem Fall existieren viele Formeln ϕ, für
(Q→P) die weder |= ϕ noch |= ¬ϕ gilt. Ein korrekter Kalkül für die Aussagen-
Cp Cqp logik kann daher niemals negationsvollständig sein.
P → (Q → P) Abschließend sei bemerkt, dass die Wahl der Axiome unseres Kalküls
bei weitem nicht eindeutig ist. Tabelle 2.8 fasst mehrere historisch wich-
tige Axiomatisierungen zusammen, die ebenfalls zu einem korrekten
2. Axiom: CCpCqrCCpqCpr
und vollständigen Kalkül für die Aussagenlogik führen.
(Q→R) (P→Q) (P→R)
Die Axiome von Frege stammen aus dessen berühmter Begriffsschrift
C Cp Cqr C Cpq Cpr und basieren, genau wie unsere, auf der Implikation und der Negati-
P→(Q→R) (P→Q)→(P→R) on als Grundoperatoren. Russell und Whitehead haben ihre Axiome im
ersten Band der Principia Mathematica publiziert. Sie bauen ihre Lo-
(P → (Q → R)) → ((P → Q) → (P → R)) gik auf den logischen Primitiven ‚¬‘ und ‚∨‘ auf und verwenden den
Ausdruck ϕ → ψ als abkürzende Schreibweise für die Formel ¬ϕ ∨ ψ.
3. Axiom: CCNpNqCqp Im Jahr 1926 gelang Hilberts Schüler Paul Bernays der Nachweis, dass
die aussagenlogischen Axiome der Principia nicht unabhängig vonein-
C C Np Nq Cqp ander sind. Das vierte Axiom kann aus den anderen Axiomen deduziert
¬P ¬Q (Q→P)
werden und ist daher überflüssig.
(¬P→¬Q) Auch die Frege’schen Axiome sind nicht minimal. Der polnische Ma-
(¬P → ¬Q) → (Q → P)
thematiker Jan Łukasiewicz hat gezeigt, dass sich die Anzahl der Axio-
me reduzieren lässt, ohne die Menge der daraus ableitbaren Theoreme
Abbildung 2.13: Die von Łukasiewicz vor- zu verändern. In [120] schreibt er:
geschlagenen Axiome sind jene, die in zeit-
genössischen Lehrbüchern am häufigsten
„Frege ist der Begründer des modernen Aussagenkalküls.
für die axiomatische Begründung der Aus-
sagenlogik herangezogen werden; so auch
Sein System, das nicht einmal in Deutschland bekannt
in diesem Buch. zu sein scheint, ist auf folgenden 6 Axiomen aufgebaut:
‚CpCqp‘, ‚CCpCqrCCpqCpr‘, ‚CCpCqrCqCpr‘, ‚CCqp-
CNqNp‘, ‚CNNpp‘, ‚CpNNp‘. Das dritte Axiom ist über-
flüssig, denn es ist aus den beiden ersten ableitbar. Die drei
letzten Axiome können durch den Satz ‚CCNpNqCqp‘ er-
setzt werden.“
Jan Łukasiewicz [120]
Mit der Aussagenlogik haben wir das nötige Instrumentarium geschaf- f(x0)+ε
fen, um logische Beziehungen zwischen elementaren Aussagen formal
ε-Korridor
zu erfassen. Auch wenn sich viele Sachverhalte in der gezeigten Weise
f(x0)
beschreiben lassen, sind die vorhandenen Ausdrucksmöglichkeiten bei
weitem nicht stark genug, um als Grundlage für die Formalisierung der
f(x0)−ε
Mathematik zu dienen.
Damit wir die Begriffe und Konzepte der gewöhnlichen Mathematik x
abbilden können, müssen wir die Aussagenlogik um mehrere Bausteine x0
erweitern. Um welche es sich konkret handelt, wollen wir an einem
wohlbekannten Beispiel aus der Analysis herausarbeiten: der Stetigkeit
reellwertiger Funktionen [217] (Abbildung 2.14).
I . . . ein δ > 0 mit der Eigenschaft, . . .
f(x)
Definition 2.11 (Stetigkeit)
δ-Korridor
f(x0)+ε
Die Funktion f : D → R ist stetig im Punkt x0 ∈ D, wenn zu jedem
ε-Korridor
ε > 0 ein δ > 0 mit der folgenden Eigenschaft existiert:
f(x0)
x ∈ D ∧ |x − x0 | < δ ⇒ | f (x) − f (x0 )| < ε
f(x0)−ε
Mithilfe der Quantoren ‚∀‘ („für alle“) und ‚∃‘ („es existiert“) können x
wir die Stetigkeitsbedingung wie folgt aufschreiben: x0−δ x0 x0+δ
Analysieren wir die Definition im Detail, so lassen sich neben den aus- I . . . dass f (x) für alle x aus dem δ -Kor-
sagenlogischen Verknüpfungen die folgenden Bestandteile isolieren: ridor innerhalb des ε-Korridors liegt.
f(x)
I Variablen δ-Korridor
f(x0)+ε
Mit x, x0 , ε und δ enthält die Formel vier Variablen. Jede Einzelne
ε-Korridor
f(x)
steht stellvertretend für ein Element des Individuenbereichs, der sich f(x0)
in unserem Beispiel über die Menge der reellen Zahlen erstreckt.
f(x0)−ε
I Quantoren
Variablen werden an Quantoren gebunden, um quantitative Aussa- x
gen über die Elemente des Individuenbereichs zu machen. In unse- x0−δ x0 x x0+δ
rem Beispiel stehen die Variablen ε und x im Wirkungsbereich eines
Allquantors, während δ durch einen Existenzquantor gebunden ist. Abbildung 2.14: Eine reellwertige Funkti-
x0 steht nicht im Wirkungsbereich eines Quantors; eine solche Va- on ist stetig an der Stelle x0 , wenn sie das
riable heißt frei oder ungebunden. Epsilon-Delta-Kriterium erfüllt.
104 2 Formale Systeme
I Funktionen
Mit f und | · | (Betragsfunktion) enthält die Formel zwei einstelli-
ge Funktionssymbole. Im Allgemeinen repräsentiert ein n-stelliges
Funktionssymbol eine Abbildung, die n Elemente des Individuenbe-
reichs auf ein anderes Element des Individuenbereichs abbildet.
I Prädikate
Die Formel enthält mit ‚∈ D‘ ein einstelliges und mit ‚<‘ ein zwei-
stelliges Prädikat. Im Allgemeinen repräsentiert ein n-stelliges Prä-
dikat eine Relation, die das Bestehen oder Nichtbestehen einer Be-
ziehung zwischen n Elementen des Individuenbereichs ausdrückt.
Das diskutierte Beispiel vermittelt einen ersten Eindruck von der Be-
schaffenheit und der Ausdrucksstärke der Prädikatenlogik. Im nächsten
Abschnitt wollen wir die umrissenen Ideen konkretisieren und mathe-
matisch präzise aufarbeiten, was sich hinter einer prädikatenlogischen
Formel im Einzelnen verbirgt.
Genau wie in der Aussagenlogik werden wir auch hier den Symbolvor- I Signatur Σ
rat von Fall zu Fall anpassen und Variablen z. B. mit x, y, z, Funktionen
Σ = (VΣ , FΣ , PΣ ) mit
mit f, g, h und Prädikate mit P, Q, R bezeichnen.
VΣ = {x, y}
Definition 2.13 (Prädikatenlogischer Term)
FΣ = {f (2-stellig) }
Sei Σ = (VΣ , FΣ , PΣ ) eine prädikatenlogische Signatur. Die Menge PΣ = {P (2-stellig) }
der prädikatenlogischen Terme ist induktiv definiert:
I Jede Variable ξ ∈ VΣ ist ein Term. I Terme über Σ
Abbildung 2.15 (unten) zeigt eine kleine Auswahl erzeugbarer Formeln. Abbildung 2.15: Schrittweise Konstrukti-
Beachten Sie, dass nicht alle Variablen zwangsläufig im Wirkungsbe- on prädikatenlogischer Ausdrücke
reich eines Quantors stehen müssen. Beispielsweise kommt die Variable
106 2 Formale Systeme
Achten Sie darauf, die Re- x in der Formel P(x, x) frei oder ungebunden, in der Formel ∀ x P(x) da-
geln für den syntaktischen gegen gebunden vor. Dass eine Variable in der gleichen Formel sowohl
Aufbau prädikatenlogischer frei als auch gebunden vorkommen kann, demonstriert das Beispiel in
Formeln korrekt zu inter- Abbildung 2.16. Formeln, die keine freien Variablen enthalten, heißen
pretieren! So steht die Formel ψ in
geschlossen, alle anderen sind offene Formeln. Im Folgenden schreiben
∀x ϕ → ψ wir ϕ(ξ1 , . . . , ξn ), um darauf hinzuweisen, dass die Variablen ξ1 , . . . , ξn
in ϕ frei vorkommen können. Ferner schreiben wir ϕ(ξ 1 , . . . , ξ
n ) um
nach den vereinbarten Bildungsregeln au- auszudrücken, dass in ϕ keine freien Vorkommen dieser Variablen vor-
ßerhalb des Quantors. Soll ψ zum Bin- handen sind.
dungsbereich des Quantors gehören, muss
der quantifizierte Teilausdruck als Ganzes Der Umgang mit prädikatenlogischen Ausdrücken wird erheblich er-
geklammert werden. Die falsche Interpre- leichtert, wenn die Variablen in zwei voneinander unabhängigen Teil-
tation der Bildungsregeln ist eine häufi-
ausdrücken unterschiedlich benannt werden. Sind die quantifizierten
ge Fehlerquelle; Sie sind gut beraten, sich
Variablen einer geschlossenen Formel ϕ paarweise verschieden, so
den folgenden Zusammenhang intensiv
einzuprägen: ∀ x ϕ → ψ = ∀ x (ϕ → ψ) sprechen wir von einer bereinigten Formel. Abbildung 2.17 zeigt, wie
jede Formel durch die Umbenennung mehrfach quantifizierter Varia-
blen ohne Umwege in eine bereinigte Form gebracht werden kann.
Gebundenes Vor- Freies Vor- Genau wie in der Aussagenlogik wird auch in der Prädikatenlogik die
kommen von x kommen von x Semantik über eine Modellrelation ‚|=‘ festgelegt. Um diese präzise de-
∀ x P(↓, y) → ∃ y P(↓, y) finieren zu können, müssen wir zunächst den Begriff der Interpretation
∀ x P(x, y) → ∃ y P(x, y) auf prädikatenlogische Formeln erweitern:
∀ x P(x,↑) → ∃ y P(x, ↑)
Freies Vor- Gebundenes Vor-
kommen von y kommen von y Definition 2.15 (Prädikatenlogische Interpretation)
Abbildung 2.16: Steht eine Variable im Sei Σ = (VΣ , FΣ , PΣ ) eine prädikatenlogische Signatur. Eine Inter-
Wirkungsbereich eines Quantors, so spre- pretation über Σ ist ein Tupel (U, I) mit den Eigenschaften:
chen wir von einem gebundenen, ansonsten
von einem freien Vorkommen. I U ist eine beliebige nichtleere Menge.
I I ist eine Abbildung, die
∀ x P(x, y) → ∃ x P(x, y)
• jedem Variablensymbol ξ ∈ VΣ ein Element I(ξ ) ∈ U,
Gebundene
• jedem n-stelligen Funktionssymbol f ∈ FΣ eine Funktion
Umbenennung
I( f ) : U n → U
Die Zuordnung von Variablen zu den Elementen von U spielt nur für
offene Formeln eine Rolle. Sie sorgt dafür, dass alle freien Variablen
mit einem Individuenelement belegt werden.
Die Abbildung I, die jedem Funktionssymbol f eine Funktion I( f ) zu- Der Begriff der Interpretati-
on ist in der Literatur unter-
ordnet, lässt sich in naheliegender Weise auf komplexe Terme übertra-
schiedlich definiert, genauso wie der Be-
gen. Hierzu erweitern wir I nach dem folgenden induktiven Schema: griff des Modells. In der hier verwende-
ten Form ist eine Interpretation ein Tupel
I( f (σ1 , . . . , σn )) := I( f )(I(σ1 ), . . . , I(σn )) (U, I) mit der Eigenschaft, dass der Defi-
nitionsbereich der Abbildung I nicht nur
Mit dieser Vereinbarung sind wir gerüstet, um die prädikatenlogische die Funktions- und Prädikatzeichen, son-
Modellrelation ‚|=‘ formal einzuführen: dern auch die Variablen einer Formel um-
fasst. Dies entspricht der Vorgehensweise
in [173]. Eine alternative Vorgehensweise
Definition 2.16 (Semantik der Prädikatenlogik) besteht darin, die Belegung der Variablen
durch eine separate Funktion b zu model-
ϕ und ψ seien prädikatenlogische Formeln und (U, I) eine Interpre- lieren und den hier verwendeten Ausdruck
(U, I) |= ϕ durch den folgenden zu erset-
tation. Die Semantik der Prädikatenlogik ist durch die Modellrela-
zen:
tion ‚|=‘ gegeben, die induktiv über dem Formelaufbau definiert ist:
(U, I, b) |= ϕ (2.5)
(U, I) |= 1 Wird dieser Weg bestritten, so gibt es
zwei Möglichkeiten, den Modellbegriff zu
(U, I) |= 0
definieren. Manche Autoren sehen in ei-
(U, I) |= P(σ1 , . . . , σn ) :⇔ (I(σ1 ), . . . , I(σn )) ∈ I(P) nem Modell ein Tripel (U, I, b), das die
(U, I) |= (¬ϕ) :⇔ (U, I) | = ϕ Beziehung (2.5) erfüllt. Diese Definition
unterscheidet sich von unserer in erster
(U, I) |= (ϕ ∧ ψ) :⇔ (U, I) |= ϕ und (U, I) |= ψ Linie durch die Wahl der Notation und
(U, I) |= (ϕ ∨ ψ) :⇔ (U, I) |= ϕ oder (U, I) |= ψ wird beispielsweise in [51] und [158] ver-
(U, I) |= (ϕ → ψ) :⇔ (U, I) |= ϕ oder (U, I) |= ψ folgt. Andere Autoren definieren ein Mo-
dell als ein Tupel (U, I), das die Bezie-
(U, I) |= (ϕ ↔ ψ) :⇔ (U, I) |= ϕ → ψ und (U, I) |= ψ → ϕ hung (2.5) für ausnahmslos alle Belegun-
(U, I) |= (ϕ ψ) :⇔ (U, I) |= (ϕ ↔ ψ) gen b erfüllt [126]. Beachten Sie, dass sich
die unterschiedlichen Definitionen nur auf
(U, I) |= ∀ ξ ϕ :⇔ Für alle u ∈ U ist (U, I[ξ /u] ) |= ϕ
Formeln mit freien Variablen auswirken.
(U, I) |= ∃ ξ ϕ :⇔ Es gibt ein u ∈ U mit (U, I[ξ /u] ) |= ϕ Sind alle Variablen durch Quantoren ge-
bunden, erhalten wir in allen drei Fällen
Eine Interpretation (U, I) mit (U, I) |= ϕ heißt Modell für ϕ. einen äquivalenten Modellbegriff.
108 2 Formale Systeme
∀ x ∃ y P(f(x, y))
(VΣ = {x, y}, FΣ = {f}, PΣ = {P})
U := Z U := N
I(f) := (x, y) → x + y I (f) := (x, y) → x + y
I(P) := {0} I (P) := {0}
… … … …
y 0 x y∉ 0 x
„Für alle x existiert ein y mit „Für alle x existiert ein y mit
x + y = 0“ x + y = 0“
ist in Z eine wahre Aussage. ist in N eine falsche Aussage.
Abbildung 2.18: Zwei Interpretationen (U, I) |= ∀ x ∃ y P(f(x, y)) (U , I ) |= ∀ x ∃ y P(f(x, y))
für die Formel ∀ x ∃ y P(f(x, y))
In Definition 2.16 wird erstmals der Ausdruck I[ξ /u] verwendet. Ist
(U, I) eine prädikatenlogische Interpretation, so ist mit (U, I[ξ /u] ) je-
ne Interpretation gemeint, die der Variablen ξ das Individuenelement u
zuordnet und sonst mit (U, I) identisch ist.
Für die Menge der ganzen Zahlen ist die Aussage offensichtlich erfüllt,
für die natürlichen Zahlen dagegen nicht.
Die folgenden Begriffe, die wir bereits in der Diskussion der Aussagen-
logik kennen gelernt haben, tragen diesem speziellen Umstand Rech-
nung:
2.4 Prädikatenlogik erster Stufe 109
¬∃ ξ ϕ ≡ ∀ ξ ¬ϕ
Eine Formel ϕ mit den freien Variablen ξ1 , . . . , ξn heißt
∃ ξ ¬ϕ ≡ ¬∀ ξ ϕ
I erfüllbar, falls ϕ mindestens ein Modell hat.
es gibt ein (U, I) mit (U, I) |= ϕ I Bereichserweiterungsgesetze
Auch den Begriff der logischen Folgerung können wir aus der Aussa- In der Aussagenlogik haben
genlogik übernehmen. Ist M eine Mengen von Formeln und jedes Mo- wir den Begriff der Tautolo-
dell von M auch Modell einer Formel ϕ, so schreiben wir M |= ϕ („Aus gie als Synonym für den Begriff der allge-
M folgt ϕ“). Die Beziehung 0/ |= ϕ ist dann gleichbedeutend mit der meingültigen Formel eingeführt. Wir wol-
Aussage, dass ϕ eine allgemeingültige Formel ist. Wie gewohnt ver- len diese Konvention auch in der Prädika-
tenlogik beibehalten, wohl wissend, dass
wenden wir in diesem Fall die gekürzte Schreibweise |= ϕ und bezeich-
einige Bücher eine feinere Unterschei-
nen ϕ, wie in der Aussagenlogik, als Tautologie.
dung zwischen beiden Begriffen vorneh-
Auch der Begriff der prädikatenlogischen Äquivalenz ergibt sich nun men. Mitunter wird eine prädikatenlogi-
fast von selbst. Wir bezeichnen zwei prädikatenlogische Formeln ϕ und sche Formel in der Literatur nur dann als
Tautologie bezeichnet, wenn sie im aussa-
ψ genau dann als äquivalent, geschrieben als ϕ ≡ ψ, wenn sie diesel-
genlogischen Sinne allgemeingültig ist.
ben Modelle haben. Oder, was dasselbe ist: wenn die Formel ϕ ↔ ψ Was das bedeutet, wollen wir am Bei-
allgemeingültig ist. spiel der Formel (∀ x P(x)) ∨ ¬(∀ x P(x))
deutlich machen. Auf der aussagenlo-
Abbildung 2.19 fasst wichtige Äquivalenzen in einer Übersicht zusam- gischen Ebene hat diese Formel die
men. Die beiden Negationsgesetze sind von besonderer Bedeutung; Form ϕ ∨ ¬ϕ und ist deshalb auch im
sie zeigen, dass wir einen der beiden Quantoren aus dem Symbolvor- aussagenlogischen Sinne allgemeingül-
rat streichen können, ohne die Ausdrucksstärke der Prädikatenlogik zu tig. Dagegen hat die äquivalente Formel
verringern. Ausnutzen werden wir diese Eigenschaft im nächsten Ab- ∀ x P(x) ∨ ∃ x ¬P(x) die Form ϕ ∨ ψ und
schnitt. Dort besprechen wir einen Kalkül, der ausschließlich Axiome ist im aussagenlogischen Sinne nicht all-
und Schlussregeln für den Allquantor bereitstellt. gemeingültig. In Büchern, die dieser Ter-
minologie folgen, ist damit nicht jede
prädikatenlogisch allgemeingültige For-
mel auch eine Tautologie. Die Umkehrung
dieser Aussage gilt jedoch auch dort.
110 2 Formale Systeme
(∀ x P(x, y))S = (∀ x P(x, f(y))) Die Axiomenschemata (A1) bis (A3) sind alte Bekannte; sie sind
mit den Axiomen des aussagenlogischen Kalküls identisch. Das Sche-
(∀ y P(x, y))S = (∀ y P(y, y))
ma (A4) drückt aus, dass aus der Formel ∀ ξ ϕ Instanzen der Form
(∀ x ∀ y P(x, y))S = (∀ x ∀ y P(x, y)) ϕ[ξ ← σ ] folgen. Die Formel ϕ[ξ ← σ ] entsteht aus ϕ, indem alle frei-
S ist eine Substitution, en Vorkommen von ξ , und nur diese, durch den prädikatenlogischen
aber keine Grundsubstitution Term σ ersetzt werden. Wir sagen, die Formel ϕ(ξ ) wurde mit dem
Term σ instantiiert (Abbildung 2.20). Das Schema (A5) erlaubt uns, ei-
Abbildung 2.20: Eine Variablensubstituti- ne Teilformel ϕ immer dann aus dem Wirkungsbereich eines Quantors
on der Form [ξ ← σ ] ersetzt alle freien Vor- herauszunehmen, wenn die quantifizierte Variable in ϕ nicht vorkommt.
kommen der Variablen ξ durch den Term σ . Theoreme können entweder mithilfe des bereits bekannten Modus po-
Alle gebundenen Vorkommen bleiben un- nens (MP) oder der neu hinzugekommenen Generalisierungsregel (G)
angetastet. Enthalten die eingesetzten Ter- deduziert werden. Letztere macht es möglich, aus der Formel ϕ die Ge-
me selbst keine Variablen, so sprechen wir neralisierung ∀ ξ ϕ abzuleiten.
von einer Grundsubstitution.
Ableitbare Theoreme
I Theorem T16
∀ ξ ∀ ζ ϕ(ξ , ζ ) → ∀ ζ ∀ ξ ϕ(ξ , ζ )
I Theorem T17
∀ ξ (ϕ(ξ ) → ψ(ξ )) → (∀ ξ ϕ(ξ ) → ∀ ξ ψ(ξ ))
Wir wollen den Kalkül nun in Aktion erleben und exemplarisch die in
Tabelle 2.10 aufgeführten Theoreme beweisen (vgl. [125]):
112 2 Formale Systeme
Abschließend wollen wir uns auch hier mit der Frage beschäftigen, wel-
che der in Definition 2.2 formulierten Eigenschaften erfüllt werden und
welche nicht. Von der Korrektheit des prädikatenlogischen Kalküls kön-
nen wir uns leicht überzeugen. Mit den Axiomenschemata (A1) bis (A3)
haben wir uns bereits in Abschnitt 2.3.2 auseinandergesetzt; sie sind so
beschaffen, dass alle Instanzen allgemeingültige Formeln sind. Ferner
folgt aus der Definition des Allquantors, dass auch alle Instanzen der
2.5 Prädikatenlogik mit Gleichheit 113
∀ x ∃ y R(x, y)
Axiome Gilt sowohl R(x, y) als auch R(x, z), so müssen y und z Repräsentanten
desselben Elements sein. Um diesen Sachverhalt zu formalisieren, fehlt
ξ=
˙ ξ (A6) uns ein wichtiger Baustein: die Gleichheit. Eine einfache Lösungsmög-
lichkeit besteht darin, den Gleichheitsoperator in Form eines speziellen
ξ=
˙ ζ → (ϕ[ζ ← ξ ] → ϕ) (A7) Prädikatzeichens ‚=‘˙ direkt in die Logik zu integrieren. Folgen wir die-
(für jede kollisionsfreie Substitution)
sem Ansatz, so können wir die gesuchte Formel mit Leichtigkeit auf-
schreiben:
∀ x ∃ y (R(x, y) ∧ ∀ z (R(x, z) → z =
˙ y))
Tabelle 2.11: Fügen wir dem formalen Sys- Um die Prädikatenlogik mit Gleichheit formal zu definieren, müssen
tem aus Abschnitt 2.4.2 die Axiome (A6) wir lediglich zwei Definitionen aus Abschnitt 2.4 anpassen. Die erste
und (A7) hinzu, so entsteht ein vollstän- betrifft den Aufbau atomarer Formeln:
diger Kalkül für die Prädikatenlogik erster
Stufe mit Gleichheit. Die Symbole ξ und ζ
sind Platzhalter für prädikatenlogische Va- Ergänzung zu Definition 2.14
riablen.
I Sind σ und τ Terme, so ist (σ =
˙ τ) eine atomare Formel.
Axiomenschema (A7)
Ergänzung zu Definition 2.16
mit ξ = x und ζ = y
(U, I) |= (σ =
˙ τ) :⇔ I(σ ) = I(τ)
x=
˙ y → (∀ x x =
˙ x → ∀x x =
˙ y)
Ableitbare Theoreme
Als Beispiele wollen wir die Theoreme aus Tabelle 2.12 in unserem neu
geschaffenen Kalkül beweisen. Inhaltlich beschreiben die Theoreme die
Reflexivität, die Symmetrie und die Transitivität der Gleichheitsrelati-
on. Wie schon zuvor sind (T19) bis (T21) keine Theoreme im eigentli-
che Sinne, sondern Schemata, in denen wir die Platzhalter σ , τ und ρ
durch beliebige prädikatenlogische Terme ersetzen dürfen.
Vielleicht haben Sie sich gefragt, warum wir die Gleichheit in Form
eines speziell hierfür geschaffenen Prädikatzeichens in die Logik in-
tegriert haben, das, anders als gewöhnliche Prädikatzeichen, mit einer
festen Semantik belegt ist. Die Antwort ist einfach: Innerhalb der Prä-
dikatenlogik erster Stufe ist es unmöglich, eine Formel ϕ= zu konstru-
ieren, die genau dann wahr ist, wenn ein bestimmtes Prädikatzeichen,
z. B. P, als die Gleichheitsrelation interpretiert wird:
(U, I) |= ϕ= ⇔ I(P) = {(x, y) ∈ U 2 | x = y} (2.6)
Wir werden nun aufklären, warum die Gleichheit nicht in der Prädika-
tenlogik erster Stufe definiert werden kann. Konkret werden wir zeigen,
dass aus jedem Modell (U, I) von ϕ= , in dem P als die Gleichheit in-
terpretiert wird, ein anderes Modell (U , I ) von ϕ= konstruiert werden
kann, in dem P diese Bedeutung verliert. Dies steht im Widerspruch zu
(2.6). Würde die Formel ϕ= existieren, müsste sie so beschaffen sein,
dass P in jedem Modell die Gleichheit ist.
Die Individuenmenge des neuen Modells entsteht, indem wir jedes Ele-
ment u ∈ U um ein Kopie u ergänzen. Ferner erweitern wir die Interpre-
tation der Prädikat- und Funktionszeichen so, dass es keine Rolle spielt,
ob wir ein Originalelement aus U oder seine Kopie vor uns haben.
2.5 Prädikatenlogik mit Gleichheit 117
Wie dies konkret funktioniert, demonstriert Abbildung 2.22 am Bei- I Übergang von U zu U
spiel eines zweistelligen Prädikatsymbols P und einer Interpretation
U = {u1 , u2 }
(U, I) mit dem Individuenbereich U = {u1 , u2 }. In (U, I) wird P als
die Gleichheit interpretiert, d. h. als diejenige Relation, die exakt die
beiden Kombinationen (u1 , u1 ) und (u2 , u2 ) umfasst. In der Interpreta-
tion (U , I ) beinhaltet P dagegen die Kombinationen (u1 , u1 ), (u1 , u1 ), U = {u1 , u2 , u1 , u2 }
(u1 , u1 ), (u1 , u1 ) und (u2 , u2 ), (u2 , u2 ), (u2 , u2 ), (u2 , u2 ). Die Wahl von
I (P) sorgt dafür, dass es für das Bestehen oder Nichtbestehen der Re- I Übergang von I zu I
lation nun irrelevant ist, ob wir ein Originalelement u ∈ U oder dessen
I(P) = { (u1 , u1 ), (u2 , u2 ) }
Kopie u betrachten. Folgerichtig haben wir keine Möglichkeit, auf der
Logikebene zwischen den Originalelementen und ihren Kopien zu un-
terscheiden. Ist (U, I) ein Modell für ϕ= , so ist es zwangsläufig auch
(U , I ). In (U , I ) wird das Prädikatzeichen P allerdings nicht mehr als I (P) = { (u1 , u1 ), (u2 , u2 ),
die Gleichheitsrelation interpretiert, da jedes Element jetzt zusätzlich in
(u1 , u1 ), (u2 , u2 ),
Relation zu seiner Kopie steht. Der Widerspruch zeigt, dass die Quanti-
fikation über die Elemente des Individuenbereichs nicht stark genug ist, (u1 , u1 ), (u2 , u2 ),
um zwischen einem Element und seiner Kopie zu unterscheiden. (u1 , u1 ), (u2 , u2 ) }
Wenn Sie sich die vorgenommene Konstruktion ein zweites Mal be-
trachten, werden Sie bemerken, dass sich dahinter ein simpler mathe- Abbildung 2.22: Die Gleichheitsrelation
matischer Trick verbirgt. Hinter dem Übergang von U zu U steckt eine lässt sich nicht innerhalb der Prädikatenlo-
Äquivalenzklassenbildung, die jedes Element x ∈ U mit seiner Kopie x gik erster Stufe definieren. Aus jedem Mo-
dell (U, I), das ein Prädikatzeichen als die
zu einer Äquivalenzklasse [x]∼ zusammenfasst:
Gleichheit interpretiert, lässt sich ein Mo-
dell (U , I ) konstruieren, in der das Prä-
[x]∼ = [x ]∼ = {x, x }
dikatzeichen seine ihm zugedachte Bedeu-
tung verliert.
Jetzt ist auch klar, welche Bedeutung dem Prädikatzeichen P unter der
Interpretation (U , I ) zukommt: Es ist die Gleichheit zwischen den ge-
bildeten Äquivalenzklassen. Kurzum: Erfüllt eine Interpretation (U, I)
die Beziehung
I(P) = {(x, y) | x = y}
so gilt für die Interpretation (U , I ) das Folgende:
Die Diskussion zeigt, dass wir mit den Mitteln der Prädikatenlogik er-
ster Stufe den Begriff der Gleichheit nur auf der Ebene von Äquiva-
lenzklassen erfassen können. Um den Gleichheitsbegriff auf der Indi-
viduenebene zu definieren, sind die Mittel der ersten Stufe aber ganz
offensichtlich zu schwach.
118 2 Formale Systeme
ϕI := ∀ x ∀ y (f(x) =
˙ f(y) → x =
˙ y)
I Injektive Funktionen
Die Formel ist genau dann wahr, wenn f als injektive Funktion interpre-
tiert wird (Abbildung 2.24 oben). Auf die gleiche Weise können wir die
Surjektivität einer Funktion beschreiben (Abbildung 2.24 unten). Auch „Jedes Element der
hier reicht eine Formel erster Stufe aus: Zielmenge besitzt
höchstens ein Urbild.“
ϕS := ∀ y ∃ x (y =
˙ f(x))
I Surjektive Funktionen
Jetzt nutzen wir die volle Ausdrucksstärke der PL2 und kombinieren ϕI
und ϕS in der folgenden Weise:
„Jedes Element der
Zielmenge besitzt
ϕ<N := ∀ f (ϕI → ϕS ) (2.7)
mindestens ein Urbild.“
= ∀ f (∀ x ∀ y (f(x) =
˙ f(y) → x =
˙ y) → ∀ y ∃ x (y =
˙ f(x)))
In Worten besagt ϕ<N , dass jede injektive Funktion auch surjektiv ist. Abbildung 2.24: Injektive und surjektive
Dass wir diese Aussage in der Prädikatenlogik zweiter Stufe ohne Mühe Funktionen
120 2 Formale Systeme
... formulieren können, verdeutlicht die Eleganz, die alle Logiken höherer
Stufe unzweifelhaft besitzen. Die eigentliche Bedeutung dieser Formel
...
ist aber eine andere. Ein wenig Wissen über injektive und surjektive
Funktionen reicht aus, um zu erkennen, dass ϕ<N genau dann wahr ist,
...
wenn sie über einem endlichen Individuenbereich interpretiert wird. In
diesem und nur in diesem Fall ist jede injektive Funktion auch zwangs-
...
Damit ist es uns gelungen, den Begriff der Endlichkeit innerhalb der
Prädikatenlogik zweiter Stufe präzise zu beschreiben. Wir sagen, der
Begriff der Endlichkeit wird durch ϕ<N definiert.
x f f
... Eine genauso interessante Formel ist diese hier:
...
f f
x, f (x), f ( f (x)), f ( f ( f (x))), f ( f ( f ( f (x)))), . . . (2.9)
f
...
f
erfassen können. Die Variable x beschreibt das erste Element, und die
...
Funktion f gibt an, wie wir von einem Element zum nächsten gelangen.
...
eine Formel, die genau unter denjenigen Interpretationen wahr wird, die
einen abzählbaren Individuenbereich aufweisen:
Ein weiterer Begriff, der sich nicht in der PL1 definieren lässt, ist die
Gleichheit. Bereits in Abschnitt 2.5 hatten wir gezeigt, dass keine For-
mel erster Stufe existiert, die genau dann wahr ist, wenn ein bestimmtes
Prädikatzeichen als die Gleichheitsrelation interpretiert wird. In der Prä-
dikatenlogik zweiter Stufe haben wir dagegen kaum Mühe, diesen Be-
griff zu definieren. Es ist leicht einzusehen, dass für zwei unterschied-
liche Elemente immer eine Relation existiert, die beide voneinander se-
pariert. Das heißt im Umkehrschluss, dass sich hinter zwei Individuen-
variablen das gleiche Element verbergen muss, wenn sie durch keine
Relation unterschieden werden können:
Diese Formel ist genau dann wahr, wenn das zweistellige Prädikat P als
die Gleichheitsrelation ‚=‘ interpretiert wird.
Die Vorteile der PL2 klingen verlockend, und dennoch spielt sie in der
mathematischen Logik eine weit geringere Rolle als die PL1, die Prä-
dikatenlogik erster Stufe. Gleich mehrere Gründe sind hierfür verant-
wortlich:
Theorie erster Stufe kennen lernen, die stark genug ist, um nahezu
alle Gebiete der gewöhnlichen Mathematik zu formalisieren. In den
meisten Fällen gibt es daher keinen Grund, den sicheren Hafen der
PL1 zu verlassen.
2.6.2 Henkin-Interpretation
pr 1 Nov Der US-amerikanische Logiker einen ist er deutlich einfacher als Gödels Originalbeweis, so
19 A
1921 2006
Leon Albert Henkin wurde am dass viele moderne Lehrbücher heute der Henkin’schen und
19.4.1921 in Brooklyn, New York, nicht der Gödel’schen Argumentationslinie folgen. Zum an-
geboren. Sein akademischer Wer- deren lassen sich vieler seiner Grundideen auch auf Logi-
degang führte ihn über das Columbia College an die renom- ken höherer Stufe übertragen. Henkin hatte dies schon wäh-
mierte Universität in Princeton, die ihm 1945, als Schüler rend seiner Doktorarbeit erkannt und wies auch in [81] dar-
von Alonzo Church, die Doktorwürde verlieh. 1953 wech- auf hin: „In the second place the proof suggests a new ap-
selte Henkin an die University of California in Berkeley, wo proach to the problem of completeness for functional calculi
er 1958 zum Professor berufen wurde. Seiner neuen akade- of higher order. Both of these matters will be taken up in
mischen Wirkungsstätte blieb er bis zu seiner Pensionierung future papers.“
im Jahr 1991 treu. Die versprochene Ausarbeitung folgte bereits ein Jahr später.
Heute wird sein Name vor allem mit einem Vollständigkeits- In [82] führte er jene Interpretationen ein, die wir heute als
beweis der Prädikatenlogik erster Stufe verbunden, den Hen- Henkin-Interpretationen bezeichnen. Mit dieser Arbeit be-
kin im Jahr 1949 veröffentlichte [78, 81]. Neu war sein Er- gründete er die wichtigste Alternative zur Standardsemantik
gebnis nicht, schließlich hatte Kurt Gödel die Vollständig- der Logiken höherer Stufe.
keit der PL1 rund 20 Jahre zuvor bereits bewiesen. Trotzdem Leon Albert Henkin starb am 1. November 2006 im Alter
ist der Beweis in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum von 85 Jahren.
sind wahr. In diesem Schema steht der Platzhalter ξ für eine beliebi-
ge Prädikatvariable der Stelligkeit n, und ϕ steht für eine Formel mit
n freien Variablen, in der ξ nicht vorkommt. Das Komprehensions-
schema stellt sicher, dass all diejenigen Relationen in R(n) enthalten
sind, die sich durch eine Formel ϕ mit n freien Variablen charakteri-
sieren lassen.
I Alle Instanzen des Funktionsdefinitionsschemas
∀ ξ (∀ x1 . . . ∀ xn ∃1 y ξ (x1 , . . . , xn , y) →
∃ ν (∀ x1 . . . ∀ xn ξ (x1 , . . . , xn , ν(x1 , . . . , xn ))))
2.7 Übungsaufgaben
Am Beispiel der Kalküle E, E2 , . . . , E6 haben wir grundlegende Eigenschaften formaler Sys- Aufgabe 2.1
teme herausgearbeitet.
Webcode
2763
a) Rekapitulieren Sie die Eigenschaften der verschiedenen Systeme, indem Sie die nachste-
hende Tabelle vervollständigen:
E E2 E3 E4 E5 E6
Widerspruchsfrei
Negationsvollständig
Korrekt
Vollständig
b) Angenommen, das Alphabetzeichen ‚>‘ wird nicht mehr als „größer“, sondern als „größer
oder gleich“ interpretiert. Ist das System E4 dann weiterhin widerspruchsfrei, negations-
vollständig, korrekt und vollständig?
c) Ist es möglich, die Interpretationen der Symbole ‚>‘ und ‚=‘ so abzuändern, dass der
Kalkül E3 korrekt wird?
Betrachten Sie die nachstehenden fünf Axiome, die eine Reihe von Eigenschaften zweier Aufgabe 2.2
Klassen K und L festlegen. Sie stammen aus [133] und wurden in ihrer umgangssprachlichen
Form belassen: Webcode
2129
1. Je zwei beliebige Elemente von K sind in genau einem Element von L enthalten.
2. Kein Element von K ist in mehr als zwei Elementen von L enthalten.
3. Die Elemente von K sind nicht alle in einem einzigen Element von L enthalten.
4. Je zwei beliebige Elemente von L enthalten genau ein Element von K [gemeinsam].
Unter der Verwendung der üblichen mathematischen Schlussregeln lassen sich aus den Axio-
men verschiedene Konsequenzen ziehen. Ist es möglich, einen Widerspruch abzuleiten? Wie
könnte ein formaler Beweis der Widerspruchsfreiheit gelingen?
126 2 Formale Systeme
Aufgabe 2.3 In dieser Aufgabe betrachten wir vier Kalküle über einer rudimentären Sprache. Insgesamt
lassen sich nur 42 Formeln bilden, die durch das Einsetzen der Terme 0, . . . , 6 in die Formeln
Webcode ϕ1 (ξ ), ϕ2 (ξ ), ϕ3 (ξ ), ¬ϕ1 (ξ ), ¬ϕ2 (ξ ) und ¬ϕ3 (ξ ) entstehen. Die folgende Matrix gibt an,
2748 welche der 42 Aussagen wahr und welche falsch sind:
0 1 2 3 4 5 6
ϕ1 (ξ ) |= |= |= |= |= |= |=
ϕ2 (ξ ) |= |= |= |= |= |= |=
ϕ3 (ξ ) |= |= |= |= |= |= |=
¬ϕ1 (ξ ) |= |= |= |= |= |= |=
¬ϕ2 (ξ ) |= |= |= |= |= |= |=
¬ϕ3 (ξ ) |= |= |= |= |= |= |=
Die Axiome und die Schlussregeln der vier Kalküle sind nicht bekannt. Dafür sind wir für
jeden Kalkül im Besitz einer Matrix, aus der wir ablesen können, welche Formeln aus den
Axiomen hergeleitet werden können und welche nicht. Geben Sie für jeden Kalkül an, ob er
vollständig, korrekt, widerspruchsfrei oder negationsvollständig ist.
K1 0 1 2 3 4 5 6 K2 0 1 2 3 4 5 6
ϕ1 (ξ ) ϕ1 (ξ )
ϕ2 (ξ ) ϕ2 (ξ )
ϕ3 (ξ ) ϕ3 (ξ )
¬ϕ1 (ξ ) ¬ϕ1 (ξ )
¬ϕ2 (ξ ) ¬ϕ2 (ξ )
¬ϕ3 (ξ ) ¬ϕ3 (ξ )
K3 0 1 2 3 4 5 6 K4 0 1 2 3 4 5 6
ϕ1 (ξ ) ϕ1 (ξ )
ϕ2 (ξ ) ϕ2 (ξ )
ϕ3 (ξ ) ϕ3 (ξ )
¬ϕ1 (ξ ) ¬ϕ1 (ξ )
¬ϕ2 (ξ ) ¬ϕ2 (ξ )
¬ϕ3 (ξ ) ¬ϕ3 (ξ )
2.7 Übungsaufgaben 127
Die Kalküle P1 und P2 seien durch die folgenden Axiome und Schlussregeln definiert: Aufgabe 2.4
Axiome (Kalkül P1 ) Axiome (Kalkül P2 ) Webcode
2890
(11,110) (A1) (01,011) (A1’)
(ϕ, ψ) (ϕ, ψ)
(S1) (S1’)
(ϕ011, ψ100) (ϕ001, ψ0)
(ϕ, ψ) (ϕ, ψ)
(S2) (S2’)
(ϕ11, ψ110) (ϕ01, ψ011)
(ϕ, ψ) (ϕ, ψ)
(S3) (S3’)
(ϕ010, ψ011) (ϕ01, ψ101)
(ϕ, ψ)
(S4’)
(ϕ10, ψ001)
Beide Kalküle arbeiten nach dem gleichen Grundprinzip. Das Axiom gibt ein Paar binärer
Zeichenketten vor, und die Schlussregeln bestimmen, wie sich die Zeichenketten sukzessive
verlängern lassen. Beide Kalküle unterscheiden sich lediglich in den binären Teilsequenzen,
die fest in das Axiom und die Schlussregeln hineincodiert sind.
a) Zu welchem Kalkül gehört der folgende Beweis? Geben Sie rechts für jeden Ablei-
tungsschritt an, welche Schlussregel angewendet wurde.
1. (01,011) ( )
2. (0110,011001) ( )
3. (011001,011001101) ( )
4. (01100110,011001101001) ( )
5. (0110011010,011001101001001) ( )
b) Lässt sich in den Kalkülen P1 und P2 ein Theorem der Form (ϕ, ϕ) ableiten?
d) Gibt es ein Verfahren, das für alle Kalküle obigen Typs entscheidet, ob ein Theorem
der Form (ϕ, ϕ) abgeleitet werden kann?
128 2 Formale Systeme
Aufgabe 2.5 Ergänzen Sie die Wahrheitstafeln der folgenden aussagenlogischen Formeln. Sind die For-
meln erfüllbar, allgemeingültig oder unerfüllbar?
Webcode
2235 I ϕ1 = (¬A ∨ B) ∧ (¬B ∨ C) ∧ (¬C ∨ A)
A B C ¬A ∨ B ¬B ∨ C ¬C ∨ A (¬A ∨ B) ∧ (¬B ∨ C) ϕ1
I ϕ2 = (A → B) ∧ (B → C) → (A → C)
I ϕ3 = (A B) ∧ (B C) ∧ (A C)
Das Dirichlet’sche Schubfachprinzip ist nach dem deutschen Mathematiker Peter Gustav Aufgabe 2.6
Lejeune Dirichlet benannt. Es besagt, dass eine endliche Menge M nicht injektiv auf eine
Menge N abgebildet werden kann, wenn N weniger Elemente enthält als M. Jedem von Webcode
uns ist das Schubfachprinzip aus dem Alltag geläufig. Verteilen wir m Gegenstände auf n 2857
Schubfächer und gilt m > n, so muss mindestens ein Schubfach mehrere Gegenstände ent-
halten. Im angelsächsischen Raum wird das Dirichlet’sche Schubfachprinzip als pigeonhole
principle (Taubenschlagprinzip) bezeichnet. Auch hier ist die angestellte Überlegung die
gleiche: Verteilen sich m Tauben auf n Taubenschläge und gilt m > n, so ist mindestens ein
Taubenschlag mehrfach besetzt.
In Abschnitt 2.3.1 haben wir gezeigt, dass sich jede aussagenlogische Formel so umschreiben Aufgabe 2.7
lässt, dass ausschließlich die Operatoren ‚¬‘ und ‚→‘ darin vorkommen. Wir sagen, die
Menge {¬, →} ist ein vollständiges Operatorensystem. Webcode
2123
In dieser Aufgabe betrachten wir die binären Operatoren ‚∧‘ (nand) und ‚∨‘ (nor) mit
b) Weisen Sie nach, dass ‚∧‘ und ‚∨‘ die beiden einzigen binären Operatoren sind, die
allein ein vollständiges Operatorensystem bilden.
130 2 Formale Systeme
Aufgabe 2.8 Die aussagenlogischen Quantoren ‚∀‘ und ‚∃‘ seien folgendermaßen definiert:
Webcode ∀ x ϕ := ϕ[x ← 0] ∧ ϕ[x ← 1]
2956 ∃ x ϕ := ϕ[x ← 0] ∨ ϕ[x ← 1]
a) Worin unterscheiden sich diese Quantoren von jenen, die in der Prädikatenlogik verwendet
werden?
b) Es sei ϕ eine PL0-Formel, in der x die einzige Variable ist. Welche der folgenden Aussa-
gen sind richtig?
c) Welche der folgenden Äquivalenzen sind richtig, und welche sind falsch?
∀ x (ϕ ∧ ψ) ≡ ∀ x ϕ ∧ ∀ x ψ ∃ x (ϕ ∧ ψ) ≡ ∃ x ϕ ∧ ∃ x ψ
∀ x (ϕ ∨ ψ) ≡ ∀ x ϕ ∨ ∀ x ψ ∃ x (ϕ ∨ ψ) ≡ ∃ x ϕ ∨ ∃ x ψ
Aufgabe 2.9 In einer Klausur habe ich vor geraumer Zeit die folgende Aufgabe gestellt:
Webcode Es sei ϕ eine aussagenlogische Formel, in der die Variable x vorkommt. Andere Variablen
2034 kommen in ϕ nicht vor. Zeigen oder widerlegen Sie die folgende Behauptung: „ϕ ist entweder
zu der Formel x äquivalent oder zu der Formel ¬x“
Die Studenten haben übersehen, dass beispielsweise mit ϕ = x ∨ ¬x eine Formel existiert,
die weder zu x noch zu ¬x äquivalent ist. An welcher Stelle haben sie in ihrem Beweis einen
Fehler gemacht?
2.7 Übungsaufgaben 131
Russell und Whitehead haben den aussagenlogischen Kalkül der Principia Mathematica auf Aufgabe 2.10
den folgenden fünf Axiomen aufgebaut:
Webcode
1. ϕ ∨ ϕ → ϕ (Taut) 2865
2. ψ → ϕ ∨ ψ (Add)
3. ϕ ∨ ψ → ψ ∨ ϕ (Perm)
4. ϕ ∨ (ψ ∨ χ) → ψ ∨ (ϕ ∨ χ) (Assoc)
5. (ψ → χ) → (ϕ ∨ ψ → ϕ ∨ χ) (Sum)
Hilberts Schüler Paul Bernays hat gezeigt, dass die aussagenlogischen Axiome der Principia
nicht unabhängig voneinander sind und das vierte Axiom (Assoc) aus den anderen formal
hergeleitet werden kann.
Die folgende Ableitungssequenz ist eine Adaption des Originalbeweises aus der 1926 er-
schienenen Arbeit Axiomatische Untersuchung des Aussagen-Kalküls der Principia Mathe-
matica [10]. In dieser Publikation hat Paul Bernays die Ergebnisse seiner Habilitationsschrift
aus dem Jahr 1918 zusammengefasst.
1. χ → ϕ ∨ χ ( )
2. (Sum)
3. ψ ∨ χ → ψ ∨ (ϕ ∨ χ) (MP, 1,2)
4. ( )
5. ϕ ∨ (ψ ∨ χ) → ϕ ∨ (ψ ∨ (ϕ ∨ χ)) (MP, 3,4)
6. ϕ ∨ (ψ ∨ (ϕ ∨ χ)) → (ψ ∨ (ϕ ∨ χ)) ∨ ϕ ( )
7. (MB, 5,6)
8. ϕ → χ ∨ ϕ ( )
9. ( )
10. ϕ → ϕ ∨ χ (MB, 8,9)
11. ϕ ∨ χ → ψ ∨ (ϕ ∨ χ) ( )
12. (MB, 10,11)
13. (Sum)
14. (ψ ∨ (ϕ ∨ χ)) ∨ ϕ → (ψ ∨ (ϕ ∨ χ)) ∨ (ψ ∨ (ϕ ∨ χ)) (MP, 12,13)
15. ( )
16. (ψ ∨ (ϕ ∨ χ)) ∨ ϕ → ψ ∨ (ϕ ∨ χ) (MB, 14,15)
17. ϕ ∨ (ψ ∨ χ) → ψ ∨ (ϕ ∨ χ) ( )
Versuchen Sie, den Beweis, der hier nur lückenhaft abgedruckt ist, vollständig zu rekonstru-
ieren.
132 2 Formale Systeme
Aufgabe 2.12 In Abschnitt 2.5 haben Sie die Prädikatenlogik erster Stufe mit Gleichheit kennen gelernt. Ist
es in dieser Logik möglich, Formeln mit den nachstehenden Eigenschaften zu konstruieren?
Webcode
2698 (U, I) |= ϕ≥n ⇔ U besitzt mindestens n Elemente
(U, I) |= ϕ≤n ⇔ U besitzt höchstens n Elemente
(U, I) |= ϕ=n ⇔ U besitzt genau n Elemente
Formalisieren Sie die Aussage „Jede reflexive, linkskomparative Relation ist symmetrisch“
in der Prädikatenlogik erster Stufe. Versuchen Sie anschließend, die Aussage im prädikaten-
logischen Kalkül zu verifizieren. Um die Aufgabe nicht unnötig zu erschweren, dürfen Sie
alle aussagenlogischen Tautologien als bereits bewiesen ansehen.
Aufgabe 2.14 Nehmen Sie an, die Schlussregeln eines formalen Systems seien so beschaffen, dass die
erzeugten Theoreme in jedem Schritt länger werden, d. h., die Konklusion stets aus mehr
Webcode Zeichen besteht als die Prämissen.
2128
→ → →
ϕ1 ϕ2 ϕ3 ϕ4
|ϕ2 | > |ϕ1 | |ϕ3 | > |ϕ2 | |ϕ4 | > |ϕ3 |
In Abschnitt 2.6 haben wir erarbeitet, wie sich der Begriff der Endlichkeit innerhalb der Aufgabe 2.15
Prädikatenlogik zweiter Stufe definieren lässt. Im Kern stand die Idee, mithilfe einer Formel
zu behaupten, jede injektive Funktion sei surjektiv. Hätten wir den Begriff auch über die Webcode
Forderung definieren können, dass jede surjektive Funktion auch injektiv ist? 2952
Welche Begriffe werden durch die nachstehenden Formeln definiert? Aufgabe 2.16
a) ∀ f (∀ x ∃ y (x =
˙ f(y)) → ∀ x ∀ y (f(x) =
˙ f(y) → x =
˙ y)) Webcode
2999
b) ∃ R (∀ x ∀ y ∀ z (R(x, y) ∧ R(y, z) → R(x, z)) ∧ ∀ x (¬R(x, x) ∧ ∃ y R(x, y)))
3 Fundamente der Mathematik
3.1 Peano-Arithmetik
Arithmetische Terme Abkürzung
0 Die Peano-Arithmetik, kurz PA, ist die Theorie der natürlichen Zahlen,
x1 zusammen mit der Addition und der Multiplikation. Genau wie im Fall
der Beispielkalküle aus Kapitel 2 nähern wir uns in mehreren Schritten.
(x1 × x2 ) In Abschnitt 3.1.1 legen wir die Syntax der Peano-Arithmetik fest, d. h.,
s(0) 1 wir vereinbaren, nach welchen Regeln arithmetische Terme und arith-
metische Formeln aufgebaut sind. Anschließend definieren wir in Ab-
s(s(s(s(s(0))))) 5 schnitt 3.1.2 die Semantik, indem wir die Formelbestandteile mit einer
(x1 × s(s(0))) x1 × 2 konkreten Bedeutung belegen. Danach führen wir in Abschnitt 3.1.3 die
Axiome sowie den logischen Schlussapparat der Peano-Arithmetik ein
(s(0) + s(s(0))) 1+2
und demonstrieren anhand mehrerer Beispiele, wie sich arithmetische
(s(0) × (x1 + x2 )) 1 × (x1 + x2 ) Aussagen formal beweisen lassen.
haben wir bereits in Abschnitt 2.1 einge- Die Menge der arithmetischen Terme ist induktiv definiert:
führt; sie wird uns auch hier als wertvolle
I 0, x1 , x2 , x3 , . . . sind arithmetische Terme.
Schreiberleichterung dienen.
I Sind σ und τ arithmetische Terme, so sind es auch
Arithmetische Formeln
s(σ ), (σ + τ), (σ × τ)
∃ x1 2 × x1 = 6
∃ x1 x1 × x1 = 9 Die Menge der arithmetischen Formeln ist induktiv definiert:
∀ ξ ϕ, ∃ ξ ϕ mit ξ ∈ {x1 , x2 , x3 , . . .}
Tabelle 3.2: Beispiele arithmetischer For-
meln. Solange die Eindeutigkeit gewahrt
bleibt, werden wir zur Verbesserung der
Lesbarkeit auf die Niederschrift mancher In den Tabellen 3.1 und 3.2 sind mehrere Terme und Formeln aufge-
Klammerpaare verzichten. führt, die sich mit den vereinbarten Regeln bilden lassen.
3.1 Peano-Arithmetik 137
Äußerlich scheint sich die Sprache der Peano-Arithmetik nur wenig I Schema
von der Sprache der Prädikatenlogik abzuheben, und ein vergleichen-
I(0) := 0
der Blick auf Definition 2.14 bestätigt diese Vermutung. Der einzige
Unterschied zwischen beiden Sprachen besteht darin, dass der Vorrat I(s(σ )) := I(σ ) + 1
an Konstanten- und Funktionszeichen in der Peano-Arithmetik auf die I(σ1 + σ2 ) := I(σ1 ) + I(σ2 )
Symbole ‚0‘, ‚s‘, ‚+‘, ‚ב und der Vorrat an Prädikatzeichen auf das I(σ1 × σ2 ) := I(σ1 ) × I(σ2 )
Symbol ‚=‘ beschränkt ist. Die für prädikatenlogische Formeln ein-
geführten Schreiberleichterungen können wir daher bedenkenlos auf I Beispiel: σ = s(s(0)) + s(0)
arithmetische Formeln übertragen. Insbesondere werden wir uns auch I(σ ) = I(s(s(0)) + s(0))
hier erlauben, die Notation der Variablen von Fall zu Fall anzupassen
= I(s(s(0))) + I(s(0))
und auf das eine oder andere Klammerpaar zu verzichten, solange die
Schreibweise immer noch eindeutig ist. = I(s(0)) + 1 + I(0) + 1
= I(0) + 1 + 1 + 1
= 1+1+1
3.1.2 Semantik = 3
keine Variablen, so lässt sich I(σ ), wie in Abbildung 3.1 gezeigt, re-
„6 ist eine kursiv über den Termaufbau berechnen. Wie erwartet, beschreiben die
gerade Zahl“ Symbole ‚s‘, ‚+‘ und ‚ב die Nachfolgerfunktion, die Addition und die
„3 ist ein Teiler
Multiplikation.
von 9“
Seien Sie sich stets darüber im Klaren, dass die Modellrelation der
Peano-Arithmetik eine andere Bedeutung besitzt als die Modellrelati-
„7 ist größer als 6“ on der Aussagen- oder Prädikatenlogik. Dort drückt |= ϕ aus, dass die
Formel ϕ allgemeingültig ist, d. h., unter allen möglichen Interpretatio-
nen zu einer wahren Aussage wird. Im Fall der Peano-Arithmetik ist
dies anders: Hier haben wir mit den natürlichen Zahlen eine ganz be-
„Jede natürliche Zahl stimmte Interpretation im Sinn. Wir nennen sie die Standardinterpreta-
ist die Summe von vier tion und vereinbaren für sie die Kurzschreibweise (N, {s, +, ×}). In der
Quadratzahlen“ Peano-Arithmetik drückt |= ϕ somit aus, dass ϕ eine wahre Aussage
ist, wenn wir die Symbole im Sinne der Standardinterpretation deuten.
Noch prägnanter können wir den Zusammenhang so aufschreiben:
σ | τ := ∃ ξ σ × ξ = τ
I ∃ x1 7 = 6 + x1
Die Formel ist eine andere Formulierung für die Beziehung 7 ≥
6. Sie zeigt, dass sich die Vergleichsrelation ‚≥‘ problemlos auf
die Addition zurückführen lässt und damit innerhalb der Peano-
Arithmetik beschrieben werden kann. Genau wie im Fall der Teil-
barkeitsrelation wollen wir die Symbole ‚≥‘, ‚≤‘, ‚>‘ und ‚<‘ als
abkürzende Schreibweise innerhalb von arithmetischen Formeln zu-
lassen. Formal rechtfertigen wir die Schreiberleichterung durch die
folgenden Definitionen:
(σ ≥ τ) := ∃ ξ σ = τ + ξ
(σ ≤ τ) := ∃ ξ σ + ξ = τ
(σ > τ) := ∃ ξ σ = τ + ξ + 1
(σ < τ) := ∃ ξ σ + ξ + 1 = τ
∃ (ξ > σ ) ϕ := ∃ ξ (ξ > σ ∧ ϕ)
∀ (ξ > σ ) ϕ := ∀ ξ (ξ > σ → ϕ)
Eine analoge Definition gelte für die Operatoren ‚<‘, ‚≥‘ und ‚≤‘.
I ∀ z ∃ x1 ∃ x2 ∃ x3 ∃ x4 z = x1 × x1 + x2 × x2 + x3 × x3 + x4 × x4
Die Formel ist eine formale Beschreibung des Vier-Quadrate-Satzes
von Lagrange. Dieser besagt, dass sich jede natürliche Zahl als Sum-
me von vier Quadratzahlen schreiben lässt. In Abschnitt 5.4.3 wird
uns dieser Satz im Zusammenhang mit dem zehnten Hilbert’schen
Problem erneut begegnen.
I ∀ z (z | 7) → (z = 1 ∨ z = 7)
Diese Formel besagt, dass für alle natürlichen Zahlen z, die ein Tei-
ler von 7 sind, die Beziehung z = 1 oder z = 7 gilt. Damit ist die
Formel äquivalent zu der Aussage „7 ist eine Primzahl“. Auch hier
wollen wir durch eine entsprechende Definition für Schreiberleich-
terung sorgen:
prime(σ ) := ¬(σ = 1) ∧ ∀ ξ (ξ | σ → (ξ = 1 ∨ ξ = σ ))
Vergessen Sie nicht, dass die neu eingeführten Operatoren lediglich den
Stellenwert von syntaktischen Abkürzungen haben und die Ausdrucks-
stärke der Peano-Arithmetik nicht erhöhen. Auch wenn sie prinzipiell
entbehrlich sind, erweisen sie uns wertvolle Dienste. Neben der Tatsa-
che, dass wir mit den eingeführten Abkürzungen viele Formeln deutlich
kompakter aufschreiben können, tragen Sie in großem Maße zu deren
Verständnis bei. Als Beispiel zeigt Abbildung 3.3, welche Darstellung
der Euklid’sche Satz besäße, wenn wir uns ausschließlich der syntakti-
schen Grundbausteine aus Definition 3.1 bedienten. Ihre wahre Bedeu-
tung ist der entstandenen Formel kaum noch anzusehen.
Mit der Formel ∃1 x ϕ(x) können wir auf kompakte Weise ausdrücken,
dass ϕ(x) für genau eine Belegung von x wahr wird. Die Aussage ist
stärker als jene der Formel ∃ x ϕ(x); diese besagt lediglich, dass min-
destens eine derartige Belegung existieren muss.
3.1 Peano-Arithmetik 141
Nachdem wir im vorigen Abschnitt die Syntax und die Semantik der
Peano-Arithmetik festgelegt haben, wollen wir in diesem Abschnitt die ...
Axiome und Schlussregeln ins Rampenlicht rücken. Um die tiefere Be-
deutung der Axiome zu verstehen, wollen wir zunächst versuchen, die
natürlichen Zahlen über ihre Eigenschaften zu charakterisieren. Abbildung 3.4: Kettenförmige Struktur der
natürlichen Zahlen
Die ersten beiden Axiome fließen wie von selbst aus der Feder:
I „Hat die Zahl 0 die Eigenschaft ϕ und folgt aus ϕ(x) I ϕ(0) → (∀ x (ϕ(x) → ϕ(s(x))) → ∀ x ϕ(x))
stets ϕ(s(x)), so haben alle natürlichen Zahlen die
Eigenschaft ϕ.“
Abbildung 3.7: Die Peano-Axiome, links in einer umgangssprachlichen Formulierung und rechts in der modernen Schreibwei-
se der Peano-Arithmetik.
I „Hat die Zahl 0 die Eigenschaft ϕ und folgt aus ϕ(x) stets ϕ(s(x)),
so haben alle natürlichen Zahlen die Eigenschaft ϕ.“ (P5)
(P1) bis (P5) sind die berühmten Peano-Axiome, die Giuseppe Peano im
Jahr 1889 in seinem Werk Arithmetices principia veröffentlichte. In Ab-
bildung 1.30 hatten wir einen Auszug aus der übersetzten Originalarbeit
bereits kennen gelernt.
Die Beispiele in den Abbildungen 3.4 bis 3.6 haben gezeigt, dass wir
auf kein Peano-Axiom verzichten können. Entfernen wir auch nur eines,
so existieren neben den natürlichen Zahlen weitere Strukturen, die alle
verbleibenden Axiome erfüllen. Die gegenteilige Fragestellung ist nicht
weniger wichtig: Sind die natürlichen Zahlen durch die Peano-Axiome
vollständig charakterisiert oder müssen wir weitere Axiome hinzufü-
gen, um eine eindeutige Beschreibung zu erhalten? Der berühmte Iso-
morphiesatz von Richard Dedekind gibt eine beruhigende Antwort. Er
besagt, dass die natürlichen Zahlen durch die Axiome (P1) bis (P5) bis
auf Isomorphie eindeutig charakterisiert sind, d. h., bis auf die Art und
Weise, wie wir die Zahlen benennen oder niederschreiben.
Jetzt haben wir das nötige Wissen beisammen, um die Axiome und
Schlussregeln der Peano-Arithmetik in ihrer ganzen Fülle zu verstehen.
Zunächst zeigt Abbildung 3.7, wie die umgangssprachlich formulierten
3.1 Peano-Arithmetik 143
Theorieaxiome Logikaxiome
σ = τ → (σ = ρ → τ = ρ) (S1) ϕ → (ψ → ϕ) (A1)
σ +0 = σ (S5) ∀ ξ (ϕ → ψ) → (ϕ → ∀ ξ ψ) (ξ ∈ ϕ) (A5)
σ ×0 = 0 (S7) ϕ, ϕ → ψ
(MP)
ψ
σ × s(τ) = (σ × τ) + σ (S8)
ϕ
(G)
ϕ(0) → (∀ x (ϕ(x) → ϕ(s(x))) → ∀ x ϕ(x)) (S9) ∀ξ ϕ
Ableitbare Theoreme Sie sind eins zu eins der Prädikatenlogik entnommen und machen die
Peano-Arithmetik zu einer Theorie erster Stufe.
I Theorem PA1
σ =σ Alle Axiome sind als Axiomenschemata ausgelegt. Hierin stehen die
Platzhalter σ und τ für Terme, ϕ, ψ und χ für Formeln und ξ für eine
I Theorem PA2 Variable.
σ =τ →τ =σ
Wir wollen kurz innehalten und unsere Aufmerksamkeit erneut auf das
I Theorem PA3 Induktionsaxiom lenken. Ein gezielter Blick auf die verschiedenen For-
σ = τ → (τ = ρ → σ = ρ) mulierungen zeigt, dass die formalisierte Variante (S9) eine prädikaten-
logische Formel erster Stufe, die umgangssprachliche Variante (P5) da-
I Theorem PA4
gegen eine Aussage zweiter Stufe ist. Dass wir tatsächlich eine Aussage
σ = τ → (ρ = τ → σ = ρ)
zweiter Stufe vor uns haben, ist leicht einzusehen. Indem das Induk-
I Theorem PA5 tionsaxiom eine Aussage über beliebige Eigenschaften der natürlichen
∀ x (σ = τ → σ + x = τ + x) Zahlen macht, quantifiziert es über Prädikate. In der Peano-Arithmetik
wird der Sachverhalt dadurch nachgebildet, dass wir (S9) als Axiomen-
I Theorem PA6 schema ausgelegt haben. Da wir den Platzhalter ϕ durch eine beliebige
∀ x (x = 0 + x) Formel ersetzen dürfen, gibt es in der Peano-Arithmetik nicht ein einzi-
ges Induktionsaxiom, sondern unendlich viele.
I Theorem PA7
σ + 1 = s(σ ) Auf den ersten Blick scheint es uns mit diesem Trick tatsächlich ge-
lungen zu sein, die umgangssprachliche Formulierung des Induktions-
I Theorem PA8 axioms formal zu erfassen. Auf den zweiten Blick wird jedoch schnell
σ ×1 = σ deutlich, dass wir einer exakten Formalisierung lediglich sehr nahe
kommen. Konkret stehen wir vor dem Problem, dass uns das Axiomen-
Tabelle 3.4: Eine kleine Auswahl arithmeti-
schema nicht die Gültigkeit des Induktionsprinzips für alle Eigenschaf-
scher Formeln, die sich im formalen System ten garantiert, sondern lediglich für jene, die sich durch eine Formel be-
der Peano-Arithmetik beweisen lassen. schreiben lassen. Da nur abzählbar viele Formeln existieren, kann das
Schema nur einen Teil der überabzählbar vielen Eigenschaften erfas-
sen. Für den Moment wollen wir diesen unscheinbaren Schönheitsfehler
ignorieren. Zu gegebener Zeit, in Abschnitt 7.2, werden wir die Thema-
tik wieder aufgreifen und zeigen, welch weitreichende Konsequenzen
sich aus diesem Phänomen tatsächlich ergeben.
Wir wollen unseren Kalkül nun zum Leben erwecken und nacheinander
die in Tabelle 3.4 aufgeführten Theoreme beweisen. Sie werden feststel-
len, dass sich die Beweisführung kaum von jener aus Abschnitt 2.4 un-
terscheidet; schließlich verwendet die Peano-Arithmetik den gleichen
logischen Schlussapparat wie die Prädikatenlogik erster Stufe. Damit
dürfen wir nicht nur den Fundus bisher bewiesener Tautologien nut-
zen, sondern auch auf sämtliche Hilfsmittel zurückgreifen, die wir im
Zusammenhang mit dem prädikatenlogischen Kalkül erarbeitet haben.
Allem voran wird uns auch hier das Deduktionstheorem treu zur Seite
stehen.
5. {σ = τ} σ + 0 = τ (DT)
6. σ + 0 = τ → (τ + 0 = τ → σ + 0 = τ + 0) (PA4)
7. {σ = τ} τ + 0 = τ → σ + 0 = τ + 0 (MP, 5,6)
8. {σ = τ} σ + 0 = τ + 0 (MP, 2,7)
9. σ = τ → σ + 0 = τ + 0 (DT)
An dieser Stelle ist der 10. ψ(0) (Definition)
Induktionsanfang bewiesen 11. {ψ(x)} σ = τ → (σ + x = τ + x) (Satz 2.4)
12. {ψ(x), σ = τ} σ + x = τ + x (DT)
13. σ + s(x) = s(σ + x) (S6)
14. τ + s(x) = s(τ + x) (S6)
15. σ + x = τ + x → s(σ + x) = s(τ + x) (S2)
16. {ψ(x), σ = τ} s(σ + x) = s(τ + x) (MP, 12,15)
17. σ + s(x) = s(σ + x) →
(s(σ + x) = s(τ + x) → σ + s(x) = s(τ + x)) (PA3)
18. s(σ + x) = s(τ + x) → σ + s(x) = s(τ + x) (MP, 13,17)
19. {ψ(x), σ = τ} σ + s(x) = s(τ + x) (MP, 16,18)
20. σ + s(x) = s(τ + x) →
(τ + s(x) = s(τ + x) → σ + s(x) = τ + s(x)) (PA4)
21. {ψ(x), σ = τ}
τ + s(x) = s(τ + x) → σ + s(x) = τ + s(x) (MP, 19,20)
22. {ψ(x), σ = τ} σ + s(x) = τ + s(x) (MP, 14,21)
23. {ψ(x)} σ = τ → σ + s(x) = τ + s(x) (DT)
24. {ψ(x)} ψ(s(x)) (Definition)
25. ψ(x) → ψ(s(x)) (DT)
An dieser Stelle ist der 26. ∀ x (ψ(x) → ψ(s(x))) (G, 25)
Induktionsschritt bewiesen 27. ψ(0) → (∀ x (ψ(x) → ψ(s(x))) → ∀ x ψ(x)) (S9)
28. ∀ x (ψ(x) → ψ(s(x))) → ∀ x ψ(x) (MP, 10,27)
29. ∀ x ψ(x) (MP, 26,28)
30. ∀ x (σ = τ → σ + x = τ + x) (Definition)
1.
σ × s(0) = (σ × 0) + σ (S8) Theorem PA8
2.
σ ×0 = 0 (S7) σ ×1 = σ
3.
∀ x (σ × 0 = 0 → (σ × 0) + x = 0 + x) (PA5)
4.
∀ x (σ × 0 = 0 → (σ × 0) + x = 0 + x) →
(σ × 0 = 0 → (σ × 0) + σ = 0 + σ ) (A4)
5. σ × 0 = 0 → (σ × 0) + σ = 0 + σ (MP, 3,4)
6. (σ × 0) + σ = 0 + σ (MP, 2,5)
7. σ × s(0) = (σ × 0) + σ →
148 3 Fundamente der Mathematik
Nach einer langer Reise sind wir endlich am Ziel: Es ist uns gelungen,
sämtliche Theoreme aus Tabelle 3.4 im System der Peano-Arithmetik
formal zu beweisen. Dass wir die Beispiele in dieser Ausführlichkeit
durchexerziert haben, hat einen einfachen Grund. Die pure Auflistung
der Axiome und Schlussregeln eines Kalküls vermittelt keinerlei Emp-
findung dafür, wie leicht oder wie schwer es ist, Theoreme tatsächlich
abzuleiten. Um einen Kalkül in seiner vollen Tiefe zu verstehen, führt
kein Weg daran vorbei, die Axiome und Schlussregeln zum Leben zu
erwecken, und genau das haben wir mit dem Beweis der Beispieltheo-
reme auch getan.
Bevor wir unseren Blick gänzlich von den bewiesenen Theoremen ab-
wenden, wollen wir noch einen wichtigen Spezialfall betrachten. Sub-
stituieren wir in den Theoremen (PA7) und (PA8) den Platzhalter σ
durch 1, so ergeben sich auf einen Schlag zwei der am häufigsten zitier-
ten Weisheiten über die natürlichen Zahlen.
Korollar 3.1
In diesem Abschnitt rücken wir mit der Mengenlehre eines der wich-
tigsten Teilgebiete der Mathematik in den Mittelpunkt unserer Betrach-
tung. Dass dem Begriff der Menge heute eine so große Bedeutung zu-
kommt, geht vor allem auf seine Ausdrucksstärke zurück. Die Men-
genlehre enthält nicht nur die Peano-Arithmetik als Untertheorie; sie
erweist sich sogar als stark genug, um sämtliche Begriffe der gewöhnli-
chen Mathematik zu formalisieren. Zusätzlich haben die zu Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts aufgetauchten Antinomien die Blicke vieler
Forscher auf dieses Teilgebiet der Mathematik gelenkt. Sie haben der
Mengenlehre nicht nur zu unfreiwilliger Popularität verholfen, sondern
zugleich gezeigt, dass das Fundament der Mathematik ein fragiles ist,
dem wir uns mit großer Sorgfalt nähern müssen.
Unter dem Schirm der axiomatischen Mengenlehre versammeln sich Die Darstellung der axio-
heute viele Theorien, mit dem gemeinsamen Ziel, die Risse im Fun- matischen Mengenlehre un-
dament der Mathematik zu schließen. Eine der ältesten ist die Typen- terscheidet sich von jener
theorie. Als Herzstück der Principia Mathematica ist sie integraler Be- der Peano-Arithmetik in ei-
standteil jenes monumentalen Werks, das von Russell und Whitehead nem wichtigen Punkt. Anders als in Ab-
als vermeintliches Allheilmittel gegen die Antinomien der Mengenleh- schnitt 3.1 werden wir im Fall der Men-
re in Stellung gebracht wurde. Im Kern der Typentheorie steht der Ge- genlehre davon absehen, eine Standardin-
danke, jeder Menge eine Hierarchiestufe, einen Typ, zuzuordnen. In- terpretation zu definieren. Dass wir unsere
gewohnte Linie verlassen, hat einen trif-
dem nur solche Mengen als existent erachtet werden, die einen höhe-
tigen Grund: War es in der Peano-Arith-
ren Typ als ihre Elemente haben, sind selbstbezügliche Konstrukte wie metik vergleichsweise gefahrlos möglich,
die Menge aller Mengen a priori ausgeschlossen. Eine Vereinfachung unsere intuitive Vorstellung von den na-
hat die Typentheorie durch den amerikanischen Logiker Willard Van türlichen Zahlen in die Definition der Mo-
Orman Quine erfahren. Im Jahr 1937 publizierte er unter dem Namen dellrelation ‚|=‘ umzusetzen, so ist dies
New Foundations eine axiomatisierte Variante, die viele Defizite ihres in der Mengenlehre ungleich schwieri-
Vorgängers beseitigt [153, 154]. Seitdem gilt die Typentheorie in ihrer ger. Um eine Standardinterpretation zu
ursprünglichen Form als überholt. definieren, müssten wir uns zunächst auf
einen bestimmten Individuenbereich fest-
Heute wird der Mengenbegriff zumeist mit Theorien erklärt, die sich legen. Für die Peano-Arithmetik war dies
einer der beiden folgenden Kategorien zuordnen lassen: kein Problem: Dort entspricht der Indivi-
duenbereich schlicht der Menge der natür-
I Theorien über dem Mengenbegriff lichen Zahlen. Und in der Mengenlehre?
Der Individuenbereich wäre, wir wagen
Theorien dieser Kategorie kennen ausschließlich den Begriff der es kaum auszusprechen, die Menge aller
Menge. Ihr bekanntester Vertreter ist die Zermelo-Fraenkel-Men- Mengen. Würden wir eine Standardinter-
genlehre, kurz ZF, sowie die um das Auswahlaxiom erweiterte Va- pretation also tatsächlich auf diese nai-
riante ZFC (Zermelo-Fraenkel with Choice). Beide sind Theorien ve Weise bilden, so hätten wir der Rus-
erster Stufe und werden durch 9 bzw. 10 Axiome geformt, die von sell’schen Antinomie erneut Tür und Tor
Ernst Zermelo und Abraham Fraenkel in den Jahren 1908 bis 1921 geöffnet. Sie sehen, wie vorsichtig wir im
formuliert wurden. Ebenfalls zu dieser Kategorie zählt die weniger Falle der Mengenlehre tatsächlich agieren
müssen, um Widersprüche zu vermeiden.
bekannte Kripke-Platek-Mengenlehre (KP) [76].
150 3 Fundamente der Mathematik
3.2.1 Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre
3.2.1.1 ZF-Axiome
In diesem Abschnitt werden wir uns ausführlich mit dem Inhalt der
verschiedenen Theorieaxiome beschäftigen und die Zermelo-Fraenkel-
Mengenlehre so in ein helleres Licht rücken.
∀ x ∀ y (x = y ↔ x ⊆ y ∧ y ⊆ x)
Dieses Axiom postuliert die Existenz der leeren Menge. Von den kon-
struktiven Axiomen ist es das einzige, das uns eine Menge aus dem
Nichts heraus entstehen lässt. Alle anderen Axiome werden uns ledig-
lich erlauben, neue Mengen aus bestehenden zu erzeugen.
∃ x (∀ y y ∈ x ∧ ϕ[0/ ← x])
ϕ[0/ ← x]
für die Formel ϕ, in der jedes Vorkommen des Symbols 0/ durch die
neu eingeführte Variable x ersetzt wurde. Wenden wir die Ersetzung
beispielsweise auf den Ausdruck
0/ ∈ z
∃ x (∀ y y ∈ x ∧ x ∈ z) (3.1)
Dass die Ersetzung von 0/ vergleichsweise viel Mühe bereitet, hat einen
einfachen Grund: Während alle bisher eingeführten Abkürzungen den
Stellenwert von Prädikaten hatten, führen wir mit 0/ ein künstliches Kon-
stantensymbol ein. In der bereinigten Formel (3.1) wird die Konstante
durch die neu eingeführte Variable x beschrieben, und mithilfe der Va-
riablen y wird sichergestellt, dass x tatsächlich der leeren Menge ent-
spricht.
Zusammen mit dem Axiom der leeren Menge erlaubt das Paarungsaxi-
om die Konstruktion einer gehörigen Anzahl von Mengen, die sich in
gewöhnlicher mathematischer Notation wie folgt lesen:
/ {0},
0, / {0,
/ {0}},
/ {0,/ {0,
/ {0}}},
/ {{0},
/ {0,
/ {0}}},
/ {{0}},
/ ...
x = { 0,
/ {0,
/ {0}},
/ {{0}}
/ }
y = 0/ ∪ {0,
/ {0}}
/ ∪ {{0}}
/ = {0,
/ {0}}
/
Das Ersetzungsschema ist dem der leeren Menge sehr ähnlich. x und
y sind zwei neue Variablen, von denen x nicht in ϕ vorkommen darf,
und der Ausdruck ϕ[ξ ∪ ν ← x] steht für die Formel ϕ, in der jedes
Vorkommen der Zeichenkette ξ ∪ν durch die neu eingeführte Variable x
ersetzt wurde. Dass wir die zusätzliche Variable x tatsächlich benötigen,
hat einen ähnlichen Grund wie im Fall der leeren Menge. Wir haben mit
‚∪‘ ein neues Funktionssymbol geschaffen und benötigen die Variable
x, um den Funktionswert zu referenzieren.
3.2 Axiomatische Mengenlehre 155
Neben dem Symbol ‚∪‘ werden wir auch das Symbol ‚∩‘ verwenden,
um den Schnitt zweier Mengen zu beschreiben. Analog zu (3.2) kön-
nen wir jede Formel, die den Ausdruck ξ ∩ ν enthält, folgendermaßen
umschreiben:
∃ x (∀ y (y ∈ x ↔ y ∈ ξ ∧ y ∈ ν) ∧ ϕ[ξ ∩ ν ← x])
Dieses Axiom besagt, dass für jede Menge x und für jede Eigenschaft
P, die sich durch eine Formel ϕ beschreiben lässt, auch die Menge
y = {z ∈ x | P(z)}
Beachten Sie, dass der verwendete Ausdruck {y} kein natives Sprach-
element ist und im Vorgriff auf Abschnitt 3.2.1.3 verwendet wird. Dort
werden wir zeigen, wie sich der Ausdruck durch native Sprachelemente
ersetzen lässt.
...
Inhaltlich besagt das Axiom des Unendlichen, dass die Elemente
/ {0},
0, / {{0}},
/ {{{0}}},
/ {{{{0}}}},
/ {{{{{0}}}}},
/ ...
allesamt in x enthalten sind und trägt mit seinem Namen der Tatsache
Rechnung, dass die geforderte Eigenschaft von keiner endlichen Menge
erfüllt werden kann. Folgerichtig dürfen wir in der Zermelo-Fraenkel-
Mengenlehre immer davon ausgehen, dass Mengen mit unendlich vie-
len Elementen existieren.
Die Zermelo’sche Formulierung des Unendlichkeitsaxioms ist nicht die
einzig mögliche. In moderneren Abhandlungen über die Mengenlehre
wird das Axiom auch gerne so formuliert:
I ∃ x (0/ ∈ x ∧ ∀ (y ∈ x) y ∪ {y} ∈ x)
Das Axiom garantiert, dass zu jeder Menge x auch die Menge aller Teil-
mengen, d. h. die Potenzmenge y = P(x), existiert. Für
x = {x1 , x2 , x3 }
Das Axiom besagt, dass für jede Funktion f , die mit einer Formel ϕ
beschrieben werden kann, und jede Menge
x = {x1 , x2 , x3 , . . .}
Abraham Fraenkel führte das Ersetzungsaxiom als Ersatz für das Aus-
sonderungsaxiom von Ernst Zermelo ein. In der Tat können wir in ZF
das Aussonderungsaxiom aus dem Ersetzungsaxiom ableiten, nicht aber
umgekehrt. Kurzum: Zermelos Mengenlehre ist eine echte Untertheorie
158 3 Fundamente der Mathematik
John von Neumann war mit der Formulierung dieses Axioms unzufrie-
den, da es sich inhaltlich auf die anderen Axiome bezieht. In seiner
Mengenlehre aus dem Jahr 1925 ersetzte er es durch das Axiom der
Fundierung, das unendlich absteigende Inklusionsketten verbietet. Das
Axiom wurde 1930 von Zermelo aufgegriffen und in die oben zitierte
Form gebracht. Es besagt, dass wir in jeder nichtleeren Menge x ein Ele-
ment y vorfinden können, dessen Elemente allesamt von den Elementen
von x verschieden sind ( x ∩ y = 0)./
x1 ∈ x2 ∈ x3 . . . ∋ ∋ ∋ ∋
...
I ∀ x (x = 0/ → ∃ (y ∈ x) x ∩ y = 0)
/
ϕ(0)
/ := ∃ e ((∀ z z ∈ e) ∧ ϕ(e))
I ∃ e ((∀ z z ∈ e) ∧ ∀ x (x = e → ∃ (y ∈ x) x ∩ y = e))
∃ (y ∈ x) ϕ := ∃ y (y ∈ x ∧ ϕ)
I ∃ e ((∀ z z ∈ e) ∧ ∀ x (x = e → ∃ y (y ∈ x ∧ x ∩ y = e)))
ϕ(x ∩ y) := ∃ c (∀ b (b ∈ c ↔ b ∈ x ∧ b ∈ y) ∧ ϕ(c))
I ∃ c (∀ b (b ∈ c ↔ b ∈ x ∧ b ∈ y) ∧ ∃ e ((∀ z z ∈ e) ∧ ∀ x (x = e → ∃ y (y ∈ x ∧ c = e))))
x ∈ y := ¬(x ∈ y), x = y = ¬(x = y)
Abbildung 3.9: Ohne die vereinbarten Schreiberleichterungen wird das Fundierungsaxiom zu einem wahren Monster.
160 3 Fundamente der Mathematik
Es ist an der Zeit, uns dem zehnten und letzten Axiom der Zermelo-
Fraenkel-Mengenlehre zuzuwenden: Dem Auswahlaxiom (Axiom of
Choice, kurz AC). In der Vergangenheit wurde kontrovers diskutiert,
ob AC zu den anderen Axiomen der Mengenlehre überhaupt hinzuge-
nommen werden soll oder nicht. Bis heute ist die Diskussion nicht voll-
ständig verebbt, und so haben wir es streng genommen mit zwei un-
terschiedlichen Mengenlehren zu tun: der ZF-Mengenlehre, bestehend
aus den 9 Axiomen aus Abschnitt 3.2.1.1, und der ZFC-Mengenlehre
(Zermelo-Fraenkel with Choice), die zusätzlich das Auswahlaxiom um-
fasst. Bevor wir uns im Detail damit befassen, welche Konsequen-
zen sich aus der Hinzunahme dieses in mancher Hinsicht mysteriösen
Axioms ergeben, wollen wir zunächst seinen Inhalt offenlegen:
Für solche Mengen garantiert uns das Auswahlaxiom, dass wir aus je-
der Menge z ∈ x ein Element auswählen und die gewählten Elemente
anschließend in einer neuen Menge y zusammenfassen können.
∃ y ∀ (z ∈ x) ∃1 (w ∈ z) w ∈ y
Beachten Sie, dass uns das Auswahlaxiom lediglich die Existenz einer
Auswahlmenge zusichert, aber nicht erklärt, wie wir diese konstruieren
3.2 Axiomatische Mengenlehre 161
können. Das Axiom ist nicht konstruktiv. Des Weiteren wirkt es mehr I Beispiel 1: (Z \ {0}, ≺)
wie ein Theorem denn wie ein Axiom. Mit seiner sehr speziellen Aussa- Beispiel 1: mit x ≺ y :⇔ x < y ∧ |x| = |y|
ge erweckt es den Anschein, als müsse es sich aus den anderen Axiomen
-1 ≺ 1 -2 ≺ 2 -3 ≺ 3
als Konsequenz ergeben. Dass dem nicht so ist, haben Sie bereits in Ka-
... ...
pitel 1 auf Seite 63 erfahren. Das Auswahlaxiom ist von den anderen
Axiomen unabhängig und in ZF daher weder beweisbar noch wider- Ordnung: Ja
legbar [35, 71]. Genau wie im Fall der Kontinuumshypothese können Totale Ordnung: Nein
wir das Auswahlaxiom, oder alternativ auch dessen Negation, zu den Wohlordnung: Nein
anderen Axiomen hinzufügen, ohne einen Widerspruch zu erhalten.
Seiner Unbeweisbarkeit zum Trotz scheint das Auswahlaxiom dennoch I Beispiel 2: (Z, <)
eine intuitive Wahrheit auszudrücken. Warum sollte es nicht möglich
-2 < -1 < 0 < 1 < 2 < 3
sein, aus nichtleeren Mengen Elemente herauszunehmen? An die Aus- ... ...
wahl selbst haben wir ja keinerlei Bedingung geknüpft, so dass beliebi-
ge Elemente unseren Zweck erfüllen. Und wenn eine Menge unendlich Ordnung: Ja
viele Elemente enthält? Umso besser! Offensichtlich sind jetzt mehr Totale Ordnung: Ja
als genug Elemente vorhanden, um eines davon zu entnehmen. Nun, Wohlordnung: Nein
manchmal ist es ratsam, der eigenen Intuition zu misstrauen, insbeson-
dere dann, wenn wir dem Begriff der Unendlichkeit gefährlich nahe I Beispiel 3: (N, <)
kommen.
Wir wollen das Auswahlaxiom kurz beiseite stellen und einen bekann- 0 < 1 < 2 < 3 < 4 < 5 < 6
ten Begriff der Mathematik rekapitulieren: Den Begriff der Ordnung ...
(vgl. Abbildung 3.10 und Abbildung 3.11).
Ordnung: Ja
Totale Ordnung: Ja
Definition 3.4 (Ordnungsbegriffe) Wohlordnung: Ja
Abbildung 3.11: Ein Stück Geschichte. In seiner Arbeit aus dem Jahr 1883 charakterisierte Georg Cantor den Begriff der
Wohlordnung mithilfe von vier Eigenschaften, die sich auf den ersten Blick deutlich von jenen aus Definition 3.4 unterscheiden.
Dass beide Definitionen tatsächlich den gleichen Ordnungsbegriff beschreiben, bewies Cantor im Jahr 1897.
Vom Begriff der totalen Ordnung ist der Begriff der Wohlordnung nur
einen kleinen Schritt entfernt. Eine Totalordnung auf M ist genau dann
eine Wohlordnung, wenn sie zusätzlich die Eigenschaft erfüllt, dass je-
3.2 Axiomatische Mengenlehre 163
de nichtleere Teilmenge N ⊆ M ein minimales Element enthält. Es ist Der Begriff der Halbordnung
leicht einzusehen, dass die natürlichen Zahlen bezüglich ‚<‘ wohlge- wird in der Literatur unter-
ordnet sind; schließlich existiert in jeder Teilmenge von N ein Element, schiedlich definiert. In manchen Büchern
das kleiner ist als alle anderen. Betrachten wir hingegen die Menge der wird, wie hier, die Eigenschaft der Irre-
flexivität gefordert. Andere gehen von der
ganzen Zahlen, so wird die Wohlordnungseigenschaft bereits durch die
Eigenschaft der Reflexivität aus und for-
Menge Z selbst verletzt. Die Menge der ganzen Zahlen ist nach unten dern anstelle der Asymmetrie die Anti-
unbeschränkt und besitzt somit kein minimales Element. symmetrie. In der Mathematik wird eine
Relation als antisymmetrisch bezeichnet,
Genauso wenig ist die Menge der positiven rationalen Zahlen Q+
wenn die Beziehungen x < y und y < x
bezüglich ‚<‘ wohlgeordnet. Hier wird die Wohlordnungseigenschaft nur dann gleichzeitig gelten können, wenn
durch jedes linksseitig geöffnete Intervall verletzt. Trotzdem können wir x = y ist. Manche Autoren machen den
mit einem Trick die Elemente aus Q+ so umordnen, dass eine Wohlord- Unterschied explizit deutlich, indem sie
nung entsteht. Hierzu führen wir mit ‚≺‘ eine neue Ordnung ein, die wir ausdrücklich von irreflexiven oder reflexi-
für gekürzte Brüche folgendermaßen definieren (vgl. Abbildung 3.12): ven Ordnungen sprechen.
Beide Varianten haben ihre Berechtigung.
p1 p2 p1 < p2 falls p1 = p2 Beispielsweise ist die Teilmengenrelation
≺ :⇔
q1 q2 q1 < q2 falls p1 = p2 ⊆ eine reflexive Ordnung (es gilt stets
x ⊆ x) und die Elementrelation ∈ eine
Um unter zwei rationalen Zahlen qp11 und qp22 die kleinere zu bestimmen, irreflexive Ordnung (für keine Menge x
werden zunächst die beiden Zähler p1 und p2 verglichen. Ein kleine- gilt x ∈ x). Spätestens diese Beispiele ma-
rer Zähler ist in der neuen Vergleichsrelation gleichbedeutend mit einer chen klar, dass die maßgebende Eigen-
kleineren Zahl. Nur wenn die Zähler gleich sind, entscheiden die Nen- schaft einer Ordnungsrelation nicht de-
ner q1 und q2 darüber, welche Zahl die kleinere ist. Tatsächlich haben ren Irreflexivität oder Reflexivität ist, son-
wir es durch die Umsortierung geschafft, auf den rationalen Zahlen eine dern die asymmetrische bzw. antisymme-
Wohlordnung zu definieren. Wir können jetzt eine beliebige nichtleere trische Anordnung der Elemente zusam-
Teilmenge herausgreifen und werden immer ein eindeutiges Element men mit der Transitivität. Auch in un-
seren Betrachtungen spielt es keine Rol-
identifizieren können, das bezüglich ‚≺‘ minimal ist.
le, ob die untersuchten Ordnungsrelatio-
Der errungene Erfolg mag uns zu der Annahme verleiten, dass sich aus- nen irreflexiv oder reflexiv sind. Aus die-
nahmslos jede Menge wohlordnen lässt. In Satzform lautet unsere Ver- sem Grund werden wir die Unterschei-
mutung wie folgt: dung weitgehend ignorieren und immer
nur allgemein von Ordnungen sprechen.
Als Beispiel betrachten wir die reellen Zahlen. Bezüglich der gewöhn-
lichen Vergleichsoperation ‚<‘ ist R nicht wohlgeordnet, da z. B. jedes
nach links geöffnete Intervall die Wohlordnungseigenschaft verletzt.
Sollte sich der Wohlordnungssatz aber tatsächlich als wahr erweisen,
so müssten wir in der Lage sein, auch die Menge der reellen Zahlen
wohlzuordnen. Nehmen Sie sich an dieser Stelle ruhig etwas Zeit und
versuchen Sie, die reellen Zahlen so umzuordnen, dass eine Wohlord-
nung entsteht.
164 3 Fundamente der Mathematik
Wahrscheinlich haben Sie bemerkt, dass der Trick, der uns die rationa-
len Zahlen auf so einfache Weise wohlordnen ließ, im Fall der reellen
Zahlen versagt. Dass Sie mit Ihren Versuchen gescheitert sind, ist keine
1/1 1/2 1/3 ...
Schmach. Bis heute ist es niemandem gelungen, eine konstruktive Ord-
nungsvorschrift ‚≺‘ zu definieren, die zu einer Wohlordnung auf den
2/1 2/2 2/3 ... reellen Zahlen führt.
1) Es sei M eine beliebige Menge, [...] 6) Folgerungen. Haben zwei γ-Mengen ein Element a ge-
2) Jeder [nichtleeren] Teilmenge M [von M] denke man sich meinsam, so haben sie auch den Abschnitt A der vorangehen-
ein beliebiges Element m1 zugeordnet, das in M selbst vor- den Elemente gemein. Haben sie zwei Elemente a, b gemein,
kommt und das ‚ausgezeichnete‘ Element von M genannt so ist in beiden Mengen entweder a ≺ b oder b ≺ a.
werden möge. So entsteht eine ‚Belegung‘ γ der Menge M 7) Bezeichnet man als ‚γ-Element‘ jedes Element von M, das
[P(M) − {0}] mit Elementen der Menge M von besonderer in irgendeiner γ-Menge vorkommt, so gilt der Satz: Die Ge-
Art. [...] Im Folgenden wird nun eine beliebige Belegung γ samtheit Lγ aller γ-Elemente lässt sich so ordnen, dass sie
zugrunde gelegt und aus ihr eine bestimmte Wohlordnung der selbst eine γ-Menge darstellt, und umfasst alle Elemente der
Elemente von M abgeleitet. ursprünglichen Menge M. Die letztere ist damit selbst wohl-
3) Definition. Als ‚γ-Menge‘ werde bezeichnet jede wohlge- geordnet. [...] Somit entspricht jeder Belegung γ eine ganz
ordnete Menge Mγ [⊆ M], welche folgende Beschaffenheit bestimmte Wohlordnung der Menge M. [...]
besitzt: ist a ein beliebiges Element von Mγ und A der ‚zu- Der vorliegende Beweis beruht auf der Voraussetzung, dass
gehörige‘ Abschnitt, der aus den vorangehenden Elementen Belegungen γ überhaupt existieren, also auf dem Prinzip,
x ≺ a von Mγ besteht, so ist a immer das ‚ausgezeichnete dass es auch für eine unendliche Gesamtheit von Mengen
Element‘ von M − A. immer Zuordnungen gibt, bei denen jeder Menge eines ih-
4) Es gibt γ-Mengen innerhalb M. So ist z. B. m1 , das ausge- rer Elemente entspricht. [...]
zeichnete Element von M = M, selbst eine γ-Menge. [...] Die Idee, unter Berufung dieses Prinzip eine beliebige Bele-
5) Sind Mγ und Mγ irgend zwei verschiedene γ-Mengen (die gung γ der Wohlordnung zugrunde zu legen, verdanke ich
aber zu derselben ein für allemal gewählten Belegung gehö- Herrn Erhard Schmidt; meine Durchführung des Beweises
ren!), so ist immer eine von beiden identisch mit einem Ab- beruht dann auf der Verschmelzung der verschiedenen mög-
schnitte der anderen. [...] lichen ‚γ-Mengen‘, d. h. der durch das Ordnungsprinzip sich
ergebenden wohlgeordneten Abschnitte.
Abbildung 3.13: Beweis des Wohlordnungssatzes durch Ernst Zermelo [48, 222]. Zum ersten Mal äußerte er den Beweis
im Jahr 1904 in dem hier zitierten Brief an David Hilbert. Die farblich hervorgehobenen Passagen zeigen, dass Zermelo das
Auswahlaxiom in einer etwas anderen Form verwendet hat, als es heute üblich ist. Zum einen postulierte er nicht die Existenz
einer Auswahlmenge, sondern die Existenz einer Auswahlfunktion. Zum anderen verzichtete auf die heute übliche Forderung,
dass die Mengen, aus denen ausgewählt wird, paarweise disjunkt sein müssen.
ersetzen können. In dieser Formel wird ψ(x) so gewählt, dass die Men-
ge {ξ1 , . . . , ξn } eindeutig durch die neu eingeführte Variable x beschrie-
I !! , ", "
ben wird. Natürlich darf anstelle von x auch jede andere Variable ver-
wendet werden, die nicht in ϕ vorkommt.
Als Beispiel seien die Mengen y = {y1 } und x = {x1 , x2 } gegeben. Die
Menge y können wir durch die Formel
ψ1 (y) := y1 ∈ y ∧ ∀ (z ∈ y) z = y1
ψ2 (x) := x1 ∈ x ∧ x2 ∈ x ∧ ∀ (z ∈ x) (z = x1 ∨ z = x2 )
∀ (y ∈ x) ∃ u ∃ v y = !u, v" ∀ (y ∈ x) ∃ u ∃ v
∃ z1 ((u ∈ z1 ∧
I Definition des geordneten Paares ∃ z1 ((∀ (z ∈ z1 ) z = u) ∧
∀ (y ∈ x) ∃ u ∃ v y = {{u}, {u, v}} ∃ z2 ((u ∈ z2 ∧ v ∈ z2 ∧
∃ z2 ((∀ (z ∈ z2 ) (z = u ∨ z = v)) ∧
I Auflösen von {{u}, {u, v}} ∃ z (z1 ∈ z ∧ z2 ∈ z ∧
∃ z ( ∀ (z ∈ z) (z = z1 ∧ z = z2 ) ∧
∀ (y ∈ x) ∃ u ∃ v
∃ z ( y = z)))
∃ z ({u} ∈ z ∧ {u, v} ∈ z ∧
∃ z ( ∀ (z ∈ z) (z = {u} ∨ z = {u, v}) ∧
∃ z ( y = z) I Eliminieren der bedingten Quantoren
∀ y (y ∈ x → ∃ u ∃ v
I Auflösen von {u}
∃ z1 ((u ∈ z1 ∧
∀ (y ∈ x) ∃ u ∃ v ∃ z1 ((∀ z (z ∈ z1 → z = u)) ∧
∃ z1 ((u ∈ z1 ∧ ∃ z2 ((u ∈ z2 ∧ v ∈ z2 ∧
∃ z1 ((∀ (z ∈ z1 ) z = u) ∧ ∃ z2 ((∀ z (z ∈ z2 → (z = u ∨ z = v))) ∧
∃ z (z1 ∈ z ∧ {u, v} ∈ z ∧ ∃ z (z1 ∈ z ∧ z2 ∈ z ∧
∃ z ( ∀ (z ∈ z) (z = z1 ∧ z = {u, v}) ∧ ∃ z ( ∀ z (z ∈ z → (z = z1 ∧ z = z2 )) ∧
∃ z ( y = z)) ∃ z ( y = z))))
Paar !ξ , ν" eine feste Position, d. h., wir müssen einen Weg finden, um
die Positionsinformation in eine gewöhnliche Menge hineinzucodieren.
Hierzu bedienen wir uns eines einfachen, aber eleganten Tricks (Abbil-
dung 3.14) und setzen
!ξ , ν" := { {ξ }, {ξ , ν} }
I Partielle Funktion gender Weise auf geordnete Tupel beliebiger Größe erweitern:
„Kein Element des Definitionsbereichs
wird auf mehr als ein Element des !ξ1 " := ξ1
Wertebereichs abgebildet“ !ξ1 , . . . , ξn+1 " := !!ξ1 , . . . , ξn ", ξn+1 "
Der eingeschlagene Kurs führt uns auf direktem Weg zum Begriff der
Relation. Formal gesehen verbirgt sich hinter einer Relation eine Menge
ξ von geordneten Paaren, so dass wir die Aussage „ξ ist eine Relati-
on“ wie folgt innerhalb der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre beschrei-
ben können:
An mehreren Stellen dieses Buchs wurde betont, dass wir die Zermelo-
Fraenkel-Mengenlehre als das formale Fundament der Mathematik an-
sehen dürfen. Eine erste Rechtfertigung halten wir bereits in Händen.
Die Beispiele des geordneten Paares, der Relation und der Funktion ha-
ben gezeigt, dass ganz gewöhnliche Begriffe der Mathematik innerhalb
der Mengenlehre beschrieben werden können. Zusätzlich werden wir
in Abschnitt 3.2.2 erarbeiten, wie sich der Zahlenbegriff auf den Men-
genbegriff reduzieren lässt. Sobald die natürlichen Zahlen formalisiert
3.2 Axiomatische Mengenlehre 169
sind, können wir darauf aufbauen und die ganzen Zahlen definieren. Mengentheoretische Hilfstheoreme
Auf den ganzen Zahlen lässt sich die Theorie der rationalen Zahlen er-
richten und hierauf wiederum die Theorie der reellen Zahlen. Setzen
ξ ∈ {ξ , ν} (H1)
wir den Abstraktionsprozess fort, so erreichen wir sämtliche Gebiete
der gewöhnlichen Mathematik; sie sind die Äste eines Baums, dessen ξ ∈ {ν, ξ } (H2)
Wurzel im Fundament der Mengenlehre einen festen Halt gefunden hat. ξ ∈ {ν, μ} → (ξ = ν ∨ ξ = μ) (H3)
Eine Warnung vorweg: Widerstehen Sie der Versuchung, die Rolle der
Hilfstheoreme zu unterschätzen! Auch wenn sie inhaltlich einer An-
sammlung von Trivialitäten gleichen, sind sie nicht in jedem Fall ein-
fach zu beweisen. Führten wir die Beweise zusätzlich auf, so würde sich
die nun folgende Ableitung um mehrere Seiten verlängern.
22. !x, y" = !u, v" {{u}, {u, v}} = {{x}, {x, y}} (MP, 1,21)
23. !x, y" = !u, v" {u, v} ∈ {{x}, {x, y}} (MP, 20,22) so, {u, v} ∈ {{x}, {x, y}}.
24. {u, v} ∈ {{x}, {x, y}} → ({u, v} = {x} ∨ {u, v} = {x, y}) (H3)
25. !x, y" = !u, v" {u, v} = {x} ∨ {u, v} = {x, y} (MP, 23,24) Then, {u, v} = {x} or {u, v} = {x, y}.
26. {x, y} ∈ {{x}, {x, y}} (H2) Similarly,
27. {x, y} ∈ {{x}, {x, y}} →
({{x}, {x, y}} = {{u}, {u, v}} → {x, y} ∈ {{u}, {u, v}}) (H4)
28. {{x}, {x, y}} = {{u}, {u, v}} →
{x, y} ∈ {{u}, {u, v}} (MP, 26,27)
29. !x, y" = !u, v" {x, y} ∈ {{u}, {u, v}} (MP, 1,28)
30. {x, y} ∈ {{u}, {u, v}} → ({x, y} = {u} ∨ {x, y} = {u, v}) (H3)
31. !x, y" = !u, v" {x, y} = {u} ∨ {x, y} = {u, v} (MP, 29,30) {x, y} = {u} or {x, y} = {u, v}.
32. !x, y" = !u, v" {x, y} = {u} → {x, y} = {u, v} (31, Def. ∨)
33. !x, y" = !u, v", {x, y} = {u} {x, y} = {u, v} (DT)
34. {x, y} = {u, v} → {u, v} = {x, y} (H5)
35. !x, y" = !u, v", {x, y} = {u} {u, v} = {x, y} (MP, 33,34)
36. !x, y" = !u, v" {x, y} = {u} → {u, v} = {x, y} (DT)
37. !x, y" = !u, v" {x, y} = {u} ∨ {u, v} = {x, y} (36, Def. ∨)
38. {x, y} = {u} → u = x (H9)
39. {x, y} = {u} u = x (DT)
40. {x, y} = {u} → y = u (H10)
41. {x, y} = {u} y = u (DT)
42. y = u → (u = x → y = x) (H6)
43. {x, y} = {u} u = x → y = x (MP, 41,42)
44. {x, y} = {u} y = x (MP, 38,43)
45. y = x → x = y (H5)
46. {x, y} = {u} x = y (MP, 44,45)
47. {u, v} = {x} → x = u (H9)
48. {u, v} = {x} x = u (DT)
49. {u, v} = {x} → v = x (H10)
50. {u, v} = {x} v = x (DT)
51. v = x → (x = u → v = u) (H6)
52. {u, v} = {x} x = u → v = u (MP, 50,51)
53. {u, v} = {x} v = u (MP, 48,52)
54. v = u → u = v (H5)
172 3 Fundamente der Mathematik
Ein gehöriges Stück Arbeit liegt hinter uns! Auch wenn der Inhalt der
bewiesenen Aussage nur wenig Aufsehen erregt, so ist die Komplexität
des Beweises wahrlich beeindruckend. Das Beispiel zeigt nachdrück-
lich, wie schwierig die Beweisführung selbst für scheinbar naheliegende
Aussagen ist. Doch seien Sie beruhigt. Niemand wird von Ihnen verlan-
gen, komplizierte Theoreme auf einer solch tiefen Abstraktionsebene
zu Fuß abzuleiten, geschweige denn auf die Idee kommen, die symboli-
sche Ebene der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre als das Handwerkszeug
einer neuen Mathematik auszurufen. In ihrer täglichen Arbeit werden
Mathematiker aller Fachrichtungen auch in Zukunft Beweise auf der
uns vertrauten Abstraktionsebene führen, auf der sich Formeln und um-
gangssprachliche Formulierungen in vertrauter Symbiose befinden. Nur
so sind wir als Mensch überhaupt in der Lage, komplexe Theoreme zu
beweisen. Was an dieser Stelle zählt, ist einzig und allein das Wissen,
dass sich alle gezogenen Schlussfolgerungen soweit formalisieren las-
sen, dass sie auf der untersten Ebene einer symbolischen Manipulation
von Zeichenketten gleichkommen.
174 3 Fundamente der Mathematik
Eine modernere Einbettung der natürlichen Zahlen geht auf John von
Neumann zurück (Abbildung 3.18). Da Ernst Zermelo diese Zahlenrei-
he nahezu zeitgleich entdeckt hat, wird sie mitunter auch als Neumann-
Zermelo’sche Zahlenreihe bezeichnet.
0 = 0/ 0 = 0/
1 = {0} 1 = {0}
= {0}/ = {0}/
2 = {1} 2 = {0, 1}
= {{0}}/ = {0,/ {0}}
/
3 = {2} 3 = {0, 1, 2}
= {{{0}}}
/ = {0,
/ {0},
/ {0,/ {0}}}
/
4 = {3} 4 = {0, 1, 2, 3}
= {{{{0}}}}
/ = {0,
/ {0},
/ {0, / {0}},
/ {0,/ {0},
/ {0,
/ {0}}}}
/
... ...
Abbildung 3.19: Einbettung der natürlichen Zahlen in die Mengenlehre nach Ernst Zermelo und nach John von Neumann.
Die von Neumann’sche Konstruktion der natürlichen Zahlen ist der Spe-
zialfall eines allgemeineren Konstruktionsschemas, das uns im nächsten
Abschnitt genauer beschäftigen wird. Mit ihm werden wir die Tür in die
Welt der Ordinalzahlen aufstoßen, eine faszinierende Welt wahrhaft rie-
siger Zahlen, von denen wir gerade einmal die allerkleinsten mit unserer
begrenzten Vorstellungskraft noch intuitiv erfassen können.
176 3 Fundamente der Mathematik
3.2.2 Ordinalzahlen
„Jede einfach geordnete Menge M [hat] einen bestimm-
ten Ordnungstypus M; es ist dies der Allgemeinbegriff,
welcher sich aus M ergibt, wenn unter Festhaltung der
Rangordnung ihrer Elemente von der Beschaffenheit
der letzteren abstrahiert wird [...]; den Ordnungstypus
einer wohlgeordneten Menge F nennen wir die ihr zu-
kommende ‚Ordnungszahl‘“
Georg Cantor, 1897 [25]
Die Reise in die Welt der Ordinalzahlen ist eine Reise in die Tiefen der
Unendlichkeit, und wir wollen sie nicht beginnen, ohne eine Warnung
auszusprechen. Der Weg, auf den wir uns begeben werden, führt mitten
in die Dunkelheit. Steht uns unsere Vorstellungskraft zu Beginn noch
treu zur Seite, so werden Sie schon bald erleben, wie sie im Rausch
der Tiefe langsam schwinden und schließlich ganz versagen wird. Die
Zahlen, die auf uns warten, sind so komplex, dass wir keine Chance
haben, sie auch nur im Ansatz intuitiv zu erfassen.
So soll unsere Reise nun beginnen. Wir tasten uns behutsam voran und
schicken zunächst den Begriff der transitiven Menge voraus:
Der erworbene Eindruck soll für den Moment genügen. Wir werden
jetzt einige elementare Eigenschaften von transitiven Mengen erarbei- {{{}}} Transitiv
ten und beginnen mit dem Beweis wichtiger Abschlussmerkmale:
...
Satz 3.4 Abbildung 3.21: Fassen wir die Elemen-
te eines beliebigen Anfangsstücks der Zer-
1. Ist x eine transitive Menge, dann ist es auch x ∪ {x}. melo’schen Zahlenreihe zusammen, so ent-
steht eine transitive Menge.
2. Ist x eine Menge transitiver Mengen, so ist auch x transitiv.
3. Ist x eine Menge transitiver Mengen, so ist auch x transitiv.
x ∈x enthalten. Da
x transitiv ist, gilt y ⊆ x . Folgerichtig gilt auch
Ordinalzahl y ⊆ x. 3. Sei y ∈ x. Dann ist y in allen Mengen x mit x ∈ x enthal-
ten. Da x transitiv ist, gilt y ⊆ x . Folgerichtig gilt auch y ⊆ x. 4. Jedes
Element y ∈ P(x) ist per Definition eine Teilmenge von x. Die Teilmen-
{}
Ordinalzahl geneigenschaft bedeutet, dass jedes Element y ∈ y auch Element von
x ist. Da x transitiv ist, folgt y ⊆ x und damit auch y ∈ P(x). Folge-
{{}} richtig ist y ⊆ P(x) und die Potenzmenge damit ebenfalls als transitiv
Keine Ordinalzahl,
{{}} ist nicht transitiv
identifiziert.
{{{}}} Als direkte Anwendung aus diesem Satz folgt, dass die Zermelo’sche
Keine Ordinalzahl,
{{{}}} ist nicht transitiv
Zahlenreihe Z0 selbst eine transitive Menge ist.
... Jetzt sind wir gewappnet, den Begriff der Ordinalzahl formal zu defi-
nieren:
Abbildung 3.22: Nur die ersten beiden Ele-
mente der Zermelo’schen Zahlenreihe sind
Ordinalzahlen. Definition 3.8 (Ordinalzahl)
Beweis: Die Transitivität von α ∪ {α}, x und x ergibt sich unmittel-
bar aus Satz 3.4, so dass lediglich zu zeigen bleibt, dass diese Mengen
3.2 Axiomatische Mengenlehre 179
ausschließlich Elemente enthalten, die selbst transitiv sind. Dies folgt Viele Wege führen nach
aber direkt aus der Definition der Ordinalzahl. Rom. Diese sprichwörtli-
che Weisheit ist für kaum einen anderen
Die nächsten Sätze bringen eine Reihe von charakteristischen Merkma- mathematischen Begriff so zutreffend wie
len zum Vorschein, die einen intuitiven Zugang zu den Ordinalzahlen für den Begriff der Ordinalzahl. In der Li-
gewähren. Die Beweise dieser Sätze sind sehr technischer Natur und er- teratur werden Sie eine Vielzahl von Defi-
fordern unbestritten ein gewisses Maß an Fleißarbeit. Dass wir an die- nitionen vorfinden, die von außen betrach-
tet sehr unterschiedlich wirken, schluss-
ser Stelle trotzdem so formal vorgehen, hat einen einfachen Grund. Die
endlich aber alle den gleichen Zahlenbe-
Welt der Ordinalzahlen sprengt unsere Intuition, und wir stünden ihr
griff beschreiben.
vollkommen wehrlos gegenüber, wenn wir auf eine mathematisch prä- Der hier verfolgte Ansatz, eine Ordinal-
zise Absicherung verzichten würden. Dennoch können Sie die Beweise zahl als eine transitive Menge transitiver
beim ersten Lesen gefahrlos überspringen und später zu ihnen zurück- Mengen zu definieren, geht auf eine Idee
kehren. von Kurt Gödel aus dem Jahr 1937 zu-
rück. Eine alternative Charakterisierung
stammt von Paul Bernays aus dem Jahr
Satz 3.6 (Trichotomiesatz)
1941. Dieser Definition folgend ist eine
Ordinalzahl α eine transitive Menge mit
Für zwei beliebige Ordinalzahlen α und β gilt
der Eigenschaft, dass jede transitive echte
α ∈ β oder α = β oder β ∈ α Teilmenge von α auch selbst ein Element
von α ist [11].
Andere Autoren definieren Ordinalzah-
len als transitive Mengen, die bezüglich
Beweis: Wir schreiben T(α, β ) für (α ∈ β ∨ α = β ∨ β ∈ α) und führen
der Mengeninklusion wohlgeordnet sind.
den Beweis durch Widerspruch. Nehmen wir also an, T(α, β ) sei nicht Diese Charakterisierung kommt schon nä-
für alle Ordinalzahlen α und β wahr. In diesem Fall garantiert uns das her an die ursprüngliche Definition von
Fundierungsaxiom, dass es bezüglich ‚∈‘ ein kleinstes α geben muss Georg Cantor heran, der in Ordinalzah-
(wir nennen es α0 ), für das T(α, β ) für mindestens ein β falsch ist. len spezielle Repräsentanten für Wohlord-
Jetzt können wir analog schließen, dass es ein kleinstes β geben muss nungen sah [25]. Im Cantor’schen Sin-
(wir nennen es β0 ), für das T(α0 , β ) falsch wird. Wir halten fest: ne entstehen Ordinalzahlen durch einen
Abstraktionsprozess, an dessen Ende nur
a) ¬T(α0 , β0 ) (wegen der speziellen Wahl von α0 , β0 ). noch die Ordnungsstruktur einer Menge
zurückbleibt und die konkrete Beschaf-
b) Aus α ∈ α0 folgt T(α, β0 ) (wegen der Minimalität von α0 ).
fenheit ihrer Elemente keine Rolle mehr
c) Aus β ∈ β0 folgt T(α0 , β ) (wegen der Minimalität von β0 ). spielt. Die historische Definition der Ordi-
nalzahl ist eine bedeutende, und wir wer-
Wir werden nun zeigen, dass T(α0 , β0 ) dennoch wahr sein muss, im den an späterer Stelle in diesem Kapitel
Widerspruch zu a). Wir unterscheiden drei Fälle: auf sie zurückkommen.
...
Satz 3.5 liefert uns die nötige Gewissheit, dass die Menge α ∪ {α} für Abbildung 3.24: Die systematische Kon-
jede Ordinalzahl α wiederum eine Ordinalzahl ist und wir somit immer struktion aller endlichen Ordinalzahlen
weiterzählen können. Der Übergang von α zu s(α) ist ein Spezialfall bringt die von Neumann’schen Zahlenreihe
der Ordinalzahladdition, die wie weiter unten formal einführen werden. hervor.
182 3 Fundamente der Mathematik
Im Vorgriff darauf schreiben wir aber bereits jetzt α + 1 für s(α) sowie
∅ α + 2 für s(s(α)) und so fort.
+1 := x ∪ {x} +1
{∅} Wir wollen die endlichen Ordinalzahlen nun verlassen und die erste un-
Limes-Sprung ( ∪ )
endliche Menge konstruieren, die alle Ordinalzahleigenschaften erfüllt.
+1
Den Schlüssel hierzu liefert uns Satz 3.5 frei Haus. Bilden wir, wie in
{∅,{∅}}
Abbildung 3.25 dargestellt, die Vereinigung aller endlichen Ordinalzah-
+1
len, so erreichen wir erneut eine Ordinalzahl. Es ist die berühmte Zahl
{∅,{∅},{∅,{∅}}}
+1 ω := { 0,
/ {0},
/ {0,
/ {0}},
/ {0,/ {0},
/ {0,
/ {0}}},
/ ... }
...
ω ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen ist sie die
kleinste transfinite Ordinalzahl, d. h., die kleinste Zahl, die unendlich
viele Elemente umfasst. Zum anderen besitzt sie die besondere Eigen-
schaft, nicht der Nachfolger einer anderen Ordinalzahl zu sein. Für
ω kein α gilt s(α) = ω. Ordinalzahlen mit dieser Eigenschaft sind von
so großer Bedeutung, dass wir ihnen einen eigenen Namen verleihen:
Noch in einer anderen Hinsicht ist ω von Bedeutung. Sie ist mit
der von Neumann’schen Zahlenreihe identisch, die nach dem in Ab-
schnitt 3.2.1.4 Gesagten der Menge der natürlichen Zahlen entspricht.
Demnach lässt sich ω auch in der folgenden Form notieren (Abbil-
dung 3.26):
ω = {0, 1, 2, 3, . . .}
Damit können wir nicht nur jede natürliche Zahl als Ordinalzahl auffas-
sen, sondern auch die Menge der natürlichen Zahlen selbst.
Jetzt erfolgt der entscheidende Schritt: Durch die Anwendung der Nach-
folgeroperation können wir mit
ω + 1, ω + 2, . . .
Abbildung 3.26: Visualisierung der ersten
transfiniten Ordinalzahl ω. Jeder Strich re- immer neue Ordinalzahlen bilden und über die natürlichen Zahlen hin-
präsentiert eine natürliche Zahl. Die Folge auszählen. Mit der Theorie der Ordinalzahlen haben wir es geschafft,
der Striche erstreckt sich in das Unendliche. den Horizont der natürlichen Zahlen zu durchbrechen.
3.2 Axiomatische Mengenlehre 183
Der eingeschlagene Kurs führt uns auf direktem Weg in ein Zahlenuni-
versum, das sich weit über die Grenzen der natürlichen Zahlen hinaus
erstreckt. Wie groß diese neu geschaffene Welt tatsächlich ist, wollen
wir jetzt erkunden.
Ausgehend von ω bilden wir nach dem bekannten Schema neue Ordi-
nalzahlen und erhalten
ω = {0, 1, 2, . . .}
ω + 1 = {0, 1, 2, . . . , ω}
ω + 2 = {0, 1, 2, . . . , ω, ω + 1}
... Abbildung 3.27: Visualisierung von ω + 1
ω + (n + 1) = {0, 1, 2, . . . , ω, ω + 1, ω + 2, . . . , ω + n}
...
Dass wir die erreichte Zahl als ω + ω bezeichnen, ist zwar naheliegend,
aber noch ohne formale Grundlage. Diese wollen wir nun schaffen und
das verwendete Bildungsschema zu einem allgemeinen Schema für die
Ordinalzahladdition erweitern. Wir vereinbaren:
Abbildung 3.28: Visualisierung von ω + 2
α + 0 := α
α + s(β ) := s(α + β )
α + γ := α +β (für alle Limes-Ordinalzahlen γ)
β <γ
Damit können wir unsere Reise fortsetzen und nach noch größeren Or-
dinalzahlen trachten. Es sind dies die Zahlen ω + ω + . . . + ω, die wir
mit der naheliegenden Schreibweise ω · n abkürzen. Dies bringt die fol-
genden Ordinalzahlen hervor:
ω · 2 = {0, 1, . . . , ω, ω + 1, . . .}
ω · 3 = {0, 1, . . . , ω, ω + 1, . . . , ω · 2, ω · 2 + 1, . . .}
...
ω · (n + 1) = ω · n ∪ {ω · n, ω · n + 1, ω · n + 2, . . .}
... Abbildung 3.29: Visualisierung von ω + ω
184 3 Fundamente der Mathematik
Auch hier fehlt uns die formale Rechtfertigung, die erreichte Zahl als
ω · ω zu bezeichnen. Die nachstehende Definition der Ordinalzahlmul-
tiplikation schließt die entstandene Lücke:
α · 0 := 0
α · s(β ) := α · β + α
α · γ := α ·β (für alle Limes-Ordinalzahlen γ)
β <γ
Abbildung 3.30 zeigt, wie wir uns die Menge ω · ω visuell vorstellen
können. Wir erhalten eine Struktur, in der sich die natürlichen Zahlen
unendlich oft wiederholen.
Abbildung 3.30: Visualisierung von ω · ω
Wir wollen weiter an Fahrt aufnehmen und noch größeren Zahlen ent-
gegenstreben. Es sind dies die Zahlen ω · ω · . . . · ω, die wir als ω n be-
zeichnen:
ω2 = ω · ω
ω3 = ω2 · ω
ω4 = ω3 · ω
Widerstehen Sie der Versu-
chung, vertraute Rechenre- ...
geln auf die Addition und ω n+1 = ω n · ω
Multiplikation von Ordinal-
zahlen zu übertragen! Anders, als wir es ...
von den natürlichen, rationalen oder reel-
In fast schon gewohnter Weise vollziehen wir den nächsten Limes-
len Zahlen gewohnt sind, ist weder die Or-
dinalzahladdition noch die Ordinalzahl- Sprung und erhalten die unglaublich große Zahl
multiplikation kommutativ. Im Allgemei- ωω = ωn
nen gilt: n∈N
α + β = β + α, α · β = β · α Abbildung 3.31 zeigt einen Weg auf, wie wir diese Zahl immer noch
visuell erfassen können.
Eine einfache Rechnung zeigt, warum.
Beispielsweise ist ω + 1 = ω, gleichzei- Nach der Addition und der Multiplikation führen wir als dritte wichtige
tig gilt aber
Operation die Potenzierung von Ordinalzahlen ein. Nach dem bisher
1+ω = β <ω 1 + β =ω Erarbeiteten lässt sich die Definition mit Leichtigkeit aufschreiben:
1. Umdrehung 2. Umdrehung
.ω
ε0 := ωω
.. } n-mal
n∈N
ω ε0 = ε0
Diese Eigenschaft ist intuitiv kaum noch greifbar. Das Rechnen mit den
natürlichen Zahlen hat uns gelehrt, dass die Potenzierung mit großen
Zahlen zu immer größeren Zahlen führt und der Größenunterschied dra-
matisch zunimmt, wenn wir den Exponenten auch nur geringfügig er-
höhen. Die Zahl ε0 setzt diese Gesetzmäßigkeit außer Kraft. In gewis-
sem Sinn ist sie so unbegreiflich groß, dass sie ihre eigenen Potenzen
einschließt. Beachten Sie, dass sich hinter dieser Einschlusseigenschaft
keine Antinomie der Russell’schen Art verbirgt. ε0 ist eine wohldefi-
nierte Menge von Ordinalzahlen und enthält sich nicht etwa selbst. Die
Elemente, die in ε0 enthalten sind, lassen sich sogar durchnummerieren.
Folgerichtig ist die Menge ε0 , so unvorstellbar groß sie auch ist, immer
noch abzählbar.
α = ω β0 + ω β1 + . . . + ω βn (3.4)
α = c0 · ω β0 + c1 · ω β1 + . . . + cn · ω βn
Verzichten wir auf die Beschränkung α > β0 > β1 > . . . > βn , so lässt
sich die Zahl ε0 ebenfalls in Cantor’scher Normalform notieren. Als
Ergebnis erhalten wir dann die Fixpunktdarstellung
ε0 = ω ε0 ,
die wir schon kennen. In diesem Fall bringt die Cantor’sche Normal-
form keine Vereinfachung mehr mit sich; insbesondere ist eine Darstel-
lung von ε0 in der Form (3.4) nicht mehr möglich. Tatsächlich ist ε0 die
kleinste Zahl, für die diese Eigenschaft verloren geht.
3.2 Axiomatische Mengenlehre 187
α < β :⇔ α ∈ β
α1 α2 α3 α4 . . .
x M1 y
In der Tat ist der Zusammenhang zwischen Wohlordnungen und Ordi-
nalzahlen noch weit größer. Dies unterstreicht der folgende Satz, den
<1 wir ohne formalen Beweis akzeptieren wollen:
f f -1
f -1
f
Satz 3.10 (Isomorphiesatz für Ordinalzahlen)
f (x) M2 f (y) Zunächst müssen wir klären, was sich hinter dem Begriff der Ordnungs-
isomorphie verbirgt. Wie in Abbildung 3.33 skizziert, werden zwei Ord-
nungen (M1 , <1 ) und (M2 , <2 ) als ordnungsisomorph bezeichnet, wenn
Abbildung 3.33: Zwei Mengen M1 und M2 eine bijektive Abbildung f : M1 → M2 existiert, die ordnungserhaltend
heißen ordnungsisomorph, wenn eine bijek- ist. Von einer ordnungserhaltenden Funktion sprechen wir immer dann,
tive Abbildung existiert, die alle Elemente wenn sie die folgende Eigenschaft besitzt:
von M1 ordnungserhaltend auf M2 abbildet.
Von einer ordnungserhaltenden Abbildung x <1 y ⇔ f (x) <2 f (y) für alle x, y ∈ M1
sprechen wir immer dann, wenn aus x <1 y
die Beziehung f (x) <2 f (y) folgt und um- Demnach sind zwei Mengen genau dann ordnungsisomorph, wenn sie
gekehrt. gleichmächtig sind und ihre Elemente die gleiche Ordnungsstruktur
3.2 Axiomatische Mengenlehre 189
Jetzt sind wir in der Lage, den Isomorphiesatz in seiner voller Breite
zu verstehen. Er besagt, dass wir zu jeder wohlgeordneten Menge ei-
ne Ordinalzahl mit der gleichen Ordnungsstruktur finden können und
diese Zahl zudem eindeutig bestimmt ist. Folgerichtig dürfen wir jede
Ordinalzahl als Repräsentant einer ganz bestimmten Wohlordnung auf-
fassen. Umgekehrt können wir jeder Menge M einen Ordnungstyp in
Form einer eindeutig festgelegten Ordinalzahl zuordnen. Dieser Ord-
nungstyp ist „der Allgemeinbegriff, welcher sich aus M ergibt, wenn Abbildung 3.34: Wohlordnung der natür-
unter Festhaltung der Rangordnung ihrer Elemente von der Beschaffen- lichen Zahlen mit dem Ordnungstyp ω
heit der letzteren abstrahiert wird“. Den letzten Satz habe ich nicht mit
meinen eigenen Worten beendet. Es sind die Worte von Georg Cantor, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, . . . , 0
entnommen aus dem Eingangszitat von Abschnitt 3.2.2. Die ursprüng-
liche Vorstellung, die Cantor mit den Ordinalzahlen verband, tritt nun Abstraktion
klar hervor. Cantor fand den Zugang zu den Ordinalzahlen nicht wie wir
über den Begriff der transitiven Menge. Es waren seine akribisch durch-
geführten Studien über das Wesen von Ordnungen und Wohlordnungen,
die ihn diese wahrhaft faszinierende Welt riesiger Zahlen entdecken lie-
ßen.
Beispiele
0, 1, 2, 4, . . . , 3, 9, 15, . . . , 5, 25, 35, . . . behalten ihre übliche Position. Nach dem Ordnungstyp dieser An-
ordnung müssen wir nicht lange suchen. Er wird durch ω + 1, den
direkten Nachfolger von ω, beschrieben.
Abstraktion
1, 2, 22 , 23 , 24 , 25 , . . . (3.5)
Die Aufzählung setzen wir jetzt fort, indem wir diese Elemente
nacheinander mit allen Dreierpotenzen der Form 3n (n ≥ 1) multi-
plizieren. Auf diese Weise erhalten wir die Zahlen
3, 32 , 33 , . . . , 2 · 3, 2 · 32 , 2 · 33 , . . . , 22 · 3, 22 · 32 , 22 · 33 , . . .
Beachten Sie, dass aus jedem Element des Anfangsstücks (3.5) eine
eigene Folge mit unendlich vielen Elementen geworden ist.
Im nächsten Schritt schreiben wir die Zahlenreihe fort, indem wir
Abbildung 3.38: Wohlordnung der natür- die bisher erzeugten Elemente mit allen Fünferpotenzen der Form
lichen Zahlen mit dem Ordnungstyp ω ω 5n (n ≥ 1) multiplizieren:
3.2 Axiomatische Mengenlehre 191
5, 52 , . . . , 2 · 5, 2 · 52 , . . . , 22 · 5, 22 · 52 , . . . ,
3 · 5, 3 · 52 , . . . , 32 · 5, 32 · 52 , . . . , 33 · 5, 33 · 52 , . . . ,
2 · 3 · 5, 2 · 3 · 52 , . . . , 2 · 32 · 5, 2 · 32 · 52 , . . . , 2 · 33 · 5, 2 · 33 · 52 , . . . ,
22 · 3 · 5, 22 · 3 · 52 , . . . , 22 · 32 · 5, 22 · 32 · 52 , . . . , 22 · 33 · 5, 22 · 33 · 52 , . . . ,
Bisher haben wir nur diejenigen Zahlen erfasst, die neben 2, 3 und 5
keine weiteren Primfaktoren besitzen. Fahren wir nach diesem Sche-
ma fort und multiplizieren das erzeugte Anfangsstück mit immer
neuen Primzahlpotenzen, so erreichen wir irgendwann jede natür-
liche Zahl. Die so erzeugte Anordnung ist eine abenteuerliche Kon-
struktion aus Reihen und Unterreihen, die sich immer weiter ver-
zweigen. Dennoch ist uns auch diese Ordnungsstruktur bereits be-
kannt. Es ist die Struktur aus Abbildung 3.31, repräsentiert durch
die Ordnungszahl ω ω .
Mitunter wird das Prinzip der vollständigen Induktion in einer alterna- „Existiert ein x mit ¬ϕ(x), so gibt es ein
tiven Formulierung verwendet, die wir jetzt herleiten wollen. Sie folgt kleinstes x mit ¬ϕ(x).“
unmittelbar aus dem Minimalitätsprinzip, das in seiner umgangssprach-
lichen Formulierung folgendermaßen lautet:
Abbildung 3.39: In jeder wohlgeordneten
„Existiert ein x mit ¬ϕ(x), so gibt es ein kleinstes x mit ¬ϕ(x).“ Menge M gilt das Minimalitätsprinzip. Es
besagt, dass wir in M zu jeder Eigenschaft
In formaler Schreibweise liest sich das Minimalitätsprinzip wie folgt: ϕ immer ein kleinstes Gegenbeispiel finden
können, sofern in dieser Menge überhaupt
∃ x ¬ϕ(x) → ∃ x (¬ϕ(x) ∧ ∀ (y < x) ϕ(y)) eines existiert.
192 3 Fundamente der Mathematik
Wir wollen uns an dieser Drehen wir die Schlussrichtung um, indem wir die linke und die rechte
Stelle einen Moment Zeit Seite der Implikation negieren, so entsteht eine äquivalente Aussage der
nehmen und einen zweiten folgenden Gestalt:
Blick auf die Formel (3.7)
werfen. Zunächst sieht es so aus, als sei ∀ x (ϕ(x) ∨ ¬∀ (y < x) ϕ(y)) → ∀ x ϕ(x)
in der alternativen Formulierung der voll-
ständigen Induktion der Induktionsanfang Bringen wir den Ausdruck jetzt noch in die Implikationsform, so sind
abhanden gekommen. Dass dem nicht so wir am Ziel:
ist, lässt sich leicht einsehen. Hierzu lösen
wir den Allquantor auf und betrachten die ∀ x (∀ (y < x) ϕ(y) → ϕ(x)) → ∀ x ϕ(x) (3.7)
linke Seite der Formel (3.7) für den Fall
x = 0: Dies ist die zweite Variante, in der die vollständige Induktion gern ver-
∀ (y < 0) ϕ(y) → ϕ(0) wendet wird. Um eine Aussage ϕ(x) für alle x ∈ N zu beweisen, nehmen
wir für ein beliebiges x an, ϕ(y) sei für alle y < x wahr. Ist unter die-
Da keine natürliche Zahl kleiner als 0 ser Annahme auch ϕ(x) eine wahre Aussage, so ist ϕ(x) für alle x ∈ N
existiert, ist die Unterformel bewiesen.
∀ (y < 0) ϕ(y) Unbestritten ist die vollständige Induktion ein starkes Beweismittel.
Umso verblüffender ist es, dass wir sie durch die simple Tatsache le-
immer wahr, und wir können die linke
gitimieren konnten, dass innerhalb der natürlichen Zahlen immer ein
Seite von Formel (3.7) folgendermaßen
kleinstes Gegenbeispiel existiert, sofern es überhaupt eines gibt. Diese
vereinfachen:
Eigenschaft gilt aber nicht nur für die natürlichen Zahlen, sondern für
ϕ(0) jede wohlgeordnete Menge (Abbildung 3.39).
Der Induktionsanfang ist also keineswegs Damit sind wir bereit, das Prinzip der transfiniten Induktion für wohl-
verschwunden, sondern als Spezialfall in geordnete Mengen auszusprechen:
der Induktionsformel versteckt.
Für jede wohlgeordnete Menge (ξ , <) und jede Formel ϕ(ν) gilt
Wir können noch einen Schritt weitergehen und die Ordinalzahl α einer
Fallunterscheidung unterziehen:
I α = 0.
I α ist der Nachfolger einer anderen Ordinalzahl.
3.2 Axiomatische Mengenlehre 193
Abbildung 3.40: Ein transfiniter Induktionsbeweis besteht aus drei Teilen. Im Induktionsanfang wird der Beweis verankert.
Danach wird gezeigt, dass sich die Gültigkeit von ϕ auf alle direkten Nachfolger und alle Limes-Ordinalzahlen vererbt.
Damit können wir aus Formel (3.8) eine Form herleiten, wie wir sie in
vielen Büchern unter dem Stichwort „Transfinite Induktion“ nachschla-
gen können:
⎛ ⎞
ϕ(0) ∧
⎝ ∀ α (ϕ(α) → ϕ(α + 1)) ∧ ⎠ → ∀ α ϕ(α)
∀ γ (∀ (β < γ) ϕ(β ) → ϕ(γ))
I Induktionsanfang
ϕ(0)
Gelingt der Beweis für alle drei, so garantiert uns das Prinzip der trans-
finiten Induktion, dass ϕ für alle Ordinalzahlen wahr sein muss.
194 3 Fundamente der Mathematik
Beachten Sie, dass für zwei endliche Ordinalzahlen α und β die Bezie- 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, . . .
hungen β < α und |β | < |α| äquivalent sind. Solange wir den vertrauten
Erste Ordinaler
Boden des Endlichen nicht verlassen, ist also jede Ordinalzahl auch eine
Abstraktion Typ: ω
Kardinalzahl. Im Unendlichen müssen wir mehr Vorsicht walten lassen.
Zunächst gilt, dass die kleinste unendliche Kardinalzahl ℵ0 der klein-
sten unendlichen Ordinalzahl entspricht; d. h., es gilt die Gleichung:
ℵ0 = ω
Auch wenn sich ab jetzt die Wege trennen, bleiben große strukturelle
Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Zahlenwelten bestehen. So er-
streckt sich die Aleph-Reihe ebenfalls in das Unendliche hinein und hat
eine ähnliche Struktur wie die Ordinalzahlen selbst. Konkret existiert Zweite Kardinaler
für jede Ordinalzahl α auch eine Kardinalzahl ℵα . Daraus folgt sofort, Abstraktion Typ: ω
dass auch die Kardinalzahlen eine echte Klasse bilden.
Genau wie im Fall der Ordinalzahlen können wir uns zu immer größe-
ren Kardinalzahlen vorarbeiten, allerdings preschen wir jetzt mit noch
schwindelerregenderer Geschwindigkeit voran. Erinnern Sie sich an die
astronomisch große Zahl ω1 , die kleinste überabzählbare Ordinalzahl?
Auf der unendlichen Aleph-Skala ist ω1 nicht weit entfernt; sie er-
scheint bereits an zweiter Stelle! Danach folgt unmittelbar die Ordi-
nalzahl ω2 und so fort.
Zweite Kardinaler
Die formale Definition der Kardinalzahl versetzt uns in die Lage, die Abstraktion Typ: ω
Symbolik |M| auch für unendliche Mengen präzise zu erfassen. Bisher
haben wir die Schreibweise |M| hauptsächlich in Vergleichen der Form
|M| = |N| verwendet und damit ausgedrückt, dass eine bijektive Abbil-
dung zwischen den Mengen M und N existiert. Ohne das Gleichheits-
zeichen hatte die Schreibweise |M| aber noch keine präzise Bedeutung.
Dies wollen wir nun ändern und die Symbolik |M| über den Begriff der
Kardinalzahl formal definieren:
Erste Ordinaler
Definition 3.13 (Kardinalität, Mächtigkeit) Abstraktion Typ: ω + ω
Sei M eine beliebige Menge. Diejenige Kardinalzahl κ, die sich
0, 2, 4, . . . , 1, 3, 5, . . .
bijektiv auf M abbilden lässt, heißt die Kardinalität oder die Mäch-
tigkeit von M, geschrieben als |M|. Abbildung 3.41: Ordinalzahlen abstrahie-
ren von der Beschaffenheit der Elemente ei-
ner Menge. Kardinalzahlen vollziehen ei-
Damit ist die Bringschuld beglichen, die wir uns mit der informellen ne zweite Abstraktion, in der die Ordnung
Verwendung von |M| und den Aleph-Zahlen in Kapitel 1 aufgebür- der Elemente ebenfalls keine Rolle mehr
det haben. Mit Definition 3.13 im Blick ist die vormals symbolische spielt. In diesem Beispiel sind zwei Ord-
Schreibweise |M| = ℵn jetzt zu einer echten Gleichung geworden, einer nungen der natürlichen Zahlen dargestellt,
Gleichung, auf deren linker und rechter Seite präzise definierte Mengen die unterschiedliche ordinale Typen, aber
stehen. den gleichen kardinalen Typ besitzen.
196 3 Fundamente der Mathematik
3.3 Übungsaufgaben
Aufgabe 3.1 Formalisieren Sie die folgenden Aussagen innerhalb der Peano-Arithmetik:
Webcode a) „Es gibt natürliche Zahlen x, y mit x2 + y2 = 9.“
3667
b) „x3 + y3 = z3 hat keine Lösung in den positiven natürlichen Zahlen.“
c) „x ist eine Zweierpotenz.“
Aufgabe 3.2 Welche der folgenden Formeln entspricht der Aussage „7 ist eine Primzahl“?
Webcode a) ∀ z (z | 7 → (z = 1 ∨ z = 7))
3195
b) ¬∃ (y > 1) ∃ (z > 1) 7 = y × z
Welche der folgenden Formeln entspricht der Aussage „x ist eine Primzahl“?
c) ∀ z ((z | x) → (z = 1 ∨ z = x))
d) ¬∃ (y > 1) ∃ (z > 1) x = y × z
Aufgabe 3.3 Formalisieren Sie die folgenden Aussagen mithilfe der Peano-Arithmetik:
Webcode a) „Jede gerade natürliche Zahl n > 2 lässt sich als Summe zweier Primzahlen schreiben.“
3367
b) „Für unendlich viele Zahlen n ist sowohl n als auch n + 2 eine Primzahl.“
Beide Aussagen sind alte Bekannte aus Kapitel 1. Die erste ist die berühmte Goldbach’sche
Vermutung, die zweite die Vermutung über die Existenz unendlich vieler Primzahlzwillinge.
An erster Stelle der ZF-Axiomenliste haben wir das Axiom der Bestimmtheit eingeführt. In Aufgabe 3.5
formaler Schreibweise lautete es wie folgt:
Webcode
∀ x ∀ y (x = y ↔ ∀ z (z ∈ x ↔ z ∈ y)) 3212
Nehmen Sie an, wir würden das Gleichheitszeichen aus der Sprache entfernen und das Be-
stimmtheitsaxiom nicht als Axiom sondern als Definition des Gleichheitszeichens auffassen.
Dies bedeutet, dass wir das Gleichheitszeichen nicht mehr länger als natives Sprachelement,
sondern nur noch als syntaktische Abkürzung behandeln dürfen. Können wir in der so modi-
fizierten Mengenlehre immer noch die gleichen Theoreme ableiten?
An vierter Stelle der ZF-Axiomenliste haben wir das Axiom der Vereinigung eingeführt: Aufgabe 3.6
∀ x ∃ y ∀ z (z ∈ y ↔ ∃ (w ∈ x) z ∈ w) Webcode
3700
Unter anderem garantiert es uns, dass für zwei Mengen x und y die Vereinigungsmenge x ∪ y
existiert. Im Zusammenhang mit diesem Axiom haben wir auch die Schreibweise x ∩ y als
syntaktische Abkürzung für die Schnittmenge eingeführt. Ist die Existenz der Schnittmen-
ge ebenfalls durch das Vereinigungsaxiom abgesichert? Falls nein, welche Axiome werden
hierzu benötigt?
Ein unentbehrlicher Bestandteil der ZF-Mengenlehre ist das Fundierungsaxiom. Es besagt, Aufgabe 3.7
dass wir in jeder nichtleeren Menge x ein Element y finden können, das mit x keine Elemente
gemeinsam hat. Webcode
3866
a) Welche Bedeutung besitzt das Axiom für die ZF-Mengenlehre?
In Abschnitt 3.2.1.3 haben wir gezeigt, dass sich der Begriff des geordneten Paares durch die Aufgabe 3.8
Definition
!ξ , ν" := { {ξ }, {ξ , ν} } Webcode
3115
auf den Begriff der Menge reduzieren lässt. Die gezeigte Möglichkeit ist nur eine von vielen.
Beispielsweise können wir geordnete Paare nach einem Vorschlag von Norbert Wiener aus
dem Jahr 1914 auch so darstellen [141, 213, 214]:
!ξ , ν" := { {0,
/ {ξ }}, {{ν}} }
198 3 Fundamente der Mathematik
a) Durch welche der folgenden Mengendiagramme werden die in diesem Kapitel diskutier-
ten Definitionen des geordneten Paares visualisiert?
b) Nach welchem Konstruktionsmuster bildet das verbleibende Diagramm den Begriff des
geordneten Paares ab? Ist es für die Darstellung geordneter Paare überhaupt geeignet?
Aufgabe 3.9 In Abschnitt 3.2.1.2 haben wir herausgearbeitet, dass die Relation ‚<‘ keine Wohlordnung
auf der Menge Z der ganzen Zahlen ist.
Webcode
3060 Definieren Sie die Ordnungsrelation ‚<‘ so um, dass Z zu einer wohlgeordneten Menge wird.
Aufgabe 3.10 Das kartesische Produkt zweier Mengen ν und μ ist in der Mathematik wie folgt definiert:
Webcode
3463 ν × μ := {!x, y" | x ∈ ν ∧ y ∈ μ}
a) Formalisieren Sie das kartesische Produkt im System der ZF-Mengenlehre. Geben Sie
hierzu eine Formel K(ξ , ν, μ) an, die genau dann wahr ist, wenn ξ , ν, μ die Beziehung
ξ = ν × μ erfüllen.
b) Geben Sie eine Formel R(ξ , ν) an, die genau dann wahr ist, wenn ξ eine Relation über
der Menge ν ist. Führen Sie Ihre Definition auf die Formel K(ξ , ν, μ) aus Teilaufgabe a)
zurück.
c) Auf Seite 168 haben Sie die Formel R(ξ ) kennen gelernt, die genau dann wahr ist, wenn
ξ eine Relation über einer beliebigen Menge ist. Versuchen Sie, für R(ξ ) eine alternative
Definition zu finden, die den Begriff der Relation auf das kartesische Produkt zurückführt.
d) Aufbauend auf dem Relationenbegriff haben wir herausgearbeitet, wie sich der Begriff
der partiellen Funktion innerhalb der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre beschreiben lässt.
Lassen sich die Begriffe der totalen, der injektiven und der surjektiven Funktion auf die
gleiche Weise formalisieren?
3.3 Übungsaufgaben 199
In dieser Übungsaufgabe greifen wir den formalen Beweis von Satz 3.3 auf, den Beweis über Aufgabe 3.11
die Komponentengleichheit geordneter Paare.
Webcode
a) Werfen Sie einen Blick auf die Beweisschritte in den Zeilen 59 – 64. War es wirklich 3567
nötig, die Aussage x = y = u = v vollständig zu beweisen?
b) Am Ende des umgangssprachlich formulierten Originalbeweises werden zwei Fälle un-
terschieden. Zunächst wird der Fall v = u betrachtet, danach der Fall v = u. Hätten wir im
formalen ZF-Beweis auf die Durchführung dieser Fallunterscheidung verzichten können?
Welche der folgenden Mengen sind transitiv? Welche sind Ordinalzahlen? Welche sind Aufgabe 3.12
Kardinalzahlen?
Webcode
a) 0/ c) { {0},
/ {{0}}
/ } e) { 0,
/ {0},
/ {{0}}
/ } 3234
b) { 0/ } d) { 0,
/ {{0}}
/ } f) { 0,
/ {0},
/ {0,
/ {0}}
/ }
Welche der folgenden Aussagen sind jeweils äquivalent zueinander? Aufgabe 3.14
a) X ist leer g) |X| = 0/ m) |X| ∈ ℵ0 Webcode
3034
b) X ist endlich h) |X| = ℵ0 n) |X| ⊆ ℵ0
c) X ist höchstens abzählbar i) |X| < ℵ0 o) |X| ⊂ ℵ0
d) X ist abzählbar j) |X| > ℵ0 p) ℵ0 ∈ |X|
e) X ist unendlich k) |X| ≤ ℵ0 q) ℵ0 ⊆ |X|
f) X ist überabzählbar l) |X| ≥ ℵ0 r) ℵ0 ⊂ |X|
4 Beweistheorie
Ein wichtiger Punkt vorweg: Nicht jedes formale System ist unvoll-
ständig. Betroffen sind nur jene, die ausdrucksstark genug sind, um die
Peano-Arithmetik, also die natürlichen Zahlen zusammen mit der Addi-
tion und der Multiplikation, zu formalisieren. Unbestritten gehören die
natürlichen Zahlen zum vitalen Kern der Mathematik; ohne sie würde
diese Wissenschaft auf wenige Teilgebiete zusammenschrumpfen. Der
Unvollständigkeitssatz attestiert damit nichts weniger als die Unmög-
lichkeit, ein formales System zu konstruieren, in dem alle wahren ma-
thematischen Aussagen der gewöhnlichen Mathematik auch als solche
bewiesen werden können.
Systeme
Dies ist die semantische Variante des ersten Gödel’schen Unvollstän-
digkeitssatzes. Sie macht eine Aussage über korrekte formale Systeme,
also über Systeme, in denen sich ausschließlich wahre Aussagen ablei-
Negations-
ten lassen (aus ϕ folgt |= ϕ). Umfasst ein solches System die Peano-
Unvollständige Arithmetik, ist es also ausdrucksstark genug, um über die additiven und
unvollständige
formale Systeme
formale Systeme multiplikativen Eigenschaften der natürlichen Zahlen zu sprechen, so ist
es der Unvollständigkeit preisgegeben. In einem solchen System exis-
tiert stets eine wahre Aussage ϕ, die nicht innerhalb des Systems bewie-
I Syntaktische Variante
sen werden kann. Für die semantische Variante des ersten Gödel’schen
Unvollständigkeitssatzes gibt es in der Tat vergleichsweise kurze Be-
„Jedes widerspruchsfreie formale weise, auf die wir in Kapitel 5 zurückkommen werden.
System, das stark genug ist, um die
Peano-Arithmetik zu formalisieren, ist Neben der semantischen Version existiert eine zweite Variante, die den
negationsunvollständig.“ Begriff der Korrektheit vollständig vermeidet. Sie lautet wie folgt:
die Peano-Arithmetik zu formalisieren, ist negationsunvollständig.
Negations-
Unvollständige Dies ist die syntaktische Variante des ersten Gödel’schen Unvollständig-
unvollständige
formale Systeme keitssatzes. Sie macht eine Aussage über eine größere Klasse formaler
formale Systeme
Systeme, da als Voraussetzung nur noch die Widerspruchsfreiheit und
nicht mehr die Korrektheit des Kalküls gefordert wird. Da jedes nega-
Abbildung 4.2: Die semantische Variante tionsunvollständige formale System, das die Peano-Arithmetik formali-
des ersten Gödel’schen Unvollständigkeits- siert, auch unvollständig ist und aus der Korrektheit eines formalen Sys-
satzes ist inhaltlich schwächer als die syn- tem stets dessen Widerspruchsfreiheit folgt, ist die semantische Formu-
taktische Variante. lierung eine direkte Folgerung aus der syntaktischen (Abbildung 4.2).
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 205
Die inhaltliche Aussage des ersten Gödel’schen Unvollständigkeitssatz Welche Variante des ersten
ist zweifellos beeindruckend; noch verblüffender ist allerdings die Art Unvollständigkeitssatzes hat
und Weise, wie Gödel diese Sätze bewies. In groben Worten gespro- Gödel im Jahr 1931 bewie-
chen, gelang es ihm, einen Satz mit der folgenden Bedeutung zu kon- sen? Ein Blick in seine Ori-
ginalarbeit zeigt, dass sein Unvollstän-
struieren:
digkeitsresultat eine abgeschwächte Va-
riante von Satz 4.2 ist. Gödel schaffte
„Ich bin innerhalb des Kalküls unbeweisbar.“ (4.1)
es damals noch nicht, sein Ergebnis un-
ter der Annahme der Widerspruchsfreiheit
Die Selbstbezüglichkeit dieses Satzes erinnert an das Barbier-
zu beweisen, und musste stattdessen die
Paradoxon aus Abschnitt 1.2.5 und ist ein Schlüsselelement in Gödels sogenannte ω-Widerspruchsfreiheit vor-
Beweisführung. Für diesen Satz werden wir später zeigen, dass in einem aussetzen. Erst im Jahr 1936 gelang
formalen System, das die Voraussetzungen des ersten Unvollständig- Barkley Rosser der Nachweis, dass sich
keitssatzes erfüllt, weder der Satz selbst noch dessen Negation aus den die ω-Widerspruchsfreiheit durch die ge-
Axiomen abgeleitet werden kann. Mit anderen Worten: Gödels Aussage wöhnliche Widerspruchsfreiheit ersetzen
ist innerhalb des Systems unentscheidbar. In Abschnitt 4.2.4 werden wir lässt [43, 164]. Was sich hinter Gödels
sehen, dass sich die Unentscheidbarkeit dieses Satzes in wenigen Zeilen ursprünglicher Voraussetzung genau ver-
beweisen lässt. Die eigentliche Schwierigkeit liegt woanders, nämlich birgt, werden wir im Laufe dieses Kapi-
in der Konstruktion des Satzes selbst. tels herausarbeiten. Soviel vorweg: Jedes
ω-widerspruchsfreie Kalkül ist auch wi-
Wie um alles in der Welt konnte es Gödel schaffen, einen Satz zu kon- derspruchsfrei, nicht aber umgekehrt.
struieren, der seine eigene Unbeweisbarkeit postuliert? Dieser Satz ist Die Entscheidung Gödels, nicht die se-
mantische, sondern die schwierigere syn-
anders als alle uns vertrauten Theoreme der Analysis, der Algebra oder
taktische Variante zu beweisen, ist nur
eines anderen Gebiets der gewöhnlichen Mathematik. Es ist ein Satz
im historischen Kontext zu verstehen. Für
der Meta-Ebene, schließlich stellt er eine Behauptung über das forma- Gödel war es wichtig, seinen Beweis
le System auf, in dem er selbst formuliert wurde. Indem der Satz über nicht auf den semantischen Wahrheitsbe-
sich selbst spricht, tritt er gewissermaßen aus seinem eigenen formalen griff zu stützen, schließlich entstand sei-
System heraus. Aber wie kann so etwas gelingen? ne Arbeit in einer Zeit, in der die Nach-
beben der mengentheoretischen Paradoxi-
Tatsächlich hatte Gödel eine Hintertür entdeckt, durch die Sätze ihr ei-
en noch immer zu spüren waren und viele
genes formales System in gewissem Sinne verlassen können. Die Kern- seiner Zeitgenossen dem Wahrheitsbegriff
idee seines Ansatzes besteht in der Konstruktion arithmetischer Aussa- skeptisch oder gar feindselig gegenüber-
gen, die zur gleichen Zeit zwei inhaltlich verschiedene Bedeutungen in standen. Es war eine Zeit, in der nach Gö-
sich tragen (Abbildung 4.3). dels Worten „ein Konzept der objektiven
mathematischen Wahrheit [...] mit größ-
tem Misstrauen betrachtet und in weiten
I Zuallererst besitzen diese Sätze eine arithmetische Bedeutung. In- Kreisen als bedeutungsleer zurückgewie-
nerhalb des Kalküls betrachtet sind sie gewöhnliche Sätze der sen wurde.“ [47].
Peano-Arithmetik, und als solche machen sie Aussagen über die na-
türlichen Zahlen.
Metatheoretische wie sie bei der Durchführung formaler Beweise verwendet werden,
Bedeutung auf die arithmetische Ebene übertragen lassen. Auf diese Weise ge-
lang es ihm, metatheoretische Aussagen, wie z. B. die Frage nach
Meta-Ebene
Zahlen gilt, ..." und der Multiplikation. Damit hatte er ein erstaunliches Phänomen ent-
deckt: Jedes formale System, das die Peano-Arithmetik umfasst, ist
stark genug, um metatheoretische Aussagen zu formulieren, und damit
implizit in der Lage, über sich selbst zu sprechen.
Zahlentheoretische
Bedeutung
Abbildung 4.4: Der Unicode umfasst insgesamt 16 Bereiche (planes), die jeder für sich 65536 verschiedene Zeichen aufneh-
men können [4]. Das Ergebnis ist eine universelle Symboltabelle, die jedem bekannten Zeichen einen eindeutigen binären Code
zuordnet, der auf jeder Hardware, unter jedem Betriebssystem und in jeder Programmiersprache immer derselbe ist.
sequenz einzutippen:
echo -n "∀xx=x" | iconv -t UTF-16 | hexdump
Das Ergebnis ist eine 12-elementige Byte-Sequenz oder, gleichbedeu-
tend, eine 24-stellige Hexadezimalzahl, die wir mit ϕ notieren:
ϕ = FE FF 22 00 00 78 00 78 00 3D 00 78
Header ’∀’ ’x’ ’x’ ’=’ ’x’
Die ersten zwei Bytes sind der UTF-16-Header. Danach folgen jeweils
zwei Bytes, die den Unicode des jeweiligen Formelzeichens enthalten.
Die Zahl ϕ bezeichnen wir als Gödelnummer der Formel ϕ und den
Vorgang des Codierens als Gödelisierung.
Die vorgestellte Codierung ist nur eine von vielen möglichen, und tat-
sächlich spielt es eine untergeordnete Rolle, mit welchem konkreten
Zahlenwert eine Formel beschrieben wird. Damit eine Codierung für
unsere Zwecke dienlich ist, muss sie lediglich drei Mindestanforderun-
gen erfüllen:
I Die Codierung muss die Menge der Formeln injektiv in die Menge
der natürlichen Zahlen einbetten, d. h., sie muss verschiedene For-
meln mit unterschiedlichen Gödelnummern belegen. Die UTF-16-
Codierung erfüllt diese Forderung, da verschiedene Textfragmente
immer auch eine unterschiedliche UTF-16-Darstellung besitzen.
208 4 Beweistheorie
Gödelisierung
0 + 0 = 0 → (0 + 0 = 0 → 0 = 0) (S1) ϕ2 = FE FF 00 30 00 2B 00 30 00
=ϕ2 3D 00 30 21 92 00 28 00 30
00 2B 00 30 00 3D 00 30 21
92 00 30 00 3D 00 30 00 29
Gödelisierung
0+0 = 0 → 0 = 0 (MP, 1,2) ϕ3 = FE FF 00 30 00 2B 00 30 00
=ϕ3 3D 00 30 21 92 00 30 00 3D
00 30
ϕ2 = ϕ1 · 1648 + 21920028 · 1640 + (ϕ3 − FEFF · 1636 ) · 164 + 29
’→ (’ Header ’)’
Gödelisierung
0=0 (MP, 1,3) ϕ4 = FE FF 00 30 00 3D 00 30
=ϕ4 ϕ3 = ϕ1 · 1616 + 2192 · 1612 + (ϕ4 − FEFF · 1612 )
’→’ Header
Abbildung 4.5: Jede syntaktische Manipulation, die eine Beweiskette ϕ0 , . . . , ϕi z. B. durch die Anwendung einer Schlussregel
verlängert, lässt sich als arithmetische Beziehung deuten, die zwischen den Gödelnummern ϕ0 , . . . , ϕi , ϕi+1 besteht.
I Wir müssen für jede natürliche Zahl entscheiden können, ob sie ei-
ne Symbolkette codiert, die nach den Syntaxregeln unserer Kalkül-
sprache aufgebaut ist. Kurzum: Wir müssen für jede natürliche Zahl
entscheiden können, ob sie eine Formel repräsentiert. Dies ist für
UTF-16-codierte Zahlen ganz offensichtlich möglich.
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 209
I Wie bei der UTF-16-Codierung ordnen wir jedem Symbol der Kal-
külsprache eine natürliche Zahl zu, verwenden anstelle der Unicodes
aber die Zahlenwerte aus Tabelle 4.1. Die Werte sind so gewählt,
dass sämtlichen Logiksymbolen jeweils eine ungerade Zahl zuge- 0 + =
ordnet wird. Die geraden Zahlen sind für die Codierung von Varia-
blen vorgesehen. 21 25 15
I Gödelisierung von ϕ1 die vier Formeln aus dem Beweis von Theorem PA1 auf diese Weise
0 + 0 = 0 gödelisieren lassen.
= 221 · 325 · 521 · 715 · 1121
= 2976791086050777886254142258705... I Ein formaler Beweis ist nach Definition 2.1 eine Folge von Formeln
4735259615108039000000000000000... und lässt sich nach dem gleichen Schema in eine natürliche Zahl
000000 übersetzen. Um eine Folge der Form ϕ1 , ϕ2 , ϕ3 , . . . zu codieren, ver-
≈ 3 · 1067 wenden wir die Gödelnummer der i-ten Formel als Exponent der
i-ten Primzahl und fassen alle Ausdrücke erneut zu einem gemein-
I Gödelisierung von ϕ2 samen Produkt zusammen:
0 + 0 = 0 → (0 + 0 = 0 → 0 = 0)
ϕ ϕ ϕ
= 221 · 325 · 521 · 715 · 1121 · 137 · 1717 · ϕ1 , ϕ2 , ϕ3 , . . . := π1 1 · π2 2 · π3 3 · . . .
1921 · 2325 · 2921 · 3115 · 3721 · 417 ·
4321 · 4715 · 5321 · 5919 Für unseren Beispielbeweis erhalten wir mit
= 4254009852517873300162885099095...
2062912177152225723412983561076... 21 325 521 715 1121
4204241788115952166723818682709... 22 ·
21 325 521 715 1121 137 1717 1921 2325 2921 3115 3721 417 4321 4715 5321 5919
1838340314531482866349985859639... 32 ·
6267146087126501265378899938492... 21 25 21 15 21 7 21 15 21
1198219578838439107499451558520... 52 3 5 7 11 13 17 19 23 ·
21 315 521
6839301168107657439662602002788... 72
1200381075268878821015628074667...
9122187572659828211350474489248...
5934282167896560823266182229402... eine Zahl mit rund 210383 Dezimalziffern. Kein Buch der Welt hat ge-
7587626403589167148247045777416...
0442969912665803065843000000000...
nug Seiten, um ihrer Dezimalschreibweise auch nur annähernd Platz
000000000000 zu bieten. Wir sind deshalb gut beraten, die Zahl in ihrer faktorisier-
≈ 4,3 · 10383 ten Darstellung zu belassen.
I Gödelisierung von ϕ3
Auch wenn sich die beiden vorgestellten Codierungen deutlich vonein-
0 + 0 = 0 → 0 = 0
ander unterscheiden, teilen sie einen gemeinsamen Makel: Beide bil-
= 221 · 325 · 521 · 715 · 1121 · 137 · 1721 · den die Menge der Formeln zwar injektiv in die natürlichen Zahlen
1915 · 2321
ab, aber nicht surjektiv. Das bedeutet, dass natürliche Zahlen existie-
= 7733351355658080332438994260291... ren, die keine Gödelnummern sind. Für manche Betrachtungen ist es
6040167200248925434737188323592...
2061839580272843306988370847036... aber durchaus bequem, von einer Eins-zu-eins-Beziehung zwischen der
4426273272154163855898916739004... Menge der Formeln und der Menge der natürlichen Zahlen auszugehen,
7767000000000000000000000 und so stellt sich fast zwangsläufig die Frage, ob auch bijektive Göde-
= ≈ 7,7 · 10148 lisierungen existieren. Die Antwort ist ein klares Ja, schließlich können
wir alle syntaktisch korrekt aufgebauten Symbolsequenzen der Reihe
I Gödelisierung von ϕ4 nach aufzählen und der i-ten Formel ganz einfach die Gödelnummer i
0 = 0 zuweisen. Praktisch ist diese Art der Gödelisierung nicht. Genau wie
= 221 · 315 · 521 die UTF-16-Codierung hat sie den Nachteil, dass sich die syntaktischen
Beziehungen, die durch die Axiome und Schlussregeln eines formalen
= 14348907000000000000000000000
Systems definiert werden, auf der arithmetischen Ebene nur umständ-
≈ 1,4 · 1028
lich beschreiben lassen.
Abbildung 4.7: Gödelisierung der Beweis-
schritte von Theorem PA1
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 211
f (0, x1 , . . . , xn ) = g(x1 , . . . , xn ),
f (m + 1, x1 , . . . , xn ) = h( f (m, x1 , . . . , xn ), m, x1 , . . . , xn )
Die erste Regel legt die elementaren primitiven Funktionen fest; na-
mentlich sind dies die Nullfunktion, die Nachfolgerfunktion und die
Projektion. Die anderen Regeln geben an, wie sich aus bereits bekann-
ten primitiv-rekursiven Funktionen weitere erschaffen lassen. Insge-
samt haben wir es mit zwei verschiedenen Konstruktionsschemata zu Rózsa Péter
tun: (1905 – 1977)
pow(0, n) = s(0),
pow(m + 1, n) = mult(p31 (pow(m, n), m, n), p33 (pow(m, n), m, n))
extensional erfassen können; sie wird eindeutig durch die Menge der
geraden Zahlen beschrieben.
Innerhalb der Peano-Arithmetik ist es ein Leichtes, die Menge der ge-
raden Zahlen durch eine Formel ϕ(ξ ) mit einer freien Variablen ξ zu
charakterisieren. Hierzu wählen wir ϕ(ξ ) derart, dass die Formeln
Arithmetisch repräsentierbare Relationen allesamt falsch sind. Eine Formel mit dieser Eigenschaft ist z. B.
I „x ist größer oder gleich y.“ Definition 4.3 (Semantisch repräsentierbare Relationen)
ϕ(x, y) := (∃ z x = y + z)
Sei R ⊆ Nn eine Relation und ϕ eine Formel mit n freien Variablen.
R wird durch ϕ semantisch repräsentiert, wenn gilt:
I „x ist größer als y.“
ϕ(x, y) := (∃ z x = y + z + 1) (x1 , . . . , xn ) ∈ R ⇒ |= ϕ(x1 , . . . , xn )
(x1 , . . . , xn ) ∈ R ⇒ |= ¬ϕ(x1 , . . . , xn )
I „x ist eine Primzahl.“
ϕ(x) :=
Auch Funktionen lassen sich arithmetisch repräsentieren. Hierzu nutzen
(¬(x = 1) ∧
wir aus, dass sich jede n-stellige Funktion als Relation mit der Stellig-
∀ z (z | x → (z = 1 ∨ z = x))) keit n + 1 auffassen lässt.
Abbildung 4.9: Eine kleine Auswahl arith- Um die Definition mit Leben zu füllen, wollen wir erarbeiten, wie sich
metisch repräsentierbarer Relationen die Funktion pow(x, y) aus Abschnitt 4.2.2 arithmetisch repräsentieren
lässt. Als erstes probieren wir, eine Formel mit einer freien Variablen z
zu konstruieren, die nach dem folgenden Schema aufgebaut ist:
Für jede natürliche Zahl i mit 0 ≤ i ≤ y enthält diese Formel eine gebun-
dene Variable ui und eine Teilformel ψi . Wählen wir ψi so, dass ψi (x, ui )
genau für ui = xi wahr ist, so entspricht der gesuchte Funktionswert z
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 215
dem Inhalt der Variablen uy . Die Konstruktion der Teilformeln ψi berei- I ϕα (u,0, 1)
tet uns dabei keinerlei Schwierigkeit; wir können ihren Wortlaut direkt „An Position 0 von u steht der Wert 1.“
aus dem primitiven Rekursionsschema der Exponentialfunktion extra-
hieren: u= 1 ...
ψ0 (x, u0 ) := (u0 = 1)
ψi + 1 (x, ui + 1 ) := (∀ w (ψi (x, w) → ui + 1 = w × x)) I ∀ v ∀ w (v < y ∧ ϕα (u, v, w) →
ϕα (u, v + 1, w × x))
Ein schwerwiegendes Problem bleibt allerdings bestehen: Da wir eine
variable Anzahl an Quantoren verwendet haben und die freie Variable „Steht an Position v der Wert w, so steht
an Position v + 1 der Wert w · x.“
y zusätzlich im Index der Variablen uy auftaucht, ist (4.5) keine Formel
der Peano-Arithmetik. Gelöst ist unser Problem erst dann, wenn wir es u= 1 x x2 ... xy
schaffen, sie in eine echte arithmetische Formel zu übersetzen.
Um dieses Ziel zu erreichen, verfolgen wir die gleiche Grundidee, mit
I ϕα (u, y, z)
der wir die Mengen N und Nn in Kapitel 1 als gleichmächtig identifi-
ziert haben. Dort haben wir gezeigt, dass sich endliche Folgen natürli- „z ist der Wert an Position y.“
cher Zahlen eineindeutig in eine natürliche Zahl hineincodieren lassen,
und genau das werden wir auch mit unserer Zahlenfolge x0 , . . . , xy ver- u= 1 x x2 ... z
suchen. y
Hierzu nehmen wir an, uns stehe eine Funktion α : N2 → N zur Verfü-
Abbildung 4.10: Gäbe es eine Funktion mit
gung, so dass für jede endliche Sequenz a0 , . . . , ay eine Zahl b mit
den Eigenschaften von ϕα , so wären wir in
α(b,0) = a0 , α(b,1) = a1 , . . . , α(b, y) = ay der Lage, die Exponentialfunktion z = xy
arithmetisch zu repräsentieren.
existiert. Wenn es uns jetzt noch gelänge, die Funktion α mit einer For-
mel ϕα arithmetisch zu repräsentieren, dann ließe sich Formel (4.5) fol-
gendermaßen umschreiben:
∃ u (ϕα (u,0, 1) ∧
∀ v ∀ w (v < y ∧ ϕα (u, v, w) → ϕα (u, v + 1, w × x)) ∧ (4.6)
ϕα (u, y, z))
Abbildung 4.10 veranschaulicht die Bedeutung der einzelnen Formel-
bestandteile.
Der Lösung unseres Problems sind wir schon sehr nahe. Die Anzahl
der in (4.6) verwendeten Quantoren ist nun konstant, und die Variable y
kommt nicht mehr als Index einer anderen Variablen vor. Am Ziel sind
wir aber erst, wenn wir eine reale Funktion mit der Eigenschaft von α
finden.
Es ist Gödel zu verdanken, dass wir eine solche Funktion heute unser
Eigen nennen dürfen. Im Gegensatz zu unserer fiktiven Funktion α mit
zwei Variablen führte er eine Funktion β mit drei Variablen ein:
β (x, y, z) := x mod (1 + y · (z + 1))
216 4 Beweistheorie
Das Sun Zi suanjing zählt Der folgende Satz zeigt, dass diese Funktion unseren Zweck erfüllt:
zu den wichtigsten chine-
sischen Frühwerken der
Mathematik. Niedergeschrieben wurde es Satz 4.3
von dem Rechenmeister Sun Zi in der ers-
ten Hälfte des ersten Jahrhunderts, wahr- Für jede endliche Zahlenfolge a0 , . . . , ak−1 existieren b und c mit
scheinlich in den Jahren zwischen 280
und 473 n. Chr. [206]. Die bekannteste ai = β (b, c, i) = b mod (1 + c · (i + 1))
Stelle des Sun Zi suanjing befindet sich im
dritten und letzten Kapitel [220]. Dort, in
Aufgabe 26, fordert der Meister zur Lö- Beweis: Wir beweisen den Satz in zwei Schritten:
sung des folgenden Rätsels auf:
„Es sei nun eine unbekannte Anzahl von I Zunächst zeigen wir, dass die Zahlen
Dingen gegeben. Wenn wir sie zu je drei
zählen, bleibt der Rest zwei übrig. Wenn 1 + l! · 1, 1 + l! · 2, 1 + l! · 3, . . . , 1 + l! · l
wir sie zu je fünf zählen, bleibt der Rest
drei übrig. Wenn wir sie zu je sieben für jede Zahl l ∈ N paarweise teilerfremd sind. Der Beweis lässt sich
zählen, bleibt der Rest zwei übrig. Finde mit elementaren zahlentheoretischen Argumenten führen. Gäbe es
die Anzahl der Dinge heraus.“ eine Primzahl p, die sowohl
In moderner Sprechweise ist dies die Auf- (1 + l! · i) als auch (1 + l! · j) (1 ≤ i < j ≤ l)
forderung, das folgende System linearer
Kongruenzen zu lösen: teilt, so wäre p auch ein Teiler der Differenz
x≡2 mod 3 (1 + l! · j) − (1 + l! · i) = l! · ( j − i)
x≡3 mod 5
x≡2 mod 7
Das würde bedeuten, dass mindestens eine der Zahlen l! oder ( j − i)
durch p teilbar ist. Wir zeigen nun, dass beide Annahmen zu einem
Wir nennen ein solches System auch eine Widerspruch führen:
simultane Kongruenz. Heute kennen wir
eine Reihe von Sätzen, die Aussagen dar- • Angenommen, es gelte p|l!. Dann ist p auch ein Teiler von l! · i,
über treffen, wann solche Kongruenzen im Widerspruch zur Annahme, p teile den Wert 1 + l! · i.
lösbar sind. Ihrer Herkunft entsprechend
werden diese Sätze als Chinesische Rest- • Angenommen, es gelte p|( j − i). Wegen ( j − i) < l ist ( j − i)
sätze bezeichnet. Die Variante, die im Be- ein Teiler von l!. Dann ist aber auch p ein Teiler von l!, was wir
weis von Satz 4.3 verwendet wird, besagt gerade widerlegt haben.
das Folgende:
Sind m0 , . . . , mn natürliche, paarweise tei- Jetzt ergibt sich die Aussage von Satz 4.3 fast von selbst. Wir defi-
lerfremde Zahlen und a0 , . . . , an beliebi- nieren die Zahl l als
ge ganze Zahlen, so besitzt die simultane
Kongruenz l := max{k, a0 , a1 , . . . , ak−1 }
β (b, c,0)
β (b, c,1)
β (b, c,2)
β (b, c,3)
β (b, c,4)
Natürlich existiert eine ganze Schar von Funktionen, um Sequenzen von
natürlichen Zahlen in eine einzige Zahl hineinzucodieren. Wir dürfen
in diesem Zusammenhang aber nicht vergessen, dass wir die Funktion
I a0 = 1, a1 = 2, a2 = 4
arithmetisch repräsentieren müssen, und genau dies ist bei Gödels β -
Funktion problemlos möglich: Für b = 67 und c = 2 gilt:
ϕβ (b, c, i, a) := ∃ d b = s(c × s(i)) × d + a ∧ a < s(c × s(i)) (4.7) 67 mod (1 + 2 · 1) = 1
67 mod (1 + 2 · 2) = 2
Damit sind wir am Ziel und können die Exponentialfunktion folgender-
67 mod (1 + 2 · 3) = 4
maßen repräsentieren:
67 mod (1 + 2 · 4) = 4
∃ b ∃ c (ϕβ (b, c,0, 1) ∧ 67 mod (1 + 2 · 5) = 1
∀ v ∀ w (v < y ∧ ϕβ (b, c, v, w) → ϕβ (b, c, v + 1, w × x)) ∧
1 2 4 4 1 ...
ϕβ (b, c, y, z)) β (b, c,0)
β (b, c,1)
β (b, c,2)
β (b, c,3)
β (b, c,4)
Ersetzen wir die Funktion ϕβ jetzt noch durch ihre Definition, so erhal-
ten wir
∃ b ∃ c (∃ d b = s(c × s(0)) × d + 1 ∧ 1 < s(c × s(0)) ∧ I a0 = 1, a1 = 2, a2 = 4, a3 = 8
∀ v ∀ w (v < y ∧ ∃ d b = s(c × s(v)) × d + w ∧ w < s(c × s(v)) →
Für b = 43058 und c = 6 gilt:
∃ d b = s(c × s(v + 1)) × d + (w × x) ∧ (w × x) < s(c × s(v + 1))) ∧ 43058 mod (1 + 6 · 1) = 1
∃ d b = s(c × s(y)) × d + z ∧ z < s(c × s(y))) 43058 mod (1 + 6 · 2) = 2
Auch wenn diese Formel von außen betrachtet wie eine wahllose An- 43058 mod (1 + 6 · 3) = 4
sammlung arithmetischer Ausdrücke wirkt, lässt sie ihr streng konstruk- 43058 mod (1 + 6 · 4) = 8
tiver Aufbau in einem hellen Licht erstrahlen. In ihrem Inneren verbirgt 43058 mod (1 + 6 · 5) = 30
sie mit der Gödel’schen β -Funktion ein mathematisches Juwel.
1 2 4 8 30 ...
Können wir auf die gleiche Weise auch andere Funktionen arithmetisch
β (b, c,0)
β (b, c,1)
β (b, c,2)
β (b, c,3)
β (b, c,4)
Satz 4.4
(x1 , . . . , xn ) ∈ R ⇒ ϕ(x1 , . . . , xn )
(x1 , . . . , xn ) ∈ R ⇒ ¬ϕ(x1 , . . . , xn )
|= ϕ(x1 , . . . , xn , y) ⇔ y = f (x1 , . . . , xn )
∀ y (ϕ(x1 , . . . , xn , y) ↔ y = f (x1 , . . . , xn ))
Die neu hinzugefügte Forderung (4.11) ist wiederum so stark, dass sich
die Eigenschaften (4.8) und (4.9) mühelos daraus ableiten lassen. Es
genügt deshalb, die Forderung (4.11) zur alleinigen Grundlage für die
syntaktische Repräsentierbarkeit von Funktionen zu erheben, und genau
dies wollen wir an dieser Stelle tun:
f (x1 , . . . , xn ) = y ⇒ ∀ y (ϕ(x1 , . . . , xn , y) ↔ y = y)
Der nachstehend abgedruckte Satz spricht aus, dass die Eigenschaft, in-
nerhalb der Peano-Arithmetik syntaktisch repräsentierbar zu sein, nicht
nur für primitiv-rekursive Relationen gilt, sondern auch für primitiv-
rekursive Funktionen:
Satz 4.6
Der Beweis dieses Satzes ist, genau wie der Beweis von Satz 4.5,
technisch aufwendig. Wir wollen die formalen Details an dieser Stelle
überspringen und verweisen als Ersatz auf die ausführliche Darstellung
in [183].
Bevor wir die Bühne zum großen Finale des Gödel’schen Beweises frei-
geben, wollen wir die bis jetzt erarbeiteten Ergebnisse kurz zusammen-
fassen:
I In Abschnitt 4.2.1 haben wir gezeigt, wie sich die Syntax einer for-
malen Sprache arithmetisieren lässt. Indem wir jeder Formel ϕ eine
Gödelnummer ϕ zugeordnet haben, konnten wir die Manipulation
von Zeichenketten auf der arithmetischen Ebene deuten.
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 221
Wir werden nun herausarbeiten, wie sich der Wert von g berechnen
lässt. Hierzu betrachten wir zunächst die Funktion diag(y) und die Re-
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 223
Und was sagt die Relation x B y genau aus? Zunächst halten wir fest,
dass x und y natürliche Zahlen sind und wir x als die Gödelnummer
eines Beweises und y als die Gödelnummer einer arithmetischen Formel
ϕ interpretieren. Per Definition stehen x und y genau dann in Relation
zueinander, wenn x einen Beweis für ϕ codiert. Anders gesagt: x codiert
224 4 Beweistheorie
eine Sequenz von Formeln, die ϕ in endlich vielen Schritten aus den
Axiomen der Peano-Arithmetik ableitet.
In seiner Originalarbeit hat Gödel bewiesen, dass sowohl diag als auch
B primitiv-rekursiv sind. Aus den Sätzen 4.5 und 4.6 folgt dann, dass die
Funktion diag durch eine Formel Diag(y, z) und die Relation B durch
eine Formel B(x, y) syntaktisch repräsentiert werden. Für diese Formeln
gilt also:
Aus den Beziehungen (4.12) bis (4.14) können wir mit etwas Umfor-
mungsaufwand die folgenden Schlüsse ziehen:
Damit ist klar, welche Bedeutung die Formel ψGdl (x, y) innehat. Sie ist
die syntaktische Repräsentation der Relation
Das Ergebnis ist eine arithmetische Formel mit genau einer freien Va-
riablen. Sie kommt in der g-ten Zeile unserer Tabelle vor und ist jene
Formel, nach der wir gesucht haben. Sie besitzt die faszinierende Ei-
genschaft, dass ihre diagonalisierte Aussage ϕg (g) innerhalb von PA
unentscheidbar ist, d. h., weder ϕg (g) noch ¬ϕg (g) lassen sich aus den
Axiomen der Peano-Arithmetik herleiten. Warum dies so ist, werden
wir jetzt begründen:
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 225
I Angenommen, es gelte ¬ϕg (g). Dann trägt die Formel ϕg (g) aber die fol-
gende inhaltliche Aussage in sich:
Die Annahme lautet ausgeschrieben ¬∀ x ¬ψGdl (x, g), und daraus
folgt ϕg (g) = „ϕg (g) ist nicht beweisbar.“
∃ x ψGdl (x, g) (4.17)
Oder, was gleichbedeutend ist:
Ist die Peano-Arithmetik widerspruchsfrei, so ist nicht gleichzeitig
die Formel ϕg (g) beweisbar. Das bedeutet, dass keine natürliche ϕg (g) = „Ich bin nicht beweisbar.“
Zahl die Gödelnummer eines Beweises für ϕg (g) sein kann. Es gilt Nicht selten wird Gödels Beweis dahinge-
also hend missverstanden, dass er auf der se-
mantischen Bedeutung von ϕg (g) beruht.
(0, g) ∈ Gdl, (1, g) ∈ Gdl, (2, g) ∈ Gdl, (3, g) ∈ Gdl, . . . Einige Kritiker sehen in der Konstruktion
von ϕg (g) sogar einen irregulären Selbst-
Da ψGdl die Relation Gdl syntaktisch repräsentiert, können wir die
bezug, der Parallelen zur Russell’schen
folgenden Schlüsse ziehen: Antinomie aufweist und die Legitimität
¬ψGdl (0, g) (4.18) des Beweises in Frage stellt. Wenn Sie die
Ausführungen auf diesen Seiten nochmals
¬ψGdl (1, g) (4.19) durchgehen, werden Sie jedoch schnell
¬ψGdl (2, g) (4.20) bemerken, dass wir die Formel ϕg (g) gar
nicht inhaltlich gedeutet haben. Dass we-
... der ϕg (g) noch ¬ϕg (g) beweisbar sein
kann, sofern die Peano-Arithmetik frei
Damit haben wir uns in eine prekäre Situation manövriert. Wäre von Widersprüchen ist, haben wir rein
¬ϕg (g) innerhalb der Peano-Arithmetik beweisbar, so wäre es auch auf der syntaktischen Ebene gezeigt. Den-
die Formel (4.17). Diese besagt, dass innerhalb der Menge der na- noch hilft die semantische Interpretation
türlichen Zahlen eine Zahl x existieren muss, für die ψGdl (x, g) wahr von ϕg (g) dabei, den Gödel’schen Be-
ist. Auf der anderen Seite scheinen die Formeln (4.18), (4.19), (4.20) weis zu verstehen. Sie gibt einen Hin-
usw. genau dies zu widerlegen. Für jede beliebige natürliche Zahl x weis darauf, warum in jedem hinreichend
können wir die Formel ¬ψGdl (x, g) beweisen. Offensichtlich ist es ausdrucksstarken formalen System unent-
uns gelungen, einen Widerspruch zu erzeugen. Oder etwa nicht? scheidbare Sätze existieren müssen.
226 4 Beweistheorie
Mit dem neuen Begriff sind wir in der Lage, jene Variante des ersten
Unvollständigkeitssatzes zu formulieren, die Gödel in seiner Original-
arbeit bewiesen hat. In moderner Sprechweise lautet sie wie folgt:
Mit diesem Ergebnis hat unsere Reise auf Gödels historischem Pfad ein
erfolgreiches Ende gefunden. Zumindest für den Moment.
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 227
ez 5 Sep John Barkley Rosser wurde am 6. dem Church-Rosser-Theorem verbunden, das die Konflu-
6 D
1907 1989
Dezember 1907 in Jacksonville ge- enzeigenschaft gewisser Termersetzungssysteme garantiert
boren. An der University of Florida (Theorem 2 in [34]). Einen hohen Bekanntheitsgrad erziel-
studierte er Physik und wechselte te Rosser nicht zuletzt durch mehrere Bücher, die heute zur
nach seinem Master-Abschluss an die renommierte Prince- Standardliteratur der mathematischen Logik zählen [165–
ton University, wo er 1935 unter Alonzo Church in mathe- 167].
matischer Logik promovierte [163]. Nach kürzeren Aufent- Rosser war nicht nur Theoretiker. Während des zweiten
halten in Princeton und Harvard erhielt er 1936 den Ruf an Weltkriegs beschäftigte er sich mit der Konstruktion balli-
die Cornell University, die für die nächsten 30 Jahre zu sei- stischer Raketen und übernahm später wichtige Beraterposi-
ner wissenschaftlichen Heimat werden sollte. tionen in der Weltraum- und Militärforschung. Im Jahr 1963
Rosser ist neben der Verbesserung des Gödel’schen Bewei- wurde er zum Direktor des Army Mathematics Research
ses (Rossers Trick) vor allem für seine Arbeiten auf dem Centers (AMRC) ernannt, einer Einrichtung des US-Militärs
Gebiet der Rekursionstheorie bekannt. Im Jahr 1935 sorg- zur strategischen Unterstützung der US-Invasion in Vietnam.
te er für Aufsehen, als er zusammen mit Stephen Cole In dieser Rolle war er nicht unumstritten; öffentlich demen-
Kleene einen Widerspruch in der ursprünglichen Formu- tierte er jegliche Beteiligung des AMRC an militärischen
lierung des λ -Kalküls von Alonzo Church fand (Kleene- Projekten. Im Jahr 1973 ging Rosser in den Ruhestand und
Rosser-Paradoxon). Heute wird sein Name vor allem mit starb am 5. September 1989 mit 81 Jahren.
¬∃ (z ≤ 1) ψGdl (z, r)
¬∃ (z ≤ 2) ψGdl (z, r)
Sei m die Gödelnummer eines Beweises für ¬ϕr (r). Dann gilt:
ψGdl (m, r)
¬ψGdl (0, r)
¬ψGdl (1, r)
¬ψGdl (2, r)
...
Genau wie im ersten Fall lassen sich hieraus nacheinander die fol-
genden Theoreme herleiten:
¬∃ (z ≤ 1) ψGdl (z, r)
¬∃ (z ≤ 2) ψGdl (z, r)
...
¬∃ (z ≤ m − 1) ψGdl (z, r)
Damit haben wir es geschafft, mit (4.28) und (4.31) ein komplemen-
täres Formelpaar abzuleiten. Wäre ¬ϕr (r) also tatsächlich beweis-
bar, so hätten wir die Peano-Arithmetik als widersprüchlich identifi-
ziert.
230 4 Beweistheorie
Das Eingangszitat, mit dem Wir sind so weit, die Früchte unserer Arbeit zu ernten. Dank Rossers
der Abschnitt über das Dia- Trick können wir die Forderung der ω-Widerspruchsfreiheit fallen las-
gonalisierungslemma beginnt, stammt aus sen und durch die schwächere Widerspruchsfreiheit ersetzen:
der Arbeit On Undecidable Propositions
of Formal Mathematical Systems [70].
Hierbei handelt es sich um eine überar- Satz 4.8 (Rosser, 1936)
beitete Mitschrift der berühmten Prince-
ton lectures, die Gödel im Frühjahr 1934 Jedes widerspruchsfreie formale System, das stark genug ist, um
am Institute for Advanced Study abhielt. die Peano-Arithmetik zu formalisieren, ist negationsunvollständig.
Im Original ist die zitierte Textstelle mit
einer Fußnote versehen, in der Gödel die
Urheberschaft des Prinzips offenlegt. Es Dieser Satz wird in der Literatur häufig als das Gödel-Rosser-Theorem
heißt dort:
bezeichnet und ist im Wortlaut mit Satz 4.2 identisch. Es ist jenes Theo-
„This was first noted by R. Carnap in: rem, das wir als die syntaktische Variante des ersten Gödel’schen Un-
Logische Syntax der Sprache, Wien, vollständigkeitssatzes bezeichnet haben.
1934, page 91.“
γ ↔ χ(γ)
Für den Beweis dieses Satzes konstruieren wir aus χ(ξ ) zunächst die
Formel
ψ(y) := ∀ z (Diag(y, z) → χ(z))
Die Formel Diag haben wir bereits auf Seite 224 kennen gelernt. Sie ist
die syntaktische Repräsentation der Diagonalisierungsfunktion diag(y),
die eine natürliche Zahl y auf die Gödelnummer der Formel ϕy (y) ab-
bildet. Damit liegt die inhaltliche Bedeutung von ψ auf der Hand: Für
eine beliebig gewählte natürliche Zahl y drückt die Formelinstanz ψ(y)
aus, dass dem Diagonalelement ϕy (y) die Eigenschaft χ zukommt.
Eine dieser Formelinstanzen ist die Formel γ, mit der wir das Diagona-
lisierungslemma beweisen werden. Sie entsteht, indem wir ψ(y) selbst
diagonalisieren, also y durch die Gödelnummer von ψ ersetzen:
γ := ψ(ψ)
= ∀ z (Diag(ψ, z) → χ(z))
Wir werden nun zeigen, dass diese Formel die postulierte Eigenschaft
γ ↔ χ(γ) erfüllt. Bevor wir die Ableitungssequenz offenlegen, er-
innern wir uns daran, dass die Formel Diag(y, z) die Funktion diag(y)
syntaktisch repräsentiert, und das bedeutet Folgendes:
diag(ψ) = γ
232 4 Beweistheorie
Aufgrund der Symmetrie der Gleichheit I Richtung von links nach rechts: γ → χ(γ)
können wir auch die folgende, gleichwer-
tige Charakterisierung wählen: 1. { γ } γ (Satz 2.4)
2. { γ } ∀ z (Diag(ψ, z) → χ(z)) (Def)
x = y ⇒ (E(y) ⇒ E(x))
3. ∀ z (Diag(ψ, z) → χ(z)) →
Die Peano-Arithmetik ist stark genug, um (Diag(ψ, γ) → χ(γ)) (A4)
die Substitutionseigenschaft zu beweisen;
dort ist jede Formel der Form 4. { γ } Diag(ψ, γ) → χ(γ) (MP, 2,3)
5. Diag(ψ, γ) (4.35)
ξ = ζ → (ϕ(ζ ) → ϕ(ξ )) ()
6. { γ } χ(γ) (MP, 4,5)
ein Theorem. Von hier aus ist die gesuchte 7. γ → χ(γ) (DT)
Herleitung einfach. Aus
I Richtung von rechts nach links: χ(γ) → γ
z = y → (χ(y) → χ(z))
8. {χ(γ)} χ(γ) (Satz 2.4)
folgt
...
z = γ → (χ(γ) → χ(z)) 9. {χ(γ)} z = γ → χ(z) (aus 8)
und daraus wiederum 10. Diag(ψ, z) → z = γ (4.36)
11. {χ(γ)} Diag(ψ, z) → χ(z) (MB, 10,9)
χ(γ) → (z = γ → χ(z))
12. {χ(γ)} ∀ z (Diag(ψ, z) → χ(z)) (G, 11)
Zusammen mit χ(γ) liefert der Mo- 13. {χ(γ)} γ (Def)
dus ponens das gewünschte Ergebnis:
14. χ(γ) → γ (DT)
z = γ → χ(z)
I Beide Teilergebnisse zusammen ergeben die Behauptung
Es bleibt zu zeigen, dass alle Formeln der
Bauart () auch wirklich Theoreme sind, ...
und genau hier verbirgt sich der eigent- 15. γ ↔ χ(γ) (aus 7 und 14)
liche Aufwand. Es ist ein induktiver Be-
weis über den Formelaufbau notwendig,
der ausführlich in [125] beschrieben ist. Damit ist das Diagonalisierungslemma bewiesen.
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 233
Wir kommen nun auf unser ursprüngliches Vorhaben zurück, den Be- I ϕg (y)
weis der Formel
Definition von ϕg (y)
ϕg (g) ↔ ¬Bew(ϕg (g)) (4.37)
I ∀ x ¬ψGdl (x, y)
Das Diagonalisierungslemma bringt uns hier nur teilweise weiter. Es
garantiert zwar die Existenz einer Formel γ mit
Definition von ψGdl
γ ↔ ¬Bew(γ), I ∀ x ¬∃ z (Diag(y, z) ∧ B(x, z))
macht jedoch keine weitergehende Aussage darüber, wie die Formel γ Hineinziehen der Negation
konkret aussieht. Es wäre ein plumper Zufall, wenn die Formel γ mit
I ∀ x ∀ z (¬Diag(y, z) ∨ ¬B(x, z))
der Gödel’schen Formel ϕg (g) identisch wäre.
Definition der Implikation
Trotzdem sind wir unserem Ziel sehr nahe: Wir können (4.37) näm-
lich nach dem gleichem Muster beweisen wie das Diagonalisierungs- I ∀ x ∀ z (Diag(y, z) → ¬B(x, z))
lemma selbst. Eine geringfügige Modifikation der Ableitungssequenz
reicht hierfür aus. Vertauschen der Quantoren
Wir wiederholen jetzt den Beweis des Diagonalisierungslemmas, ver- I ∀ z ∀ x (Diag(y, z) → ¬B(x, z))
wenden für die Formel ψ(y) aber die Gödel’sche Formel ϕg (y). Dann
ist γ = ϕg (g) und x ∈ Diag(y, z)
Jetzt sind wir in der Lage, die Ableitungssequenz, die uns das Diagona-
lisierungslemma hervorgebracht hat, in eine Ableitungssequenz für die
Formel (4.37) umzuschreiben.
Damit ist die Ziellinie überquert. Wir haben einen Beweis für den fol-
genden Satz gefunden:
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 235
Satz 4.10
Das Zitat, mit dem wir weit sich dieser innerhalb einer formalen Sprache erfassen lässt. Tarski
diesen Abschnitt eingeleitet konstruierte spezielle Wahrheitsprädikate und untersuchte, unter wel-
haben, ist der Originalwort- chen Bedingungen sich diese innerhalb einer Logik definieren lassen.
laut dessen, was wir heu-
te als den Satz von Tarski über die Un- Am Beispiel der Peano-Arithmetik wollen wir herausarbeiten, was der
definierbarkeit der Wahrheit bezeichnen. Begriff des Wahrheitsprädikats genau bedeutet. Der Ausgangspunkt un-
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass in serer Untersuchung ist die folgende Definition:
Tarskis Formulierung von einer „Meta-
wissenschaft“ die Rede ist, ein solcher T := {x | x ist die Gödelnummer einer wahren Formel} (4.43)
Begriff in unserer eigenen Darstellung
aber an keiner Stelle auftaucht. Tarskis Die Menge T erfasst den Wahrheitsbegriff auf der Mengenebene; sie
„Metawissenschaft“ ist eine Art Meta-
reduziert die Frage nach der Wahrheit oder der Falschheit einer Formel
sprache, mit der Aufgabe, eine forma-
ϕ auf die Frage, ob die Gödelnummer von ϕ, d. h. die natürliche Zahl
le Sprache L um die notwendigen Aus-
drucksmittel anzureichern, um über den ϕ, zu T gehört oder nicht.
syntaktische Aufbau ihrer Formeln spre-
Als Nächstes wollen wir versuchen, den Wahrheitsbegriff auf der For-
chen zu können. In diesem Abschnitt be-
ziehen wir Tarskis Ergebnisse aber aus-
melebene zu erfassen, und genau an dieser Stelle kommt Tarskis Wahr-
schließlich auf die Peano-Arithmetik und heitsprädikat ins Spiel. Wir nennen eine Formel T (ξ ) mit der freien Va-
diese ist, wie wir bereits wissen, aus- riable ξ ein Wahrheitsprädikat, wenn es genau auf die Gödelnummern
drucksstark genug, um über ihren eigenen der wahren Formeln zutrifft, wenn also Folgendes gilt:
syntaktischen Aufbau zu reden. In diesem
Sinne können wir die Peano-Arithmetik |= T (x) ⇔ x ∈ T (4.44)
mit ihrer eigenen Metasprache gleichset-
zen und auf eine diesbezügliche Unter- Wir wollen uns mit den Konsequenzen dieser Definition beschäftigen
scheidung verzichten. und unterscheiden zwei Fälle:
Tarski hatte die Vermutung, dass gewisse formale Systeme nicht in der
Lage sind, den Wahrheitsbegriff auf diese Weise zu erfassen. In Bezug
auf die Peano-Arithmetik würde dies bedeuten, dass eine Formel T ,
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 237
n 26 Okt Alfred Tarski wurde am 14. Janu- Am 1. September 1939 marschierte die deutsche Wehrmacht
14 Ja
1901 1983
ar 1901 in Warschau unter dem Na- in Polen ein. Tarski befand sich zu dieser Zeit auf einer Aus-
men Alfred Tajtelbaum geboren. Er landsreise in Harvard und entzog sich damit durch Zufall
verbrachte seine Kindheit in wohl- dem Zugriff der Nationalsozialisten. Eine Rückkehr nach
habenden Verhältnissen und war ein außergewöhnlich talen- Polen war ausgeschlossen; sie hätte für den jüdischstämmi-
tierter Junge. Nach seiner Schulausbildung, die er mit bril- gen Mathematiker den sicheren Tod bedeutet. Tarski schei-
lanten Noten abschloss, schrieb sich 1918 als Student an terte mehrmals mit dem Versuch, seiner Familie eine Ausrei-
der Universität in Warschau ein. Anfänglich entwickelte er segenehmigung zu verschaffen, und konnte seine Frau und
ein starkes Interesse für die Naturwissenschaften, entdeck- seine beiden Kinder erst nach Kriegsende in den USA nach-
te seine eigentliche Liebe dann aber in der Mathematik und holen. Seine Eltern und seinen Bruder sah er nicht wieder;
Logik. Tarski fand in Warschau ein hochkarätiges akademi- sie haben den zweiten Weltkrieg nicht überlebt.
sches Umfeld vor und durfte berühmte Mathematiker wie In den USA begleitete Tarski mehrere befristete Anstellun-
Jan Łukasiewicz und Wacław Sierpiński zu seinen Lehrern gen an renommierten Universitäten und Forschungseinrich-
zählen. tungen und akzeptierte im Jahr 1945 den Ruf der University
1923 nahm Alfred den Nachnamen Tarski an und konver- of California in Berkeley auf eine permanente Professoren-
tierte von der jüdischen Religion zum Katholizismus. Dieser stelle. Jetzt hatte er endlich eine Position inne, die er auf-
Zug war zu einen großen Teil strategisch motiviert; Tarski grund seiner brillanten wissenschaftlichen Leistungen längst
wusste, dass er es mit einer polnischen Identität zur dama- verdiente.
ligen Zeit leichter haben würde. Im gleichen Jahr reichte er Tarski absolvierte mehrere Gastaufenthalte an anderen Uni-
seine Doktorarbeit ein. In den Folgejahren scheiterte er meh- versitäten, kehrte aber immer wieder nach Berkeley zurück.
rere Male mit dem Versuch, eine Professur zu erhalten, und Auch im Alter ließ der umtriebige Mathematiker nicht von
verdiente sein Geld daher mit Lehraufträgen an Gymnasien seiner Arbeit ab und engagierte sich noch Jahre nach sei-
und der Universität. In dieser Phase seines Lebens hat Tarski ner Emeritierung in Forschung und Lehre. Die letzten zwölf
einiger seiner wichtigsten Publikationen verfasst, darunter Jahre seines Lebens investierte er in das Buch „A Formali-
seine bahnbrechende Arbeit über die formale Definition des zation of Set Theory without Variables“ [196]. Es war sein
Wahrheitsbegriffs [192, 193]. letztes großes Werk. Kurz nach dessen Vollendung starb Al-
fred Tarski im Alter von 82 Jahren.
wie wir sie oben definiert haben, nicht existieren kann. Einen Beweis
hierfür konnte Tarski damals noch nicht liefern, und so sprach er in
seiner polnischen Originalarbeit lediglich Vermutungen aus.
Als die deutsche Sprache nach dem zweiten Weltkrieg den Status ei-
ner akademischen Weltsprache verloren hatte, erschien Tarskis Arbeit
auch in Englisch, unter dem Titel „The Concept of Truth in Formalized
Languages“. Es ist jene Version der Arbeit, die im Zusammenhang mit
Tarskis Ergebnissen heute am häufigsten zitiert wird.
Mit unserem bisher erworbenen Wissen ist es gar nicht schwer, Tarskis
fulminantes Negativergebnis herzuleiten. Setzen wir nämlich
χ(y) := ¬T (y),
γ ↔ ¬T (γ) (4.46)
Ist die Peano-Arithmetik korrekt, und davon gehen wir aus, so ist jede
beweisbare Aussage inhaltlich wahr. Das bedeutet, dass wir aus (4.46)
den folgenden Schluss ziehen können:
|= γ ↔ ¬T (γ)
|= ¬T (γ) ↔ T (γ)
|= Bew(ϕ) → ϕ (4.47)
|= ϕ → Bew(ϕ) (4.48)
|= ϕ ↔ Bew(ϕ)
Dann wäre Bew ein Wahrheitsprädikat, das nach dem Satz von Tarski
nicht existieren kann. Der Widerspruch löst sich erst dann auf, wenn
wir die Annahme, die Peano-Arithmetik sei gleichzeitig korrekt und
vollständig, fallen lassen, und das bedeutet nichts anderes, als dass sich
die semantische Variante des ersten Unvollständigkeitssatzes direkt aus
dem Satz von Tarski ergibt.
In der Tatsache, dass sich der Begriff der Beweisbarkeit innerhalb der
Peano-Arithmetik formalisieren lässt, nicht aber der Begriff der Wahr-
heit, sah Gödel eine Art Schlüsselargument für die Existenz unent-
scheidbarer Sätze. Er schreibt in einem Brief an den US-amerikanischen
Mathematiker Arthur Burks:
„It is this theorem which is the true reason for the existence
of undecidable propositions in the formal systems contai-
ning arithmetic. I did not formulate it explicitly in my paper
240 4 Beweistheorie
Im Folgenden wollen wir genauer untersuchen, wie Boolos dieses In PA sind die folgenden
Kunststück gelang. Wir starten mit einer einfachen Definition: Formeln beweisbar:
∀ x (x = s(0) ↔ x = 1)
∀ x (x + x = s(s(0)) ↔ x = 1)
Definition 4.8
∀ x (x + x + x = s(s(s(0))) ↔ x = 1)
Eine Formel ψ(ξ ) benennt die Zahl n, wenn Folgendes gilt: ...
In Worten besagt diese Definition, dass eine Formel ψ(ξ ) die Zahl n ge- Alle nachstehenden Formeln
nau dann benennt, wenn die Zeichenkette ∀ x (ψ(x) ↔ x = n) aus den benennen die natürliche Zahl 1:
Axiomen der Peano-Arithmetik hergeleitet werden kann. Es ist ein we- x = s(0)
sentliches Merkmal dieser Definition, dass die Eigenschaft, eine Zahl zu x + x = s(s(0))
benennen, an die Beweisbarkeit und nicht an die Wahrheit einer Formel
x + x + x = s(s(s(0)))
gekoppelt ist!
...
Als Beispiele sind in Abbildung 4.15 mehrere Formeln zu sehen, die al-
lesamt die natürliche Zahl 1 benennen. Unter Anderem wird dort deut- Abbildung 4.15: In der umgangssprach-
lich, dass die Wahl von ψ(ξ ) nicht eindeutig ist; für jede Zahl gibt es lichen Formulierung des Berry-Paradoxons
stets unendlich viele Möglichkeiten, sie zu benennen. bleibt offen, was es genau bedeutet, eine
Zahl zu benennen. In der formalen Variante
In seinem Beweis macht Boolos von einer Formel ϕC (x, y) mit der fol- ist dieser Begriff mathematisch exakt defi-
genden inhaltlichen Bedeutung Gebrauch: niert.
Hierin steht |ϕ| für die Anzahl der Symbole in ϕ. Dass eine Formel mit
der genannten Eigenschaft gefunden werden kann, ist nach unserem bis-
herigen Wissensstand keine spektakuläre Nachricht mehr. Ihre Existenz
folgt aus der Tatsache, dass die Peano-Arithmetik ausdrucksstark ge-
nug ist, um über den syntaktischen Aufbau und die Beweisbarkeit von
Formeln zu sprechen.
Die Bedeutung dieser Formel liegt auf der Hand. Sind x und y zwei
natürliche Zahlen, so ist die Formelinstanz ϕB (x, y) genau dann wahr,
wenn die Zahl x durch eine Formel benannt wird, die weniger als y
Symbole enthält:
Boolos argumentiert in sei- Die Bedeutung der nächsten Formel ist ebenfalls einfach zu verstehen:
nem Beweis, dass es nur
endlich viele Formeln einer ϕA (x, y) := ¬ϕB (x, y) ∧ ∀ (a < x)ϕB (a, y)
bestimmten Länge gibt. Für
die Peano-Arithmetik, wie wir sie in De- Sind x und y natürliche Zahlen, so ist die Formelinstanz ϕA (x, y) genau
finition 3.1 festgelegt haben, ist dies aber dann wahr, wenn
nicht richtig. Wir haben uns gestattet, aus
einem unendlich großen Variablenvorrat
zu schöpfen, und können deshalb unend- I keine Formel ϕ mit |ϕ| < y die Zahl x benennt ¬ϕB (x, y)
lich viele Formeln mit der gleichen Länge
bilden; z. B. diese hier: I und jede Zahl, die kleiner als x ist, ∀ (a < x)
∃ x (x = 1), I durch eine Formel ϕ mit |ϕ| < y benannt wird. ϕB (a, y)
∃ y (y = 1),
Mit anderen Worten:
∃ z (z = 1),
... x ist die kleinste Zahl, die nicht durch eine Formel
|= ϕA (x, y) ⇔
mit weniger als y Symbolen benannt wird.
Dass Boolos in seinem Beweis keinen
Fehler macht, hat er seiner Syntaxdefiniti- Dass für eine vorgelegte Zahl y überhaupt eine kleinste Zahl existiert,
on zu verdanken, die sich von unserer ge- die nicht durch eine Formel mit weniger als y Symbolen benannt wird,
ringfügig unterscheidet. In seiner Variante
folgt bei Boolos aus der Tatsache,
von PA gibt es nur einen endlichen Vor-
rat an Grundzeichen, und Variablen wer-
den durch zusammengesetzte Zeichenket- I dass in seiner Logik nur endlich viele Formeln existieren, die weni-
ten der Form x’, x’’, x’’’, ... repräsentiert. ger als y Symbole enthalten, und
Damit hat Boolos erreicht, dass es nur
endlich viele Formeln einer bestimmten I eine Formel niemals zwei oder mehr Zahlen gleichzeitig benennen
Länge gibt und gleichzeitig eine unbe- kann, falls die Peano-Arithmetik korrekt ist.
grenzte Anzahl an Bezeichnern erzeugt
werden kann.
Dass wir die Peano-Arithmetik anders de- Die zweite Eigenschaft ist leicht einzusehen. Gäbe es eine Formel ψ, die
finiert haben, braucht uns an dieser Stelle gleichzeitig mehrere Zahlen benennt, so würde für zwei verschiedene
aber nicht zu stören. Wir können der Ar- natürliche Zahlen n und m Folgendes gelten:
gumentation von Boolos unverändert fol-
gen, wenn wir eine Variable wie z. B. y ∀ x (ψ(x) ↔ x = n)
oder z ganz einfach als syntaktische Ab- ∀ x (ψ(x) ↔ x = m)
kürzungen für x’ oder x’’ verstehen. Die
oben genannten Beispiele sind dann ledig- Dann wäre aber auch die inhaltlich falsche Formel
lich Abkürzungen für die folgenden For-
meln mit einer jeweils anderen Länge: x=m↔x=n
∃ x (x = 1), ein Theorem, im Widerspruch zur Annahme, die Peano-Arithmetik sei
∃ x’ (x’ = 1), korrekt. Das bedeutet, dass es nur endlich viele Zahlen gibt, die durch
∃ x’’ (x’’ = 1), Formeln mit weniger als y Symbolen benannt werden können, und da-
... mit muss es auch eine größte geben. Deren Nachfolger ist dann die
kleinste Zahl, die nicht durch eine Formel mit weniger als y Symbo-
len benannt werden kann.
4.2 Der erste Unvollständigkeitssatz 243
Jetzt kommt der finale Schritt: Wir setzen k := |ϕA (x, y)| und definieren I Formel ϕF
eine letzte Formel:
∃ y ((y = 50 × k )∧( ϕA (x, y) ))
ϕF (x) := ∃ y ((y = 50 × k) ∧ (ϕA (x, y))) 6 151 1 1+3k 3 k 2
Nach dem bisher Gesagten ist klar, welche Bedeutung diese Formel hat:
Merke:
x ist die kleinste Zahl, die nicht durch eine Formel
|= ϕF (x) ⇔ 0 = 0 ( 1 Symbol)
mit weniger als 50k Symbolen benannt wird.
1 = s(0) ( 4 Symbole)
Bezeichnen wir die kleinste Zahl, die nicht durch eine Formel mit weni-
2 = s(s(0)) ( 7 Symbole)
ger als 50k Symbolen benannt wird, mit n, dann können wir den Sach-
verhalt so ausdrücken: 3 = s(s(s(0))) ( 10 Symbole)
...
|= ϕF (x) ⇔ x = n
50 = s(. . . s (0) . . .) ( 151 Symbole)
Dies ist äquivalent zu der Aussage 50 mal
...
|= ∀ x (ϕF (x) ↔ x = n) (4.49)
k = s(. . . s (0) . . .)( 1 + 3k Symbole)
Als Nächstes wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, aus wie vielen
k mal
Symbolen ϕF besteht. Die Berechnung in Abbildung 4.16 zeigt, dass die
Anzahl kleiner als 50k ist, und damit kann ϕF die Zahl n nicht benennen. I Länge von ϕF
Dies bedeutet per Definition, dass die Formel ∀ x (ϕF (x) ↔ x = n) in PA
unbeweisbar ist: 6
∀ x (ϕF (x) ↔ x = n) (4.50) + 151
+ 1+3k
Jetzt sind wir am Ziel. Wir haben gezeigt, dass mit ϕF innerhalb der + 3
Peano-Arithmetik eine Formel existiert, die nach (4.49) inhaltlich wahr, + k
aber nach (4.50) formal unbeweisbar ist. Genau dies ist die Aussage + 2
der semantischen Variante des ersten Gödel’schen Unvollständigkeits- 163+4k
satzes. !
Lassen wir den Beweis von Boolos vor unserem geistigen Augen Revue Aus k > 3 folgt |ϕF | < 50k
passieren, so beeindruckt er zunächst einmal durch seine Knappheit.
Boolos ist es augenscheinlich gelungen, den ersten Unvollständigkeits-
satz in so wenigen Schritten herzuleiten, dass wir uns unweigerlich die Abbildung 4.16: Nach unserer Definition
Frage stellen müssen, ob der zuvor betriebene Aufwand überhaupt not- ist n die kleinste Zahl, die nicht von einer
wendig war. Für die Klärung dieser Frage dürfen wir zwei Dinge nicht Formel benannt werden kann, die weniger
aus den Augen verlieren: als 50k Symbole enthält. Die Formel ϕF be-
steht aus weniger als 50k Symbolen. Folg-
lich wird die Zahl n nicht von ϕF benannt.
I Boolos beweist nicht, wie Gödel, die komplizierte syntaktische Vari-
ante des ersten Unvollständigkeitssatz, sondern lediglich die seman-
tische. In der Tat ist diese viel einfacher herzuleiten, und im Jahr
1987 waren ähnlich kurze Beweise bereits bekannt. Einen genauso
kurzen wie eleganten Beweis werden wir in Abschnitt 5.4.2 bespre-
chen. Wir werden dort zeigen, wie sich die semantische Variante des
ersten Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes elegant über die Arith-
metisierung von Turing-Maschinen herleiten lässt.
244 4 Beweistheorie
I In Wirklichkeit ist der Beweis von Boolos gar nicht so kurz, wie es
die ersten flüchtigen Blicke suggerieren. Verantwortlich hierfür ist
die Formel ϕC . Im Beweis haben wir schlicht und einfach darauf
vertraut, dass eine Formel mit der geforderten Eigenschaft existiert,
dies aber nicht formal gezeigt. Um die Existenz von ϕC mathema-
tisch präzise abzusichern, wird der komplette Gödelisierungsappa-
rat benötigt, genauso wie die alles andere als triviale Eigenschaft,
dass sich über die Beweisbarkeit einer Formel innerhalb der Peano-
Arithmetik sprechen lässt. Lückenlos aufgeschrieben würde sich der
Beweis von Boolos damit über viele Seiten erstrecken und enthielte
große Teile des Gödel’schen Originalbeweises.
Das Besondere an Boolos’ Beweis ist also gar nicht seine Kürze: Es
ist vielmehr die Tatsache, dass die Argumentationskette, im Gegensatz
zu den meisten anderen Beweisen, ohne einen direkten Bezug auf das
Prinzip der Diagonalisierung auskommt. Diese Eigenschaft ist außerge-
wöhnlich und verleiht dem Beweis tatsächlich einen besonderen Char-
me. Auch Boolos sah dies so, wie das Eingangszitat zu diesem Ab-
schnitt unterstreicht.
In seiner Arbeit aus dem Jahr 1931 hat Gödel weit mehr bewiesen als die
Unvollständigkeit der Arithmetik. Im zweiten Teil beschäftigte er sich
ausführlich mit den Konsequenzen des ersten Unvollständigkeitssatzes
und machte dabei eine weitreichende Entdeckung. Sie ist Inhalt dessen,
was wir heute als den zweiten Gödel’schen Unvollständigkeitssatz be-
zeichnen (Abbildung 4.17). Dieser Satz besagt, dass kein formales Sys-
tem, das stark genug ist, um über die additiven und die multiplikativen
Eigenschaften der natürlichen Zahlen zu sprechen, seine eigene Wider-
spruchsfreiheit beweisen kann. In diesem Abschnitt werden wir klären,
wie diese Aussage im Detail gemeint ist und welche Konsequenzen sich
hieraus für die Mathematik ergeben.
Wenn wir sagen, ein formales System kann seine eigene Widerspruchs-
freiheit beweisen, dann meinen wir das Folgende:
I Es existiert eine Formel Con, die genau dann wahr ist, wenn das
formale System widerspruchsfrei ist.
Per Definition ist ein formales System widerspruchsfrei, wenn für kei-
Dass die Formel Con, wie wir
ne Formel ϕ sowohl ϕ als auch dessen Negation ¬ϕ aus den Axiomen
sie in (4.51) definiert haben,
abgeleitet werden kann. Mithilfe der Formel Bew(y), die wir auf Sei- tatsächlich die Widerspruchsfreiheit der
te 230 eingeführt haben, können wir die Widerspruchsfreiheit innerhalb Peano-Arithmetik beschreibt, hat mit ei-
der Peano-Arithmetik folgendermaßen formalisieren: ner Eigenschaft zu tun, die wir in der
Randnotiz auf Seite 96 erörtert haben.
Con := ¬∃ x (Bew(x) ∧ Bew(¬x)) Dort haben wir dargelegt, dass in jeder wi-
dersprüchlichen Theorie, die den gewöhn-
Inhaltlich besagt die Formel genau das, wonach wir suchen: Es gibt lichen aussagenlogischen Schlussapparat
keine Formel, die zusammen mit ihrer Negation innerhalb der Peano- enthält, ausnahmslos jede Formel aus den
Arithmetik beweisbar ist: Axiomen abgeleitet werden kann. Sind
also ϕ und ¬ϕ beweisbare Formeln, so
|= Con ⇔ Die Peano-Arithmetik ist widerspruchsfrei sind es auch 0 = 1 und 0 = 1. Umgekehrt
folgt dann aus der Nichtbeweisbarkeit von
Es gibt noch eine einfachere Möglichkeit, die Widerspruchsfreiheit zu 0 = 1, dass eine Formel ϕ niemals zu-
charakterisieren. Es genügt, eine beliebige beweisbare Formel zu wäh- sammen mit ihrer Negation ¬ϕ beweisbar
len, z. B. die Formel 0 = 1, und die Unbeweisbarkeit ihrer Negation zu sein kann.
fordern: In seiner Arbeit aus dem Jahr 1931 be-
Con := ¬Bew(0 = 1) (4.51) schrieb Gödel die Widerspruchsfreiheit
geringfügig anders, folgte aber der glei-
Es ist diese Definition von Con, die wir ab jetzt verwenden. chen Grundidee. Genau wir wir nutzte er
aus, dass ein formales System genau dann
Jetzt kommt der erste Unvollständigkeitssatz ins Spiel. In Worten be- widerspruchsfrei ist, wenn mindestens ei-
sagt er, dass jedes widerspruchsfreie formale System, das stark genug ne unbeweisbare Formel existiert. Gödel
ist, um die Peano-Arithmetik zu formalisieren, negationsunvollständig übersetzte diese Formulierung eins zu eins
ist. Für den Beweis des zweiten Unvollständigkeitssatzes sind die fol- in eine Formel, die er Wid nannte [69]:
genden beiden Tatsachen entscheidend:
Wid := ∃ x (Form(x) ∧ ¬Bew(x))
I Der erste Unvollständigkeitssatz lässt sich innerhalb der Peano- Hierin ist Form(x) eine Formel, die ge-
Arithmetik formulieren. Für unsere Zwecke benötigen wir gar nicht nau dann beweisbar ist, wenn x die Gö-
den vollständigen Satz, sondern lediglich die Aussage, dass aus der delnummer eines syntaktisch korrekt ge-
Widerspruchsfreiheit von PA die Unbeweisbarkeit des Gödel’schen formten arithmetischen Ausdrucks ist.
246 4 Beweistheorie
Abbildung 4.18: Der finale Schritt im Beweis des zweiten Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes. Wäre Con innerhalb der
Peano-Arithmetik beweisbar, so ergäbe sich hieraus ein Beweis von ϕg (g), im Widerspruch zum ersten Unvollständigkeitssatz.
Jetzt kommt der entscheidende Schritt: Wäre die Formel Con innerhalb
der Peano-Arithmetik ableitbar, so könnten wir, wie in Abbildung 4.18
gezeigt, auch die Formel
¬Bew(ϕg (g))
ableiten. Nach Satz 4.10 ist auch die Formel
ϕg (g) ↔ ¬Bew(ϕg (g))
4.3 Der zweite Unvollständigkeitssatz 247
ein Theorem und damit erst recht die abgeschwächte Aussage Die ausführliche Herleitung
von David Hilbert und Paul
¬Bew(ϕg (g)) → ϕg (g) (4.54) Bernays aus dem Jahr 1939
zeigt, wie kompliziert es ist,
Wenden wir jetzt den Modus ponens an, so erhalten wir einen Beweis den Beweis des ersten Unvollständigkeits-
für die Formel ϕg (g). Aus dem ersten Unvollständigkeitssatz wissen satzes in der Peano-Arithmetik nachzu-
wir aber bereits, dass ϕg (g) unbeweisbar ist. Damit sind wir am Ziel bilden [93]. Trotzdem wurde Gödels Be-
und können den zweiten Gödel’schen Unvollständigkeitssatz mit stolzer weisskizze des zweiten Unvollständig-
Brust verkünden: keitssatzes aus dem Jahr 1931 niemals
ernsthaft angezweifelt. Die Akzeptanz der
Beweisskizze war sogar so groß, dass Gö-
Satz 4.12 (Gödel, 1931) del davon absah, sie in der angekündigten
zweiten Veröffentlichung detailliert aus-
In jedem widerspruchsfreien formalen System, das stark genug ist, zuarbeiten. Wie kann das sein?
um die Peano-Arithmetik zu formalisieren, gilt Con. Die undurchsichtige Situation klärt sich
auf, wenn wir uns daran erinnern, dass
Gödel sein Ergebnis gar nicht für die
Peano-Arithmetik, sondern für das Sys-
4.3.1 Hilbert-Bernays-Löb-Kriterien tem P bewiesen hat, das auf dem lo-
gischen Unterbau der Principia Mathe-
matica beruht. Dass sich ein umgangs-
Die Überlegung, die uns im letzten Abschnitt den zweiten Unvollstän-
sprachlicher Beweis innerhalb der Typen-
digkeitssatz in die Hände gespielt hat, war an einer bedeutenden Stelle theorie der Principia nachvollziehen lässt,
lückenhaft. Wir haben darauf vertraut, dass sich der Beweis des ersten war 1931 keine spektakuläre Nachricht. In
Unvollständigkeitssatzes innerhalb der Peano-Arithmetik formalisieren ihrem dreibändigen Werk hatten Russell
lässt, und dies ist alles andere als selbstverständlich. und Whitehead eindrucksvoll unter Be-
weis gestellt, dass in ihrem System alle
In seiner Originalarbeit lieferte Gödel ebenfalls keinen ausführlichen Schlussweisen der gewöhnlichen Mathe-
Beweis hierfür. Er skizzierte die Herleitung in einer ähnlichen Form matik reproduziert werden können.
wie wir und schloss seine Arbeit mit den folgenden Worten ab: Die Arbeit von Hilbert und Bernays ist so-
mit weit mehr als die Komplettierung der
Gödel’schen Beweisskizze. In ihr wurde
„In voller Allgemeinheit werden die Resultate in einer zum ersten Mal formal gezeigt, dass der
demnächst erscheinenden Fortsetzung ausgesprochen und Beweis des ersten Gödel’schen Unvoll-
bewiesen werden. In dieser Arbeit wird auch der nur skiz- ständigkeitssatzes innerhalb von Theorien
zenhaft geführte Beweis von Satz XI ausführlich dargestellt nachvollzogen werden kann, die deutlich
werden. (Eingelangt: 17. XI. 1930)“ primitiver sind als die Typentheorie der
Principia Mathematica.
Kurt Gödel [69]
Hilbert und Bernays wurden schnell fündig. Sie fanden heraus, dass ihre
Argumentationskette immer dann auf ein formales System angewendet
werden kann, wenn das Beweisprädikat Bew gewisse Kriterien erfüllt,
die im Englischen als derivability conditions bezeichnet werden. Diese
wurden im Jahr 1955 von Martin Löb zu dem vereinfacht, was wir heute
als die Hilbert-Bernays-Löb-Kriterien bezeichnen. Konkret sind damit
die folgenden drei Eigenschaften gemeint:
ϕ ⇒ Bew(ϕ) (4.55)
Bew(ϕ → ψ) → (Bew(ϕ) → Bew(ψ)) (4.56)
Bew(ϕ) → Bew(Bew(ϕ)) (4.57)
ϕ ⇒ ϕ (DC1)
(ϕ → ψ) → (ϕ → ψ) (DC2)
ϕ → ϕ (DC3)
mit
Con = ¬(0 = 1)
Wir werden nun zeigen, dass sich (4.58) aus den Hilbert-Bernays-Löb-
Kriterien innerhalb von PA formal herleiten lässt.
Zunächst erinnern wir uns an den Inhalt von Satz 4.10. Aus ihm folgt,
dass die Formeln
Theoreme von PA sind, und mit der Ersten beginnt unser Beweis:
Damit sind wir in der Lage, die in Abbildung 4.18 präsentierte Beweis-
skizze des zweiten Unvollständigkeitssatzes zu komplettieren. Das Er-
gebnis ist in Abbildung 4.19 zu sehen.
Auch jetzt sind immer noch nicht alle Beweislücken gefüllt, denn
hierzu müssten wir zeigen, dass die Peano-Arithmetik tatsächlich alle
drei Hilbert-Bernays-Löb-Kriterien erfüllt. Dieser Teil ist technisch an-
spruchsvoll, und wir wollen ihn an dieser Stelle bewusst überspringen.
Ausführlich ausgearbeitet ist er beispielsweise in [183].
Abbildung 4.19: Ableitung des zweiten Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes aus den Hilbert-Bernays-Löb-Kriterien.
des deutschen Mathematikers Martin Löb [117]. Dieser Titel lädt zum
Lesen ein! Welches Problem hatte Leon Henkin damals geäußert und
auf welche Weise wurde es gelöst? Ein Blick in Löbs Arbeit liefert uns
die Antwort. Es geht dort um eine Frage, die 1955 in der Juni-Ausgabe
der renommierten Zeitschrift Journal of Symbolic Logic unter der Ru-
brik Problems veröffentlicht wurde. Dort hieß es:
Beweisbar
ϕg (g) H
Unbeweisbar
Unbeweisbar
ϕg (g) H
Henkin beschäftigte sich damals mit der Frage, ob die Formel H inner-
halb der Peano-Arithmetik bewiesen werden kann, fand aber selbst kei-
252 4 Beweistheorie
1. ϕ → ϕ (Annahme) ne Antwort darauf. Im Vergleich zu Gödels Formel ϕg (g), die ihre Nä-
... (...) he zu den semantischen Paradoxien nicht verbergen kann, ist Henkins
2. γ → (γ → ϕ) (aus 4.63) Variante ein braver Musterschüler. Weder die Annahme sie sei beweis-
3. (γ → ϕ) → γ (aus 4.63) bar, noch die Annahme, sie sei unbeweisbar, führen zu einem erkenn-
baren Widerspruch (Abbildung 4.20). Spielen wir ruhig beide Varianten
durch:
4. (γ → (γ → ϕ)) (DC1, 2)
5. (γ → (γ → ϕ)) →
I Angenommen, es gelte H.
(γ → (γ → ϕ)) (DC2)
Da die Formel ihre eigene Beweisbarkeit behauptet, wäre sie inhalt-
6. γ → (γ → ϕ) (MP, 4,5)
lich wahr; sie ist also gleichzeitig wahr und beweisbar.
7. (γ → ϕ) →
(γ → ϕ) (DC2) I Angenommen, es gelte H.
8. γ → (γ → ϕ) (MB, 6,7) Da die Formel ihre eigene Beweisbarkeit behauptet, wäre sie inhalt-
9. { γ } γ → ϕ (DT) lich falsch; sie ist also gleichzeitig falsch und unbeweisbar.
10. γ → γ (DC3)
Auch wenn keine der beiden Möglichkeiten zu einem unmittelbaren Wi-
11. { γ } γ (DT)
derspruch führt, ist eines ganz klar: nur eine davon kann zutreffen. Drei
12. { γ } ϕ (MP, 9,11) Jahre lang blieb Henkins Frage ungelöst, bis Martin Löb schließlich ei-
13. γ → ϕ (DT) ne Antwort fand.
14. γ → ϕ (MB, 13,1)
Wir wollen uns genauer ansehen, wie Löb die Frage entschieden hat,
15. γ (MP, 14,3)
und nehmen an, ϕ sei eine Formel mit der Eigenschaft
16. γ (DC1, 15)
17. ϕ (MP, 16,14) ϕ → ϕ (4.62)
Abbildung 4.21: Ist die Formel ϕ → ϕ Weiter unten werden wir für ϕ die Henkin-Formel H einsetzen, die die-
innerhalb der Peano-Arithmetik beweisbar, se Eigenschaft aufgrund von (4.61) erfüllt.
so ist es auch die Formel ϕ [16].
Wählen wir für χ die Formel
χ(y) := Bew(y) → ϕ,
γ ↔ (Bew(γ) → ϕ)
γ ↔ (γ → ϕ) (4.63)
Abbildung 4.21 zeigt, dass sich mit dieser Formel eine interessante Ab-
leitungssequenz erzeugen lässt. Aus ihr geht hervor, dass die Beweis-
barkeit der Form ϕ → ϕ die Beweisbarkeit der Formel ϕ nach sich
zieht, unabhängig von der Wahl von ϕ. Genau dies ist Aussage des Sat-
zes von Löb, der für die Peano-Arithmetik folgendermaßen lautet:
4.3 Der zweite Unvollständigkeitssatz 253
Abbildung 4.22: Ableitung des zweiten Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes aus dem Satz von Löb.
Mit dem Satz von Löb sind wir in der Lage, Henkins Frage zu beant-
worten. Wir wissen aus (4.61), dass der Formel H die Eigenschaft
H → H
zukommt und sie damit die Voraussetzung von Satz 4.13 erfüllt. Dar-
aus folgt unmittelbar, dass die Henkin-Formel H ein Theorem ist, also
innerhalb von PA bewiesen werden kann:
H
Dass wir mit Satz 4.13 Henkins Problem lösen konnten, ist zwar be-
achtenswert, es ist aber nicht der Hauptgrund für die Erwähnung in die-
sem Buch. Eine intensivere Beschäftigung mit Löbs Satz zeigt nämlich,
dass dessen inhaltliche Aussage viel tiefergehend ist, als es der erste
Blick suggeriert. Wie weitreichend er wirklich ist, verdeutlicht Abbil-
dung 4.22. Dort ist zu sehen, dass sich der Satz von Löb in der unmit-
telbaren Nähe eines Satzes aufhält, den wir in diesem Buch zu Recht
als eines der bedeutendsten Ergebnisse der mathematischen Logik be-
zeichnet haben: den zweiten Gödel’schen Unvollständigkeitssatz. Dies
ist die eigentliche Bedeutung des Satzes von Löb und unzweifelhaft ein
faszinierendes Ergebnis!
254 4 Beweistheorie
Als Beispiel soll die Formel ϕ für die Goldbach’sche Vermutung ste-
hen, von der wir heute nicht wissen, ob sie in der Zermelo-Fraenkel-
Mengenlehre bewiesen werden kann oder nicht. Sollte sich herausstel-
len, dass ϕ in ZF unbeweisbar ist, so könnten wir ϕ zu den Axiomen
von ZF hinzufügen und erhielten mit ZF ∪ {ϕ} ein formales System,
in dem die Goldbach’sche Vermutung beweisbar ist. Ob es sinnvoll ist,
das Gebäude der Mathematik auf diesem Kalkül zu errichten, ist eine
andere Frage.
genannt, noch werden Beweise für gewöhnlich auf der formalen Ebene
aufgeschrieben. Hier meinen wir mit „beweisbar“, dass eine Aussage
im „gewöhnlichen Schlussapparat der Mathematik“ abgleitet werden
kann. Das formale Pendant zu diesem Schlussapparat ist die Zermelo-
Fraenkel-Mengenlehre, repräsentiert durch die Systeme ZF und ZFC.
Behalten Sie stets im Gedächtnis, dass nicht alle formalen Systeme Missverständnis 2:
von der Gödel’schen Unvollständigkeit betroffen sind, sondern nur
solche, die in der Lage sind, über die additiven und die multiplikativen „Gödel hat gezeigt, dass in jedem for-
Eigenschaften der natürlichen Zahlen zu sprechen. Hierunter fällt die malen System unentscheidbare Aussa-
Peano-Arithmetik, genauso wie die Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre, in gen existieren.“
der sich die natürlichen Zahlen durch Mengen und die Addition sowie
die Multiplikation durch Mengenoperationen darstellen lassen.
Dass nicht jedes formale System unvollständig ist, hat auch schon die
in Abschnitt 2.1 geführte Diskussion gezeigt. Dort haben wir einen kor-
rekten und vollständigen Kalkül definiert, in dem eine Reihe primitiver
Aussagen über die natürlichen Zahlen abgeleitet werden kann. Natür-
lich ist dieser Kalkül viel zu ausdrucksschwach, als dass wir ihm eine
sinnvolle Anwendung innerhalb der Mathematik zuordnen könnten.
Wir halten fest: Nicht jedes formale System ist unvollständig. Damit
drängt sich unweigerlich die Frage auf, ab wann das Phänomen der Un-
vollständigkeit tatsächlich einsetzt. Wie ausdrucksstark muss ein for-
males System sein, damit es in den Sog des ersten Gödel’schen Unvoll-
ständigkeitssatzes gerät? Um der Antwort näher zu kommen, betrachten
wir die beiden formalen Systeme in Tabelle 4.3.
Das bedeutet mitnichten, dass ein formales System über die volle Aus-
drucksstärke der Peano-Arithmetik verfügen muss, um dem Unvoll-
ständigkeitssatz zum Opfer zu fallen. Eine genaue Analyse des Gö-
del’schen Beweises hat gezeigt, dass die vollständige Induktion in die-
sem Zusammenhang so gut wie keine Rolle spielt. Ersetzen wir in PA
256 4 Beweistheorie
Presburger-Arithmetik Robinson-Arithmetik
σ = τ → (σ = ρ → τ = ρ) (P1) σ = τ → (σ = ρ → τ = ρ) (R1)
σ +0 = σ (P5) σ +0 = σ (R5)
σ ×0 = 0 σ × s(τ) = (σ × τ) + σ (R8)
Tabelle 4.3: Theorieaxiome der Presburger-Arithmetik (links) und der Robinson-Arithmetik (rechts)
das Induktionsaxiom durch das viel schwächere Axiom (R9) aus Ta-
belle 4.3, so gelangen wir auf direktem Weg zur Robinson-Arithmetik.
Sie ist ausdrucksschwächer als die Peano-Arithmetik, aber ausdrucks-
stärker als die Presburger-Arithmetik. Wir wissen heute, dass all das,
was zur Durchführung des Gödel’schen Beweises benötigt wird, in der
Robinson-Arithmetik bereits vorhanden ist. Das bedeutet, dass wir die
Voraussetzungen der Gödel’schen Unvollständigkeitssätze noch weiter
abschwächen können. Die Sätze greifen für alle formalen Systeme, die
stark genug sind, um die Robinson-Arithmetik zu formalisieren.
Der Widerspruch löst sich auf, wenn wir uns daran erinnern, wie das
Symbol ‚|=‘ jeweils zu lesen ist. Im Kontext des Vollständigkeitssatzes
besagt |= ϕ, dass ϕ allgemeingültig ist, d. h., die Formel ist unter allen
4.4 Gödels Sätze richtig verstehen 257
Es ist ein bekanntes Ergebnis der euklidischen Geometrie, dass sich das Missverständnis 4:
Parallelenpostulat (Abbildung 4.23) nicht aus den anderen Axiomen
ableiten lässt, genauso wenig wie seine Negation. Tatsächlich ist das „Die Existenz unentscheidbarer Sät-
Parallelenpostulat unentscheidbar, weil die anderen euklidischen Axio- ze beruht auf der Unzulänglichkeit
me mehrere konsistente Interpretationen besitzen. Eine davon ist die der Axiome, die Eigenschaften der be-
Geometrie der Ebene; sie ist gewissermaßen die Standardinterpretation schriebenen Objekte eindeutig zu cha-
der euklidischen Geometrie, und hier ist das Parallelenpostulat ein rakterisieren. Unentscheidbare Sätze
wahrer Satz. Daneben existieren andere Interpretationen, wie die ellip- entstehen nur deshalb, weil die Axiome
tische oder die hyperbolische Geometrie, die ebenfalls im Einklang mit mehr als eine konsistente Interpretati-
den anderen euklidischen Axiomen stehen. In diesen nichteuklidischen on zulassen.“
Geometrien ist das Parallelenpostulat eine falsche Aussage.
Existieren für die Axiome eines korrekten formalen Systems mehrere
konsistente, nichtisomorphe Interpretationen, so müssen zwangsläufig
unentscheidbare Sätze existieren. Es ist wichtig, das von Gödel ent-
deckte Unvollständigkeitsphänomen nicht mit dieser Art der Unvoll-
„Zu einer Geraden und
ständigkeit zu verwechseln oder gar gleichzusetzen. Die Unentscheid-
einem Punkt außerhalb
barkeit des Parallelenpostulats rührt daher, dass die anderen Axiome zu der Geraden gibt es
schwach sind, um die geometrischen Objekte, die wir im Sinn haben, genau eine Gerade, die
eindeutig zu charakterisieren. Der entstehende Interpretationsspielraum durch den Punkt geht
sorgt dann für die Existenz unentscheidbarer Sätze. und parallel zur
ersten Geraden
Die Gödel’sche Unvollständigkeit ist viel tiefer gehend. Wir treffen sie ist.“
auch in formalen Systemen an, die nur eine einzige konsistente Inter-
pretation zulassen. Ein Beispiel eines solches Systems ist die Peano-
Arithmetik, formuliert in der Prädikatenlogik zweiter Stufe. Hier be- Euklid von Alexandria
sagt der Isomorphiesatz von Dedekind, dass alle Modelle isomorph (ca. 365 v. Chr. – ca. 300 v. Chr.)
zum Standardmodell sind, und auch in diesem System existieren un-
entscheidbare Sätze. Abbildung 4.23: Das Parallelenpostulat
258 4 Beweistheorie
Missverständnis 5: Gödel hat gezeigt, dass für jeden Kalkül, der die Voraussetzungen des
ersten Unvollständigkeitssatzes erfüllt, eine Formel ϕg (g) konstruiert
„Unvollständige formale Systeme las- werden kann, die unentscheidbar ist. Für diese Formel gilt, dass weder
sen sich vervollständigen, indem für je- sie selbst noch ihre Negation aus den Axiomen abgeleitet werden kann,
de unentscheidbare Formel entweder und somit können wir eine davon widerspruchsfrei zu den Axiomen
die Formel selbst oder deren Negation hinzufügen. Auf diese Weise, so scheint es, lässt sich das Gödel’sche
als Axiom hinzugefügt wird.“ Leck schließen und der Kalkül systematisch vervollständigen.
Der zweite Blick macht deutlich, dass dieser Ansatz ins Leere laufen
muss. Sobald wir die Axiomenmenge erweitert haben, können wir die
Gödel’sche Konstruktion abermals anwenden und erhalten als Ergeb-
nis eine Formel ϕg (g ), die von ϕg (g) verschieden ist und innerhalb
des neuen Systems unentscheidbar ist. Aber wie kann es sein, dass wir
beim zweiten Mal eine andere Formel erhalten? Der Grund ist dieser:
Da wir dem Kalkül ein neues Axiom hinzugefügt haben, ändern sich die
Gödelnummern aller Formeln, die in der Konstruktion des Gödel’schen
Diagonalelements eine Rolle spielen, und damit auch das Diagonalele-
ment selbst. Es gibt an dieser Stelle kein Entrinnen: Formale Systeme,
die ausdrucksstark genug sind, um die Peano-Arithmetik zu formalisie-
ren, lassen sich nicht vervollständigen.
Und wie sieht es mit der Mengenlehre aus? Reicht das Fundierungsaxi-
om wirklich aus, um sämtliche Antinomien aus der Mengenlehre zu ver-
drängen? Auch hier herrscht die Meinung vor, dass sich die Mathematik
widerspruchsfrei auf ZF oder ZFC errichten lässt, aber einen formalen
Beweis dafür halten wir nicht in Händen. Der zweite Unvollständig-
keitssatz macht unmissverständlich klar, dass ein solcher Beweis nur in
formalen Systemen möglich ist, die komplexer sind als ZF oder ZFC.
Wir würden die Frage also lediglich auf ein anderes System verschie-
ben. In der Tat zerstört der zweite Unvollständigkeitssatz jede Hoff-
nung, auf die Frage der Widerspruchsfreiheit von ZF oder ZFC jemals
eine präzise Antwort zu erhalten.
260 4 Beweistheorie
z 8 Mar
1 5 De Im Jahr 1944 bewies der englische Mathematiker Reuben Louis Good-
1912 1985
Der englische stein einen Satz, der die volle Tragweite des Gödel’schen Unvollstän-
Mathematiker digkeitsphänomens zum Vorschein bringt. Auf den ersten Blick wirkt
Reuben Louis der Satz von Goodstein wie ein gewöhnliches Theorem der Zahlentheo-
Goodstein wurde am 15. Dezember
rie; er macht eine Aussage über den Werteverlauf spezieller Zahlenfol-
1912 in London geboren. Von der dort
gen, die wir heute als Goodstein-Folgen bezeichnen, und lässt sich mit
ansässigen St. Paul’s School wechselte er
1931 an die renommierte University of den Mitteln der Ordinalzahltheorie aus Abschnitt 3.2.2 vergleichsweise
Cambridge. Das Studium der Mathematik einfach beweisen.
absolvierte Goodstein mit Bravour. Seine
nächste Station war eine Lecturer-Posi- Was den Satz von Goodstein so außergewöhnlich macht, ist die Tat-
tion an der University of Reading. Dort sache, dass er genau wie die Gödel’sche Formel ϕg (g) oder die Ros-
setzte er auch seine eigenen Forschungs- ser’sche Formel ϕr (r) innerhalb der Peano-Arithmetik unentscheidbar
vorhaben fort, für die er 1947 von der ist. Das bedeutet, dass weder der Satz selbst noch seine Negation aus
University of London mit der Doktorwür- den Axiomen hergeleitet werden kann, wenn die Peano-Arithmetik frei
de ausgezeichnet wurde. 1948 folgte er von Widersprüchen ist. Dies ist das erstaunliche Ergebnis einer Arbeit
einem Ruf an die University of Leicester, von Laurie Kirby und Jeff Paris aus dem Jahr 1982 [108]. Im Gegensatz
wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr zu den künstlich konstruierten Formeln von Gödel und Rosser ist der
1977 als Professor lehrte und forschte. Satz von Goodstein aber alles andere als ein Kunstprodukt: Er ist ein
Goodstein engagierte sich zeitlebens in
gewöhnlicher Satz der Zahlentheorie und im Gegensatz zu ϕg (g) und
der Lehre und galt als hervorragender Di-
ϕr (r) gänzlich frei von inhaltlichen Selbstbezügen.
daktiker. Heute wird sein Name vor allem
mit dem Satz von Goodstein verbunden, Um den Satz von Goodstein zu verstehen, benötigen wir ein wenig
dem bekanntesten Beispiel dessen, was Grundwissen über die Darstellung natürlicher Zahlen. Zunächst halten
wir in der mathematischen Logik als na- wir fest, dass sich jede natürliche Zahl x in der Form
türliches Unabhängigkeitsphänomen be-
zeichnen (natural independence pheno- x = an · bn + an−1 · bn−1 + an−2 · bn−2 + . . . + a1 b + a0 (4.64)
menon). Grob gesprochen zählen hierzu
alle gewöhnlichen Sätze der Mathematik, schreiben lässt mit a0 , . . . , an ≥ 0. b wird als Basis bezeichnet und ist
die sich genau wie die künstlich konstru- eine beliebige natürliche Zahl größer 1. Fordern wir zusätzlich für alle i
ierten Formeln von Gödel und Rosser der
die Beziehung ai < b, so sind die Ziffern a0 , . . . , an eindeutig bestimmt,
Beweisbarkeit in PA entziehen.
Weniger bekannt ist, dass Goodstein der
und wir nennen (4.64) die b-adische Darstellung von x.
Schöpfer eines bekannten Begriffssche-
Für b = 2 und x = 36 erhalten wir z. B. das Ergebnis
mas ist, das häufig verwendet wird, um
Operationen jenseits der Potenzierung
36 = 1 · 25 + 1 · 22
zu benennen. Die iterierte Potenzierung,
die gern auch als Hyper-Exponentiation
Was wir für die Konstruktion der Goodstein-Folge benötigen, ist eine
oder Super-Potenzierung bezeichnet wird,
Repräsentation von x, die wir als expandierte b-adische Darstellung be-
heißt bei Goodstein Tetration. Danach fol-
gen, in der Reihenfolge der griechischen zeichnen. Sie entsteht, indem die Exponenten in (4.64) rekursiv durch
Vorsilben, die Pentation, die Hexation, die ihre eigene b-adische Darstellung ersetzt werden. Für die Zahl 36 liest
Heptation, die Octation und so fort. sich die expandierte Darstellung zur Basis 2 wie folgt:
Reuben Goodstein starb in Leicester am 8. 2 +1
März 1985 im Alter von 72 Jahren. 36 = 1 · 22 + 1 · 22
4.5 Der Satz von Goodstein 261
I Goodstein-Folge zum Startwert 1 Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Goodstein-Folge den Wert 0 er-
gn (1) reicht? In Abbildung 4.24 konnten wir beobachten, dass die Folgenele-
4 mente durch die fortwährende Erhöhung der Basis so rasant anwach-
3
sen, dass wir bereits nach wenigen Schritten kaum noch in der Lage
sind, sie in Dezimalschreibweise zu notieren. Die Beispiele in Abbil-
2
dung 4.25 zeigen zudem, dass wir dieses Phänomen schon für kleine
1 Startwerte beobachten können. Ab x = 4 scheinen Goodstein-Folgen
0 n mit aller Macht gegen Unendlich zu streben, und die Vergrößerung des
0 1 2 3 4 5 6 7 Startwerts befeuert den rasanten Anstieg zusätzlich.
I Goodstein-Folge zum Startwert 2
Damit ist es an der Zeit, den Satz von Goodstein zu formulieren. Im
gn (2)
Angesicht der betrachteten Beispiele offenbart er Erstaunliches:
4
3 Satz 4.14 (Goodstein, 1944)
2
1 Jede Goodstein-Folge erreicht irgendwann den Wert 0.
0 n
0 1 2 3 4 5 6 7
Abbildung 4.26 zeigt, wann die ersten vier Goodstein-Folgen den Wert
I Goodstein-Folge zum Startwert 3 0 erreichen. Die ersten drei Folgen tun dies sehr rasch. Für den Startwert
gn (3) 4 steigt die Folge erst einmal für lange Zeit an und erreicht bei
4 1
i = 24 · 224 224 · 2 − 3 ≈ 1,72 · 10121210694
24
3 4
2 ihr Maximum [6, 160]. Danach bleibt sie lange konstant und tritt an-
1 schließend in eine kontinuierliche Abstiegsphase ein. Den Wert 0 er-
reicht die Folge bei
0 n
i = 24 · 224 224 · 2 − 3 ≈ 6,89 · 10121210694
0 1 2 3 4 5 6 7 24
2 +1 Transformation ω +1
22 + 22 ωω + ωω Abbildung 4.27: Jede Goodstein-Folge
lässt sich in eine Parallelfolge von Ordi-
3 +1 Transformation ω +1 nalzahlen übersetzen, die so lange streng
33 + 2 · 32 + 2 · 3 + 2 ωω + 2 · ω2 + 2 · ω + 2
monoton fällt, bis die Goodstein-Folge
den Wert 0 erreicht. Wäre Satz 4.14
4 +1 Transformation ω +1
44 + 2 · 42 + 2 · 4 + 1 ωω + 2 · ω2 + 2 · ω + 1 falsch, so gäbe es eine Goodstein-Folge,
deren Elemente allesamt von 0 verschie-
5 +1 Transformation ω +1 den sind, und damit gäbe es auch eine
55 + 2 · 52 + 2 · 5 ωω + 2 · ω2 + 2 · ω unendlich absteigende Folge von Ordinal-
zahlen. Wir wissen aber bereits, dass eine
... ... solche Folge nicht existieren kann.
Zu allererst wollen wir uns klar machen, dass die Peano-Arithmetik tat-
sächlich stark genug ist, um über den Satz von Goodstein zu sprechen.
264 4 Beweistheorie
Abbildung 4.28: Die ersten vier Funktions- Satz 4.15 (Kreisel, 1952)
werte der Goodstein-Funktion G
Lässt sich die Totalität einer berechenbaren Funktion f : N → N in-
nerhalb der Peano-Arithmetik beweisen, so existiert eine Funktion
fα mit α < ε0 , die f dominiert.
4.5 Der Satz von Goodstein 265
1 1 1 0 0 0 0 0
Jetzt ist auch klar, wie wir den Satz von Kreisel zu lesen haben. Wird
... ...
eine berechenbare Funktion f durch eine arithmetische Formel ϕ f be-
schrieben, so können wir innerhalb von PA nur dann auf einen Beweis
für die Formel
... 1 1 1 1 0 ∀ x ∃ y ϕ f (x, y)
0 0 ...
hoffen, wenn f von einer Funktion fα mit α < ε0 dominiert wird.
Existieren Funktionen,
die schneller wachsen als die Goodstein- Damit ist es an der Zeit, das Wachstumsverhalten der Goodstein-
Funktion? Die Antwort ist Ja! Eine be- Funktion näher zu beleuchten. Der eklatante Sprung von G(3) auf G(4)
kanntes Beispiel ist die Biber-Funktion weckt bereits die Vermutung, dass wir es hier mit einer Wachstums-
B(n) (busy beaver function), die der un- rate zu tun haben, die jene der diagonalisierten Ackermann-Funktion
garische Mathematiker Tibor Radó 1962 noch deutlich übersteigt. Dass wir heute sehr genau über das Wachs-
im Rahmen eines Wettbewerbs formulier-
tumsverhalten der Goodstein-Funktion Bescheid wissen, verdanken wir
te [18, 156]. Das ausgerufene Ziel war es,
eine Turing-Maschine (busy beaver) mit
Laurie Kirby und Jeff Paris. Im Jahr 1982 führten sie als erste den Be-
möglichst wenig Zuständen zu konstruie- weis, dass G(x) genauso schnell wächst wie die Funktion fε0 aus der
ren, die möglichst viele Einsen auf ein lee- Löb-Wainer-Hierarchie [108]. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass G
res Band schreibt [18, 156]. Der Funkti- jede Funktion fα mit α < ε0 dominiert, und damit folgt aus dem Satz
onswert B(n) ist die maximal mögliche von Kreisel, dass es unmöglich ist, Formel (4.67) innerhalb der Peano-
Anzahl Einsen für einen Biber mit n Zu- Arithmetik zu beweisen. Aus der Äquivalenz des Satzes von Goodstein
ständen. Da für jedes n nur endlich viele und der Totalität von G(x) folgt jetzt sofort das gesuchte Ergebnis:
Biber existieren, ist der Wert der Biber-
funktion für alle n wohldefiniert. Trotz-
dem sind die Funktionswerte nur bis n = 4 Satz 4.16 (Kirby, Paris, 1982)
exakt bekannt:
Der Satz von Goodstein ist innerhalb von PA unbeweisbar.
B(1) B(2) B(3) B(4) B(5)
1 4 6 13 ≥ 4098
Ein interessanter Aspekt soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.
Auch wenn es nicht möglich ist, Formel (4.67) in PA herzuleiten, so
Auch wenn für n ≥ 5 nur noch grobe
Abschätzungen existieren, lassen sich be- können wir für jeden konkreten Wert von x durchaus beweisen, dass die
eindruckende Aussagen über die Wachs- Funktion G an der Stelle x definiert ist. Das bedeutet, dass wir
tumsrate von B(n) treffen. So lässt sich
∃ y ϕG (x, y) (4.69)
beweisen, dass die Biberfunktion stär-
ker wachsen muss als jede berechenba- für alle x beweisen können. Gleichzeitig attestiert uns Satz 4.16:
re Funktion. Das bedeutet, dass B(n) so-
wohl die Ackermann-Funktion als auch ∀ x ∃ y ϕG (x, y) (4.70)
die Goodstein-Funktion dominiert. Die
Biberfunktion selbst ist unberechenbar, Beide Varianten unterscheiden sich nur dadurch, dass die Quantifikati-
d. h., es ist nicht möglich, ein Verfahren on über x in (4.69) außerhalb des Kalküls und in (4.70) innerhalb des
zu konstruieren, mit dem sich der Funkti- Kalküls vorgenommen wurde. Erneut wird deutlich, wie penibel wir
onswert B(n) für alle n systematisch er- zwischen der Kalkülebene (∀x) und der Meta-Ebene (für alle x) unter-
mitteln lässt. scheiden müssen.
4.6 Übungsaufgaben 267
4.6 Übungsaufgaben
Auf Seite 209 haben Sie gelernt, wie sich Formeln der Peano-Arithmetik auf natürliche Aufgabe 4.1
Zahlen abbilden lassen. Diese Übungsaufgabe soll Ihnen einen Eindruck über die Größe der
Zahlen vermitteln, mit denen wir es hier konkret zu tun haben. Versuchen Sie herauszufinden, Webcode
welche Formeln den folgenden Gödelnummern entsprechen: 4689
a) 27945122556290792802283166332500000000000
b) 920783852754905293279042680914408826637119384453120000
Hinweis: Es ist sehr aufwendig, derart große Zahlen per Hand zu faktorisieren. Greifen Sie
hierzu auf ein Software-Werkzeug wie Mathematica oder Maple zurück oder verwenden Sie
das Web-Portal WolframAlpha.
Verwenden Sie die auf Seite 209 beschriebene Methode, um die Gödelnummer der Formel Aufgabe 4.2
∃ x s(x) = x zu berechnen. Wiederholen Sie die Rechnung für die Formel 1 + 0 = 1.
Webcode
Hinweis: Es reicht, wenn Sie die Gödelnummern in faktorisierter Schreibweise notieren. Bei- 4044
de Zahlen besitzen ausgeschrieben weit über hundert Dezimalziffern.
Eine clevere Art der Gödelisierung hat Raymond Smullyan in [185] vorgeschlagen. In seiner Aufgabe 4.3
Codierung wird jedem Formelzeichen zunächst einer der folgenden Basiscodes zugeordnet:
Webcode
4884
0 ( ) f , v ∼ ⊃ ∀ = ≤
# # # # # # # # # # # # #
1 0 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Anschließend werden die ermittelten Codes als Ziffern einer Zahl zur Basis 13 aufgefasst.
Konkret: Besteht eine Formel ϕ aus n Zeichen und bezeichnen wir den Basiscode des i-ten
Zeichens mit ci , so berechnet sich die Gödelnummer über die Formel ϕ := ∑ni=1 ci · 13n−i .
Aufgabe 4.4 Gegeben sei ein Kalkül K, in dem sich Relationen und Funktionen auf die gleiche Weise
arithmetisch repräsentieren lassen, wie wir es von der Peano-Arithmetik her gewohnt sind.
Webcode A1 und A2 stehen für die folgenden Aussagen:
4449
A1 : Repräsentiert ϕ eine Relation R semantisch, so repräsentiert sie R auch syntaktisch.
A2 : Repräsentiert ϕ eine Relation R syntaktisch, so repräsentiert sie R auch semantisch.
Aufgabe 4.5 Die Gödel’sche Originalarbeit aus dem Jahr 1931 enthält einen handwerklichen Teil, in dem
45 primitiv-rekursive Funktionen und Relationen definiert werden. Los geht es mit zwei
Webcode Relationen und drei Funktionen:
4787
P1 (x, y) :⇔ ∃ z (z ≤ x ∧ x = y · z)
f3 (0, x) := 0
f3 (n + 1, x) := min{y ≤ x | P2 (y) ∧ P1 (x, y) ∧ y > f3 (n, x)}
f4 (0) := 1
f4 (n + 1) := (n + 1) · f4 (n)
f5 (0) := 0
f5 (n + 1) := min{y ≤ f4 ( f5 (n)) + 1 | P2 (y) ∧ y > f5 (n)}
Finden Sie heraus, welche inhaltliche Bedeutung den definierten Relationen und Funktionen
jeweils zukommt.
4.6 Übungsaufgaben 269
In Abschnitt 4.2 haben Sie die semantische und die syntaktische Variante des ersten Gö- Aufgabe 4.7
del’schen Unvollständigkeitssatzes kennen gelernt. Eine weitere Variante ist diese hier:
Webcode
4040
Widerspruchs-
Korrekte
freie formale
formale Systeme
Systeme
„Jedes korrekte formale System, das stark
genug ist, um die Peano-Arithmetik zu for-
malisieren, ist negationsunvollständig.“
Negations-
Unvollständige
unvollständige
formale Systeme
formale Systeme
Die Formulierung ist stärker als die semantische Variante, aber schwächer als die syntakti-
sche. Lässt sie sich dennoch mit wenig Aufwand aus der semantischen Variante herleiten?
Auf Seite 224 haben wir behauptet, dass aus den drei Beziehungen Aufgabe 4.8
z = diag(y) ⇒ ∀ z (Diag(y, z) ↔ z = z) (4.71) Webcode
(x, y) ∈ B ⇒ B(x, y) (4.72) 4895
(x, y) ∈ B ⇒ ¬B(x, y) (4.73)
270 4 Beweistheorie
mit ein wenig Umformungsaufwand die folgenden Beziehungen abgeleitet werden können:
x codiert einen Beweis für die Formel ϕy (y) ⇒ ψGdl (x, y)
x codiert keinen Beweis für die Formel ϕy (y) ⇒ ¬ψGdl (x, y)
Skizzieren Sie den fehlenden Beweis.
Aufgabe 4.9 In Abschnitt 2.6 haben Sie die Prädikatenlogik zweiter Stufe kennen gelernt. Wir haben
dort herausgearbeitet, dass wir die Ausdrucksstärke der PL1 durch die Hinzunahme von
Webcode Prädikat- und Funktionsvariablen erhöhen können. Ebenfalls wurde erwähnt, dass wir dafür
4875 einen hohen Preis zahlen müssen. Im Gegensatz zur Prädikatenlogik erster Stufe ist die PL2
nicht mehr vollständig, wenn wir die Standardsemantik zugrunde legen. Das bedeutet, dass
kein Kalkül existiert, in dem sich genau diejenigen Formeln der PL2 ableiten lassen, die
bezüglich der Standardsemantik allgemeingültig sind.
a) Konstruieren Sie eine PL2-Formel ϕ, die genau unter jenen Interpretationen wahr ist,
deren Individuenbereiche isomorph zu den natürlichen Zahlen sind:
(U, I) |= ϕ ⇔ U ∼
=N (4.74)
b) Zeigen Sie, dass die Unvollständigkeit der PL2 eine direkte Folge des ersten Gödel’schen
Unvollständigkeitssatzes ist.
c) Zeigen Sie, dass keine PL1-Formel existieren kann, die (4.74) erfüllt.
Aufgabe 4.10 In Abschnitt 4.2.8 haben wir definiert, was es bedeutet, eine natürliche Zahl mit einer Formel
der Peano-Arithmetik zu benennen.
Webcode
4998 Welche Zahlen werden durch die folgenden Formeln benannt?
a) x + x = (s(s(0))) b) x + x = s(s(s(s(0))))
c) x × x = s(s(0)) d) x × x = s(s(s(s(0))))
Welche der folgenden Aussagen über die Formeln der Peano-Arithmetik sind richtig?
Die Berechenbarkeitstheorie ist neben der Beweistheorie die zweite tra- Behalten Sie stets im Auge,
dass sich die Berechenbar-
gende Säule der mathematischen Logik. Unter ihrem Schirm vereint
keitstheorie mit der Existenz
sie alle Methoden und Erkenntnisse, die sich mit den Möglichkeiten von algorithmischen Lösun-
und Grenzen der algorithmischen Methode beschäftigen. Zwei Frage- gen beschäftigt, aber nicht mit deren Effi-
stellungen sind in diesem Zusammenhang von vorrangiger Bedeutung: zienz. Die ersten Arbeiten auf diesem Ge-
biet stammen aus einer Zeit, in der es den
I Wie lässt sich der Berechenbarkeitsbegriff formal definieren? Computer in seiner modernen Form noch
gar nicht gab, und so waren Fragen nach
Jeder von uns besitzt eine intuitive Vorstellung davon, was es bedeu- dem Ressourcenverbrauch eines algorith-
tet, etwas zu berechnen. Bei genauerer Betrachtung entpuppen sich mischen Verfahrens ohne Belang. Eher
unsere Gedankenmodelle aber schnell als zu vage, um daraus hand- zufällig erhielt die Berechenbarkeitstheo-
feste Schlüsse zu ziehen. In der Berechenbarkeitstheorie wird die rie mit dem Bau der ersten Rechenma-
intuitive Vorstellung durch die Definition präziser Berechnungsmo- schinen eine ganz praktische Bedeutung.
delle mit einem formalen Unterbau versehen. Einige dieser Modelle In der Folgezeit entstand mit der Kom-
besitzen durch und durch mathematischen Charakter, während sich plexitätstheorie ein eigenständiger For-
schungszweig, der sich mit der Laufzeit-
andere sehr nahe an der Hardware-Architektur realer Computersys-
und der Platzkomplexität von Algorith-
teme orientieren.
men beschäftigt. Die Berechenbarkeits-
I Wo sind die Grenzen der Berechenbarkeit? theorie und die Komplexitätstheorie sind
mittlerweile zu einem festen Bestandteil
Es ist ein Kernergebnis der Berechenbarkeitstheorie, dass viele un- des Informatikstudiums geworden, und je-
entscheidbare Probleme existieren, Probleme, deren Lösungen zwar der Absolvent ist heute mit den Grund-
existieren, aber nicht auf algorithmischem Wege bestimmt werden zügen beider Theorien vertraut. Dennoch
können. Die Konsequenzen, die sich hieraus ergeben, sind folgen- wissen nur wenige, dass insbesondere die
schwer, und ihre Auswirkungen sind weit über die Algorithmen- Berechenbarkeitstheorie ihre Wurzeln gar
oder Computertechnik hinaus zu spüren. So wissen wir heute, dass nicht in der Informatik hat. Sie wurde ge-
die Berechenbarkeits- und die Beweistheorie eng miteinander ver- schaffen, um Fragestellungen der mathe-
flochten sind und sich viele Negativresultate des einen Gebiets auf matischen Logik zu beantworten, und ist
älter als der erste real gebaute Computer.
das andere übertragen.
Abbildung 5.1 zeigt, wie sich die erste Beispielmaschine aus Turings
Originalarbeit in der vereinbarten Nomenklatur beschreiben lässt. Es ist
5.1 Berechnungsmodelle 273
Sj Sj Sj
... ... ... ... ... ...
qi qi qi
Sk Sk Sk
... ... ... ... ... ...
ql ql ql
Nach dem Start beginnt eine Turing-Maschine mit der Ausführung von
Berechnungsschritten (Abbildung 5.2). Zu Beginn eines Berechnungs-
schritts liest sie das Zeichen unter dem Schreib-Lese-Kopf ein. Findet
die Maschine dort beispielsweise das Bandzeichen S j , so sucht sie in
274 5 Berechenbarkeitstheorie
setzen. Abbildung 5.3 demonstriert, wie diese für unsere Beispielma- (q1, 0 , )
schine aussieht.
(q1 , , S1 , R, q2 )
Behalten Sie stets im Gedächtnis, dass die Maschinen aus Turings Ori-
ginalarbeit für die Erzeugung von reellen Zahlen konzipiert waren. Ei- (q2, 1 ,S1, )
ne solche Maschine schreibt die Ziffern einer reellen Zahl nacheinander
(q2 , , , R, q3 )
auf ein initial leeres Band und hält im Normalfall niemals an.
An dieser Stelle werden wir Turings historische Route verlassen und das (q3, 2 ,S1, , )
Verhalten seiner Maschinen in einem moderneren Sinne interpretieren;
wir werden sie dazu verwenden, um Funktionen der Form (q3 , , S2 , R, q4 )
I Allgemeines Berechnungsschema jener, die in realen Computersystemen zum Einsatz kommt. Im Be-
reich der Komplexitätstheorie ist die binäre Codierung die bevorzug-
... ω ... te Darstellung, da sich viele Ergebnisse direkt auf reale Rechnerar-
chitekturen übertragen lassen.
Mithilfe einer Turing-Maschine lässt sich die unäre Codierung einer na-
türlichen Zahl vergleichsweise einfach in die binäre Codierung überset-
Turing-
f (ω) zen und umgekehrt. Für die Problemstellungen aus dem Gebiet der Be-
Maschine
rechenbarkeitstheorie ist die Wahl der Codierung damit irrelevant, da es
... f (ω) ... hier lediglich um die Frage geht, ob und nicht wie effizient eine Lösung
Band gefunden werden kann.
I Unäre Codierung
5.1.1.1 Erweiterungen des Basismodells
Maschine
Maschine
Turing-
Turing-
Turing-
Abbildung 5.5: Die einseitige Beschränkung des Bandes sowie das Hinzufügen neuer Spuren oder Bänder ändert nichts an der
Berechnungsstärke der Turing-Maschine. Die entstehenden Maschinenmodelle sind äquivalent.
(qi , ♦, ♦, R, qi )
S1 S2
Die Umkehrung gilt ebenfalls, d. h., wir können jede Turing-Maschine
♢ ... durch eine einseitig beschränkte Turing-Maschine simulieren. Wir be-
Band ginnen, indem wir den Bandanfang erneut mit dem speziellen Symbol
‚♦‘ markieren. Anschließend bewegen wir den Schreib-Lese-Kopf nach
Maschine
rechts auf das erste Zeichen der Eingabe und starten die Maschine. So-
Turing-
lange sich der Kopf rechts des ersten Eingabezeichens befindet, ver-
läuft die Berechnung wie gehabt. Bewegt die Maschine den Schreib-
Lese-Kopf jedoch über die linke Grenze hinaus, treffen wir also auf das
vorher eingefügte Symbol ‚♦‘, so müssen wir ein wenig Sonderarbeit
leisten. Wir schaffen zunächst Platz für ein neues Zeichen, indem wir
♢ S1 S2 ...
den gesamten Bandinhalt um eine Stelle nach rechts verschieben (Ab-
bildung 5.6). Anschließend führen wir die Berechnung in gewohnter
Band
Weise fort.
Maschine
Turing-
I der Nachbarschaftsfunktion ν : Z → Z n ,
I der Zustandsübergangsfunktion δ : Q × Qn → Q
z1 z2 z3 z1 z2 z3 z2
z1 z3
z4 z z5 z4 z z5 z
z4 z6
z6 z7 z8 z6 z7 z8 z5
von endlich vielen Zuständen aus der Menge Q. In der Literatur werden
die Zustände gern durch verschiedene Farben dargestellt. In diesem Fall
entspricht die Menge Q dem verfügbaren Farbvorrat.
qz1 , . . . , qzn ,
I Regelschema das unendliche Band nach, das wir für die Modellierung von Turing-
Maschinen benötigen. Der Bandinhalt wird durch die Färbungen der
Aktueller Aktuelles
Zustand Bandzeichen
Zellen dargestellt, so dass wir die zur Verfügung stehende Farbmenge
in direkter Weise als das Bandalphabet einer Turing-Maschine interpre-
tieren können.
Folgezustand
Beachten Sie, dass die Berechnung in einem linearen Automaten ver-
Neues teilt erfolgt und alle Zellen parallel eine Zustandsänderung durchfüh-
und Bewegung
Bandzeichen
nach links ren. Im Gegensatz hierzu arbeitet eine Turing-Maschine mit einem ein-
zigen Schreib-Lese-Kopf, der sich zu jeder Zeit an einer wohldefinier-
I Vollständiger Regelsatz ten Position befindet. Um das Verhalten einer Turing-Maschine trotz-
dem mithilfe eines linearen Automaten beschreiben zu können, müs-
Regel 1 Regel 2 Regel 3 Regel 4
sen wir das Automatenmodell geringfügig anpassen. Zunächst erwei-
tern wir den linearen Automaten um eine spezielle Kopfzelle (head
cell), die als Schreib-Lese-Kopf fungiert. Das Schaltverhalten des er-
weiterten linearen Automaten legen wir analog zur Funktionsweise der
I Automat in Aktion
Turing-Maschine fest. In jedem Berechnungsschritt wird die Kopfzelle
umgefärbt und gegebenenfalls um eine Position nach links oder rechts
geschoben. Außerdem reichern wir die Kopfzelle um einen zusätzlichen
Zustand an, der mit dem Zustand der modellierten Turing-Maschine
identisch ist.
Abbildung 5.8 zeigt, wie sich die Beispielmaschine aus Abbildung 5.1
in der Notation des modifizierten linearen Automaten beschreiben lässt.
Die Zustände q1 , q2 , q3 , q4 werden durch die Richtungen der verwende-
ten Keilsymbole und die Bandzeichen S0 , S1 , S2 durch die unterschiedli-
chen Einfärbungen der Zellen repräsentiert. Jede der vier Instruktionen
Zeit
wird durch je zwei Farbfelder und zwei Keilsymbole beschrieben. Das
obere Farbfeld definiert das aktuelle und das untere das neu zu schrei-
Abbildung 5.8: Durch eine Modifikation bende Bandzeichen. Die Richtung des oberen Keils gibt an, in welchem
des Grundmodells lassen sich lineare zel- Zustand sich die Maschine befinden muss, damit die entsprechende Re-
luläre Automaten für die Simulation von gel angewendet werden kann. Der Folgezustand und die auszuführende
Turing-Maschinen einsetzen. Kopfbewegung werden durch den unteren Keil festgelegt. Ist das Keil-
symbol links des Folgezustands eingezeichnet, bewegt sich der Schreib-
Lese-Kopf nach links, ist es rechts eingezeichnet, bewegt er sich nach
rechts. In unserem Beispiel führen alle Instruktionen eine Kopfbewe-
gung nach rechts aus.
In seiner Arbeit aus dem Jahr 1936 hat Turing gezeigt, dass seine Ma- ... ω ...
schinen zu weit mehr fähig sind, als einfache Berechnungen durchzu- Eingabeband von M
führen. Besonders eindrucksvoll stellte er dies mit der Konstruktion
Berechnung
einer universellen Maschine unter Beweis, die in der Lage ist, andere
Maschinen zu simulieren. In seiner Arbeit hat Turing die universelle
Maschine ausführlich in §6 beschrieben. Seine Ausführung beginnt mit
den folgenden Worten [200]: M
Ausgabeband von M
„It is possible to invent a single machine which can be used f (ω)
... ...
to compute any computable sequence. If this machine U is
supplied with a tape on the beginning of which is written
the S.D of some computing machine M, then U will compu- I Universelle Turing-Maschine U
te the same sequence as M. “
Für die Definition der Standardbeschreibung machte sich Turing zu Ausgabeband von U
Nutze, dass das Verhalten einer Maschine durch ihre Instruktionsmenge ... f (ω) ...
eindeutig definiert ist. Werden die Instruktionen hintereinander aufge-
schrieben, so entsteht eine Zeichenkette, aus der sich die Funktions-
weise einer Turing-Maschine vollständig rekonstruieren lässt. Für die
Abbildung 5.9: Arbeitsweise der universel-
Maschine aus Abbildung 5.1 sieht diese Zeichenkette z. B. so aus:
len Turing-Maschine. Eine andere Maschi-
; q1 S0 S1 Rq2 ; q2 S0 S0 Rq3 ; q3 S0 S2 Rq4 ; q4 S0 S0 Rq1 ne M wird simuliert, indem M als Zeichen-
kette codiert und zusammen mit dem Einga-
Mit dem Semikolon hatte Turing ein neues Symbol eingeführt, das als bewort ω auf das Band von U geschrieben
Orientierungsmarke fungiert. Seine universelle Maschine sucht gezielt wird. Nach dem Start wird U den Bandin-
halt analysieren und das Verhalten von M
nach diesem Symbol, um mit wenig Aufwand den Anfang oder das En-
Schritt für Schritt simulieren.
de einer Instruktion anzusteuern. Unbedingt benötigt wird es nicht, da
282 5 Berechenbarkeitstheorie
⎫
(q1 , S0 , S1 , R, q2 ) ⎪
⎪ sich die Instruktionen mit etwas Zusatzaufwand auch ohne das Semiko-
⎬
(q2 , S0 , S0 , R, q3 ) Instruktions- lon rekonstruieren lassen.
(q3 , S0 , S2 , R, q4 ) ⎪
⎪ tabelle
⎭
(q4 , S0 , S0 , R, q1 ) Abbildung 5.10 zeigt, wie es weitergeht. Nachdem die Instruktionskette
gebildet ist, werden die Symbole qi und Si nach dem folgenden Schema
durch die Bandsymbole D, A und C ersetzt.
⎫ qi := D AAA . . . A Si := DCCC . . .C
; q1 S0 S1 Rq2 ⎪
⎪
⎬
; q2 S0 S0 Rq3 Instruktions- i-mal i-mal
; q3 S0 S2 Rq4 ⎪
⎪ kette
⎭ Als Ergebnis erhalten wir das, was Turing als standard description, kurz
; q4 S0 S0 Rq1
S.D, bezeichnet. Es ist eine Folge von Zeichen, die das Verhalten der
qi := D A . . . A, Si := D C . . .C codierten Maschine eindeutig beschreibt. Zusätzlich hat Turing den Be-
i-mal i-mal griff der description number, kurz D.N, eingeführt. Sie wird aus der
Standardbeschreibung gewonnen, indem jedes Zeichen durch eine fest-
⎫
; DADDCRDAA ⎪ gelegte Ziffer ersetzt wird.
⎪
⎬ Standard
; DAADDRDAAA
description Den Einfluss, den die Gödel’sche Arbeit aus dem Jahr 1931 auf Turing
; DAAADDCCRDAAAA ⎪
⎪
⎭ (S.D) gehabt haben muss, wird an keiner anderen Stelle so deutlich wie hier.
; DAAAADDRDA
Gödel hatte gezeigt, dass sich die Formeln eines formalen Systems in
A ↔1 C ↔2 D↔3
natürliche Zahlen übersetzen lassen. Turings Codierung erfüllt den glei-
L ↔4 R ↔5 N ↔6
chen Zweck; sie zeigt, dass wir das Verhalten einer Turing-Maschine
; ↔7
vollständig in eine einzige natürliche Zahl hineincodieren können. Wir
⎫
7313325311731133 . . . ⎬ Description wollen die Gemeinsamkeit auch sprachlich zum Ausdruck bringen und
5311173111332253 . . . number die description number einer Turing-Maschine M im Folgenden als die
⎭ Gödelnummer von M bezeichnen.
111173111133531 (D.N)
Abbildung 5.10: Gödelisierung von Turing war sich der großen Bedeutung seiner universellen Maschine
Turing-Maschinen bewusst und beschrieb sie in entsprechend großer Akribie. Neben einer
mehrseitigen Erklärung der grundlegenden Funktionsweise ist in sei-
ner Arbeit die vollständige Instruktionstabelle abgedruckt (vgl. Abbil-
dung 5.11 und 5.12). Die universelle Maschine ist modular aufgebaut
und setzt sich aus mehr als 50 Einzelmaschinen zusammen, die sich
Ein Blick in Turings Ori-
ginalarbeit deckt auf, dass gegenseitig referenzieren. Um eine möglichst kompakte Darstellung zu
dort eine andere Gödelnum- erreichen, ließ er den Folgezustand einer Maschine auf den Startzustand
mer abgedruckt ist als jene, einer anderen Maschine verweisen und versah die Referenz zusätzlich
die wir in Abbildung 5.10 ermittelt haben. mit einem oder mehreren Parametern. Auf diese Weise hatte Turing
Schuld daran ist die Position des Semiko- einen Sprungbefehl erschaffen und damit auf ein Konzept zurückge-
lons. In seinen Erklärungen hatte Turing griffen, das viele Jahre später zum Standardrepertoire imperativer Pro-
das Symbol benutzt, um das Ende einer grammiersprachen werden sollte.
Instruktion zu markieren, ganz so, wie es
in modernen Programmiersprachen üblich J. P. Burgess bezeichnet die universelle Maschine als „one of the intel-
ist. In Wahrheit funktioniert seine univer- lectual landmarks of the last century“ [16], und es ist unzweifelhaft,
selle Maschine aber anders; sie erwartet dass Turing 1936 ein begeisterndes Kapitel Wissenschaftsgeschichte
das Semikolon am Anfang und nicht am geschrieben hat. Teil dieses Kapitels sind aber auch zwei kleine Schön-
Ende einer Instruktion [148]. heitsfehler, die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollen:
5.1 Berechnungsmodelle 283
⎧
⎪
⎪
e L f1 (C, B, α) cp1 (C, U, β ) γ f (cp2 (C, U, γ), U, β )
⎪
⎨ ⎧
f(C, B, α) Not e L f(C, B, α) ⎨ γ C
⎪
⎪ cp2 (C, U, γ)
⎪
⎩ None ⎩ Not γ
L f(C, B, α) U
⎧
⎪
⎪ α C cpe(C, U, F, α, β ) cp (e (e(C, C, β ), C, α) , U, F, α, β )
⎪
⎨
f1 (C, B, α) Not α R f1 (C, B, α) cpe(U, F, α, β ) cpe (cpe(U, F, α, β ), U, F, β )
⎪
⎪
⎪ None
⎩ ⎧
R f2 (C, B, α) ⎨ Any
⎧ R q(C)
⎪ q(C)
⎪ α
⎨ C ⎩ None R q1 (C)
f2 (C, B, α) Not α R f1 (C, B, α) ⎧
⎪
⎪ ⎨ Any R q(C)
⎩ q1 (C)
None R B
⎩ None C
pe(C, β ) f(pe1 (C, β ), C, )
e
⎧ q(C, α) q (q1 (C, α))
⎨ Any R, R pe1 (C, β ) ⎧
pe1 (C, β ) ⎨ α C
⎩ None Pβ C q1 (C, α)
⎩ Not α L q1 (C, α)
l(C) L C
pe2 (C, α, β ) pe (pe(C, β ), α)
r(C) R C
ce2 (B, α, β ) ce (ce(B, β ), α)
f (C, B, α) f(l(C), B, α)
ce3 (B, α, β , γ) ce (ce2 (B, β , γ), α)
f (C, B, α) f(r(C), B, α)
ce4 (B, α, β , γ, δ ) ce (ce3 (B, β , γ, δ ), α)
c(C, B, α) f (c1 (C), B, α)
ce5 (B, α, β , γ, δ , ε) ce (ce4 (B, β , γ, δ , ε), α)
c1 (C) β pe(C, β ) ⎧
⎨ e R e1 (C)
ce(C, B, α) c (e(C, B, α), B, α) e(C)
⎩ Not L e e(C)
ce(B, α) ce (ce(B, α), B, α) ⎧
⎨ Any R, E, R e (C)
cp(C, U, F, α, β ) f (cp1 (C1 , U, β ), f(U, C, β ), α) e1 (C)
1
⎩ None C
Abbildung 5.11: Hilfsroutinen für die Konstruktion von Turings universeller Maschine aus dem Jahr 1936 [200]. Die farblich
hervorgehobenen Passagen sind Korrekturen, die später von Emil Post und Donald Davies eingebracht wurden [40, 148].
b f(b1 , b1 , ::) ⎧
⎨ Not A R, R mk1
b1 R, R, P :, R, R, anf mk1
⎩ A L, L, L, L mk2
PD, R, R, PA
⎧
anf q(anf1 , :) ⎪
⎪ C R, Px, L, L, L mk2
⎨
mk2 : mk4
anf1 con(kom, y) ⎪
⎪
⎧ ⎩ D R, Px, L, L, L mk3
⎨ Not A R, R con(C, α) ⎧
con(C, α) ⎨ Not : R, Pv, L, L, L mk3
⎩ A L, Pα, R con1 (C, α) mk3
⎧ ⎩ : mk4
⎪
⎪ A R, Pα, R con1 (C, α)
⎪
⎨ mk4 con (l (l(mk5 )) , )
con1 (C, α) D R, Pα, R con2 (C, α) ⎧
⎪
⎪ ⎨ mk5
⎪
⎩ Any R, Pω, R
None PD, R, Pα, R, R, R C mk5
⎧ ⎩ None P: sh
⎨ C R, Pα, R con2 (C, α)
con2 (C, α) sh f(sh1 , inst, u)
⎩ Not C R, R C ⎧
⎧ ⎨
⎪ D R, R, R, R sh3
⎪
⎪ ; R, Pz, L con(kmp, x) sh2
⎨ ⎩ Not D inst
kom z L, L kom ⎧
⎪
⎪ ⎨
⎪
⎩ Not z nor ; C R, R sh4
L kom sh3
⎩ Not C inst
kmp cpe(e(kom, x, y), sim, x, y) ⎧
⎨ C R, R sh5
sim f (sim1 , sim1 , z) sh4
⎩ Not C pe2 (inst, 0, :)
sim1 con(sim2 , ) ⎧
⎧ ⎨ C inst
⎨ A sim3 sh5
sim2 ⎩ Not C pe2 (inst, 1, :)
⎩ Not A L, Pu, R, R, R sim2
⎧ inst q (l(inst1 ), u)
⎨ Not A L, Py e(mk, z) ⎧
sim3 ⎪
⎪ L R, E ce5 (ov, v, y, x, u, w)
⎩ A L, Py, R, R, R sim3 ⎪
⎨
inst1 R R, E ce5 (ov, v, x, u, y, w)
mk q(mk1 , :) ⎪
⎪
⎪
⎩ N R, E ce5 (ov, v, x, y, u, w)
Abbildung 5.12: Ein Stück Wissenschaftsgeschichte: Alan Turings universal machine aus dem Jahr 1936 [200]. Die farblich
hervorgehobenen Passagen sind Korrekturen, die später von Emil Post und Donald Davies eingebracht wurden [40, 148].
5.1.2 Registermaschinen
Speicher Programm
i Ri i Li
1 1
In diesem Abschnitt werden wir mit der Registermaschine ein Be-
2 2 rechnungsmodell besprechen, das in Aufbau und Funktion dem realen
3 3 Computer sehr ähnlich ist [101, 129, 130]. Anders als bei der Turing-
4 4 Maschine ist kein Band mehr vorhanden; stattdessen existieren meh-
5 5 rere Register, die natürliche Zahlen beliebiger Größe aufnehmen kön-
... ... nen und sich wie bei realen Computern über eine individuelle Spei-
cheradresse direkt ansprechen lassen (Abbildung 5.14). Das aufwendi-
ge Hin- und Herbewegen eines Schreib-Lese-Kopfs, wie wir es von der
Turing-Maschine her gewöhnt sind, kann hierdurch vollständig entfal-
len. Gesteuert wird die Registermaschine über ein Programm, das aus
einer nummerierten Liste von Instruktionen besteht.
Abbildung 5.14: Allgemeiner Aufbau ei-
ner Registermaschine Definition 5.4 (Registermaschine)
Eine Registermaschine ist ein Tupel (R, I). Sie besteht aus
Der Begriff der Registerma-
schine wird in der Literatur I der endlichen Registermenge R = {R1 , . . . , Rr } und
unterschiedlich definiert. Manche Auto-
ren statten die Maschinen mit unend- I der endlichen Instruktionsmenge I = {L1 , . . . , Ll }.
lich vielen Registern aus, die entweder
beliebig große natürliche Zahlen spei- Jede Instruktion hat eine der folgenden Formen:
chern können oder nur Zahlen aus ei-
nem begrenzten Bereich. Noch unter- I Li : R j ← R j + 1 I Li : goto Ln (n = i + 1)
schiedlicher fallen die Befehlssätze aus.
I Li : R j ← R j − 1 I Li : if R j = 0 goto Ln (n = i + 1)
Der hier vorgestellte Maschinentyp ba-
siert auf einer Sprache, die in der Li- I Li : stop I Li : if R j = 0 goto Ln (n = i + 1)
teratur gern als Goto-Sprache bezeich-
net wird [96, 174, 186]. Andere Maschi-
nenmodelle nutzen dagegen Instruktio-
Nach dem Start einer Registermaschine werden alle Register per De-
nen, die an die Assembler-Sprachen der
frühen Mikroprozessoren erinnern [52,
finition mit dem Wert 0 initialisiert, und es wird mit der Ausführung
96]. Das Eingabe- und Ausgabeverhalten der Instruktion L1 begonnen. Die Auswahl der Folgeinstruktion funk-
wird ebenfalls unterschiedlich gehand- tioniert so, wie wir es von imperativen Programmiersprachen gewöhnt
habt. Einige Maschinentypen tauschen die sind. Normalerweise folgt auf die Instruktion Li die Instruktion Li+1 ,
Eingabe- und Ausgabewerte nicht, wie es sein denn, der Kontrollfluss wird durch einen unbedingten Sprung
hier, über die Register, sondern über spe- (goto) oder einen bedingten Sprung (if goto) direkt beeinflusst oder die
zielle Speicherbänder aus [52, 96]. Es ist Berechnung mit dem Befehl stop explizit beendet.
ein bedeutendes Ergebnis der Berechen-
barkeitstheorie, dass sich die genannten Registermaschinen verfügen über rudimentäre Arithmetikfähigkeiten,
Unterschiede nicht auf die Berechnungs- die im Vergleich zu realen Computern spartanisch wirken; außer der
stärke auswirken und es daher keine Rol- Möglichkeit, den Inhalt eines Registers um eins zu erniedrigen oder zu
le spielt, welches dieser Modelle für die erhöhen, werden keine anderen Operationen unterstützt. Für die Sub-
Untersuchungen des Berechenbarkeitsbe- traktion existiert eine Sonderregel. Da Registermaschinen keine nega-
griffs verwendet wird.
tiven Zahlen verarbeiten können, wird die Subtraktion saturiert ausge-
5.1 Berechnungsmodelle 287
Inhalt
von R1 Eingabe
Ja akzeptiert? Nein
R1 R2 R3 R4 R5 Befehl R1 R2 R3 R4 R5 Befehl
0 2 0 0 0 0 L1 if R1 = 0 goto L20 12 0 0 1 1 1 L11 R3 ← R3 + 1
1 2 0 0 0 0 L2 R2 ← R2 + 1 R4 ← R4 − 1
R3 ← R3 + 1 13 0 0 2 0 1 L12 if R4 = 0 goto L11
2 2 1 1 0 0 L3 R1 ← R1 − 1 14 0 0 2 0 1 L13 R2 ← R2 + 1
3 1 1 1 0 0 L4 if R1 = 0 goto L16 R5 ← R5 − 1
4 1 1 1 0 0 L5 R1 ← R1 − 1 15 0 1 2 0 0 L14 if R5 = 0 goto L13
5 0 1 1 0 0 L6 R4 ← R4 + 1 16 0 1 2 0 0 L15 if R1 = 0 goto L5
R5 ← R5 + 1 17 0 1 2 0 0 L16 R3 ← R3 − 1
6 0 1 1 1 1 L7 R3 ← R3 − 1 18 0 1 1 0 0 L17 if R3 = 0 goto L16
7 0 1 0 1 1 L8 if R3 = 0 goto L5 19 0 1 1 0 0 L16 R3 ← R3 − 1
8 0 1 0 1 1 L9 R4 ← R4 + 1 20 0 1 0 0 0 L17 if R3 = 0 goto L16
R2 ← R2 − 1 21 0 1 0 0 0 L18 R2 ← R2 − 1
9 0 0 0 2 1 L10 if R2 = 0 goto L9 R1 ← R1 + 1
10 0 0 0 2 1 L11 R3 ← R3 + 1 22 1 0 0 0 0 L19 if R2 = 0 goto L18
R4 ← R4 − 1 23 1 0 0 0 0 L20 stop
11 0 0 1 1 1 L12 if R4 = 0 goto L11
n 11Aug Viele Errungenschaften auf dem war noch nicht abzusehen, dass die Zukunft des λ -Kalküls
14 Ju
1903 1995
Gebiet der Berechenbarkeitstheo- nicht in der Mathematik, sondern in der Informatik liegen
rie sind mit dem Namen Alonzo würde. Im Laufe der Zeit wurde er zu einem wertvollen
Church verbunden. Geboren wurde Hilfsmittel für die formale Untersuchung von Programmier-
der amerikanische Logiker am 14. Juni 1903 in Washing- sprachen und bildet heute den operativen Kern der funktio-
ton, D.C. Die Schule besuchte er in Ridgefield, Connecti- nalen Programmiersprachen Lisp.
cut. Nach dem Studium und der Promotion an der Princeton Im Jahr 1936 gelang es Church, aus dem λ -Kalkül das glei-
University folgten Aufenthalte in Chicago, Harvard, Göt- che Ergebnis abzuleiten, das Turing wenige Monate später
tingen und Amsterdam. Nach seiner Rückkehr in die USA mithilfe der Turing-Maschine erzielte: die Unentscheidbar-
wurde er 1929 in Princeton zum Assistant Professor, 1939 keit der Prädikatenlogik erster Stufe [32]. Damit nahm er das
zum Associate Professor und 1947 zum Full Professor er- Hauptresultat aus Turings berühmter Publikation zwar zeit-
nannt. Church blieb Princeton lange treu. Erst nach seiner lich vorweg, sein Beweis besaß aber bei Weitem nicht die
Emeritierung im Jahr 1967 wechselte er an die University of Klarheit und Eleganz des Turing’schen Ansatzes. Ebenfalls
California, Los Angeles, wo er weitere 23 Jahre lehrte und aus dem Jahr 1936 stammt die berühmte Church’sche The-
forschte. Drei Jahre nach seiner zweiten Emeritierung, am se [33], die wir in Abschnitt 5.2 diskutieren.
11. August 1995, starb Alonzo Church in Hudson, Ohio, im Rückblickend dürfen wir Church als den geistigen Ziehva-
Alter von 92 Jahren. ter einer neuen Logikergeneration bezeichnen. Unter seinen
Zu seinen größten Leistungen gehört die Entdeckung des λ - 31 Doktoranden befinden sich mit Martin Davis, Leon Hen-
Kalküls im Jahr 1930. Mit ihm wollte Church die Mathema- kin, Stephen Kleene, Michael Oser Rabin, Barkley Rosser,
tik mit einem formalen Unterbau versehen, der frei von Para- Dana Scott, Raymond Smullyan und Alan Turing namhafte
doxien, aber weniger umständlich sein sollte als die konkur- Logiker, von denen uns die meisten an anderer Stelle dieses
rierende Typentheorie von Russell und Whitehead. Damals Buchs schon begegnet sind oder noch begegnen werden.
Mit der Turing-Maschine und der Registermaschine haben wir zwei Be-
rechnungsmodelle kennen gelernt, die auf den ersten Blick sehr unter-
schiedlich wirken. Aus der Ferne betrachtet scheint die Registermaschi-
ne das leistungsfähigere Berechnungsmodell zu sein, da alle Register
frei adressiert werden können und sich hierdurch viele Algorithmen oh-
ne große Umwege in ein Registermaschinenprogramm übersetzen las-
sen. Auf den ersten Blick wirkt auch ihr Speicher größer als der ei-
ner Turing-Maschine. Anstelle eines einzelnen Bands existiert eine frei
wählbare Anzahl von Registern, die beliebig große natürliche Zahlen
speichern können. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass die
großzügige Gestaltung des Maschinenmodells zu keiner Steigerung der
Berechnungsstärke führt. Jede Funktion, die mithilfe einer Registerma-
schine berechnet werden kann, ist auch mithilfe einer Turing-Maschine
berechenbar [130].
Für den amerikanischen Logiker Alonzo Church war dies die empiri-
I Produktionen
sche Bestätigung für die These, dass der intuitive Berechenbarkeitsbe-
griff mit dem Begriff der Turing-Berechenbarkeit zusammenfällt. Ge- xI → xIU (Regel 1)
nau dies ist der Inhalt der berühmten Church’schen These: Mx → Mxx (Regel 2)
xIIIy → xUy (Regel 3)
Satz 5.1 (Church’sche These)
xUUy → xy (Regel 4)
Die Klasse der Turing-berechenbaren Funktionen stimmt mit der
I Ableitung von MUIIU aus MI
Klasse der intuitiv berechenbaren Funktionen überein.
MI ⇒ MII (Regel 2)
Der Begriff der intuitiv berechenbaren Funktion bedarf an dieser Stelle ⇒ MIIII (Regel 2)
besonderer Aufmerksamkeit. Er bezeichnet eine Funktion, die von ei- ⇒ MUI (Regel 3)
nem Menschen – in welcher Form auch immer – ausgerechnet werden ⇒ MUIU (Regel 1)
kann. Damit besagt die Church’sche These nichts anderes, als dass je- ⇒ MUIUUIU (Regel 2)
de Funktion, die überhaupt in irgendeiner Weise berechenbar ist, auch
⇒ MUIIU (Regel 4)
durch eine Turing-Maschine berechnet werden kann.
Die Church’sche These ist kein Satz im mathematisch präzisen Sinne, Abbildung 5.20: MIU-System von Douglas
da der Begriff der intuitiv berechenbaren Funktion keine formale Defi- Hofstadter [97], hier formuliert als Termer-
nition besitzt. Gäbe es diese, so hätten wir uns – bewusst oder unbewusst setzungssystem
292 5 Berechenbarkeitstheorie
Die Church’sche These ist die Legitimation für die folgende Definiti-
on, die den bereits mehrfach bemühten Begriff der Berechenbarkeit nun
I Entscheidbarkeit
endlich mit einem formalen Unterbau versieht:
Satz 5.2
I Entscheidbarkeit In derselben Weise wollen wir einen weiteren Begriff formal zementie-
ren, den wir bereits des öfteren informell verwendet haben. Die Rede
Ja Nein
ist von der Aufzählbarkeit von Mengen. Genau wie im Falle der Ent-
scheidbarkeit können wir auch diesen Begriff auf die Berechenbarkeit
einer Funktion zurückführen:
I Semi-Entscheidbarkeit Aus dieser Definition geht erst auf den zweiten Blick hervor, dass hier
jenes Konzept beschrieben wird, das die meisten von uns intuitiv mit
Ja dem Begriff der Aufzählbarkeit verbinden. Sehen wir also genauer hin!
Ist eine Menge N aufzählbar, so existiert per Definition eine Turing-
Maschine M, die unter der Eingabe einer natürlichen Zahl x den Funk-
tionswert f (x) berechnet. M versetzt uns in die Lage, die Werte
berechnet. Als Ergebnis erhalten wir eine Folge, in der jedes Tupel Abbruch nach
j Schritten
(i, j) ∈ N2 irgendwann auftaucht.
Ja
I Für jedes Tupel (i, j) starten wir den Semi-Entscheider mit dem i-
ten Element ω von Σ∗ . Stellt er die Mengenzugehörigkeit innerhalb
von j Schritten fest, so gibt er ω aus. Ist der Semi-Entscheider nach
ausgeben
j Schritten noch zu keinem Ergebnis gekommen, brechen wir die
Berechnung ab und fahren mit dem nächsten Tupel fort. Da für je- Abbildung 5.24: Durch den geschickten
des ω ∈ N ein j ∈ N mit der Eigenschaft existiert, dass der Semi- Einsatz der Cantor’schen Paarungsfunktion
Entscheider die Mengenzugehörigkeit in j Schritten positiv beant- ist es möglich, die Elemente einer semi-
wortet, werden nacheinander alle Elemente von N erzeugt. entscheidbaren Menge der Reihe nach auf-
zuzählen.
Damit ist es uns gelungen, den folgenden Satz zu beweisen:
Kombinieren wir die Aussagen der Sätze 5.2 und 5.3, so erhalten wir
ohne weiteres Zutun das folgende Ergebnis:
Korollar 5.1
Für den Moment gehen wir davon aus, das Halteproblem sei entscheid- i
bar. Diese Annahme werden wir jetzt mit einem einfachen Diagonali-
sierungsargument, das jenem aus Abschnitt 1.2.2 sehr ähnlich ist, zu
Mi
einem Widerspruch führen.
Als Erstes konstruieren wir eine Matrix, wie sie in Tabelle 5.1 aus-
schnittsweise dargestellt ist. Auf der vertikalen Achse sind alle Turing- H
Maschinen und auf der horizontalen Achse alle Eingabewörter ver-
zeichnet. Die Reihenfolge spielt dabei keine Rolle; wichtig ist nur, dass
jede Turing-Maschine und jedes Eingabewort auch wirklich in irgend-
Turing-Maschine H'
einer Zeile oder Spalte erscheinen. Die einzelnen Felder der Matrix ge- „Hält Mi für i?
ben uns Auskunft über das Terminierungsverhalten unserer Maschinen. nein ja
Hierzu ist in der i-ten Zeile und der j-ten Spalte verzeichnet, ob die
Turing-Maschine Mi unter Eingabe von ω j terminiert.
Endlosschleife
Wäre das Halteproblem entscheidbar, so würde eine Turing-Maschine
H existieren, die ein Eingabewort ω und eine Turing-Maschine M in co-
dierter Form entgegennimmt und stets korrekt bestimmt, ob M bei Ein- Halte an
gabe von ω terminiert. Die fiktive Turing-Maschine H ist nichts ande-
res als eine Maschine zur Berechnung der soeben konstruierten Matrix. Abbildung 5.25: Gäbe es eine Turing-
Wie es in Abbildung 5.25 skizziert ist, können wir aus H eine zweite Maschine H, die das Halteproblem ent-
Maschine H konstruieren. Diese berechnet für das Eingabewort ωi das scheidet, so könnten wir diese zu einer Ma-
Matrixelement (i, i) und verhält sich reziprok zu der erhaltenen Ant- schine H umbauen, die genau dann für
das Eingabewort ωi terminiert, wenn die
wort. H terminiert bei Eingabe von ωi genau dann, wenn Mi für immer
Turing-Maschine Mi bei Eingabe von ωi un-
weiter rechnen würde. endlich lange rechnet. Mithilfe des Diago-
Da H selbst eine Turing-Maschine ist, müssen wir sie in einer bestimm- nalisierungsarguments können wir die Kon-
ten Zeile der konstruierten Matrix wiederfinden können; der Aufbau der struktion von H als widersprüchlich entlar-
Matrix garantiert ja gerade, dass alle Maschinen der Reihe nach aufge- ven und daraus schließen, dass die Maschi-
zählt werden. Doch egal, in welcher Zeile wir auch nachschauen: Die ne H nicht existieren kann.
Diagonalkonstruktion führt immer einen Widerspruch herbei. Für alle
i ∈ N gilt H = Mi , da Mi die Eingabe ωi genau dann akzeptiert, wenn Behalten Sie stets im Auge,
sie von H abgelehnt wird. Der Widerspruch macht deutlich, dass wir dass sich die Gültigkeit von
die Annahme über die Existenz von H fallen lassen müssen und es keine Satz 5.4 auf jedes Berech-
Maschine geben kann, die das Halteproblem entscheidet. nungsmodell überträgt, das
dieselbe Ausdrucksstärke besitzt wie die
Turing-Maschine. Hierunter fallen die Re-
Satz 5.4
gistermaschine aus Abschnitt 5.1.2 sowie
alle besprochenen Varianten der Turing-
Das allgemeine Halteproblem ist unentscheidbar. Maschine aus Abschnitt 5.1.1.1. Dort hat-
ten wir mit der einseitig beschränkten Ma-
schine, der Mehrspur-Maschine und der
Ein einfaches Diagonalisierungsargument hat ausgereicht, um eines der Mehrband-Maschine drei Erweiterungen
wichtigsten Ergebnisse der Berechenbarkeitstheorie zu beweisen. Wie des Turing’schen Maschinenmodells ein-
bedeutend Satz 5.4 tatsächlich ist, werden die folgenden Betrachtungen geführt, die allesamt die gleiche Aus-
jetzt nach und nach zum Vorschein bringen. drucksstärke besitzen.
298 5 Berechenbarkeitstheorie
M
Während das allgemeine Halteproblem fordert, dass wir die Terminie-
Entscheider für das allgemeine Halteproblem
Turing-Maschine H
re Aussagen über Turing-Maschinen existieren, die nicht algorithmisch
entschieden werden können. So viel vorweg: Wir werden eine verblüf-
fende Antwort erhalten.
Im Folgenden bezeichnet M eine beliebige Turing-Maschine, fM die ME
von M berechnete Funktion und E eine funktionale Eigenschaft von M
(also eine Eigenschaft von fM ). E soll nichttrivial sein, d. h., es gibt
mindestens eine Maschine, die die untersuchte Eigenschaft besitzt, und f (ω)
mindestens eine Maschine, die sie nicht besitzt. Die folgende Aufzäh- I Zweiter Fall: M⊥ erfüllt E nicht
lung enthält eine exemplarische Auswahl möglicher Eigenschaften. Der ω
Phantasie sind an dieser Stelle keine Grenzen gesetzt:
Wir wollen ausloten, welche Konsequenzen sich aus der Existenz eines M terminiert
Entscheidungsverfahrens für E ergeben. Hierzu führen wir zunächst die
Turing-Maschine H
Turing-Maschine M⊥ ein, die die überall undefinierte Funktion f (ω) =
⊥ berechnet. M⊥ lässt sich sehr simpel konstruieren: Sie terminiert für
keine Eingabe.
ME
Für den Moment wollen wir annehmen, dass M⊥ die gewählte Eigen-
schaft E erfüllt. Da E nichttrivial ist, existiert mindestens eine weitere
Maschine ME , die E nicht erfüllt. Wir fassen zusammen: f (ω)
Die Tragweite des Satzes Um das Verhalten von H zu verstehen, unterscheiden wir zwei Fälle:
von Rice ist enorm! In ei-
nem Rundumschlag macht I M terminiert nicht: In diesem Fall ist H funktional identisch mit M⊥
er die Hoffnung zunichte, ir-
und erfüllt die Eigenschaft E.
gendeine nichttriviale funktionale Eigen-
schaft über Turing-Maschinen algorith- I M terminiert: In diesem Fall ist H funktional identisch mit ME und
misch entscheiden zu können. Die Gren- erfüllt die Eigenschaft E nicht.
zen, die uns dieser Satz auferlegt, rei-
chen tief in die Praxis der realen Software-
Entwicklung hinein. So folgt daraus un-
Mit dieser Konstruktion ist es uns gelungen, einen direkten Zusammen-
mittelbar, dass es keinen Algorithmus ge- hang zwischen der Eigenschaft E und der Terminierung von M herzu-
ben kann, der für ein beliebiges Programm stellen. Würde ein Verfahren existieren, das E entscheidet, so könnten
maschinell verifiziert, ob es sich entspre- wir das Halteproblem für jede beliebige Maschine M lösen. Kurzum:
chend seiner Spezifikation verhält. Selbst Wir hätten ein Entscheidungsverfahren für das Halteproblem gefunden.
so einfache Probleme wie die Frage nach
der Existenz von Endlosschleifen entzie- Beachten Sie, dass die obige Überlegung stets unter der Annahme stand,
hen sich einer algorithmischen Lösung. dass die gewählte Eigenschaft E auf M⊥ zutrifft. Sollte dies nicht der
Seine Allgemeinheit macht den Satz von Fall sein, so modifizieren wir die Maschine H wie in der unteren Hälfte
Rice zu einer der wertvollsten Aussagen von Abbildung 5.27 gezeigt. Anstelle von ME starten wir eine beliebige
der Berechenbarkeitstheorie. Maschine ME , die E erfüllt. Die Fallunterscheidung liest sich jetzt wie
folgt:
Alle drei Negativresultate werden wir durch die Reduktion des Halte- Hält M auf
problems beweisen. Konkret werden wir zeigen, dass sich die Lösung Ja leerem Band? Nein
für eines der drei Probleme dazu verwenden lässt, um die Terminierung
von Turing-Maschinen oder Registermaschinen zu entscheiden (Abbil-
dungen 5.28 und 5.29). Wäre auch nur eines der drei Probleme lösbar,
so wäre es auch das Halteproblem. Wir wissen aber bereits aus Ab- Turing-
schnitt 5.3.1, dass das Halteproblem unentscheidbar ist. maschine
M
Um den Blick auf das Große und Ganze zu wahren, wollen wir zunächst
alle drei Reduktionen grob skizzieren. Im Anschluss daran liefern wir
Reduktion
die technischen Details in separaten Unterabschnitten nach.
Arithmetische Formel
I Unlösbarkeit des Hilbert’schen Entscheidungsproblems
In Abschnitt 5.4.1 werden wir demonstrieren, dass sich das Halte-
problem auf leerem Band mithilfe eines Entscheidungsverfahrens Korrekter und
vollständiger Kalkül für
für die Prädikatenlogik erster Stufe lösen lässt. Im Kern des Bewei- die Peano-Arithmetik
ses steht die Idee, eine einseitig beschränkte Turing-Maschine M in
eine prädikatenlogische Formel ϕM mit der folgenden Eigenschaft
zu übersetzen:
Hält M auf
M terminiert ⇔ ϕM ist allgemeingültig Ja leerem Band? Nein
Über die so hergestellte Beziehung lässt sich die Frage nach der Ter- Abbildung 5.28: Gäbe es ein Entschei-
minierung einer einseitig beschränkten Turing-Maschine mithilfe ei- dungsverfahren für die Prädikatenlogik er-
nes prädikatenlogischen Entscheidungsverfahrens beantworten. Aus ster Stufe (oben) oder einen korrekten
der Unentscheidbarkeit des Halteproblems können wir dann schlie- und zugleich vollständigen Kalkül für die
ßen, dass kein Entscheidungsverfahren für die Prädikatenlogik exis- Peano-Arithmetik (unten), so ließe sich da-
tieren kann. mit das Halteproblem entscheiden.
302 5 Berechenbarkeitstheorie
Über die so hergestellte Beziehung können wir die Frage nach der
Terminierung einer Registermaschine mithilfe eines Lösungsverfah-
rens für diophantische Gleichungen beantworten. Wiederum folgt
aus der Unentscheidbarkeit des Halteproblems sofort, dass kein Lö-
sungsverfahren für diophantische Gleichungen existieren kann.
Die Marschroute ist damit vorgezeichnet, und wir können uns ruhigen
Gewissens den Einzelheiten widmen. Für das Verständnis der weiteren
Kapitel werden die Details nicht benötigt, und es ist gefahrlos, sie beim
ersten Lesen zu überspringen.
ein Schlüsselelement in Turings historischem Beweis und wird ausführ- RS0(t,0) RS0(t,2)
lich in §11 seiner Arbeit beschrieben [200]. Auf den nächsten Seiten
werden wir den Kern seines Gedankengangs offenlegen.
RS2(t,1) RS0(t,3)
Turing beginnt mit der Definition mehrerer Prädikate, mit denen sich
die Konfigurationen von einseitig beschränkten Turing-Maschinen be-
schreiben lassen (Abbildung 5.30): S2 ...
0 1 2 3
I(t, y) : Zum Zeitpunkt t steht der Kopf über der Zelle y
RSj (t, y) : Zum Zeitpunkt t enthält die Zelle y das Symbol S j I(t,0)
Kqi (t) : Zum Zeitpunkt t ist die Maschine im Zustand qi q2
F(x, y) : x, y sind natürliche Zahlen mit y = x + 1
Die angegebene Bedeutung der Prädikate ist deren intendierte Bedeu- Kq2(t)
tung. Damit die nachfolgende Konstruktion funktioniert, müssen wir si-
cherstellen, dass die Symbole I, RSj , Kqi und F nur in dem gewünschten Abbildung 5.30: In seiner Arbeit aus dem
Sinne interpretiert werden können. Wie dies geschehen kann, werden Jahr 1936 führte Turing mehrere Prädi-
wir weiter unten diskutieren. Für den Moment gehen wir einfach davon kate ein, mit denen sich die Konfigura-
aus, dass die Prädikate die gewünschte Bedeutung besitzen. tionen von einseitig beschränkten Turing-
Maschinen beschreiben lassen.
Unter den getroffenen Annahmen sind wir in der Lage, jede Instruk-
tion in eine prädikatenlogische Formel ‚Inst‘ zu übersetzen, die den
Übergang von einer Konfiguration zur nächsten beschreibt. Als erstes
betrachten wir eine Instruktion der Form (qi , S j , Sk , L, ql ). Der Konfigu-
rationsübergang, der durch diese Instruktion ausgelöst wird, lässt sich
wie folgt charakterisieren:
Einen wichtigen Aspekt haben wir noch vergessen. Wir müssen sicher-
stellen, dass der Bandinhalt an allen Stellen unverändert bleibt, über
denen sich der Schreib-Lese-Kopf nicht befindet:
M
∀ z (z = y → (RSi (t, z) → RSi (t + 1, z))) (5.8)
i=0
Die Formeln (5.7) und (5.8) fügen wir jetzt konjunktiv zusammen:
Diese Formel ist noch keine Formel der Prädikatenlogik, da wir mit
‚+‘ ein Funktionszeichen und mit ‚=‘ ein Prädikatzeichen verwendet
haben, das uns in der PL1 gar nicht zur Verfügung steht. Über das Prä-
dikat F(x, y) können wir die Ausdrücke t + 1, y − 1 und z = y aber ganz
Die Formel (5.10) unterschei- einfach eliminieren:
det sich in zwei Punkten von
Turings eigener Formulierung. Zum einen
wurde die in der Originalarbeit verwende- Inst(qi , S j , Sk , L, ql ) :=
te Variable x in t umbenannt, um ihre in-
∀ t ∀ y ∀ t ∀ y ((RSj (t, y) ∧ I(t, y) ∧ Kqi (t) ∧ F(t, t ) ∧ F(y , y))
haltliche Bedeutung hervorzuheben. t be-
zeichnet einen Zeitpunkt – den t-ten Be-
rechnungsschritt – und y eine Zellennum-
→ (I(t , y ) ∧ RSk (t , y) ∧ Kql (t )
mer. Zum anderen ist Turing in der letzten
M
Formelzeile ein gravierender Fehler unter- ∧ ∀ z (F(y , z) ∨ (RSi (t, z) → RSi (t , z))))) (5.10)
laufen. Im Original lautet sie folgender- i=0
maßen:
∀ z (F(y , z) ∨ (RSj (x, z) → RSk (x , z))) Jetzt ist klar, wie sich die anderen Instruktionstypen in eine prädika-
Sinn ergibt diese Formel nicht, und sie tenlogische Formeln übersetzen lassen. Hierzu brauchen wir (5.10) nur
wurde von Turing auch schnell verbes- geringfügig umzuschreiben:
sert. Ein Jahr nach dem Erscheinen seiner
Originalarbeit publizierte er mehrere Kor- Inst(qi , S j , Sk , R, ql ) :=
rekturen in einem Artikel mit dem Titel
„On Computable Numbers, with an Ap- ∀ t ∀ y ∀ t ∀ y ((RSj (t, y) ∧ I(t, y) ∧ Kqi (t) ∧ F(t, t ) ∧ F(y, y ))
plication to the Entscheidungsproblem. A
Correction“ [201]. Dort hat er seine ur- → (I(t , y ) ∧ RSk (t , y) ∧ Kql (t )
sprüngliche Formel korrigiert und bis auf
M
einen vergessenen Allquantor in die kor- ∧ ∀ z (F(z, y ) ∨ (RSi (t, z) → RSi (t , z))))) (5.11)
rekte Form gebracht. i=0
5.4 Folgen für die Mathematik 305
Inst(qi , S j , Sk , N, ql ) :=
Die Bezeichnung Des(M) stammt von Turing und ist die Abkürzung
für „description of M“. Ausgeschrieben ergibt die Formel ein wahres
Monstrum:
Zu guter Letzt wollen wir die Terminierung von M mithilfe einer For-
mel Halt(M) beschreiben. Um den Aufbau dieser Formel zu verstehen,
erinnern wir uns daran, dass eine Turing-Maschine genau dann wei-
ter rechnet, wenn eine Instruktion angewendet werden kann. Betrachten
wir eine Instruktion der Gestalt (qi , S j , _, _), so ist sie genau dann an-
wendbar, wenn
Damit können wir das Weiterrechnen einer Maschine mit einer Formel
Cont(M,t) beschreiben, indem wir für jede Instruktion (qi , S j , _, _) die
Teilformel
∃ y Kqi (t) ∧ I(t, y) ∧ RSj (t, y)
5.4 Folgen für die Mathematik 307
bilden und anschließend alle Teilformeln disjunktiv miteinander ver- In Turings historischer Arbeit
knüpfen. Für unsere Beispielmaschine erhalten wir: aus dem Jahr 1936 werden
Sie die Definition der Formel Halt(M)
Cont(M, t) = ∃ y (Kq1 (t) ∧ I(t, y) ∧ RS0 (t, y)) ∨ nicht finden, genauso wenig wie das Wort
Halteproblem. In seinem ursprünglichen
Instruktion (q1 ,S0 ,S1 ,R,q2 ) Beweis hatte Turing nämlich gar nicht das
∃ y (Kq2 (t) ∧ I(t, y) ∧ RS0 (t, y)) ∨ Halteproblem reduziert, sondern gezeigt,
dass sich mit einem Entscheidungsver-
Instruktion (q2 ,S0 ,S0 ,R,q3 )
fahren für die Prädikatenlogik erster Stu-
∃ y (Kq3 (t) ∧ I(t, y) ∧ RS0 (t, y)) ∨ fe bestimmen lässt, ob eine Maschine ir-
gendwann das Symbol S1 auf das Band
Instruktion (q3 ,S0 ,S2 ,R,q4 )
schreibt. Folgen wir dem Turing’schen
∃ y (Kq4 (t) ∧ I(t, y) ∧ RS0 (t, y)) Weg, so erhalten wir eine Formel, die so-
gar noch einfacher ist als die hier konstru-
Instruktion (q4 ,S0 ,S0 ,R,q1 )
ierte. Anstatt der vergleichsweise kompli-
Mithilfe der so erzeugten Formel können wir die Terminierung einer zierten Formel Halt(M) enthält sie den
viel simpleren Ausdruck
Turing-Maschine jetzt ohne Umwege beschreiben:
∃ t ∃ y RS1 (t, y)
Halt(M) := ∃ t ¬Cont(M, t)
Diese Formel besagt, dass die betrachte-
In Worten besagt die Formel, dass die Maschine irgendwann eine Kon- te Maschine irgendwann eine Konfigura-
figuration erreicht, in der kein Weiterkommen mehr möglich ist. tion erreicht, in der eine Zelle y das Band-
symbol S1 enthält. Kurzum: Die Maschine
Kombinieren wir die Teilformeln A(M) und Halt(M) zu schreibt irgendwann das Symbol S1 .
Genau wie das Halteproblem, ist auch das
Un(M) := A(M) → Halt(M)
Problem, ob eine Turing-Maschine ein be-
stimmtes Symbol auf das Band schreibt,
so erhalten wir eine Formel mit der folgenden inhaltlichen Aussage:
unentscheidbar; beide Formeln erfüllen
„M terminiert auf leerem Band.“ also den gleichen Zweck.
Einen wichtigen Punkt dürfen wir an dieser Stelle nicht übergehen. Die
Formel Un(M) steht nur dann für diese Aussage, wenn wir die ver-
wendeten Prädikate entsprechend ihrer intendierten Bedeutung inter-
pretieren. Bezeichnen wir diese Interpretation mit (U, I) so können wir
den Zusammenhang zwischen Un(M) und der Terminierung von M wie
folgt präzisieren:
Wir wollen uns nun mit der Frage beschäftigen, ob unsere Formel
Un(M) diese Eigenschaft erfüllt. Die Richtung von rechts nach links
308 5 Berechenbarkeitstheorie
⎫ ist einfach. Ist Un(M) allgemeingültig, gilt also |= Un(M), so ist die
I G(z, x) ⎪ Formel unter jeder Interpretation wahr und damit auch unter jener In-
⎪
⎪
z ... x ⎪
⎪
⎪
⎪ terpretation, die alle verwendeten Prädikatzeichen mit ihrer intendier-
⎪
⎪
⎪
⎪ ten Bedeutung versieht. Dann besagt die Formel Un(M) genau das Ge-
z<x ⎪
⎪
⎪
⎪ wünschte: M wird irgendwann eine Konfiguration erreichen, in der kein
⎪
⎪
⎪
⎪ Weiterkommen mehr möglich ist. Kurzum: M terminiert.
I ∨(G(x, y) ∧ F(y, z)) ⎪
⎪
⎪
⎬ ⇒
x ... y z Gilt vielleicht sogar die Richtung von links nach rechts? Die Antwort ist
¬F(x, z)
⎪
⎪ Nein! Da wir die Allgemeingültigkeit einer Formel betrachten, müssen
⎪
⎪ x + 1 = z
x < y∧y+1 = z ⎪
⎪ wir jetzt auch solche Interpretationen in Betracht ziehen, in denen die
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪ verwendeten Prädikate ihre intendierte Bedeutung verlieren. Beispiels-
I ∨(F(x, y) ∧ F(z, y)) ⎪
⎪
⎪
⎪ weise sind wir bisher ohne Begründung davon ausgegangen, dass F(x, y)
x, z y ⎪
⎪
⎪
⎪ die Beziehung y = x + 1 ausdrückt. Werden die Symbole mit einer an-
⎪
⎪
⎭ deren Bedeutung versehen, dann kann Un(M) durchaus falsch sein,
x+1 = y∧z+1 = y
die Turing-Maschine M aber dennoch terminieren. Um die Beziehung
Abbildung 5.31: Die Formel Q stellt un- (5.14) in beiden Richtungen sicherzustellen, müssen wir Un(M) um ei-
ter anderem sicher, dass die Prädikate F und ne Teilformel ergänzen, die F in seine intendierte Bedeutung zwingt.
G die dargestellten Ordnungseigenschaften Genau dies leistet Turings Formel Q, die er in [201] folgendermaßen
erfüllen. angibt:
Q = ∀ x ∃ w ∀ y ∀ z (F(x, w) ∧ (F(x, y) → G(x, y)) ∧
Die Formel Q werden Sie (F(x, z) ∧ G(z, y) → G(x, y)) ∧
in Turings Originalarbeit aus
(G(z, x) ∨ (G(x, y) ∧ F(y, z)) ∨ (F(x, y) ∧ F(z, y)) → ¬F(x, z)))
dem Jahr 1936 nicht finden. Dort hatte
er noch versucht, die intendierte Bedeu- Mit G hat Turing ein neues Prädikatsymbol mit der folgenden intendier-
tung des Prädikatzeichens F folgenderma- ten Bedeutung eingeführt:
ßen zu beschreiben:
G(x, y) : x, y sind ganze Zahlen, und x ist kleiner als y
N(u) ∧ ∀ x (N(x) → ∃ x F(x, x )) ∧
Die einzelnen Formelbestandteile von Q besagen dann das Folgende:
∀ y ∀ z (F(y, z) → N(y) ∧ N(z))
In Turings Formel drückt N(ξ ) aus, dass I Jede Zahl hat einen Nachfolger
die Variable ξ einer natürlichen Zahl ent- F(x, w)
spricht. Unter dieser Interpretation besagt
der erste Formelbestandteil, dass u ∈ N I x + 1 ist größer als x
ist, der Mittelteil postuliert, dass jede Zahl F(x, y) → G(x, y)
einen Nachfolger hat, und der letzte For-
I Ist x + 1 < y, dann ist auch x < y
melbestandteil drückt aus, dass aus y +
1 = z stets y, z ∈ N folgt.
F(x, z) ∧ G(z, y) → G(x, y)
Turing übersah, dass seine Formel nicht I F und G erfüllen die Ordnungseigenschaften aus Abbildung 5.31
garantiert, dass eine Zahl x einen eindeuti- G(z, x) ∨ (G(x, y) ∧ F(y, z)) ∨ (F(x, y) ∧ F(z, y)) → ¬F(x, z)
gen Nachfolger besitzt. In seinem Beweis
greift er auf diese Eigenschaft aber expli-
zit zurück. In den 1937 publizierten Kor- In seinen 1937 publizierten Korrekturen hat Turing gezeigt, dass die
rekturen hat Turing den Fehler behoben Formel Q die intendierte Bedeutung unserer Prädikate tatsächlich hin-
und die Formel Q als Ersatz für den oben reichend beschreibt. Damit erhalten wir mit
genannten Ausdruck eingeführt.
(A(M) ∧ Q) → Halt(M) (5.15)
5.4 Folgen für die Mathematik 309
die Formel, nach der wir gesucht haben; sie ist genau dann allgemein-
gültig, wenn die beschriebene Turing-Maschine M auf leerem Band ter-
miniert.
Den finalen Schluss in Turings Beweis haben wir weiter oben bereits
vorweggenommen. Gäbe es tatsächlich ein Entscheidungsverfahren für
die Prädikatenlogik erster Stufe, so könnten wir damit das Halteproblem
entscheiden. Um festzustellen, ob eine einseitig beschränkte Turing-
Maschine M auf leeren Band terminiert, müssten wir lediglich die For-
mel (5.15) konstruieren und anschließend überprüfen, ob sie allgemein-
gültig ist oder nicht. Im ersten Fall wüssten wir, dass M terminiert, im
zweiten, dass M für immer weiterrechnet. Wir wissen aber bereits, dass
das Halteproblem unentscheidbar ist, und deshalb kann auch für das
Hilbert’sche Entscheidungsproblem keine positive Lösung existieren:
Die Konstruktion basiert auf der Idee, eine Folge von Konfigurations-
übergängen in eine einzige natürliche Zahl hineinzucodieren und über
diese Zahl zu behaupten, dass sie eine terminierende Berechnungsse-
quenz beschreibt.
Wir wollen unserem Ziel in mehreren Etappen entgegen gehen und zu-
nächst überlegen, wie eine einzelne Konfiguration als natürliche Zahl
codiert werden kann. Im Allgemeinen hat eine Konfiguration die Form
(q, i, s0 , s1 , . . . , sn ) (5.16)
310 5 Berechenbarkeitstheorie
R0(x) = 0 R2(x) = 0
wobei q den aktuellen Zustand, i die Position des Schreib-Lese-Kopfs
und s0 , s1 , . . . , sn den bis jetzt benutzten Bandabschnitt repräsentiert.
Den aktuellen Zustand und die Bandzeichen stellen wir durch natürliche
R1(x) = 2
Zahlen dar und verwenden die Zahl n stellvertretend für den Zustand qn
L(x) = 3 oder das Bandzeichen Sn . Somit können wir alle Komponenten einer
Konfiguration ausnahmslos als natürliche Zahlen auffassen.
S2
... ...
0 1 2 3 Um über die Komponenten einer Konfiguration innerhalb einer Formel
q1 sprechen zu können, führen wir mit I, Rj , K und L mehrere neue Funk-
I(x) = 0
tionssymbole ein, die stellvertretend für die folgenden Funktionen ste-
hen:
I : (q, i, s0 , . . . , sn ) → i (Kopfposition)
K(x) = 1
Rj : (q, i, s0 , . . . , sn ) → sj (Symbol in der j-ten Zelle)
K : (q, i, s0 , . . . , sn ) → q (Zustand der Maschine)
Abbildung 5.32: Beschreibung von Turing-
Maschinen-Konfigurationen mit den Funk- L : (q, i, s0 , . . . , sn ) → n+1 (Anzahl benutzter Bandzellen)
tionen I, Rj , K und L
Abbildung 5.32 zeigt, wie sich die Konfiguration einer Turing-Maschi-
ne mit den definierten Funktionen beschreiben lässt.
Behalten Sie stets im Gedächtnis, dass wir eine Formel der Peano-
Arithmetik suchen. Eine solche Formel darf neben ‚0‘, ‚s‘, ‚+‘ und ‚ב
keine weiteren Funktionszeichen und neben ‚=‘ keine weiteren Prädi-
katzeichen enthalten. Wir kommen also nicht umhin, die neu eingeführ-
ten Symbole irgendwann durch äquivalente arithmetische Ausdrücke zu
ersetzen. Für den Moment wollen wir uns an diesem Missstand nicht
stören, doch schon jetzt sei angemerkt, dass sich die neu eingeführten
Funktionen durch äquivalente arithmetische Ausdrücke ersetzen lassen.
Wie dies im Einzelnen gelingt, werden wir weiter unten klären.
Mit den neu eingeführten Funktionen werden wir jetzt zwei wichtige
Teilformeln definieren. Die erste ist die Formel ϕStart (x). Sie soll ge-
nau dann wahr sein, wenn die Variable x die Startkonfiguration einer
Turing-Maschine beschreibt. Weiter oben haben wir festgelegt, dass in
der Startkonfiguration
Die gesuchte Formel ϕStart (x) erhalten wir durch die konjunktive Ver-
knüpfung der ermittelten Teilausdrücke:
ϕStart (x) := (I(x) = 0 ∧ K(x) = 1 ∧ L(x) = 1 ∧ R0 (x) = 0)
5.4 Folgen für die Mathematik 311
Die zweite ist die Formel ϕCont (x). Sie soll genau dann wahr sein, wenn R0(x) = 0 R2(x) = 0
die Maschine in der Konfiguration x nicht terminiert, wenn also eine
Instruktion gefunden werden kann, die x in eine Folgekonfiguration
R1(x) = 2
überführt. Die Formel können wir analog zur Formel Cont(M) aus Ab-
schnitt 5.4.1 konstruieren. Für die dort betrachtete Maschine lautet sie L(x) = 3
beispielsweise so:
S2
... ...
ϕCont (x) := ∃ (y < L(x)) I(x) = y ∧ K(x) = 1 ∧ Ry (x) = 0 ∨ 0 1 2 3
q1
Instruktion (q1 ,S0 ,S1 ,R,q2 ) I(x) = 0
∃ (y < L(x)) I(x) = y ∧ K(x) = 2 ∧ Ry (x) = 0 ∨
Instruktion (q2 ,S0 ,S0 ,R,q3 )
∃ (y < L(x)) I(x) = y ∧ K(x) = 3 ∧ Ry (x) = 0 ∨ K(x) = 1
Zusätzlich definieren wir für jede Instruktion I eine Formel ϕI (x, y), R0(x) = 1 R2(x) = 0
die den Übergang von der Konfiguration x in die Konfiguration y be-
schreibt. Als erstes betrachten wir eine Instruktion (qi , S j , Sk , N, ql ), die
R1(x) = 2
den Schreib-Lese-Kopf nicht bewegt (Abbildung 5.33). Wird sie ausge-
führt, so geht die Turing-Maschine von der Konfiguration x genau dann L(x) = 3
in die Konfiguration y über,
S1 S2
... ...
I wenn in der Ausgangskonfiguration x . . . 0 1 2 3
I(x) = 0
• n beschriebene Zellen codiert sind, L(x) = n
• der Zustand qi eingenommen ist, K(x) = i q2
Ferner dürfen wir nicht vergessen, dass der Bandinhalt an allen Stellen
gleich bleibt, an denen der Schreib-Lesekopf nicht steht:
R0(x) = 1 R2(x) = 0
Fügen wir alle Teilformeln zusammen, so erhalten wir das nachstehende
Ergebnis:
R1(x) = 2 I Instruktionstyp (qi , S j , Sk , N, ql )
L(x) = 3 ϕI (x, y) := ∃ h ∃ n (
S1 S2 L(x) = n ∧ K(x) = i ∧ I(x) = h ∧ Rh (x) = j ∧
... ...
0 1 2 3 L(y) = n ∧ K(y) = l ∧ I(y) = h ∧ Rh (y) = k ∧
I(x) = 0 ∀ (h < n) (h = h → ∃ s (Rh (x) = s ∧ Rh (y) = s)))
K(x) = 3
ϕI (x, y) := ∃ h1 ∃ h2 ∃ n1 ∃n2 (
L(x) = n1 ∧ K(x) = i ∧ I(x) = h1 ∧ Rh1 (x) = j ∧
Abbildung 5.34: Ausführung einer Instruk- L(y) = n2 ∧ K(y) = l ∧ I(y) = h2 ∧ Rh1 (y) = k ∧
tion der Form (qi , S j , Sk , R, ql )
(h1 + 1 = n1 → n1 = n2 ) ∧
(h1 + 1 = n1 → (n1 + 1 = n2 ∧ Rn1 (y) = 0)) ∧
h1 + 1 = h2 ∧
∀ (h < n1 ) (h = h1 → ∃ s (Rh (x) = s ∧ Rh (y) = s)))
Im Falle der Linksbewegung müssen wir noch wachsamer sein (Abbil-
dungen 5.35 und 5.36). Steht der Schreib-Lese-Kopf bereits ganz links,
ist also h1 = 0, so wird die Kopfbewegung simuliert, indem der gesamte
Bandinhalt eine Stelle nach rechts kopiert wird. Wir halten fest:
5.4 Folgen für die Mathematik 313
L(x) = 3
I Steht der Schreib-Lese-Kopf ganz links, h1 = 0
• so ist in y eine Zelle mehr codiert als in x, n1 + 1 = n2 ... S2 S2 ...
• diese Zelle ist leer R0 (y) = 0 0 1 2 3
Das Umkopieren des Bandinhalts können wir mit der folgenden For- q3
mel beschreiben:
∀ (h < n1 ) (h = 0 → ∃ s (Rh (x) = s ∧ Rh+1 (y) = s)) K(x) = 3
R0(x) = 2 R2(x) = 0
Mit den beiden neuen Funktionen können wir eine terminierende Be-
rechnungssequenz ohne Umwege beschreiben. Hierzu brauchen wir uns
lediglich darauf zu besinnen, dass eine Turing-Maschine M nach n Be-
R1(x) = 3
rechnungsschritten terminiert, wenn sie
L(x) = 3
I in der Starkonfiguration beginnt ϕStart (C(z,0))
S2 S3
... ...
0 1 2 3 I und rechnet, n = M(z) ∧ ∀ (u < n) ϕTrans (C(z, u), C(z, s(u)))
I(x) = 0 I bis es kein Weiterkommen gibt. ¬ϕCont (C(z, n))
Jetzt ist es nur noch eine Formsache, die Formeln ϕStart (x), ϕTrans (x) und
ϕCont (x) in Formeln der Peano-Arithmetik zu übersetzen. Beispielswei-
se können wir die Formel
ϕStart (x) = (I(x) = 0 ∧ K(x) = 1 ∧ L(x) = 1 ∧ R0 (x) = 0)
wie folgt umschreiben:
ϕStart (b, c) := (β (b, c, 2) = 0) ∧ (β (b, c, 1) = 1) ∧
(β (b, c,0) = 1) ∧ (β (b, c, 3) = 0)
Ersetzen wir jetzt noch den Platzhalter β (b, c, n) durch den äquivalenten
arithmetischen Ausdruck (4.7) aus Abschnitt 4.2.3, so erhalten wir eine
echte PA-Formel:
ϕStart (b, c) := ∃ d b = s(c × s(2)) × d + 0 ∧ 0 < s(c × s(2)) ∧
∃ d b = s(c × s(1)) × d + 1 ∧ 1 < s(c × s(1)) ∧
∃ d b = s(c × s(0)) × d + 1 ∧ 1 < s(c × s(0)) ∧
∃ d b = s(c × s(3)) × d + 0 ∧ 0 < s(c × s(3))
Auf die gleiche Weise können wir die Formeln ϕTrans (x) und ϕCont (x)
in entsprechende Formeln ϕTrans (b1 , c1 , b2 , c2 ) und ϕCont (b, c) transfor-
mieren. Übersichtlich sind diese Formeln nicht, und deshalb wollen wir
darauf verzichten, sie in voller Gänze auszuschreiben. Auch den Platz-
halter β (b, c, n) wollen wir ab jetzt nicht mehr eliminieren.
Satz 5.8
Der Satz besagt, dass kein systematisches Verfahren existiert, das für
jede arithmetische Formel immer korrekt entscheidet, ob sie wahr oder
falsch ist. Daraus folgt unmittelbar, dass es auch kein formales Sys-
tem für die Peano-Arithmetik geben kann, das korrekt und vollständig
ist. Gäbe es ein solches, so könnten wir nach Satz 2.6 die semantische
Variante des Entscheidungsproblems lösen. Aber genau dies ist nach
Satz 5.8 unmöglich, und wir erhalten eines der bedeutendsten Ergebnis-
se der Beweistheorie als Korollar: die semantische Variante des ersten
Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes.
Jedes korrekte formale System, das stark genug ist, um die Peano-
Arithmetik zu formalisieren, ist unvollständig.
Die Überlegungen in diesem Abschnitt haben gezeigt, dass wir die se-
mantische Variante des ersten Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes auf
verblüffend einfache Weise herleiten können. Alles, was wir für sei-
nen Beweis benötigen, sind das Wissen über die Unentscheidbarkeit des
Halteproblems sowie die Erkenntnis, dass wir jede Turing-Maschine als
arithmetische Formel codieren können. Ein wunderbares Ergebnis.
5.4 Folgen für die Mathematik 317
Jones, Matijasevič (1984) zum Greifen nahe. Dennoch blieben alle Versuche, den Allquantor
aus Gleichung (5.19) zu eliminieren, zunächst ohne Erfolg.
Registermaschine
I Im Jahr 1961 publizierten Martin Davis, Hilary Putnam und Julia
Robinson eine wegweisende Arbeit mit dem Titel „The Decision
Problem for Exponential Diophantine Equations“ [45]. In dieser Ar-
beit bewiesen die Autoren einen Satz, der heute als Bounded quan-
tifier theorem bekannt ist. Damit konnten sie den Davis’schen All-
quantor tatsächlich eliminieren, doch der Preis dafür war hoch. Die
Reduktion
resultierende Gleichung hatte die Form
Exponentielle
∃ x1 . . . ∃ xm r(a1 , . . . , an , x1 , . . . , xm ) = s(a1 , . . . , an , x1 , . . . , xm )
diophantische
Gleichung wobei r = s keine gewöhnliche diophantische Gleichung mehr war,
sondern eine exponentielle. Im Gegensatz zu gewöhnlichen diophan-
tischen Gleichungen dürfen Variablen hier auch als Exponent ver-
Reduktion
wendet werden. Auch wenn das Ergebnis keinen direkten Rück-
Diophantische schluss auf Hilberts zehntes Problem zuließ, wurde dennoch ein
Gleichung wichtiger Meilenstein erreicht: Davis, Putnam und Robinson hatten
bewiesen, dass kein Entscheidungsverfahren für exponentielle dio-
Matijasevič (1970)
phantische Gleichungen existieren kann.
Abbildung 5.38: Im Jahr 1984 zeigten Jo- I Die Gewissheit, dass auch für gewöhnliche diophantische Gleichun-
nes und Matijasevič, wie sich Registerma- gen kein Entscheidungsverfahren existiert, haben wir seit 1970. In
schinen exponentiell diophantisch repräsen-
diesem Jahr bewies Yuri Matijasevič, dass sich jede exponentielle
tieren lassen. Zusammen mit dem Ergeb-
diophantische Gleichung in eine gewöhnliche diophantische Glei-
nis von Matijasevič aus dem Jahr 1970 er-
gibt sich daraus ein eleganter Beweis für chungen übersetzen lässt (Abbildung 5.38 unten) [124]. Der Beweis
die Unlösbarkeit des zehnten Hilbert’schen ist wenig anschaulich, und wir wollen ihn an dieser Stelle nicht füh-
Problems. ren. Dennoch spielt er in unserer Argumentation eine wichtige Rolle.
Nur mit ihm folgt aus der Unlösbarkeit des Entscheidungsproblems
für exponentielle diophantische Gleichungen auch wirklich die Un-
lösbarkeit des zehnten Hilbert’schen Problems.
I Obwohl das Rätsel im Jahr 1970 gelöst war, verebbte das Interesse
nicht. Der gefundene Beweis war zwar korrekt, dafür aber ungemein
technisch und kompliziert. Im Jahr 1984 publizierten James Jones
und Yuri Matijasevič schließlich einen neuen Beweis für die Un-
entscheidbarkeit exponentieller diophantischer Gleichungen (Abbil-
dung 5.38 oben) [101]. Inhaltlich bewiesen sie das Gleiche wie Da-
vis, Putnam und Robinson etliche Jahre zuvor, erzielten ihr Ergebnis
aber auf verblüffend elegante Weise. Sie fanden heraus, wie sich Re-
gistermaschinen exponentiell diophantisch codieren lassen. Dass es
kein Entscheidungsverfahren für exponentielle diophantische Glei-
chungen geben kann, folgt dann sofort aus der Unentscheidbarkeit
des Halteproblems.
5.4 Folgen für die Mathematik 319
Der Beweis von Jones und Matijasevič besticht so sehr durch seine Klar- I Reduktion von Z auf N
heit und Eleganz, dass er sich zur Untersuchung in diesem Buch gerade- p(x1 , . . . , xm ) = 0
zu aufzwingt. Um ihn im Detail verstehen zu können, müssen wir aber hat eine Lösung in Zm
noch ein wenig Vorarbeit leisten. Zunächst wollen wir klären, wann wir
eine diophantische Gleichung als lösbar erachten. Anders als von Hil- ⇓⇑
bert gefordert, werden wir die Lösungen nicht in den ganzen Zahlen,
sondern in den natürlichen Zahlen suchen. Auf den ersten Blick ma- p(p1 − q1 , . . . , pm − qm ) = 0
chen wir hierdurch einen gewaltigen Fehler. Beispielsweise besitzt die hat eine Lösung in N2m
Gleichung
I Reduktion von N auf Z
(x + 1)3 + (y + 1)3 = (z + 1)3 (5.20)
p(x1 , . . . , xm ) = 0
in den natürlichen Zahlen gar keine, in den ganzen Zahlen dagegen un- hat eine Lösung in Nm
endlich viele Lösungen. Dass wir den Wertebereich dennoch bedenken-
los wechseln dürfen, liegt daran, dass wir nicht an der Lösbarkeit ganz Lagrange1) ⇓⇑ Lagrange1)
bestimmter Gleichungen, sondern an der Existenz von Entscheidungs-
p(w21 + x12 + y21 + z21 , . . . , w2m + xm
2 + y2 + z2 ) = 0
verfahren interessiert sind. Hier gilt, dass wir ein Verfahren für die Lös- m m
barkeit in den ganzen Zahlen dazu verwenden können, um die Lösbar- hat eine Lösung in Z4m
keit in den natürlichen Zahlen zu entscheiden, und umgekehrt. Wie die
Abbildung 5.39: Gegenseitige Reduktion
jeweiligen Problemreduktionen aussehen, ist in Abbildung 5.39 darge- der Entscheidungsprobleme diophantischer
stellt. Eine der vier Schlussrichtungen ist nicht unmittelbar einsichtig. Gleichungen
Um sie zu legitimieren, benötigen wir den berühmten Vier-Quadrate-
Satz von Lagrange, der uns in Abschnitt 3.1.2 bereits begegnet ist. Er 1) „Jede
natürliche Zahl lässt sich als
besagt, dass sich jede natürliche Zahl als die Summe von vier Quadrat- Summe von vier Quadratzahlen
zahlen darstellen lässt (Abbildung 5.40). darstellen.“
eine Lösung in den natürlichen Zahlen hat. Analog gilt, dass (5.20) ge-
nau dann in den natürlichen Zahlen lösbar ist, wenn es für die Gleichung
(w21 + x12 + y21 + z21 + 1)3 + (w22 + x22 + y22 + z22 + 1)3 =
(w23 + x32 + y23 + z23 + 1)3
eine Lösung in den ganzen Zahlen gibt. Die Frage nach der Existenz Joseph Louis de Lagrange (1736 – 1813)
eines Entscheidungsverfahrens ist damit unabhängig von der konkreten
Wahl des Wertebereichs. Würde ein Verfahren existieren, das für jede Abbildung 5.40: Im Jahr 1770 bewies der
diophantische Gleichung immer korrekt entscheidet, ob sie in den na- französische Mathematiker Joseph Louis de
türlichen Zahlen lösbar ist, so würde auch ein Entscheidungsverfahren Lagrange eine von Bachet de Méziriac im
für die Lösbarkeit in den ganzen Zahlen existieren und umgekehrt. Jahr 1612 geäußerte Vermutung. Sie besagt,
dass sich jede natürliche Zahl als Summe
von vier Quadratzahlen darstellen lässt.
320 5 Berechenbarkeitstheorie
R(a1 , . . . , an ) ⇔ ∃ x1 . . . ∃ xm p(a1 , . . . , an , x1 , . . . , xm ) = 0
Jetzt ist klar, wie wir Gleichung (5.19) zu lesen haben. Die von Davis
verwendete Form ist bis auf den zusätzlichen Allquantor mit der hier
präsentierten identisch.
Abbildung 5.41: Auswahl diophantischer repräsentierbarer Relationen. Auch die Menge aller Primzahlen lässt sich diophan-
tisch repräsentieren [210]. Die Zahl k + 2 ist genau dann eine Primzahl, wenn die rechts abgebildete Gleichung eine Lösung in
den positiven natürlichen Zahlen besitzt.
und ‚∨‘ sehr einfach eliminieren, so dass wir sie bedenkenlos innerhalb
von diophantischen Gleichungen verwenden können. Es gelten die fol-
genden Zusammenhänge:
Als Nächstes definieren wir mit der Maskierungsrelation ‚‘ einen der
Protagonisten im Beweis von Jones und Matijasevič:
In Worten drückt r s aus, dass die i-te Binärstelle von r niemals grö-
ßer ist als die i-te Binärstelle von s. Für den Moment wollen wir an-
nehmen, dass auch die Maskierungsrelation diophantisch repräsentiert
werden kann. Weiter unten werden wir uns davon überzeugen, dass dies
wirklich so ist.
s 2 1 0 t Q ist die Basis von I und wird später passend gewählt werden.
r1,s ... r1,2 r1,1 r1,0 R1
Auf den ersten Blick ist die Bedeutung der Konstanten I schwer zu er-
r2,s ... r2,2 r2,1 r2,0 R2 kennen, da ihr exakter Wert in unserer Betrachtung überhaupt keine
Rolle spielt. Benötigt wird sie ausschließlich aufgrund der speziellen
r3,s ... r3,2 r3,1 r3,0 R3
Struktur ihrer Ziffernfolge; stellen wir I zur Basis Q dar, so entspricht
r4,s ... r4,2 r4,1 r4,0 R4 sie einer Folge von genau s + 1 Einsen.
.. .. .. ..
. . . .
5.4.3.2 Codierung von Registermaschinen
s 2 1 0 t
l1,s ... l1,2 l1,1 l1,0 L1 Jetzt sind wir gewappnet, um die Berechnungssequenz einer Register-
l2,s ... l2,2 l2,1 l2,0 L2 maschine mithilfe einer exponentiellen diophantischen Gleichung zu
codieren. Das Verhalten der Maschine werden wir über die folgenden
l3,s ... l3,2 l3,1 l3,0 L3 Bezeichner erfassen:
l4,s ... l4,2 l4,1 l4,0 L4
r j,t = Inhalt von Register R j zum Zeitpunkt t
.. .. .. ..
. . . . 1 zum Zeitpunkt t wird die Instruktion L j ausgeführt
l j,t =
0 eine andere Instruktion wird ausgeführt
Kontrollflussmatrix
Die Berechnungssequenz einer Registermaschine können wir mit einer
zweidimensionalen Matrix beschreiben, wie sie in Abbildung 5.42 ge-
Abbildung 5.42: Tabellarische Darstellung
zeigt ist. Die horizontale Achse ist die Zeitachse und erstreckt sich von
der Berechnungssequenz einer Registerma-
schine. Die x-Achse ist die Zeitachse; hier rechts nach links. Vertikal besteht die Darstellung aus zwei Teilmatri-
hält die Tabelle für jeden Berechnungs- zen. Die Datenflussmatrix (oben) hält für jedes Register eine eigene
schritt eine separate Spalte vor. Für jedes Zeile vor und beschreibt, wie sich die Registerinhalte über die Zeit ver-
Register und jede Instruktion existiert ei- ändern. In der Kontrollflussmatrix (unten) existiert für jede Instruktion
ne eigene Zeile. In den Zeilen der Daten- eine eigene Zeile. Dort ist mit einer 1 bzw. einer 0 vermerkt, ob die
flussmatrix ist vermerkt, wie sich die Inhal- Instruktion gegenwärtig ausgeführt wird oder nicht.
te der Register ändern. Die Zeileneinträge
der Kontrollflussmatrix enthalten entweder In Abbildung 5.43 (oben) ist die vollständig ausgefüllte Daten- und
den Wert 1 oder 0. Eine 1 bedeutet, dass die Kontrollflussmatrix für das Registermaschinenprogramm aus Abbil-
Instruktion ausgeführt wird. dung 5.16 zu sehen. Die Maschine wird mit der Eingabe R1 = 2 gestartet
5.4 Folgen für die Mathematik 323
23 22 21 20 19 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 t
1 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 2 2 2 R1 Registerinhalt
0 0 1 1 1 1 1 1 1 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 0 0 R2 Registerinhalt
0 0 0 0 1 1 2 2 2 2 2 1 1 0 0 0 0 1 1 1 1 1 0 0 R3 Registerinhalt
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 2 2 1 1 1 0 0 0 0 0 0 R4 Registerinhalt
0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 0 0 0 0 0 0 R5 Registerinhalt
23 22 21 20 19 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 t
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 L1 if R1 = 0 goto L20
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 L2 R2 ← R2 + 1, R3 ← R3 + 1
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 L3 R1 ← R1 − 1
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 L4 if R1 = 0 goto L16
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 L5 R1 ← R1 − 1
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 L6 R4 ← R4 + 1, R5 ← R5 + 1
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 L7 R3 ← R3 − 1
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 L8 if R3 = 0 goto L6
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 L9 R4 ← R4 + 1, R2 ← R2 − 1
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L10 if R2 = 0 goto L9
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L11 R3 ← R3 + 1, R4 ← R4 − 1
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L12 if R4 = 0 goto L11
0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L13 R2 ← R2 + 1, R5 ← R5 − 1
0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L14 if R5 = 0 goto L13
0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L15 if R1 = 0 goto L5
0 0 0 0 1 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L16 R3 ← R3 − 1
0 0 0 1 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L17 if R3 = 0 goto L16
0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L18 R2 ← R2 − 1, R1 ← R1 + 1
0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L19 if R2 = 0 goto L18
1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 L20 stop
Abbildung 5.43: Codierte Berechnungssequenz der hier besprochenen Beispielmaschine für die Eingabe R1 = 2
324 5 Berechenbarkeitstheorie
Q, I, s, x, y, R1 , . . . , Rr , L1 , . . . , Ll
enthalten und für einen festgelegten Wert von x genau dann lösbar sein,
wenn die codierte Registermaschine unter Eingabe von x terminiert. Es
gilt sogar noch mehr: Haben wir eine konkrete Lösung in Händen, so
können wir daraus die vollständige Berechnungssequenz rekonstruie-
ren. In diesem Fall gilt:
5.4 Folgen für die Mathematik 325
Q = ∑ Lk ,
s
Q: 0 0 0 0 0 1 0 0 0
k
Q2 Q1 Q0
wobei die Summe über alle Zeilen der Form Lk : stop iteriert. Q
: 0 0 0 0 0 0 1 0 0
2
I Um den Datenfluss adäquat zu beschreiben, fordern wir zunächst, Q2 Q1 Q0
dass die Variablen R j die in (5.24) vereinbarte Form besitzen. Mit- Q
2 −1 : 0 0 0 0 0 0 0 1 1
hilfe der Maskierungsrelation gelingt dies folgendermaßen (Abbil-
dung 5.46): Q2 Q1 Q0
Q
R j ( − 1)I ( Q2 − 1) · I : 0 1 1 0 1 1 0 1 1
2
Ferner fügen wir für jedes Register eine eigene Registergleichung
R j ( Q2 − 1)I
(register equation) hinzu, die beschreibt, wie sich der Registerinhalt
über die Zeit verändert. Diese Gleichungen lauten folgendermaßen: Q2 Q1 Q0
k i
Abbildung 5.46: R j ( Q2 − 1)I stellt si-
Die erste Summe iteriert über alle Zeilen der Form Lk : R j ← R j + 1 cher, dass in jeder Ziffer r j,t das höchstwer-
und die zweite Summe über alle Zeilen der Form Li : R j ← R j − 1. tige Bit gleich 0 ist.
326 5 Berechenbarkeitstheorie
Q2 Q1 Q0
I Um den Programmablauf korrekt zu beschreiben, fordern wir, dass
die Elemente der Kontrollflussmatrix ausschließlich die Werte 0 und
Q · Li : 0 0 1 0 0 0 0 0 0
1 annehmen können und die Programmausführung mit der Instruk-
tion L1 beginnt:
li,1 li,0
Q · Li Li+1 L1 I ∧ . . . ∧ Ll I ∧ 1 L1
Q2 Q1 Q0
Darüber hinaus müssen wir sicherstellen, dass zu jedem Zeitpunkt
Li+1 : ? ? 1 ? ? ? ? ? ? genau eine Instruktion ausgeführt wird. Dies ist genau dann der Fall,
wenn in jeder Spalte der Kontrollflussmatrix genau eine 1 vorhanden
li+1,2 li+1,1 li+1,0 ist:
l
I = ∑ Li
I Li : goto Ln i=1
Q2 Q1 Q0
Zusätzlich müssen wir mehrere Gleichungen formulieren, die den
Li : 0 0 0 0 0 1 0 0 0 Übergang von einer Konfiguration in die nächste festlegen. Für
nichtverzweigende Instruktionstypen lassen sie sich recht einfach
li,2 li,1 li,0 niederschreiben (Abbildung 5.47):
Q2 Q1 Q0 Li : R j ← R j + 1 : Q · Li Li+1
Q · Li : 0 0 1 0 0 0 0 0 0 Li : R j ← R j − 1 : Q · Li Li+1
Li : goto Ln : Q · Li Ln
li,1 li,0
Abbildung 5.47: Modellierung des Kon- Jetzt müssen wir noch sicherstellen, dass immer die korrekte Folge-
trollflusses mithilfe der Maskierungsrelati- instruktion ausgeführt wird. Um zu sehen, wie dies gelingen kann,
on ‚‘ betrachten wir den Ausdruck
Q·I −2·Rj
Abbildung 5.48 zeigt, welches Bitmuster entsteht, wenn wir die Sub-
traktion im Binärsystem durchführen. Wichtig an dieser Stelle ist,
5.4 Folgen für die Mathematik 327
Abbildung 5.48: Die Bedeutung der Formel Q · I − 2 · R j . Das am weitesten rechts stehende Bit der t-ten Ziffer zeigt an, ob der
Registerinhalt R j zum Zeitpunkt t − 1 gleich oder ungleich 0 ist.
dass wir in Gleichung (5.24) gefordert haben, dass die Ziffern r j,t
allesamt die Bedingung r j,t < Q2 erfüllen. Das hat zur Folge, dass
wir den Wert R j mit 2 multiplizieren können, ohne zwischen den
Ziffern Überläufe zu generieren. Somit sind alle Ziffern von 2 · R j
gerade, oder anders formuliert: In allen Ziffern von 2 · R j ist das am
weitesten rechts stehende Bit gleich 0. Dies wiederum hat zur Fol-
ge, dass die Subtraktion Q · I − 2 · R j genau dann ein Übertragsbit
von einem Binärpaket auf das nächste generiert, wenn das Regis-
ter R j einen Wert = 0 enthält. Das bedeutet, dass wir am Bitmuster
von Q · I − 2 · R j ablesen können, ob der Inhalt von Register R j zum
Zeitpunkt t gleich oder ungleich 0 ist. Hierzu müssen wir lediglich
die Ziffer mit der Wertigkeit Qt+1 betrachten. Ist das am weitesten
rechts stehende Bit dieser Ziffer gleich 1, so ist r j,t = 0, ansonsten
ist r j,t = 0.
Damit können wir das Verhalten der bedingten Sprungbefehle wie
folgt charakterisieren:
Li : if R j = 0 goto Ln : Q · Li Ln + Li+1 ∧
Q · Li Li+1 + Q · I − 2R j
328 5 Berechenbarkeitstheorie
r=0
s=0 rs r=1
s=1 rs rs r=2
s=2 r s r s r s r = 3
s=3 rs rs rs rs r=4
s=4 r s r s r s r s r s r = 5
s=5 r s r s r s r s r s r s r = 6
s=6 r s r s r s r s r s r s r s r = 7
s=7 rs rs rs rs rs rs rs rs r=8
s=8 r s r s r s r s r s r s r s r s r s r = 9
s=9 r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r = 10
s = 10 r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r = 11
s = 11 r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r = 12
s = 12 r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r = 13
s = 13 r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r = 14
s = 14 r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r = 15
s = 15 r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s r s
Abbildung 5.49: Ordnen wir die Kombinationen von r und s mit r s zweidimensional an, so entsteht die fraktale Struktur
des Sierpinski-Dreiecks. Die Werte von s sind zeilenweise aufgetragen. Die Werte von r befinden sich auf den nach unten links
verlaufenden Diagonalen.
Li : if R j = 0 goto Ln : Q · Li Ln + Li+1 ∧
Q · Li Ln + Q · I − 2R j
Fügen wir alle Bausteine zusammen, so haben wir die Ziellinie fast er-
reicht. Wir erhalten eine diophantische Gleichung, die genau dann eine
Lösung in den natürlichen Zahlen besitzt, wenn die codierte Register-
maschine für die gewählte Eingabe terminiert. Wie die Formel für un-
sere konkrete Beispielmaschine aussieht, ist im unteren Teil von Abbil-
dung 5.43 zu sehen.
Nur noch ein einziges Puzzle-Stück fehlt in unserem Beweis. Wir sind
bisher davon ausgegangen, dass sich die Maskierungsrelation ‚‘ dio-
phantisch repräsentieren lässt, haben dafür aber noch keine Begründung
geliefert. Dies wollen wir jetzt nachholen.
5.4 Folgen für die Mathematik 329
Als erstes wollen wir klären, für welche konkreten Werte von r und s
die Beziehung r s erfüllt ist und für welche nicht. Wir unterscheiden
zwei Fälle:
Die Struktur aus Abbildung 5.49 ist in der Mathematik keine Unbekann-
te. Wir haben das sogenannte Sierpinski-Dreieck vor uns, benannt nach
dem polnischen Mathematiker Wacław Sierpiński (Abbildung 5.50). Im
Bereich der fraktalen Geometrie wird das Dreieck gern verwendet, um
das Prinzip der Selbstähnlichkeit zu demonstrieren. Grob gesprochen
ist ein Objekt genau dann selbstähnlich, wenn es als Ganzes die gleiche
Struktur aufweist wie seine Teile. Am Beispiel des Sierpinski-Dreiecks
lässt sich die Eigenschaft gut erkennen. Trennen wir eines der drei Teil-
dreiecke heraus, so erhalten wir erneut ein Sierpinski-Dreieck, das in
seiner Struktur dem ursprünglichen gleicht.
Das Pascal’sche Dreieck hat eine ganz praktische Bedeutung. Die Zelle
in Zeile s und Spalte r enthält den Wert des Binomialkoeffizienten
!
s
r Wacław Sierpiński (1882 – 1969)
Diese Eigenschaft folgt sofort aus der vereinbarten Konstruktionsvor- Abbildung 5.50: Im Jahr 1915 beschrieb
schrift und der bekannten Gleichung der polnische Mathematiker Wacław Sier-
! ! ! piński jenes Fraktal, das wie heute als
s+1 s s Sierpinski-Dreieck bezeichnen [176]. Im
= +
r+1 r r+1 Bereich der fraktalen Geometrie wird es
gerne dazu verwendet, um den Begriff der
Für unsere Zwecke wird das Pascal’sche Dreieck interessant, wenn wir Selbstähnlichkeit zu erklären.
seine Einträge modulo 2 betrachten. Jede gerade Zahl wird dann zu ei-
ner 0 und jede ungerade Zahl zu einer 1. Die untere Hälfte von Ab-
bildung 5.51 zeigt, dass wir auf diese Weise genau jene Struktur er-
halten, nach der wir suchen; wir erhalten das Sierpinski-Dreieck aus
330 5 Berechenbarkeitstheorie
r=0
s=0 1 r=1
s=1 1 1 r=2
s=2 1 2 1 r=3
s=3 1 3 3 1 r=4
s=4 1 4 6 4 1 r=5
s=5 1 5 10 10 5 1 r=6
s=6 1 6 15 20 15 6 1 r=7
s=7 1 7 21 35 35 21 7 1 r=8
s=8 1 8 28 56 70 56 28 8 1 r=9
s=9 1 9 36 84 126 126 84 36 9 1 r = 10
s = 10 1 10 45 120 210 252 210 120 45 10 1 r = 11
s = 11 1 11 55 165 330 462 462 330 165 55 11 1 r = 12
s = 12 1 12 66 220 495 792 924 792 495 220 66 12 1 r = 13
s = 13 1 13 78 286 715 1287 1716 1716 1287 715 286 78 13 1 r = 14
s = 14 1 14 91 364 1001 2002 3003 3432 3003 2002 1001 364 91 14 1 r = 15
s = 15 1 15 105 455 1365 3003 5005 6435 6435 5005 3003 1365 455 105 15 1
r=0
s=0 1 r=1
s=1 1 1 r=2
s=2 1 0 1 r=3
s=3 1 1 1 1 r=4
s=4 1 0 0 0 1 r=5
s=5 1 1 0 0 1 1 r=6
s=6 1 0 1 0 1 0 1 r=7
s=7 1 1 1 1 1 1 1 1 r=8
s=8 1 0 0 0 0 0 0 0 1 r=9
s=9 1 1 0 0 0 0 0 0 1 1 r = 10
s = 10 1 0 1 0 0 0 0 0 1 0 1 r = 11
s = 11 1 1 1 1 0 0 0 0 1 1 1 1 r = 12
s = 12 1 0 0 0 1 0 0 0 1 0 0 0 1 r = 13
s = 13 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1 0 0 1 1 r = 14
s = 14 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 r = 15
s = 15 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Abbildung 5.51: Berechnen wir alle Koeffizienten modulo 2, so entsteht aus dem Pascal’schen Dreieck das Sierpinski-Dreieck.
5.4 Folgen für die Mathematik 331
Das bedeutet, dass wir jede Zeile des Pascal’schen Dreiecks als die Zif-
fernfolge der Zahl (u + 1)s betrachten können, wenn wir die Basis u
hinreichend groß wählen (Abbildung 5.52). Da die Binomialkoeffizien-
ten die bekannte Beziehung
s !
s
∑ r = 2s
r=0
332 5 Berechenbarkeitstheorie
erfüllen, sind wir auf der sicheren Seite, wenn wir für u den Wert 2s + 1
wählen.
Kombinieren wir den Satz mit dem Ergebnis von Matijasevič aus dem
Jahr 1970, so erhalten wir das, was wir in diesem Abschnitt gesucht
haben: Die Antwort auf Hilberts zehntes Problem.
Korollar 5.3
5.5 Übungsaufgaben
Die Instruktionsmengen zweier Turing-Maschinen M1 und M2 seien wie folgt gegeben: Aufgabe 5.1
I1 := {(q1 , S0 , S1 , R, q2 ), (q2 , S0 , S0 , R, q3 ), (q3 , S0 , S2 , R, q1 )} Webcode
I2 := {(q1 , S0 , S1 , R, q2 ), (q2 , S0 , S0 , R, q3 ), (q3 , S0 , S2 , R, q1 ), (q4 , S0 , S0 , R, q1 )} 5089
In Abbildung 5.12 ist die Instruktionstabelle von Turings historischer universal machine Aufgabe 5.2
dargestellt. Unter anderem wird dort die folgende Teilmaschine definiert:
⎧ Webcode
⎨ Not A R, R con(C, α)
con(C, α)
5743
⎩ A L, Pα, R con1 (C, α)
⎧
⎪
⎪ A R, Pα, R con1 (C, α)
⎪
⎨
con1 (C, α) D R, Pα, R con2 (C, α)
⎪
⎪
⎪
⎩ None PD, R, Pα, R, R, R C
⎧
⎨ C R, Pα, R con2 (C, α)
con2 (C, α)
⎩ Not C R, R C
... ; D A D D C R D A A
...
Aufgabe 5.3 Damit eine Turing-Maschine von einer universellen Maschine simuliert werden kann, muss
sie in geeigneter Weise codiert werden. In dieser Aufgabe geht es um die Codierung, die
Webcode Turing in seiner Arbeit aus dem Jahr 1936 vorgeschlagen hat.
5272
Bewerten Sie die folgenden Aussagen: wahr falsch
Aufgabe 5.4 Wir haben gezeigt, dass sich eine Turing-Maschine oder eine Registermaschine auf zwei
Arten nutzen lässt: als Transduktor oder als Akzeptor. Für eine Funktion f : N → N bedeutet
Webcode dies das Folgende: Als Transduktor nimmt die Registermaschine x als Eingabe entgegen und
5543 produziert y als Ausgabe. Als Akzeptor nimmt sie das Tupel (x, y) entgegen und akzeptiert
die Eingabe genau dann, wenn x und y die Beziehung f (x) = y erfüllen.
Ziel dieser Aufgabe ist es, einen Zusammenhang zwischen diesen Begriffen herzustellen.
Aufgabe 5.5 In Abschnitt 5.1.2 haben Sie eine Registermaschine kennen gelernt, die von James P. Jones
und Yuri Matijasevič im Jahr 1991 entworfen wurde [102]. Hierbei handelte es sich um einen
Webcode Transduktor, der in Register R1 die Eingabe x entgegennimmt und dort auch die Ausgabe
5781 f (x) ablegt. Anhand des Ablaufprotokolls aus Abbildung 5.17 konnten Sie einen Eindruck
gewinnen, wie sich die Maschine für den Fall R1 = 2 verhält. Nach 23 Schritten hielt sie an
und hinterließ in R1 den Ergebniswert 1.
a) Vervollständigen Sie die nachstehende Liste, indem Sie den Ablauf für weitere Eingaben
simulieren:
Alle diskutierten Registermaschinen waren mit drei Sprungbefehlen ausgestattet: Aufgabe 5.6
I Li : goto Ln I Li : if R j = 0 goto Ln I Li : if R j = 0 goto Ln Webcode
a) Ist es möglich, damit den folgenden erweiterten Sprungbefehl zu implementieren? 5696
b) Ändert sich die Ausdrucksstärke des Maschinenmodells, wenn wir uns auf den Sprungbe-
fehl Li : if R j = 0 goto Ln beschränken?
In dieser Aufgabe sollen Sie sich mit dem zellulären Automaten beschäftigen, der über das Aufgabe 5.7
folgende Regelschema definiert ist:
Webcode
Regel 1 Regel 2 Regel 3 Regel 4 Zustand 5742
Linker Rechter
Nachbar Nachbar
Regel 5 Regel 6 Regel 7 Regel 8
Folgezustand
Welche Ihnen bekannte Struktur wird durch diesen Automaten erzeugt? Vervollständigen Sie
zur Beantwortung dieser Frage das folgende Diagramm. Die ersten drei Zeilen sind bereits
ausgefüllt.
336 5 Berechenbarkeitstheorie
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
!q1 " !__"
0 0 0 0 1 0 0 0 0 0
!q2 " !__"
0 0 0 0 1 1 0 0 0 0
!q3 " !__"
!__" !__"
!__" !__"
!__" !__"
!__" !__"
!__" !__"
!__" !__"
b) Recherchieren Sie, welche bekannte Turing-Maschine wir hier vor uns haben. Wird die
Maschine irgendwann terminieren?
5.5 Übungsaufgaben 337
In Definition 5.7 haben wir vereinbart, dass eine Menge N genau dann aufzählbar ist, wenn Aufgabe 5.9
eine surjektive und berechenbare Funktion f : N → N existiert. Welche Konsequenzen
ergeben sich, wenn wir die Forderung nach der Surjektivität durch die Forderung nach der Webcode
Bijektivität ersetzen? 5800
In Abschnitt 5.3.2 haben Sie den Satz von Rice kennen gelernt. In einem Rundumschlag Aufgabe 5.10
macht er die Hoffnung zunichte, irgendeine nichttriviale Eigenschaft von Turing-Maschinen
algorithmisch zu entscheiden. Doch ist das wirklich so? Als Beispiel betrachten wir die Webcode
Eigenschaft einer Maschine, exakt 5 Zustände zu besitzen. Mit einem Blick auf die In- 5932
struktionstabelle können wir diese Eigenschaft für jede vorgelegte Maschine immer korrekt
entscheiden. Aber genau dies dürfte nach dem Satz von Rice nicht möglich sein, oder
vielleicht doch?
In dieser Aufgabe betrachten wir die Formel Inst(qi , S j , Sk , L, ql ) aus Abschnitt 5.4.1. Mit Aufgabe 5.11
ihr hat Turing in seiner Arbeit aus dem Jahr 1936 die Linksbewegung einer einseitig
beschränkten Turing-Maschine beschrieben: Webcode
5193
Inst(qi , S j , Sk , L, ql ) :=
∀ t ∀ y ∀ t ∀ y ((RSj (t, y) ∧ I(t, y) ∧ Kqi (t) ∧ F(t, t ) ∧ F(y , y))
→ (I(t , y ) ∧ RSk (t , y) ∧ Kql (t )
M
∧ ∀ z (F(y , z) ∨ (RSi (t, z) → RSi (t , z)))))
i=0
Auf Seite 276 haben wir festgelegt, wie sich eine solche Maschine verhält, wenn der Schreib-
Lese-Kopf ganz links steht:
Offenbar ist die verbale Beschreibung in der Formel ϕI (x, y) überhaupt nicht umgesetzt.
Aufgabe 5.12 In Abschnitt 5.4.2 haben wir herausgearbeitet, wie sich Turing-Maschinen arithmetisieren
lassen. In diesem Zusammenhang haben wir die PA-Formel ϕI (x, y) eingeführt, die den Über-
Webcode gang von einer Konfiguration x in eine Konfiguration y beschreibt. Für die Linksbewegung
5892 lautetet sie beispielsweise so:
ϕI (x, y) := ∃ h1 ∃ h2 ∃ n1 ∃n2 (
L(x) = n1 ∧ K(x) = i ∧ I(x) = h1 ∧ Rh1 (x) = j ∧
L(y) = n2 ∧ K(y) = l ∧ I(y) = h2 ∧
(h1 = 0 → (
n1 = n2 ∧ h1 = h2 + 1 ∧ Rh1 (y) = k ∧
∀ (h < n1 ) (h = h1 → ∃ s (Rh (x) = s ∧ Rh (y) = s)))) ∧
(h1 = 0 → (
n1 + 1 = n2 ∧ R0 (y) = 0 ∧ h1 = h2 ∧ R1 (y) = k ∧
∀ (h < n1 ) (h = 0 → ∃ s (Rh (x) = s ∧ Rh+1 (y) = s)))))
Wir hätten den Beweis vereinfachen können, indem wir ihn für einseitig beschränkte Turing-
Maschinen führen. Wie würde die Formel dann aussehen?
a) Zeigen Sie, dass die Gleichung in den ganzen Zahlen unendlich viele Lösungen hat.
b) Warum ist die Gleichung in den natürlichen Zahlen unlösbar?
Aufgabe 5.14 In Abschnitt 5.4.3 haben wir erarbeitet, wie sich diophantische Gleichungen konjunktiv oder
disjunktiv zusammenfassen lassen.
Webcode
5100 a) Welche Relationen werden durch die folgenden beiden Gleichungen repräsentiert?
a+x+1−b = 0 ∨ b+y+1−a = 0
a+x−b = 0 ∧ b+y−a = 0
In Abbildung 5.41 ist eine diophantische Gleichung mit 26 Unbekannten aufgeführt, die Aufgabe 5.16
genau dann eine Lösung in den positiven natürlichen Zahlen besitzt, wenn k + 2 eine
Primzahl ist. Webcode
5999
a) Kann diese Gleichung dazu verwendet werden, alle Primzahlen aufzuzählen?
b) Lässt sich die Menge aller Primzahlzwillinge ebenfalls diophantisch repräsentieren?
Das nachstehende Registermaschinenprogramm stammt aus der mehrfach zitierten Arbeit Aufgabe 5.17
von Jones und Matijasevič aus dem Jahr 1984 [101]:
Webcode
L0 R2 ← R2 + 1 R2 ← R2 − 1 L11 if R2 < R1 goto L10 5156
L1 R2 ← R2 + 1 L6 if 0 < R2 goto L5 L12 R1 ← R1 − 1
L2 if R3 = 0 goto L5 L7 R2 ← R2 + 1 R2 ← R2 − 1
L3 R3 ← R3 − 1 R4 ← R4 − 1 R3 ← R3 − 1
L4 goto L2 L8 if 0 < R4 goto L7 L13 if 0 < R1 goto L12
L5 R3 ← R3 + 1 L9 if R3 < R1 goto L5 L14 stop
R4 ← R4 + 1 L10 if R1 < R3 goto L1
a) Mit Ri < R j wird eine Operation verwendet, die unser Registermaschinenmodell nicht von
Hause aus unterstützt. Zeigen Sie, dass sich die Operationen mit den nativen Sprachele-
menten nachbilden lassen.
b) Führen Sie das Programm für die Eingabe R1 = 2 händisch aus und erstellen Sie ein
Ablaufdiagramm, das ähnlich aussieht wie jenes aus Abbildung 5.17. Beachten Sie, dass
die Programmausführung in Zeile L0 beginnt und nicht, wie bisher, in Zeile L1 .
c) Stellen Sie für diese Berechnungssequenz die Daten- und Kontrollflussmatrix auf. Wie
eine solche Matrix aussieht, wurde in Abbildung 5.43 gezeigt.
d) Wenn Sie die Registermaschine für verschiedene Eingabewerte starten, werden Sie fest-
stellen, dass sie in manchen Fällen hält und in anderen für immer weiter rechnet. Versu-
chen Sie, einen Zusammenhang zwischen dem Eingabewert und der Terminierungseigen-
schaft herzustellen.
340 5 Berechenbarkeitstheorie
Aufgabe 5.18 In Abschnitt 5.4.3.2 haben wir gezeigt, wie sich Registermaschinen diophantisch codieren
lassen. Die von uns konstruierte Gleichung enthielt unter anderem den Teilausdruck
Webcode
5548 L1 I ∧ . . . ∧ Ll I (5.33)
Er stellt sicher, dass L1 , . . . , Ll ausschließlich aus den Ziffern 0 und 1 besteht. Darüber hinaus
hatten wir über den Teilausdruck
l
I = ∑ Li (5.34)
i=1
erzwungen, dass in jeder Spalte der Kontrollflussmatrix höchstens eine 1 vorkommt. Auf
den ersten Blick scheinen wir (5.33) gar nicht zu benötigen, da deren inhaltliche Aussage
augenscheinlich aus (5.34) folgt. Beweisen oder widerlegen Sie diese Vermutung.
6 Algorithmische Informationstheorie
Das Ziel dieses Kapitels ist es, die Kernideen der algorithmischen In-
formationstheorie in ihren Grundzügen darzustellen. Hierzu werden wir
in Abschnitt 6.1 zunächst klären, wie sich die Komplexität einer Zei-
chenkette durch die Rückführung auf den Algorithmenbegriff formal
erfassen lässt. Unter anderem werden wir dabei lernen, präzise zwi-
schen zufälligen und nicht zufälligen Zeichenketten zu unterscheiden.
Gegenstand von Abschnitt 6.2 wird dann erneut das Turing’sche Halte-
problem sein. Über den Begriff der Haltewahrscheinlichkeit werden wir
auf direktem Weg zur Chaitin’schen Konstanten geführt, einer wahrhaft
wundersamen Zahl, deren Entdeckung zu den Sternstunden der mo-
dernen mathematischen Logik zählt. Anschließend werden wir in Ab-
schnitt 6.3 einen trickreichen Zusammenhang zwischen Kalkülen und
Programmen herstellen und auf diese Weise die wahre Bedeutung der
algorithmischen Informationstheorie offenlegen. Am Ende unserer Be-
trachtungen werden wir mit dem Chaitin’schen Unvollständigkeitssatz
ein Theorem unser Eigen nennen, das uns die Grenzen der mathema-
tischen Methode ein weiteres Mal messerscharf vor Augen führen wird.
Die zweite Frage behandelt wir zuerst. In beiden Beispielen scheint die
Abfolge der Nullen und Einsen augenscheinlich keiner Gesetzmäßig-
keit zu folgen; sowohl die linke als auch die rechte Sequenz wirken
geradewegs so, als hätten wir sie durch eine Reihe von Münzwürfen er-
zeugt. Doch dürfen wir unserer Intuition an dieser Stelle trauen? Sind
die Nullen und Einsen tatsächlich willkürlich verteilt oder unterliegen
ihre Anordnungen vielleicht doch verborgenen Gesetzmäßigkeiten, die
wir mit bloßem Auge nur nicht erkennen?
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, wollen wir versuchen, beide
Zahlenfolgen mit dem Computerprogramm Zip zu verkürzen. Die Idee
ist naheliegend: Kompressionsprogramme suchen nach Gesetzmäßig-
keiten, anhand derer sich die vorgelegte Eingabe aus einer verkürzten
Bitsequenz wiederherstellen lässt. Gelingt die Kompression, so wäre
der Beweis erbracht, dass die vorgelegten Ziffernfolgen keine Zufalls-
sequenzen sind. Wurden die Folgen aber tatsächlich mit einer Münze
erzeugt, so enthielten die ersten n Ziffern keine Information über die
Abbildung 6.1: Visualisierung einer drei- Werte an den übrigen Bitstellen. Die Binärsequenz wäre frei von jegli-
dimensionalen Mandelbrot-Menge von Da- cher Redundanz, und das Kompressionsprogramm würde eine Ausgabe
niel White und Paul Nylander [146, 190] produzieren, die etwa die gleiche Länge besitzt wie die Eingabe.
1011100111011110100000011010111000001111011111111010001101001 0000000111110010110101001001001111110100110001100011011001010
1010101000000000011000001000110011100110010000011100010000101 1110101111011111101000101011100010010111000111110001111010100
1000001110100011101111000100001111010000100101110101101111000 0101001110111100111011110011000011011110010100101001110110010
0001001101101011000000101110011110001000110000111001011010110 1111001111110111011000100010111100000111010001000111010110100
0110110100010010100010001001010000001111100100000110101110010 1011100100111000000110101000001100101101101001100010011101111
1000000111100110001100100100001010011111100101010110100011110 1011101101010001011111100000000010101011010001111001111011010
1101000000001011001001111011110010110110101011111111110101001 0110110001000000111001001101100011101001110110101000010010100
1110111001111110111010001000011110010110111100111010001100111 1100011011011101001111011001010111100001110101010000001001000
0101011101101011011100000010001000001110100111000111110100111 0110111010110101011010000001000111100100101001100010001111101
0001011001101110111100111101101000100100010010011100001001011 1000010000000101100011010001111101001001101001110001111001100
0100110000110111110011110100111101111010100000010100011101010 0111100101110000010011101011000101010111010011101011000101101
0101101111010110011001010101100011110110101001100000010010111 0001101101101111100000101010000100110111110100011011100011001
0110011101111011001101010111011111101101100011110111111100100 1111001110101111011011011011110001101001010000100110100011100
1011011100001101110010010000010010001110000101100111110011101 0000011011100000100010011001011001001100011111010000100100101
0001111010110000101111000101000011111001101101110011010000111 1001011000100110000011010010011100001010010110110111010100011
0001111111000010001111011111111111010111001101110000000110011 0100000100011101011001101110010000000110101100010010010100111
010100111111010100001101 . . . 011111100111000001000101 . . .
π
Programm systematisch erzeugen.
Wollen wir eine endliche Zufallssequenz mit einem Programm ausge- I Sequenz 2
ben, so sind wir gezwungen, alle Ziffern im Klartext zu codieren. Ein
solches Programm sähe etwas so aus:
PRINT "0000000111110010110101001001001111110100110..."
Es ist leicht einzusehen, dass die Länge eines Programms dieser Form
etwa der Länge der Ausgabe entspricht. Bei der Ausgabe von 1000 Zif-
fern ist dies noch kein Problem, und mit hoher Wahrscheinlichkeit ist 3.08422689531964509303. . .
ein solches Programm dann immer noch kürzer als eines zur Berech- 3.23209025601595334764. . .
nung von π. Dies ändert sich, wenn wir längere Binärsequenzen be-
trachten. Wollten wir nicht nur 1000, sondern 1.000.000 Ziffern ausge-
ben, so würde das Programm zur Ausgabe der Zufallssequenz um den 3.00000001111100101101. . .
Faktor 1000 länger. Das Programm zur Berechnung von π würde hin- 3.01001001001111110100. . .
gegen nur geringfügig länger werden1 . Wir sagen, die erste Sequenz hat
eine geringere algorithmische Komplexität. Abbildung 6.4: Nur die zweite Binärse-
quenz ist zufällig. Sie wurde aus den ersten
1 Tatsächlich bleibt die Programmlänge nicht konstant. Sie steigt an, da wir die Anzahl 1000 Ziffern einer 1955 publizierten Zahl
der auszugebenden Nachkommastellen als Konstante in das Programm hineincodieren generiert, die im Rahmen eines Zufallsex-
müssen. periments ermittelt wurde.
344 6 Algorithmische Informationstheorie
Abbildung 6.5: Der russische Mathemati- Jetzt sind wir in der Lage, auch die erste der zu Beginn dieses Abschnitts
ker Andrej Kolmogorov ist der Namensge- formulierten Fragen zu beantworten. Setzen wir den Informationsgehalt
ber der Kolmogorov-Komplexität. Diese Be- eines Objekts mit seiner algorithmischen Komplexität gleich, so enthält
zeichnung ist das am häufigsten benutzte das Fraktal aus Abbildung 6.1 trotz seines Detailreichtums nur wenig
Synonym für den Begriff der algorithmi- Information. Mit einem überschaubaren Programm lässt sich die Bitfol-
schen Komplexität. ge der Bilddatei in beliebiger Auflösung erzeugen.
6.1 Algorithmische Komplexität 345
I Die Maßzahl κ(s) geht nicht immer mit unserer intuitiven Vor-
stellung von Komplexität einher. Selbst hochkompliziert wirkende
Strukturen, wie das Fraktal aus Abbildung 6.1, können eine geringe n := 0
algorithmische Komplexität aufweisen.
Die Frage, die sich uns an dieser Stelle aufdrängt, ist eine naheliegen- n := n + 1
de: Können wir ein Verfahren ersinnen, mit dem wir die algorithmische
Komplexität für eine vorgelegte Binärsequenz s systematisch berechnen
können? Die Antwort auf diese Frage ist negativ.
s := die n-te Binärsequenz
Satz 6.1
Hinter dieser Definition verbirgt sich die Idee, dass wir immer dann von
einer Zufallssequenz sprechen, wenn sie sich nicht aus einer deutlich Wie lautet die erste
kleineren Bitsequenz rekonstruieren lässt. Mit anderen Worten: Zufalls- zufällige Binär-
sequenzen sind nicht signifikant komprimierbar. Sehr präzise ist diese sequenz > N ?
Festlegung freilich nicht, schließlich bleibt völlig offen, was mit „deut-
lich kleiner“ oder „signifikant komprimierbar“ genau gemeint ist. Die-
ses Problem wird sich weiter unten von selbst erledigen, wenn wir den Eingabe:
Übergang von endlich langen zu unendlich langen Binärsequenzen voll-
ziehen.
Zunächst wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, ob wir mit einem n := N
systematischen Verfahren entscheiden können, ob eine vorgelegte Zei-
chenkette s zufällig ist oder nicht. Da wir zu diesem Zweck lediglich
entscheiden müssen, ob die algorithmische Komplexität einer Binärse-
quenz s ungefähr der Länge von s entspricht, schließt Satz 6.1 die Exis-
n := n + 1
tenz eines solchen Verfahrens nicht von vorneherein aus. Ein Argument,
das jenem aus dem Beweis von Satz 6.1 sehr ähnlich ist, lässt aber auch
diese Hoffnung zerbersten.
Erneut interessiert uns die Frage, wie sich P für große Werte von N
verhalten wird.
I Zunächst halten wir fest, dass P für jeden Wert von N terminiert. Den
Grund hierfür haben wir bereits im Beweis zu Satz 6.1 erörtert. Da
unendlich viele Zufallssequenzen existieren, können wir für jedes N
eine Zahl n mit n > N finden, die zu einer zufälligen Binärsequenz s
führen wird.
I Für unsere Betrachtung ist erneut die Programmlänge |P| entschei-
dend. Im Wesentlichen besteht P aus einer konstanten Anzahl von
348 6 Algorithmische Informationstheorie
Bits, und seine Länge wird lediglich durch die konkrete Wahl
von N noch geringfügig beeinflusst. Zur Codierung von N reichen
(log2 N) + 1 Bits aus, so dass wir die Programmlänge über die For-
mel
|P| ≤ c + (log2 N)
abschätzen können. Wiederum spielt der genaue Wert der Konstan-
ten c keine Rolle.
Seien Sie sich auch hier dessen bewusst, dass Satz 6.2 nur die Existenz
eines systematischen Verfahrens ausschließt, das für jede vorgelegte Bi-
närsequenz immer korrekt entscheidet, ob sie zufällig ist oder nicht.
Für ganz spezielle Sequenzen kann ein Beweis trotzdem gelingen. Bei-
spielsweise waren wir weiter oben in der Lage, die erste der eingangs
diskutierten Binärsequenzen als regelmäßig zu entlarven.
Wir wollen nun daran gehen, den Begriff der algorithmischen Komple-
xität auf unendlich lange Binärsequenzen zu übertragen. Eine nahelie-
gende Definition wäre diese hier: Eine unendlich lange Binärsequenz s
heißt regelmäßig, wenn ein Programm existiert, das alle Ziffern von s in
einer Endlosschleife nacheinander ausgibt. Anstatt allgemein von einem
Programm zu sprechen, könnten wir auch die Existenz einer Turing-
Maschine fordern, die alle Ziffern von s nacheinander auf ein leeres
Band schreibt. Wiederum wird klar, was für eine Maschine wir im Sinn
haben: Sie arbeitet ganz genau so wie eine computing machine aus der
Turing’schen Originalarbeit.
Obwohl diese Definition auf den ersten Blick reizvoll erscheint, werden
wir sie nicht verwenden. Um den Grund hierfür zu verstehen, betrach-
ten wir die Binärsequenz aus Abbildung 6.8. Entstanden ist sie, indem
die Bits einer Zufallssequenz mit den Bits einer regelmäßigen Sequenz
paarweise verschränkt wurden. Die Bits an den ungeraden Positionen
sind aus den Nachkommastellen der Zahl π generiert und leicht bere-
chenbar. Die Bits an den ungeraden Positionen sind unserer Zufallsse-
quenz aus Abbildung 6.2 entnommen. Nach der vorgeschlagenen De-
finition wäre die konstruierte Bitfolge eine Zufallssequenz; sie enthält
eine unberechenbare Teilfolge und kann daher von keinem Programm
6.1 Algorithmische Komplexität 349
...
0
0 Abbildung 6.8: Die dargestellte Binärse-
1
0 quenz entsteht, indem eine regelmäßige
1 1
1 0 1 1 1 0 0 1 1 1 0 1 1 Bitfolge mit einer zufälligen Bitfolge ver-
schränkt wird. Da sie eine unberechenba-
1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 0 0 1 0 1 0 1 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 ... re Teilfolge enthält, kann sie von keinem
Programm erzeugt werden. Dennoch wür-
0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 den wir die Binärsequenz nicht als zufäl-
0 0 1 lig erachten, da sich jedes Anfangsstück
0
1 mit einem Programm ausgeben lässt, das
1 ... etwa nur halb so lang ist wie die Sequenz
selbst.
erzeugt werden. Als zufällig würden wir sie dennoch nicht bezeichnen,
schließlich könnten wir jedes Anfangsstück mit einem Programm aus-
geben, das signifikant kürzer ist als die Sequenz selbst (Abbildung 6.9).
Aus diesem Grund werden wir einen anderen Weg wählen und den Be-
griff der unendlich langen Zufallssequenz auf die Definition für endli-
che Sequenzen zurückführen.
n
Nach dieser Definition ist die Sequenz aus Abbildung 6.8 nicht mehr zu-
fällig. Da jedes Anfangsstück der Länge n mit einem Programm ausge- Abbildung 6.9: Jedes Anfangsstück der Bi-
geben werden kann, das etwa halb so lang ist wie n, können wir c wäh- närsequenz aus Abbildung 6.8 lässt sich mit
einem Programm ausgeben, das etwa halb
len, wie wir wollen: Selbst für riesige Werte für c wird die Komplexität
so lang ist wie die Sequenz selbst. Daher
des Anfangsstücks mit Sicherheit irgendwann kleiner sein als n − c. Die wird die Komplexität des Anfangsstücks ir-
Unschärfe, die Definition 6.2 negativ anhaftete, ist durch den Übergang gendwann kleiner sein als n−c, unabhängig
zu unendlich langen Binärsequenzen jetzt vollständig verschwunden. davon, wie groß wir die Konstante c wäh-
len. Die Bitfolge ist daher keine Zufallsse-
quenz im Sinne von Definition 6.3.
350 6 Algorithmische Informationstheorie
zeichnen das Programm mit der Gödelnummer i ganz einfach als das
00
01
10
11
0
1
I wie viele der ersten m Programme anhalten ( Anzahl der Einsen) I HelloWorld.pas
I und welche Programme dies sind. ( Position der Einsen) PROGRAM HelloWorld;
BEGIN
Tatsächlich ist die zweite Information redundant. Sobald wir wissen, WRITELN(’Hello World’);
wie viele der ersten m Programme anhalten, können wir auch bestim-
END.
men, um welche es sich im Einzelnen handelt. Hierzu müssen wir le-
diglich den Ablauf der ersten m Programme parallel simulieren und die
anhaltenden Programme notieren. Da wir genau wissen, wie viele Pro- 50 52 4f 47 52 41 4d 20 48 65
gramme terminieren werden, wissen wir auch präzise, wann die Simu- 6c 6c 6f 57 6f 72 6c 64 3b 0a
lation beendet werden kann. 0a 42 45 47 49 4e 0a 20 20 20
Wir wollen versuchen, die Anzahl der terminierenden Programme als 57 52 49 54 45 4c 4e 28 27 48
Wahrscheinlichkeit anzugeben, und lassen uns dabei von der folgenden 65 6c 6c 6f 20 57 6f 72 6c 64
Vorstellung leiten: Wir packen die Binärsequenzen der ersten m Pro- 27 29 3b 0a 45 4e 44 2e
gramme in einen Behälter und nehmen wahllos eine Sequenz heraus.
Die Wahrscheinlichkeit, eine Bitsequenz zu entnehmen, die der Gödel- Abbildung 6.11: Pascal-Programme sind
nummer eines anhaltenden Programms entspricht, bezeichnen wir als von Hause aus präfixfrei. Alle Programme
Haltewahrscheinlichkeit. Kennen wir diese, so können wir die Anzahl enden mit dem Schlüsselwort ‚END‘, ge-
folgt von einem Punkt.
der terminierenden Programme ganz einfach durch die Multiplikation
mit m zurückgewinnen.
Problematisch wird diese Vorstellung dann, wenn wir nicht die ersten
m Binärsequenzen, sondern alle endlichen Binärsequenzen in den Be-
hälter packen. Hat dann die Vorstellung überhaupt noch Sinn, eine Bi-
närsequenz zufällig herauszuziehen? Wie wäre beispielsweise die zu
erwartende Durchschnittslänge der gezogenen Sequenzen? Für jeden
konkreten Wert von l erhalten wir einen unmittelbaren Widerspruch,
da nur endlich viele Sequenzen existieren, die kleiner sind als l, aber
unendlich viele, die größer sind. Wir werden gleich sehen, dass wir Wi- (q1 , S0 , S1 , R, q2 ) (q1 , S0 , S1 , R, q2 )
dersprüche dieser Art vermeiden können, wenn wir die erlaubten Gö- (q2 , S0 , S0 , R, q3 ) (q2 , S0 , S0 , R, q3 )
delisierungen geringfügig einschränken. Konkret werden wir nur noch (q3 , S0 , S2 , R, q4 ) (q3 , S0 , S2 , R, q4 )
solche zulassen, die das Kriterium der Präfixfreiheit erfüllen. Die fol- (q4 , S0 , S0 , R, q1 ) (q4 , S0 , S0 , R, q1 )
(q1 , S1 , S1 , R, q2 )
gende Definition klärt, was wir hierunter im Detail zu verstehen haben.
Das Experiment zeigt uns zugleich den Weg auf, wie wir die Halte-
wahrscheinlichkeit berechnen können. In unserem Beispiel existieren
fünf terminierende Programme, gegeben durch die Gödelnummern 01,
101, 0010, 0011 und 1110. Das Programm mit der Gödelnummer 01
wird in unserem Experiment mit der Wahrscheinlichkeit 14 erzeugt, das
Programm 101 mit der Wahrscheinlichkeit 18 und die Programme 0010,
1
0011 und 1110 jeweils mit der Wahrscheinlichkeit 16 . Alle Ereignisse
sind paarweise disjunkt. Somit ist die Gesamtwahrscheinlichkeit, eine
der fünf Maschinen zu erzeugen, die Summe der Einzelwahrscheinlich-
keiten. Mit
Ω1 = 0
1
Ω2 =
4
1 1 3
Ω3 = + =
4 8 8
1 1 1 1 1 9
Ω4 = + + + + =
4 8 16 16 16 16
354 6 Algorithmische Informationstheorie
„Suche die erste gerade erhalten wir exakt die durch Abzählen ermittelten Wahrscheinlichkeiten
natürliche Zahl > 2, die aus Abbildung 6.13. Unsere Überlegung können wir in nahe liegender
sich nicht als Summe Weise verallgemeinern. Bezeichnet P ein terminierendes Programm und
zweier Primzahlen |P| die Länge seiner Gödelnummer, so geht P mit dem Gewicht 2|P| 1
in
schreiben lässt. die Berechnung der Gesamtwahrscheinlichkeit ein. Somit ist
1
Ωn = ∑ 2|P|
(6.2)
P hält,
|P| ≤ n
P
Die Haltewahrscheinlichkeiten Ωn sind verblüffende Objekte der ma-
|P |= n thematischen Logik. In ihnen ist das nötige Wissen konzentriert, um
sämtliche Fragestellungen zu entscheiden, die sich durch die Angabe
eines berechenbaren Gegenbeispiels widerlegen lassen. Jede derartige
Fragestellung können wir in ein Programm P übersetzen, das nach ei-
Terminiert P ? n nem Gegenbeispiel sucht und im Erfolgsfall anhält (Abbildung 6.15).
Hat P die Länge n, so können wir mithilfe von Ωn die Anzahl der Binär-
sequenzen bestimmen, die mit der Gödelnummer eines terminierenden
Programms beginnen. Durch die schrittweise Simulation aller in Frage
kommenden Programme können wir die terminierenden herausfiltern
und auf diese Weise herausbekommen, ob P terminiert oder unendlich
Ja Nein
lange läuft. Im ersten Fall ist die mathematische Fragestellung wider-
Die Die
legt, im zweiten Fall ist sie bewiesen.
Goldbach'sche Goldbach'sche
Vermutung Vermutung Die Schar von mathematischen Problemen, die sich auf diesem Weg
ist falsch. ist wahr. prinzipiell beweisen oder widerlegen lassen, ist riesig. Hierunter fallen
viele berühmte und bisher ungelöste Probleme der Mathematik, wie die
Abbildung 6.15: In der Bitfolge der Hal-
Goldbach’sche Vermutung oder die Riemann’sche Hypothese. In der
tewahrscheinlichkeit Ωn sind die Antwor-
ten auf sämtliche mathematischen Frage-
Haltewahrscheinlichkeit liegt die Antwort auf diese Fragen verborgen,
stellungen codiert, die sich über die Termi- codiert in einer Abfolge von Bits, die auf wenigen Buchseiten problem-
nierungseigenschaft eines Programms der los Platz finden würde.
Maximallänge n entscheiden lassen. Soweit die Theorie. Aber können wir tatsächlich darauf hoffen, die
Goldbach’sche Vermutung oder die Riemann’sche Hypothese eines Ta-
ges auf solche Art und Weise zu entscheiden? Zunächst müssten wir
einen Weg finden, die Haltewahrscheinlichkeit Ωn zu berechnen. Für
kleine Werte von n kann dies tatsächlich gelingen. Da in diesem Fall nur
wenige Gödelnummern betrachtet werden müssen, können wir darauf
hoffen, alle terminierenden Programme durch eine individuelle Analy-
se zu bestimmen. Es ist leicht einzusehen, dass die Berechnung von
Ωn aber höchstens für endliche viele n möglich ist. Wären wir in der
Lage, unendlich viele Ωn zu berechnen, so hätten wir Zugriff auf ge-
nug Wissen, um das Halteproblem zu entscheiden. Um festzustellen,
ob ein Programm P der Länge n anhält, müssten wir dann lediglich die
nächst größere Zahl m bestimmen, für die Ωm berechenbar ist. Über die
Haltewahrscheinlichkeit Ωm erhielten wir dann Auskunft darüber, wie
6.2 Die Chaitin’sche Konstante 355
Hieraus folgt sofort, dass die Folge einem Grenzwert zustreben muss.
Sie konvergiert gegen die berühmte Chaitin’sche Konstante Ω.
Ωnn ≤ Ωn ≤ Ω (6.3)
k := 0 lim Ωnn = lim Ωn = Ω (6.4)
n→∞ n→∞
Auch wenn die Folgen Ω1 , Ω2 , Ω3 , . . . und Ω11 , Ω22 , Ω33 , . . . dem gleichen
Grenzwert zustreben, sind sie grundverschieden. Im Gegensatz zur ers-
k := k + 1 ten Folge sind nämlich sämtliche Elemente der zweiten Folge berechen-
bar. Den Wert Ωnn können wir ganz einfach bestimmen, indem wir alle
Programme P mit |P| ≤ n für maximal n Schritte simulieren und mitzäh-
len, wie viele davon terminieren. Mit größeren Werten für n kommen
Berechne kk wir auf diese Weise immer weiter an den Wert von Ω heran. Zahlen,
die sich wie hier durch eine Folge berechenbarer Zahlen beliebig nahe
annähern lassen, heißen rekursiv aufzählbar.
kk[1…n] Folgt daraus, dass die Chaitin’sche Konstante Ω berechenbar ist? Auf
= [1…n]?
Ja den ersten Blick scheint dies tatsächlich der Fall zu sein. Die Konver-
Nein
genzeigenschaft lehrt uns, dass sich die Nachkommabits von Ωnn mit der
Ja Zeit von links nach rechts stabilisieren müssen.
Jetzt wissen wir:
Jedes terminierende Dabei dürfen wir ein schwerwiegendes Problem nicht übersehen: Zu
Programm P mit |P | n hält nach keinem Zeitpunkt lässt sich mit Sicherheit sagen, ob ein Bit seinen end-
höchstens k Schritten an. gültigen Wert eingenommen hat. Selbst wenn wir uns mit Ωnn bereits so
nahe an Ω herangetastet haben, dass der Übergang von Ωnn zu Ωn+1 n+1 nur
M := Menge aller noch weit rechts stehende Bits beeinflusst, können sich diese Änderun-
Binärsequenzen der gen durch die Generierung von Überträgen nach links ausbreiten und
Länge n, die mit der
somit auch Bits an den vorderen Positionen verändern. Es könnten also
Gödelnummer eines
Programms beginnen, durchaus rekursiv aufzählbare Zahlen existieren, die nicht berechenbar
das innerhalb von k sind. Dass wir mit der Chaitin’schen Konstanten Ω eine genau solche
Schritten anhält. Zahl vor uns haben, ist eine Folge aus dem nachstehenden Satz:
|M|
Ausgabe: n = Satz 6.3
2n
Abbildung 6.17: In Ω sind sämtliche Hal- Ωn lässt sich aus den ersten n Bits von Ω rekonstruieren.
tewahrscheinlichkeiten Ωn in einer einzi-
gen Zahl vereint. Die ersten n Bits der
Chaitin’schen Konstanten (Ω[1 . . . n]) rei-
Beweis: Um aus den ersten n Bits von Ω die Haltewahrscheinlichkeit Ωn
chen aus, um die Haltewahrscheinlichkeit
Ωn zu rekonstruieren.
zu rekonstruieren, folgen wir dem Ablaufschema aus Abbildung 6.17:
I Wir fangen an, nacheinander die Folgenelemente Ω11 , Ω22 , Ω33 , . . . aus-
zurechnen. Auf diese Weise nähern wir uns von unten immer weiter
6.2 Die Chaitin’sche Konstante 357
an Ω an und irgendwann werden Ωkk und Ω in den ersten n Bits über- Der Beweis zu Satz 6.3 ent-
einstimmen. Sobald dies passiert, notieren wir den Wert von k und hält ein konstruktives Ver-
bezeichnen ihn als k0 . fahren, mit dem die Halte-
wahrscheinlichkeit Ωn aus
I Angenommen, wir erhöhen k über k0 hinaus. Können sich die ersten den ersten n Bits von Ω extrahiert wer-
n Bits von Ωkk dann noch ändern? Die Antwort ist Nein! Würde auch den kann. Wären wir in der Lage, diesen
nur eines der ersten n Bits einen anderen Wert annehmen, so wäre Algorithmus auch praktisch einzusetzen?
Ωkk > Ω, im Widerspruch zu (6.3). Da jedes Programm P mit dem Die Antwort ist Nein! Um den Grund hier-
für zu verstehen, erinnern wir uns an das
1
Gewicht 2|P| in die Haltewahrscheinlichkeit Ωkk eingeht und sich die
Kernelement des Algorithmus: die Be-
ersten n Bits nicht mehr ändern können, muss jedes Programm P, das rechnung der Sequenz
erst nach mehr als k0 Schritten anhält, eine Länge größer n haben.
Ω11 , Ω22 , Ω33 , Ω44 , . . .
I Wir wissen jetzt, dass kein Programm P mit |P| ≤ n existieren kann,
das nach mehr als k0 Schritten terminiert. Damit ist klar, wie wir die Wir müssen so lange neue Folgenelemen-
Haltewahrscheinlichkeit Ωn ermitteln können. Es ist ausreichend, al- te ausrechnen, bis die ersten n Bits von Ωkk
mit den ersten n Bits von Ω übereinstim-
le Programme P mit |P| ≤ n für k0 Schritte zu simulieren. Terminiert
1 men. Für welche Werte von k wird dies
ein Programm, so geht es mit dem Gewicht 2|P| in die Haltewahr-
ungefähr der Fall sein? Den Zeitpunkt, an
scheinlichkeit Ωk ein. Hat es nach k0 Schritten noch nicht angehal-
k
dem die ersten n Bits von Ωkk mit den
ten, so wissen wir, dass es niemals anhalten wird. ersten n Bits von Ω übereinstimmen, be-
zeichnen wir mit f (n):
Die Bedeutung von Satz 6.3 ist weit größer, als es der erste Blick vermu- f (n) := min{k | Ωkk [1 . . . n] = Ω[1 . . . n]}
ten lässt. Indem die Chaitin’sche Konstante das Wissen über sämtliche
Haltewahrscheinlichkeiten in sich vereint, enthält sie die Antwort auf Es lässt sich leicht zeigen, dass die Funk-
eine unermessliche Fülle mathematischer Fragestellungen. Unter ande- tion f schneller gegen Unendlich streben
rem enthält Ω das Wissen, um das Halteproblem für beliebige Program- muss als jede berechenbare Funktion. Wä-
me zu entscheiden, und muss daher unberechenbar sein. Damit macht re dies nicht der Fall, so könnten wir f (n)
durch eine berechenbare Funktion g(n)
Satz 6.3 unmissverständlich klar, dass der größte Teil dieser spektaku-
nach oben abschätzen. Dann wären die
lären Bitfolge unserem Auge für immer verborgen sein wird. g(n)
ersten n Bits von Ωg(n) mit Sicherheit mit
Gleichsam weist Satz 6.3 den Weg, wie sich die zu Beginn dieses Ab- den ersten n Bits von Ω identisch, und wir
schnitts eingeführte Haltesequenz H komprimieren lässt. Da wir die ers- hätten einen Weg gefunden, um jedes be-
liebige Bit der Chaitin’schen Konstanten
ten 2n Bits von H aus der Haltewahrscheinlichkeit Ωn zurückgewinnen
zu berechnen.
können und sich Ωn aus den ersten n Bits von Ω rekonstruieren lässt, Aus der Unberechenbarkeit von Ω folgt
kann jedes Anfangsstück von H mit einem Programm erzeugt werden, damit unmittelbar, dass die Funktion g(n)
dessen Länge nur logarithmisch wächst. Damit ist H keine Zufallszahl, und damit auch der Aufwand, die Halte-
und die einzelnen Bits sind nicht unabhängig voneinander. wahrscheinlichkeiten Ωn aus Ω zu extra-
hieren, stärker wachsen muss als jede be-
Die Chaitin’sche Konstante Ω ist ein wahrhaft wundersames Objekt der
rechenbare Funktion.
Mathematik. Selten wurde ihr Wesen treffender beschrieben als in ei-
In der Chaitin’schen Konstanten steckt
nem Artikel von Charles Bennett und Martin Gardner aus dem Jahr mehr Wissen, als wir uns träumen las-
1979. Ein mittlerweile berühmtes Zitat aus diesem Artikel wollen wir sen, und gleichzeitig ist die Information
an dieser Stelle keinesfalls übergehen: darin optimal verschlüsselt. Ω entpuppt
sich als der perfekte Gralshüter, der sein
„Throughout history mystics and philosophers have sought a vollständiges Wissen niemals preisgeben
compact key to universal wisdom, a finite formula or text which, wird. Ein deprimierendes Ergebnis.
358 6 Algorithmische Informationstheorie
when known and understood, would provide the answer to eve-
0,00000010...
ry question. The use of the Bible, the Koran and the I Ching for
00000100...
00011000... divination and the tradition of the secret books of Hermes Tris-
10000110... megistus, and the medieval Jewish Cabala exemplify this belief
10001111... or hope. Such sources of universal wisdom are traditionally pro-
11001011... tected from casual use by being hard to find, hard to understand
10111010... when found, and dangerous to use, tending to answer more questi-
00010000... ons and deeper ones than the searcher wishes to ask. The esoteric
book is, like God, simple yet undescribable. It is omniscient, and
Abbildung 6.18: Die ersten 64 Nachkom- transforms all who know it. Omega is in many senses a cabali-
mabits von Ω stic number. It can be known of, but not known, through human
reason. To know it in detail, one would have to accept its uncom-
putable digit sequence on faith, like words of a sacred text.“
Charles Bennett, Martin Gardner [64]
|PK | = |K| + c
Den genauen Wert der Konstanten c kennen wir nicht, er spielt für un-
sere Überlegung aber auch keine Rolle.
Axiome Startwerte
Wenn wir im Folgenden von einem formalen System der Länge n oder
Schlussregeln Programm einfach nur von einem n-Bit-System sprechen, so meinen wir damit,
dass der betrachtete Kalkül K die Beziehung |PK | = n erfüllt. Mit ande-
Theoreme Ausgabe ren Worten: Es existiert ein Programm der Länge n, das die Theoreme
von K der Reihe nach aufzählt.
Ableitung Berechnung
Nehmen wir an, K sei ein Kalkül, der hinreichend ausdrucksstark ist,
Abbildung 6.21: Zusammenhang zwischen um Formeln ϕn (s) mit der folgenden Bedeutung zu formalisieren:
formalen Systemen (links) und Program-
men (rechts) „Die algorithmische Komplexität von s ist größer als n.“ (6.6)
6.3 Unvollständigkeit formaler Systeme 361
Für einen festen Wert von n wollen wir uns die Frage stellen, ob sich
eine Formel ϕn (s) innerhalb von K beweisen lässt. Hierzu könnten wir Ist eine Formel mit
das Programm PK starten und die ausgegebenen Theoreme beobachten. der Aussage (s) > n
in K beweisbar?
Mit etwas Glück taucht eine der Formeln ϕn (s) irgendwann unter den
ausgegebenen Theoremen auf und wir wüssten dann, dass sie innerhalb
von K bewiesen werden kann. Für kleine Werte von n könnte dies tat-
sächlich so ablaufen.
Eingabe:
Wir werden das Programm PK jetzt zu einem Programm PK modifizie-
ren, das nicht mehr alle gefundenen Theoreme ausgibt, sondern still
nach dem Beweis für eine der Formeln ϕn (s) sucht (Abbildung 6.22). Generiere ein
Wird ein solcher Beweis gefunden, so extrahiert PK die Binärsequenz s, Theorem von K
gibt sie aus und hält an. Wird kein passender Beweis gefunden, läuft PK
für immer weiter, ohne jemals eine Ausgabe zu produzieren. Das aktuell generierte
Theorem sei T. Die
Für dieses Programm können wir dieselbe Größenüberlegung anstellen
Aufzählung soll so
wie vorhin. Es ist erfolgen, dass jedes
|PK | ≤ |K| + (log2 n) + c Theorem von K
irgendwann auftaucht.
für eine Konstante c ∈ N. Wenn wir den Wert von n sehr groß wählen,
dann gilt mit Sicherheit irgendwann die Beziehung
|PK | < n T = n(s)?
Nein
Wie wird sich das Programm PKfür solche Werte von n verhalten?
Per Konstruktion wird es genau dann eine Zeichenkette s ausgeben, Ja
wenn eine Formel ϕn (s) innerhalb von K beweisbar ist. Inhaltlich besagt
ϕn (s), dass die algorithmische Komplexität der Binärsequenz s größer Extrahiere die
ist als die Konstante n. Aber genau dies ist unmöglich, da wir s soeben Binärsequenz s
mit einem Programm ausgegeben haben, das kürzer ist als n. Hieraus
folgt, dass PK ab einem gewissen Wert von n keine Ausgabe mehr pro-
duzieren kann, falls der Kalkül K korrekt ist. Das heißt, dass in einem
Ausgabe: s
korrekten formalen System alle Aussagen der Form (6.6) ab einem ge-
wissen Wert von n unbeweisbar sein müssen. Genau dies ist die Aussage Abbildung 6.22: Das hier dargestellte Pro-
des Chaitin’schen Unvollständigkeitssatzes: gramm sucht nach einem Theorem mit der
inhaltlichen Aussage κ(s) > n. Ist die Su-
Satz 6.5 (Chaitin’scher Unvollständigkeitssatz) che erfolgreich, so wird die Binärsequenz s
ausgegeben, und das Programm angehalten.
In einem korrekten formalen System sind alle Aussagen der Form Ist der simulierte Kalkül K korrekt, so kann
das Programm für große Werte von n keine
κ(s) > n unbeweisbar, sobald n einen gewissen Wert übersteigt.
Ausgabe mehr produzieren. Würde es dies
dennoch tun, so wäre κ(s) < n. Gleichzeitig
Offensichtlich ist für jeden Wert n die Aussage κ(s) > n für gewisse würde K ein Theorem mit der inhaltlichen
Aussage κ(s) > n beweisen.
Binärsequenzen s wahr. Damit folgt aus Satz 6.5, dass in jedem korrek-
ten formalen System, das hinreichend ausdrucksstark ist, um Sätze der
Form (6.6) zu formalisieren, wahre, aber unbeweisbare Sätze existieren.
362 6 Algorithmische Informationstheorie
Aus der Unberechenbarkeit Wie ausdrucksstark muss ein formales System sein, um in den Sog des
von Ω folgt noch ein weite- Chaitin’schen Unvollständigkeitssatzes zu geraten? Um diese Frage zu
res Unvollständigkeitsresul- beantworten, bringen wir die umgangssprachliche Formulierung (6.6)
tat. Da sich nicht alle Bits zunächst in eine etwas formalere Form. (6.6) ist äquivalent zu der Be-
von Ω systematisch ermitteln lassen, kön-
hauptung, dass kein Programm P mit |P| ≤ n existiert, das s ausgibt.
nen die Aussagen der Form
Eine entsprechende Formel hätte demnach die folgende Gestalt:
„Das i-te Bit von Ω ist 0“ oder (6.8)
ϕn (s) = ¬∃ x (program(x) ∧ |x| ≤ n ∧ output(x) = s) (6.7)
„Das i-te Bit von Ω ist 1“ (6.9)
in einem korrekten formalen System nicht Der Teilausdruck |x| ≤ n ist eine arithmetische Aussage, und die Teil-
für alle i ∈ N beweisbar sein. Gregory formeln program(x) und output(x) drücken zusammen aus, dass x die
Chaitin gelang es, einen verblüffenden Gödelnummer eines Programms ist, das die Ausgabe s produziert. In
Zusammenhang zwischen Aussagen die- Abschnitt 5.4.2 haben wir am Beispiel der Turing-Maschine detailliert
ser Art und den Axiomen und Schlussre- gezeigt, dass sich Aussagen dieser Art arithmetisieren lassen. Auch
geln eines formalen Systems herzustellen. wenn hier noch viele technische Detailfragen zu klären sind, ist das
Er konnte zeigen, dass ein formales Sys- Ergebnis längst sichtbar: Bereits so einfache Systeme wie die Peano-
tem K, dessen Theoreme sich mit einem Arithmetik sind stark genug, um Aussagen der Form (6.7) zu formalisie-
Programm PK aufzählen und der Reihe
ren. Damit erfüllt jedes formale System, das die nötigen Ausdrucksmit-
nach ausgeben lassen, höchstens
tel enthält, um über die additiven und die multiplikativen Eigenschaf-
|PK | + 15328 ten der natürlichen Zahlen zu sprechen, die Voraussetzungen des Chai-
tin’schen Unvollständigkeitssatzes, und wir können aus Satz 6.5 den
Aussagen der Form (6.8) oder (6.9) be- folgenden Schluss ziehen:
weisen kann [26]. Ein faszinierendes Er-
gebnis!
Korollar 6.1
Jedes korrekte formale System, das stark genug ist, um die Peano-
Arithmetik zu formalisieren, ist unvollständig.
Dies ist exakt die Formulierung der semantischen Variante des ers-
ten Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes aus Abschnitt 4.1. Anders als
dort ist es uns in diesem Abschnitt jedoch gelungen, den Unvollstän-
digkeitssatz auf verblüffend einfache Weise herzuleiten. Hierzu muss-
ten wir lediglich auf einige elementare Eigenschaften der algorithmi-
schen Komplexität zurückgreifen und einen geeigneten Zusammenhang
zwischen formalen Systemen und Programmen herstellen. Die Überle-
gung zeigt, warum die algorithmische Informationstheorie heute einen
so wichtigen Platz innerhalb der mathematischen Logik besetzt. Sie hat
einen Weg aufgezeigt, auf dem wir die Aussage des ersten Gödel’schen
Unvollständigkeitssatzes im Eiltempo erreichen können.
6.4 Übungsaufgaben 363
6.4 Übungsaufgaben
Mit ri (i ≥ 0) bezeichnen wir die i-te Ziffer einer zufälligen Binärsequenz. In welchen der Aufgabe 6.1
nachfolgend aufgelisteten Fälle ist die Sequenz s0 , s1 , s2 , . . . zufällig?
Webcode
1 falls i < 10 rri falls i gerade 6988
a) si = b) si =
ri sonst ri sonst
ri falls i < 10 ri falls i eine Primzahl ist
c) si = d) si =
1 sonst 1 sonst
ri falls i gerade ri falls i eine Quadratzahl ist
e) si = f) si =
1 sonst 1 sonst
Benennen Sie, falls möglich, ein Beispiel für eine endlich lange Binärsequenz, die Aufgabe 6.2
I berechenbar und komprimierbar ist: Webcode
6125
I berechenbar, aber nicht komprimierbar ist:
Benennen Sie, falls möglich, ein Beispiel für eine unendlich lange Binärsequenz, die
Aufgabe 6.3 In dieser Aufgabe wollen wir die inhaltliche Aussage von Satz 6.2 auf die Probe stellen.
Der Satz besagt, dass kein systematisches Verfahren existieren kann, das stets korrekt
Webcode entscheidet, ob eine vorgelegte Binärsequenz s zufällig ist oder nicht. Das nachstehende
6879 Programm scheint aber genau dies zu leisten:
M := Menge aller
Programme, die Output(Q) = s? M = ∅?
signifikant kürzer Nein
sind als s
Ja Ja
Ausgabe: Ausgabe:
„ s ist nicht zufällig „ s ist zufällig
Der Algorithmus basiert auf der folgenden Überlegung: Es existieren nur endlich viele Pro-
gramme, die kürzer sind als die vorgelegte Binärsequenz s. Wäre diese Sequenz nicht zufällig,
so muss sie von einem dieser Programme ausgegeben werden. Wir müssen also lediglich über
die (endlich vielen) Programme iterieren, die signifikant kürzer sind als s, und die produzierte
Ausgabe mit s vergleichen. Stimmen beide überein, so ist s keine Zufallssequenz. Wird s von
keinem dieser Programme ausgegeben, dann liegt eine zufällige Sequenz vor. Offensichtlich
steht das Ergebnis im Widerspruch zu Satz 6.2. Wo steckt der Fehler?
Aufgabe 6.4 In Kapitel 1 haben wir die Vermutung über die Existenz unendlich vieler Primzahlzwillinge
diskutiert. In Worten las sie sich wie folgt:
Webcode
6788 „Es existieren unendlich viele Zahlen n mit der Eigenschaft, dass n und n + 2
Primzahlen sind.“
Wir nehmen in dieser Aufgabe an, die Haltewahrscheinlichkeit Ωn sei für beliebige Werte
von n bekannt. Auf Seite 354 haben wir dargelegt, wie sich mit diesem Wissen z. B. die
Goldbach’schen Vermutung beweisen oder widerlegen ließe. Könnten wir mit der gleichen
Methode auch die Zwillingsvermutung entscheiden?
Aufgabe 6.5 In Abschnitt 6.2 haben wir herausgearbeitet, dass die Bitfolge der Chaitin’schen Konstanten
zufällig ist. Ob an einer bestimmten Bitposition von Ω eine 0 oder eine 1 vorkommt, ist
Webcode damit völlig unabhängig von den Bits an anderen Positionen. Können wir trotzdem eine
6286 Aussage darüber treffen, wie viele Einsen und Nullen in einem Anfangsstück Ω[1 . . . n] für
größere Werte von n enthalten sein müssen?
6.4 Übungsaufgaben 365
In den Untersuchungen zur algorithmischen Komplexität haben wir vorausgesetzt, dass Aufgabe 6.6
die zugrunde gelegten Gödelisierungen präfixfrei sein müssen. Das bedeutet, dass die
Gödelnummer eines Programms niemals mit der Gödelnummer eines anderen Programms Webcode
beginnt. Diese Aufgabe soll klären, warum wir diese Voraussetzung benötigen. 6799
000 000
00 00
001 001
0 0
010 010
01 01
011 011
100 100
10 10
101 101
1 1
110 110
11 11
111 111
I Begründen Sie, warum die jeweils verwendeten Gödelisierungen nicht präfixfrei sind.
I Berechnen Sie für jeden Entscheidungsbaum die Haltewahrscheinlichkeit Ω3 .
I Wiederholen Sie die Berechnung mit der nachstehenden Formel, die wir in Abschnitt 6.2
hergeleitet haben. Was stellen Sie fest?
1
Ωn = ∑ 2|P|
P hält,
|P| ≤ n
7 Modelltheorie
I Modellkonstruktion
Die Modellkonstruktion verfolgt das Ziel, für eine vorgelegte For-
melmenge konstruktiv ein Modell zu erzeugen. Dabei ist der Nach-
weis der Existenz oftmals wichtiger als das Modell selbst. Der Grund
dafür ist einfach: Hat eine Formelmenge ein Modell, so ist automa-
tisch der Beweis erbracht, dass sie widerspruchsfrei ist; es ist dann
nicht möglich, dass sie eine Formel ϕ zusammen mit ihrer Negation
¬ϕ enthält. Eine Anwendung in dieser Richtung ist uns bereits in
Kapitel 1 begegnet, im Zusammenhang mit dem Hilbert’schen Wi-
derspruchsfreiheitsbeweis der euklidischen Geometrie.
I Modellanalyse
Im Rahmen der Modellanalyse wird versucht, Formelmengen an-
hand der Anzahl und der Struktur ihrer Modelle zu klassifizieren.
Typische Untersuchungen beschäftigen sich z. B. mit der Frage, ob
I Axiomatisierbarkeit
1915 Leopold Löwenheim:
Viele Untersuchungen auf dem Gebiet der Modelltheorie sind Unter-
Löwenheim beweist den suchungen zur Axiomatisierbarkeit mathematischer Begriffe, etwa
Vorläufer des Satzes, den des Begriffs abzählbar. Hier geht es um die Frage, ob eine Formel
wir heute als den Satz von gefunden werden kann, die genau unter denjenigen Interpretationen
Löwenheim-Skolem wahr ist, die einen abzählbaren Individuenbereich aufweisen. Man-
bezeichnen. [119] che Untersuchungen beschäftigen sich mit der prinzipiellen Axio-
matisierbarkeit von Begriffen, d. h. mit der Frage, ob ein Begriff
1920 Thoralf Skolem: überhaupt innerhalb einer formalen Logik definiert werden kann.
Andere versuchen zu klären, ob eine Axiomatisierung in ganz be-
Skolem entwickelt die stimmten Logiken möglich ist. Überlegungen dieser Art haben wir
Arbeit von Löwenheim selbst schon angestellt. So haben wir in den Abschnitten 2.5 und 2.6
weiter. Er formuliert und
erkannt, dass weder der Begriff der Gleichheit noch der Begriff der
beweist den Satz von
Löwenheim-Skolem. [179]
Endlichkeit innerhalb der Prädikatenlogik erster Stufe definierbar
ist.
In seiner Dissertation
formuliert und beweist 7.1 Meta-Resultate zur Prädikatenlogik
Gödel sowohl den
Vollständigkeitssatz als
auch den Getragen wird die Modelltheorie von vier Kernsätzen, die in der ersten
Modellexistenzsatz. [67] Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt wurden (Abbildung 7.1).
Alle vier sind Meta-Resultate zur Prädikatenlogik erster Stufe.
1930 Kurt Gödel:
I Vollständigkeitssatz
Gödel restrukturiert die
Ergebnisse seiner Der Vollständigkeitssatz besagt, dass sich innerhalb der Prädikaten-
Dissertation. Unter logik erster Stufe alle allgemeingültigen PL1-Formeln aus den Axio-
anderem formuliert und men ableiten lassen. Er wurde im Jahr 1929 von Kurt Gödel im Rah-
beweist er dabei den
men seiner Dissertation bewiesen und wird aus diesem Grund als
Kompaktheitssatz. [68]
der Gödel’sche Vollständigkeitssatz bezeichnet. Wir haben uns mit
seiner inhaltlichen Aussage bereits ausgiebig in Abschnitt 2.4.2 be-
Abbildung 7.1: Meilensteine der Modell- schäftigt und werden ihn deshalb in diesem Kapitel nur noch am
theorie Rande streifen.
7.1 Meta-Resultate zur Prädikatenlogik 369
I Modellexistenzsatz
Der Modellexistenzsatz stellt einen Zusammenhang zwischen der
Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems und der Existenz von
Modellen her. Neben dem Vollständigkeitssatz ist es das zweite
Kerntheorem, das die syntaktischen und die semantischen Eigen-
schaften eines formalen Systems in Beziehung setzt. Ausführlich
behandeln werden wir den Modellexistenzsatz in Abschnitt 7.1.1.
I Kompaktheitssatz
Der Kompaktheits- oder Endlichkeitssatz ist Gegenstand von Ab-
schnitt 7.1.2. Er besagt, dass eine unendliche Menge von Formeln
der Prädikatenlogik erster Stufe genau dann erfüllbar ist, wenn je-
de ihrer endlichen Teilmengen erfüllbar ist. Wir werden sehen, dass
wir mit dem Kompaktheitssatz ein wichtiges Instrument an die Hand
bekommen, mit dem sich viele Negativresultate der Prädikatenlogik
erster Stufe elegant herleiten lassen.
I Sätze von Löwenheim-Skolem und Löwenheim-Skolem-Tarski
Hat eine Formel der Prädikatenlogik erster Stufe ein unendliches
Modell, so folgt aus dem Satz von Löwenheim-Skolem-Tarski, dass
auch Modelle jeder anderen transfiniten Kardinalität existieren. Der
Satz gibt Antworten auf wichtige Kardinalitäts- und Kategorizitäts-
fragen der Prädikatenlogik erster Stufe und ist zugleich der Quell
370 7 Modelltheorie
Die drei anderen Kernsätze wurden zum ersten Mal von Kurt Gödel aus- Sind drei der vier Kerntheo-
drücklich formuliert. In seiner Dissertation aus dem Jahr 1929 bewies reme – gemeint sind die Sät-
Gödel den Vollständigkeitssatz und den Satz über die Modellexistenz ze über die Vollständigkeit, die Kompakt-
widerspruchsfreier Formelmengen. 1930 publizierte er seine Ergebnisse heit und die Modellexistenz – das alleini-
ge Werk von Kurt Gödel? Weder ein kla-
dann im Monatsheft für Mathematik und Physik [68] (Abbildung 7.3).
res Ja noch ein klares Nein würden der
Im Vergleich zu seiner Dissertation hatte er die Beweise in seiner Arbeit historischen Entwicklung gerecht werden.
aus dem Jahr 1930 erheblich umstrukturiert und um neue Theoreme er- Tatsächlich war Gödel der erste, der die
gänzt. Eine dieser Ergänzungen ist der Kompaktheitssatz, aus dem sich drei Kernsätze in präziser Form ausfor-
der Satz über die Modellexistenz als Korollar ergibt. In seiner Disserta- mulierte. Die Argumentationslinie, die er
tion hatte er den Modellexistenzsatz noch direkt bewiesen. in seinen Beweisen verwendete, war aber
keinesfalls neu; sie findet sich fast voll-
Dass wir von der historischen Reihenfolge in diesem Kapitel abweichen ständig in einer Arbeit von Skolem aus
und den Satz von Löwenheim-Skolem erst in Abschnitt 7.1.3 präsen- dem Jahr 1923 wieder [180]. Dort hat-
tieren, hat einen triftigen Grund. Wir werden sehen, dass sich wichti- te der Norweger sowohl den Vollständig-
ge Teilaspekte des Satzes von Löwenheim-Skolem über den Kompakt- keitssatz als auch den Modellexistenzsatz
heitssatz beweisen lassen und sich dieser elegant aus dem Modellexis- bewiesen, ohne sich dessen vollständig
tenzsatz herleiten lässt. In der gewählten Reihenfolge wird klar zum bewusst zu sein. Anders als Gödel un-
Vorschein treten, wie die Sätze inhaltlich zusammenhängen. terschied Skolem in seinen Untersuchun-
gen weniger rigide zwischen der syntak-
Ein Wort über die generelle Zielsetzung dieses Kapitels darf nicht feh- tischen und der semantischen Ebene, und
len. Anders als in den klassischen Lehrbüchern werden Sie hier kei- genau hierin sehen einige Historiker die
ne ausführlichen Beweise für die angesprochenen Kernsätze vorfinden. Ursache, warum Skolem die Tragweite
Wenn überhaupt, so werden wir lediglich die Beweisideen grob skizzie- seiner Ergebnisse schlicht nicht sah [46].
Rückblickend können wir sagen, dass der
ren. Aus diesem Grund kann dieses Kapitel die klassische Literatur zur
Weg durch Skolem geebnet wurde; doch
Modelltheorie nicht ersetzen – und will es auch gar nicht. Was uns in es war Gödel, der ihn als erster bis zum
diesem Kapitel interessiert, sind keine technischen Beweise; es sind die Ende ging. Dies ist der Grund, warum
inhaltlichen Aussagen der modelltheoretischen Kernsätze, ihre Zusam- der Modellexistenzsatz in der Literatur
menhänge und die abermals verblüffenden Folgen für die Mathematik. manchmal, und durchaus treffend, als das
Skolem-Gödel-Theorem bezeichnet wird.
7.1.1 Modellexistenzsatz
Ganz offensichtlich sind die Wir nehmen an, die Interpretation (U, I) sei ein Modell eines Kalküls
natürlichen Zahlen, zusam- K. Dann wissen wir, dass K widerspruchsfrei sein muss. Wäre nämlich
men mit der gewöhnlichen für eine Formel ϕ sowohl die Formel selbst als auch ihre Negation ¬ϕ
Addition und Multiplikati- beweisbar, so erhielten wir einen unmittelbaren Widerspruch zur Defi-
on, ein Modell für die Peano-Arithmetik.
nition der Modellrelation. Hierfür genügt es, uns die folgende Zeile aus
Nun hat die hier geführte Diskussion ge-
zeigt, dass wir aus der Existenz eines Mo-
Definition 2.16 in Erinnerung zu rufen:
dells sofort auf die Widerspruchsfreiheit
(U, I) |= (¬ϕ) ⇔ (U, I) |= ϕ (7.1)
des zugrunde liegenden formalen Systems
schließen können. Warum also hat Hilbert
Nun wollen wir uns die umgekehrte Frage stellen und annehmen, K sei
so lange nach einem Widerspruchsfrei-
heitsbeweis für die Arithmetik gesucht?
eine Theorie erster Stufe, d. h. ein formales System, das eine Reihe von
Verantwortlich hierfür ist die Tatsache, Theorieaxiomen vorhält und über den logischen Schlussapparat der PL1
dass wir die Widerspruchsfreiheit von PA verfügt. Können wir aus der Widerspruchsfreiheit von K folgern, dass
mit einem semantischen Argument be- diese Theorie ein Modell besitzt? Die Antwort lautet Ja!
gründet haben und nicht mit einem for-
malen Beweis. Dass die PA-Axiome un-
ter ihrer Standardinterpretation wahr sind,
Satz 7.1 (Modellexistenz, Gödel 1930)
erschließt sich uns aus intuitiven Grün-
Sei K eine Theorie erster Ordnung. Dann gilt:
den. Jeder von uns hat von Kindesbei-
nen an gelernt, mit den natürlichen Zah-
I K hat ein Modell ⇔ K ist widerspruchsfrei
len zu rechnen. Würden wir aber tatsäch-
lich versuchen, unsere intuitiven Argu-
Oder, was dasselbe ist:
mente zu formalisieren, so müssten wir,
bewusst oder unbewusst, auf Wissen und
I K ist erfüllbar ⇔ K ist widerspruchsfrei
Schlussweisen der Mengenlehre zurück-
greifen. Wir hätten die Widerspruchsfrei-
heit dann in einem System bewiesen, das
PA als Teilmenge enthält, und damit wäre Die Bedeutung des Modellexistenzsatzes ist weit größer, als es sein un-
nichts gewonnen. Niemand, der ernsthaft scheinbarer Wortlaut vermuten lässt. Zum einen ist er ein wertvolles
die Widerspruchsfreiheit von PA in Frage technisches Hilfsmittel, auf das in vielen Beweisen gern zurückgegrif-
stellt, würde einem Beweis vertrauen, der fen wird. Zum anderen hat er eine tiefgreifende philosophische Bedeu-
in ZF und damit in einem potenziell unsi- tung. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vertraten viele Gegner
chereren System geführt ist. der Formalisten die Meinung, dass die syntaktische Widerspruchsfrei-
heit einer Theorie nicht ausreicht, um sie als bedeutungstragend zu qua-
lifizieren [144]. Der Modellexistenzsatz besagt aber genau das: Es ist
möglich, jeder Theorie erster Stufe, in der niemals gleichzeitig eine For-
mel ϕ und ihre Negation ¬ϕ hergeleitet werden können, eine inhaltlich
konsistente Bedeutung zu verleihen.
sein scheint. Tatsächlich hängen beide Sätze viel enger zusammen, als Annahme: Es gibt eine
es der erste Blick erwarten lässt. Sehen wir also genauer hin! allgemeingültige Formel ,
die nicht aus den Axiomen
Wir nehmen an, ϕ sei eine allgemeingültige Formel erster Stufe, die der PL1 abgeleitet werden
sich nicht aus den Axiomen herleiten lässt. Fügen wir der PL1 die For- kann.
mel ¬ϕ als zusätzliches Axiom hinzu, so erhalten wir eine neue Theo-
rie, die wir PL1¬ϕ nennen (Abbildung 7.4). Da ϕ per Annahme nicht
innerhalb der PL1 bewiesen werden kann, ist PL1¬ϕ widerspruchsfrei.
Nach Satz 7.1 hat PL1¬ϕ ein Modell, d. h., es existiert eine Interpre- PL1 + ¬ϕ ist (U, I) |= ϕ
tation (U , I ), in der sämtliche Theoreme von PL1¬ϕ wahre Aussagen widerspruchsfrei für alle (U, I)
sind. Insbesondere ist auch ¬ϕ in (U , I ) wahr. Auf der anderen Seite
ist ϕ allgemeingültig. Das bedeutet, dass ϕ in allen möglichen Inter- Modellexistenzsatz
pretationen wahr ist und damit insbesondere in (U , I ). Somit würde
gleichzeitig (U , I ) |= ¬ϕ und (U , I ) |= ϕ gelten, im Widerspruch zu
Formel (7.1). Damit müssen wir die Annahme, ϕ sei innerhalb der Prä- (U , I ) |= ¬ϕ (U , I ) |= ϕ
dikatenlogik erster Stufe unbeweisbar, wohl oder übel fallen lassen und für ein (U , I ) für dieses (U , I )
erhalten den Gödel’schen Vollständigkeitssatz tatsächlich als Korollar
zu Satz 7.1:
7.1.2 Kompaktheitssatz
M ist erfüllbar Wir wollen nun versuchen, einen Zusammenhang zwischen der Menge
(M hat ein Modell) M und ihren endlichen Teilmengen herzustellen. Ein offensichtliches
Ergebnis ist dieses hier: Ist (U, I) ein Modell von M, so ist (U, I) auch
ein Modell für jede endliche Teilmenge. Ungleich interessanter ist die
M umgekehrte Frage: Können wir aus dem Wissen, dass für jede endliche
Teilmenge von M ein Modell existiert, darauf schließen, dass auch M
ein Modell besitzt? Die Antwort liefert der Kompaktheitssatz (compact-
ness theorem) der Prädikatenlogik erster Stufe (Abbildung 7.5):
Endliche
Endliche Teilmenge Satz 7.2 (Kompaktheitssatz, Gödel 1930)
Teilmenge
Sei M eine höchstens abzählbare Menge von PL1-Formeln. Es gilt:
M
I M hat ein Modell ⇔
Jede endliche Teilmenge von M hat ein Modell
Endliche
Oder, was dasselbe ist:
Teilmenge
Jede endliche Teilmenge I M ist erfüllbar ⇔
von M ist erfüllbar
Jede endliche Teilmenge von M ist erfüllbar
(Jede endliche Teilmenge
von M hat ein Modell) Der Kompaktheitssatz wird auch als Endlichkeitssatz bezeichnet.
Abbildung 7.5: Der Kompaktheitssatz be-
sagt, dass eine höchstens abzählbare Men-
ge von PL1-Formeln genau dann erfüllbar Beweis: Die Richtung von links nach rechts ist trivial. Um die Richtung
ist, wenn alle endlichen Teilmengen erfüll- von rechts nach links zu zeigen, nehmen wir an, es gäbe tatsächlich eine
bar sind. unerfüllbare Menge M von PL1-Formeln, deren endliche Teilmengen
allesamt erfüllbar sind. Da M unerfüllbar ist, gibt es für diese Menge
kein Modell. Folgerichtig ist jede PL1-Formel eine logische Folgerung
aus M, beispielsweise diese hier:
Wir wissen, dass eine Herleitung von ϕ nur endlich viele Beweisschrit-
te umfassen kann, und deshalb können innerhalb des Beweises auch nur
7.1 Meta-Resultate zur Prädikatenlogik 375
endlich viele Formeln aus der Menge M benutzt werden. Fassen wir alle
benutzten Formeln, wie in Abbildung 7.6 gezeigt, zusammen, so erhal- ψ1, ψ2, ψ3, …
ten wir eine endliche Teilmenge von M, aus der sich ein Widerspruch
herleiten lässt. Entgegen unserer Annahme existiert also doch eine end-
liche Teilmenge, die kein Modell besitzt. Jeder Beweis, der eine Formel φ
aus einer unendlichen Menge M
Bereits für sich allein gesehen ist der Kompaktheitssatz ein wertvolles ableitet, ...
Ergebnis. Mit seiner Hilfe können wir den schwer zu fassenden Begriff
der Unendlichkeit dieses Mal fest umgreifen. Noch spektakulärer sind Axiom
aber die Schlüsse, die wir aus dem Kompaktheitssatz ziehen können. Axiom
Unter anderem folgt aus ihm, dass sich der Begriff der Endlichkeit nicht …
Korollar 7.2
Obendrein können wir aus dem diskutierten Beispiel folgern, dass der
Kompaktheitssatz in Prädikatenlogiken höherer Stufe nicht gelten kann.
Sobald wir nämlich über Funktionen quantifizieren dürfen, lässt sich
ϕ<N problemlos auf Papier bringen:
ϕ<N := ∀ f (ϕI → ϕS )
= ∀ f (∀ x ∀ y (f(x) =
˙ f(y) → x =
˙ y) → ∀ y ∃ x (y =
˙ f(x)))
Die hier gezeigte Formel ist keine Fremde. Sie wurde von uns bereits
in Abschnitt 2.6.1 diskutiert und stimmt im Wortlaut mit der dort abge-
druckten Formel (2.7) überein.
Malcevs Beitrag
Dass wir Satz 7.6 heute als Satz 7.5 (Satz von Löwenheim-Skolem, Skolem 1920)
den Satz von Löwenheim-
Skolem-Tarski bezeichnen, wird seinen Sei M eine Menge von PL1-Formeln mit |M| ≤ |N|. Dann gilt:
Namensgebern nur bedingt gerecht. Es ist
historisch korrekt, die inhaltliche Aussa- I M hat ein Modell ⇒ M hat ein Modell (U, I) mit |U| ≤ |N|
ge des LST-Theorems mit Alfred Tarski
zu verbinden. Von ihm stammt die aufstei-
gende Komponente des LST-Theorems, In Wirklichkeit zeigte Skolem noch mehr. Er erkannte, dass sich das
also jener Teil, der uns auf die Existenz
Modell (U, I) in Satz 7.5 als Untermodell wählen lässt. Das bedeutet,
von Modellen mit höheren Kardinalitäten
schließen lässt. Fragwürdig ist dagegen
dass U eine Teilmenge der ursprünglichen Individuenmenge ist und die
die Nennung von Thoralf Skolem. Dass Interpretation der Prädikat- und Funktionssymbole für alle in U verblie-
wir den Satz heute unverhohlen mit sei- benen Elemente unverändert übernommen wird.
nem Namen verbinden, täuscht darüber
hinweg, dass sich Skolem niemals mit Obwohl Skolem, anders als Löwenheim, ein fehlerfreier Beweis gelang,
ihm identifizieren konnte. Tatsächlich hat war seine Arbeit aus dem Jahr 1920 mit einem Wermutstropfen behaftet.
er die Existenz überabzählbarer Mengen Er erzielte sein Ergebnis mithilfe des Auswahlaxioms; gleichwohl war
zeitlebens abgelehnt und die aufsteigende er davon überzeugt, dass ein Beweis auch ohne diese damals umstritte-
Variante des LST-Theorems niemals als ne Konstrukt der Mengenlehre gelingen müsse. Tatsächlich dauerte es
sinntragenden Satz der Mathematik ak- nicht lange, bis seine Anstrengungen erfolgreich waren, und so erschien
zeptiert. Bruno Poizat äußert sich in [145] bereits 1922 eine Variante, die das Auswahlaxiom nicht benötigt [180].
wie folgt über die Problematik:
In den Folgejahren konnte die Aussage des Satzes von Löwenheim-
„Legend has it that Thoralf Skolem, up Skolem noch weiter verstärkt werden. Das wichtigste Ergebnis in die-
until the end of his life, was scandalized ser Richtung ist der Satz von Löwenheim-Skolem-Tarski, der gern auch
by the association of his name to a result
als LST-Theorem bezeichnet wird. Skolem zufolge wurde er durch den
of this type, which he considered an
absurdity, nondenumerable sets being,
polnisch-US-amerikanischen Mathematiker Alfred Tarski in einem Se-
for him, fictions without real existence.“ minar im Jahr 1928 bewiesen, eine schriftliche Aufzeichnung darüber
existiert leider nicht [46,182,203]. Der erste publizierte Beweis stammt
von Malcev aus dem Jahr 1936.
Aufsteigendes LST-Theorem
In Worten besagt die absteigende Variante, dass wir aus der Existenz
eines unendlichen Modells stets darauf schließen können, dass auch für
alle kleineren unendlichen Kardinalitäten ein Modell existiert.
Kardinalitätssprung
I M hat ein Modell mit |U| = λ ⇒ M hat ein Modell mit |U| = κ
Beachten Sie, dass wir diesen Beweisschritt nicht mit der klassischen
Variante des Kompaktheitssatzes legitimieren können, da M überab-
zählbar viele Formeln umfassen kann. Was wir an dieser Stelle benö-
tigen, ist die von Malcev bewiesene Erweiterung aus dem Jahr 1936
(Satz 7.3). Sie besagt, dass der Kompaktheitssatz auch dann gilt, wenn
wir überabzählbar viele Formeln über einem überabzählbaren Symbol-
vorrat betrachten.
Aus dem Kompaktheitssatz wissen wir jetzt, dass M ein Modell besitzt,
aber was können wir über dessen Kardinalität aussagen? Zunächst hal-
ten wir fest, dass M so konstruiert ist, dass jedes Modell zwingend eine
Kardinalität ≥ κ haben muss. Jetzt folgt aus dem absteigenden LST-
Theorem, dass für M auch ein Modell der Kardinalität κ existiert, und
genau dies ist die Aussage des aufsteigenden LST-Theorems.
Wie gewohnt gehen wir davon aus, dass die Peano-Arithmetik frei von
Widersprüchen ist. Es soll also keine Formel ϕ existieren, die zusam-
men mit ihrer Negation ¬ϕ aus den Axiomen abgeleitet werden kann.
Unter dieser Annahme sind die natürlichen Zahlen mit der gewöhnli-
chen Addition und Multiplikation ein (abzählbares) Modell von PA, das
wir mit (N, {s, +, ×}) abkürzen. Wir hatten es das Standardmodell der
Peano-Arithmetik genannt, da es den arithmetischen Formeln ihre zu-
gedachte Bedeutung verleiht.
Es war also keinesfalls folgenlos, dass wir das Prinzip der vollständigen
Induktion in Abschnitt 3.1.3 als Axiomenschema erster Stufe formu-
liert haben. Die Peano-Arithmetik verliert hierdurch die Eigenschaft,
kategorisch zu sein. Im ersten Moment ist diese Nachricht schwer zu
verdauen. Durch den Verzicht auf das Induktionsaxiom zweiter Stufe
haben wir Geistermodelle ins Leben gerufen, deren Existenz durch den
Satz von Löwenheim-Skolem-Tarski zweifelsfrei gesichert ist. Aber
wie sind diese Modelle aufgebaut? Wie können sie von der Struktur
der natürlichen Zahlen abweichen und dennoch mit sämtlichen Peano-
Axiomen verträglich sein?
Wir wollen versuchen, ein wenig mehr über die Struktur dieses Modells
in Erfahrung zu bringen. Zunächst ist es offensichtlich, dass es auch
hier ein kleinstes Element, die Null, geben muss und sich die natürlich-
en Zahlen kettenförmig daran anschließen. Die Struktur des Nichtstan-
dardmodells beginnt demnach mit der Sequenz der natürlichen Zahlen.
382 7 Modelltheorie
I Erste Beobachtung Daneben muss ein Element existieren, wir nennen es λ , das größer ist
als alle natürlichen Zahlen (Abbildung 7.8 oben):
„Es existiert ein Element λ , das größer
ist als alle natürlichen Zahlen.“
λ >x für alle x ∈ N (7.5)
λ
… Die Peano-Axiome stellen sicher, dass die Null das einzige Element
ist, das keinen Vorgänger hat. Das heißt, dass sich unendlich viele Ele-
mente links von λ befinden müssen, die ihrerseits größer sind als alle
I Zweite Beobachtung natürlichen Zahlen. Genauso muss sich der Zahlenstrahl rechts von λ
in das Unendliche erstrecken, da nach den Peano-Axiomen jede Zahl
„Links und rechts von λ erstreckt sich einen Nachfolger besitzt. Unser Nichtstandardmodell beginnt also mit
ein Zahlenstrahl in das Unendliche. der Struktur der natürlichen Zahlen N, gefolgt von einer Kopie von Z,
Also liegt λ auf einer Kopie von Z.“
auf der sich irgendwo unser Element λ befindet (Abbildung 7.8 Mitte).
λ Damit ist die Struktur immer noch nicht vollständig beschrieben. Neben
… … … dem Element λ existiert auch das Element 2λ . Dieses kann aber nicht
auf dem Zahlenstrahl von λ liegen, da es andernfalls durch endlich viele
Nachfolgerschritte von λ aus erreichbar sein müsste. Für eine natürli-
I Dritte Beobachtung che Zahl x ∈ N wäre dann λ + x = 2λ , und hieraus würde x = λ folgen,
„Die Elemente 2λ , 3λ , . . . müssen sich im Widerspruch zu Ungleichung (7.5). Das bedeutet, dass hinter dem
auf separaten Kopien von Z befinden.“ Anfangsstück N unendlich viele Kopien von Z folgen müssten, auf de-
nen sich irgendwo die Elemente λ , 2λ , 3λ , . . . befinden (Abbildung 7.8
λ unten).
…… …
Auch damit sind wir noch nicht am Ende. Wir betrachten das Element
2λ
… … 3λ und nehmen an, es handele sich dabei um eine gerade Zahl. Ist sie
ungerade, so wiederholen wir die Betrachtung für den direkten Nachfol-
3λ ger 3λ + 1. Gerade Zahlen lassen sich als die zweifache Summer einer
… … anderen Zahl schreiben, d. h., es ist 3λ = 2κ. Das Element κ erfüllt of-
fenbar die Bedingung λ < κ < 2λ und liegt damit irgendwo zwischen
λ und 2λ . Aber wo befindet es sich genau?
Abbildung 7.8: Notwendige Eigenschaf-
ten eines abzählbaren Nichtstandardmo-
dells der Peano-Arithmetik I κ kann nicht auf dem Zahlenstrahl von λ liegen. Wäre dies der Fall,
so wäre κ = λ + x für ein x ∈ N. Daraus folgte 2κ = 2λ + 2x = 3λ .
Damit wäre 2x = λ , im Widerspruch zu Ungleichung (7.5).
I κ kann nicht auf dem Zahlenstrahl von 2λ liegen. Wäre dies der
Fall, so wäre κ + x = 2λ für ein x ∈ N. Daraus folgte 2κ + 2x =
3λ + 2x = 4λ . Damit wäre erneut 2x = λ , im Widerspruch zu Un-
gleichung (7.5).
Die Überlegung zeigt, dass zwischen dem Zahlenstrahl von λ und dem
Zahlenstrahl von 2λ ein weiterer liegen muss. Wir können das Argu-
ment verallgemeinern und daraus schließen, dass sich zwischen zwei
beliebigen Kopien von Z immer eine weitere befindet. Die Kopien von
7.2 Nichtstandardmodelle von PA 383
… … … … … …
25 26 27
16 16 16
… … … … … …
5 6 7
4 4
4
… … … … … … …
0 1 2 3 4 2 3
Z bilden zusammen eine dichte Ordnung mit offenen Enden und be-
sitzen damit exakt die gleiche Anordnung wie die rationalen Zahlen.
Abbildung 7.9 fasst das Ergebnis unserer Überlegung zusammen. Die
Struktur des Nichtstandardmodells beginnt mit den natürlichen Zahlen
N, gefolgt von Q Kopien der ganzen Zahlen Z.
Jetzt müssen wir nur noch die Addition und die Multiplikation so de-
finieren, dass sie nicht im Widerspruch zu den Peano-Axiomen stehen.
Tatsächlich hat es nie jemand geschafft, eine konkrete Abbildungsvor-
schrift zu formulieren. Der Beweis, dass eine verträgliche Definition
existiert, wird in der Literatur niemals konstruktiv geführt; die Existenz
einer geeigneten Addition und Multiplikation wird dort stets gezeigt,
ohne dass eine konkrete Berechnungsvorschrift angegeben wird.
Heute wissen wir, dass ein konstruktiver Beweis gar nicht existieren
kann. Dies ist das erstaunliche Ergebnis von Stanley Tennenbaum aus
dem Jahr 1959 [106, 197]:
384 7 Modelltheorie
Konkret besagt der Satz von Tennenbaum, dass kein abzählbares Nicht-
standardmodell existiert, in dem sowohl die Multiplikation als auch die
Addition berechenbar sind. Damit stehen wir vor einem Dilemma. Ei-
nerseits wissen wir, dass ein abzählbares Standardmodell existiert; wir
kennen seine Struktur und wissen, dass es eine Interpretation der Sym-
bole ‚+‘ und ‚ב geben muss, die mit den Peano-Axiomen verträglich
ist. Andererseits werden wir niemals in der Lage sein, die Addition und
die Multiplikation präzise zu definieren. Jede konkrete Festlegung hätte
zur Folge, dass wir die Summe und das Produkt zweier Elemente aus-
rechnen könnten, und genau dies ist nach Satz 7.9 nicht möglich.
müsste also X < Y oder X > Y gelten. Im ersten Fall würde eine Folge Menge aller Zahlenfolgen
Z mit X + Z = Y existieren, im zweiten Fall eine Folge Z mit X = Y + Z.
Da unsere Zahlenfolgen aber niemals negative Werte enthalten, kann es
ein Z mit den geforderten Eigenschaften nicht geben. X1 = (•, •,…) Y1 = (•, •,…)
Y3 = (•, •,…) Y = (•, •,…)
Dieses Problem werden wir dadurch umgehen, dass zwei verschiedene 2
Zahlenfolgen nicht zwangsläufig für zwei verschiedene Individuenele- X3 = (•, •,…) X2 = (•, •,…)
mente stehen müssen, die Grundmenge unseres überabzählbaren Nicht- …
standardmodells (U, I) also nicht aus einzelnen Zahlenfolgen, sondern
aus Äquivalenzklassen besteht (Abbildung 7.12):
Äquivalenzklassenbildung
U := { [ X ] | X ∈ NN }
Aus der Folge (1,2,3,4,5,6, . . .) können wir durch die Addition einer
natürlichen Zahl weitere gewinnen:
1 + (1,2,3,4, . . .) = (1 + 1,1 + 2,1 + 3,1 + 4, . . .) = (2,3,4,5, . . .)
2 + (1,2,3,4, . . .) = (2 + 1,2 + 2,2 + 3,2 + 4, . . .) = (3,4,5,6, . . .)
3 + (1,2,3,4, . . .) = (3 + 1,3 + 2,3 + 3,3 + 4, . . .) = (4,5,6,7, . . .)
Die so erhaltenen Folgen sind an sämtlichen Indexpositionen größer als
ihre Summanden und dürfen im intuitiven Sinne deshalb auch als grö-
ßere Zahlen gelten.
Die Art und Weise, wie die natürlichen Zah- auf der x-Achse sind die reellen Zahlen.
len im überabzählbaren Individuenbereich des Genauso sind wir bei der Konstruktion des überabzählba-
Nichtstandardmodells eingebettet sind, ist die ren Nichtstandardmodells vorgegangen. Wir haben die Men-
gleiche, wie wir sie von der Konstruktion der ge der natürlichen Zahlen N in derselben Art erweitert, wie
komplexen Zahlen her kennen. Jede Zahl x + yi ∈ C können sich die reellen Zahlen R zu den komplexen Zahlen C erwei-
wir uns als Punkt der Gauß’schen Zahlenebene vorstellen, tern lassen. Die natürlichen Zahlen finden wir in der überab-
dessen Koordinaten durch den Realteil x und den Imaginär- zählbaren Individuenmenge unseres Nichtstandardmodells
teil y gegeben sind. in Form der Folgen (x, x, x, . . .) wieder, und genau wie im
Falle der komplexen Zahlen sind diese unter der Addition
Gauß'sche y
und der Multiplikation abgeschlossen.
Zahlenebene
3 + 2i
–3 + 32 i 2 y
z1 = 1 + 3i Addition
1
3
x
-2 -1 1 2 3 2 5 + 2i
-3
-1 z1 + z2
1
5
– 2
– 32 i -2 3
– 2i
2 x
-1 1 2 3 4 5
Betrachten wir die komplexen Zahlen als Vektoren, so lassen -1
sich die Addition und die Multiplikation geometrisch inter-
z2 = 4 – i
pretieren. Die Summe zweier komplexer Zahlen können wir y
ausrechnen, indem wir die Vektoren der beiden Summanden Multiplikation
addieren. Die Multiplikation lässt sich geometrisch deuten, – 4 + 3i
3
wenn die komplexen Zahlen in polaren Koordinaten (r, α) z2 = – 1 + 2i
|
dargestellt werden, wobei r die Vektorlänge und α der Win- |z2| = 5 2 z1 = 2 + 1i
z1
|
kel zur x-Achse ist. Das Produkt zweier komplexer Zahlen z |z1| = 5
2
(r1 , α1 ) und (r2 , α2 ) ist dann der Vektor (r1 · r2 , α1 + α2 ). 1
Betrachten wir ausschließlich diejenigen komplexen Zahlen,
die auf der x-Achse liegen, so sind diese sowohl unter der x
-4 -3 -2 -1 1 2
Addition als auch unter der Multiplikation abgeschlossen.
Diese Zahlen verhalten sich eins zu eins wie die reellen Zah-
len, und wir können gefahrlos sagen, die komplexen Zahlen
1 , 2 , 3 , 4 , 5 , ...
Ultrafilterkonstruktion
X = ( 1 , 2 , 3 , 4 , 5 , ...)
Y = ( 1 , 3 , 5 , 7 , 9 , ...)
Ab jetzt schlagen wir einen systematischeren Weg ein und definieren
mit L, E und G drei Indexmengen, die uns Auskunft über die komponen-
L = { 1 , 2 , 3 , 4 , 5 , ...} tenweisen Größenverhältnisse zweier Zahlenfolgen liefern (vgl. [160]):
E = { 1 , 2 , 3 , 4 , 5 , ...} L(X,Y ) := {i | xi < yi }
G = { 1 , 2 , 3 , 4 , 5 , ...} E(X,Y ) := {i | xi = yi }
G(X,Y ) := {i | xi > yi }
I Beispiel 3
xi ist das i-te Element der Folge X und yi das i-te Element der Folge Y .
1 , 2 , 3 , 4 , 5 , ... In den Mengen L(X,Y ), E(X,Y ) und G(X,Y ) sind demnach diejenigen
X = ( 0 , 1 , 0 , 1 , 0 , ...) Indexpositionen enthalten, an denen X kleiner Y , X gleich Y bzw. X
größer Y ist (Abbildung 7.13).
Y = ( 1 , 0 , 1 , 0 , 1 , ...)
Zusätzlich denken wir uns mit F eine Menge von Indexmengen gege-
ben. Wir werden F im Sinne eines Orakels verwenden, das uns Aus-
L = { 1 , 2 , 3 , 4 , 5 , ...} kunft über das Größenverhältnis zweier vorgelegter Zahlenfolgen X und
E = { 1 , 2 , 3 , 4 , 5 , ...} Y geben wird. Konkret läuft die Befragung des Orakels nach drei einfa-
G = { 1 , 2 , 3 , 4 , 5 , ...} chen Spielregeln ab (Abbildung 7.14):
L(X,Y ) ∈ F ⇒ X <Y
Abbildung 7.13: Berechnung der Index-
mengen L(X,Y ), E(X,Y ) und G(X,Y ) E(X,Y ) ∈ F ⇒ X =Y
G(X,Y ) ∈ F ⇒ X >Y
Indexpositionen. Sie legen fest, welche Positionen für den Vergleich X = (1,2,3,...) Y = (1,1,1,...)
zweier Zahlenfolgen eine Rolle spielen und welche nicht.
Natürlich ist nicht jede Menge F als Orakel geeignet, und es ist kei-
nesfalls selbstverständlich, dass überhaupt eine solche Menge existiert.
L := {i | xi < yi }
Aus diesem Grund wollen wir zunächst überlegen, welche Kriterien F E := {i | xi = yi }
notwendigerweise erfüllen muss. G := {i | xi > yi }
Orakelmenge F
I Sind X und Y zwei identische Folgen, so ist E(X,Y ) = N. Damit
unsere Orakelmenge X und Y als gleich erkennt, muss N ein Element
von F sein. Sind X und Y Folgen, die an keiner einzigen Position
übereinstimmen, so ist E(X,Y ) = 0.
/ Da wir vermeiden wollen, dass
X und Y in diesem Fall als gleich erkannt werden, darf die leere
Menge nicht in F enthalten sein.
0/ ∈ F, N ∈ F LF EF GF
I Wir wollen vermeiden, dass zwei Folgen X und Y als gleich, klei-
Mengenfilter
ner oder größer erkannt werden, wenn sie die Beziehungen xi = yi ,
I 0/ ∈ F, N ∈ F xi < yi oder xi > yi lediglich für endlich viele Indizes i erfüllen. Das
I M, N ∈ F ⇒ M ∩ N ∈ F bedeutet, dass F ausschließlich unendlich große Indexmengen ent-
I M ∈ F, N ⊃ M ⇒ N ∈ F
halten darf.
M ∈ F ⇒ |M| = |N|
Ultrafilter
• M ⊆ N ⇒ (M ∈ F ⇔ M ∈ F) Alle geforderten Beziehungen sind notwendige Eigenschaften, die eine
Orakelmenge F erfüllen muss. Die Frage, ob eine solche Menge über-
Freie Ultrafilter haupt existiert, ist damit aber keineswegs beantwortet. Doch an dieser
• M ∈ F ⇒ |M| = |N| Stelle haben wir Glück! Unser Forderungskatalog beschreibt eine be-
kannte mathematische Struktur, die inzwischen gut untersucht ist.
Die negative Nachricht ist, dass sich die Existenz freier Ultrafilter
ausschließlich nichtkonstruktiv mithilfe des Auswahlaxioms beweisen
lässt. Die Folgen, die sich hieraus ergeben, sind ernüchternd. Wir wis-
sen, dass ein Ultrafilter F existiert, der die Menge NN so in Äqui-
valenzklassen unterteilt, dass ein überabzählbares Modell der Peano-
Arithmetik entsteht. Gleichwohl wissen wir, dass es niemals möglich
sein wird, F explizit zu erzeugen. Die Nichtkonstruktivität der freien
Ultrafilter sorgt dafür, dass wir uns dem Nichtstandardmodell nur zu
einem gewissen Grad nähern können. Genau wie bei den abzählbaren
Nichtstandardmodellen bleibt uns auch hier der letzte Schritt verwehrt.
7.3 Das Skolem-Paradoxon 391
ai 23 Mar Thoralf Albert Skolem wurde am einem der vier Kernsätze der Modelltheorie. In seinem Be-
23 M
1887 1963
23. Mai 1887 im südnorwegischen weis führte er unter anderem eine wichtige Normalform-
Sandsvaer geboren. Seine Schul- darstellung für Logikformeln ein, die wir heute als Skolem-
ausbildung beendete er 1905 im Normalform bezeichnen. Mittlerweile gehört sie zum Lehr-
70 km entfernten Kristiania, dem späteren Oslo. Im selben stoff fast aller Logikvorlesungen. Auch die Argumentations-
Jahr schrieb er sich an der dort ansässigen Universität als linie, der Gödel in den Beweisen des Kompaktheitssatzes
Mathematikstudent ein und beendete sein Studium 1913 mit und des Satzes über die Modellexistenz folgte, geht auf Sko-
dem Staatsexamen. lem zurück. Auf dem Gebiet der Mengenlehre hat Skolem
Skolems wissenschaftliches Interesse ging weit über die Ma- ebenfalls wichtige Beiträge geleistet. Er war der erste, der
thematik hinaus, und er publizierte seine ersten Forschungs- eine exakte prädikatenlogische Formulierung der Zermelo-
arbeiten im Bereich der Physik. Nach mehreren Assistenztä- Fraenkel-Mengenlehre entwickelte [181]. Genauso untrenn-
tigkeiten und einem Forschungssemester an der Universität bar ist sein Name mit dem Skolem-Paradoxon verbunden,
in Göttingen nahm er 1918 eine Dozentenposition in Oslo einem vermeintlichen Widerspruch, der wertvolle Einsich-
an. Ursprünglich hatte Skolem nicht vor, den Doktorgrad zu ten in die Prädikatenlogik erster Stufe liefert [180].
erlangen, holte dies im Jahr 1926 aber dennoch nach. Zwi- 1957 ging Skolem offiziell in den Ruhestand. Trotzdem be-
schen 1930 bis 1938 bekleidete er eine Forschungsstelle im suchte er weiterhin zahlreiche Universitäten und behielt die
westnorwegischen Bergen. Im Jahr 1938 wurde Skolem von meisten seiner offiziellen Ämter. Wie in seinem ganzen Le-
der Universität in Oslo schließlich zum Professor berufen, ben war Skolem auch in hohem Alter ein aktiver Mann
im Alter von 51 Jahren. und sein wissenschaftlicher Schaffensdrang ungebrochen.
Im Bereich der mathematischen Logik und der Mengenleh- Dementsprechend plötzlich und unerwartet schied er aus
re hat Skolem Maßgebliches geleistet. Sein Name ist un- dem Leben. Thoralf Albert Skolem starb am 23. März 1963
trennbar mit dem Satz von Löwenheim-Skolem verbunden, im Alter von 75 Jahren.
... 5 20 26
...
Aber wie kann in einem abzählbaren Modell eine Formel wahr sein,
die behauptet, der Individuenbereich sei überabzählbar? Eine wahrlich
... 6 27
...
paradoxe Situation.
...
...
...
Für die Konstruktion der Formel ϕSkolem folgen wir der Idee aus [17].
Als Erstes vereinbaren wir auf der Menge der Zahlenpaare (x, y) mit
x, y ∈ N eine Ordnungsrelation ‚<‘, die folgendermaßen festgelegt ist:
x1 + y1 < x2 + y2 oder
(x1 , y1 ) < (x2 , y2 ) :⇔
x1 + y1 = x2 + y2 und y1 < y2
Die vereinbarte Ordnungsrelation ist eine alte Bekannte. Wir hatten sie
bereits in Kapitel 1 verwendet, um die Gleichmächtigkeit der Mengen
N und N2 zu beweisen (vgl. Abbildung 1.16). Dort hatten wir auch
7.3 Das Skolem-Paradoxon 393
gezeigt, dass sich die Position eines Elements (x, y) mithilfe einer ge- 0 1 2 3 4 5 x
schlossenen Formel direkt ausrechnen lässt. Diese Überlegungen brach-
0 ...
ten die Cantor’sche Paarungsfunktion hervor, die über die nachstehende
Formel gegeben ist: 1 ...
x+y
(x + y)(x + y + 1)
πN (x, y) = y + ∑ i = y + 2 ...
i=0 2
3 ...
Als Nächstes betrachten wir eine Menge M ⊆ P(N), also eine Men-
ge, deren Elemente Teilmengen der natürlichen Zahlen sind. M könnte 4 ...
beispielsweise so aussehen:
5 20 26 33 41 50 60 ...
M := {0,
/ {1,2,3}, {2,3,4}, {1, 3, 5}} (7.8)
..
y ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ .
Für den Moment nehmen wir an, M sei höchstens abzählbar, d. h., die
{1,2,3}
{2,3,4}
{1,3,5}
0/
0/
0/
Menge sei entweder endlich oder sie habe die Kardinalität der natür-
lichen Zahlen. Dann lässt sich M in Form einer Matrix darstellen. Diese
entsteht, indem wir jedem Element {x1 , x2 , x3 , . . .} ∈ M eine separate
Spalte zuordnen und die Felder in den Zeilen x1 , x2 , x3 , . . . einfärben. Abbildung 7.17: Matrixdarstellung der
Abbildung 7.17 demonstriert, wie eine solche Matrixdarstellung für un- Menge {0,
/ {1,2,3}, {2,3,4}, {1,3,5}}
sere Beispielmenge aussehen kann.
Abbildung 7.18 zeigt die Matrix erneut, allerdings ist jetzt in jedem Feld
(x, y) zusätzlich der Wert der Cantor’schen Paarungsfunktion πN (x, y) 0 1 2 3 4 5 x
eingetragen. Die Zahlen sind der Schlüssel für den nächsten Schritt: 0 0 1 3 6 10 15 ...
Die Darstellung von M durch eine einzige Teilmenge der natürlichen
Zahlen. Eine solche Menge EM können wir ganz einfach dadurch er- 1 2 4 7 11 16 22 ...
halten, dass wir für jedes markierte Feld (x, y) den Wert π(x, y) in EM
aufnehmen. Für unsere Beispielmenge M ist 2 5 8 12 17 23 30 ...
{2,3,4}
{1,3,5}
0/
0/
0/
{2,3,4}
{1,3,5}
{0,3,4}
{1,3,4}
0/
Nun sei (U, I) eine Interpretation mit U = N ∪ P(N). Das bedeutet, dass
wir im Individuenbereich alle natürlichen Zahlen sowie alle Teilmengen
der natürlichen Zahlen wiederfinden. Ferner sei I so beschaffen, dass die
Symbole ‚∈‘, S, N die folgende Bedeutung erhalten:
Fordern wir jetzt noch, dass kein Enumerator für den Individuenbereich
existiert, so sind wir am Ziel. Als Ergebnis erhalten wir die von uns
gesuchte Formel ϕSkolem :
ϕSkolem := ¬∃ w (S(w)∧
∀ z (S(z) → (∃ x (N(x) ∧ (∀ y (N(y) → (y ∈ z ↔ π(x, y) ∈ w)))))))
Der augenscheinliche Widerspruch klärt sich auf, wenn wir die inhalt-
liche Aussage von ϕSkolem in aller Präzision analysieren. Weiter oben
hatten wir die Formel mit der folgenden Bedeutung assoziiert:
„Es existiert kein Enumerator
ϕSkolem = (7.10)
für den Individuenbereich.“
Aber besitzt ϕSkolem diese Bedeutung wirklich? Die Antwort hängt da-
von ab, unter welcher Interpretation (U, I) wir sie betrachten. Schreiben
wir ihre inhaltliche Aussage in aller Ausführlichkeit nieder, so lautet sie
folgendermaßen:
„Innerhalb des Individuenbereichs existiert
ϕSkolem =
kein Enumerator für den Individuenbereich.“
(7.11)
In der festgelegten Standardinterpretation (N ∪ P(N), I) sind die Aussa-
gen (7.10) und (7.11) äquivalent. Das liegt daran, dass der Individuen-
bereich alle Teilmengen der natürlichen Zahlen umfasst und hierdurch
396 7 Modelltheorie
5 20 26 33 41 50 60 ...
Ein solches Modell lässt sich direkt aus der Standardinterpretation ge-
winnen. Es entsteht, indem die Individuenmenge U durch die Menge
..
y ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ . U := N ∪ {{0}, {0, 1}, {0, 1, 2}, {0, 1, 2, 3}, . . .}
{0}
{0,1}
{0,1,2}
{0,1,2,3}
{0,1,2,3,4}
{0,1,2,3,4,5}
ersetzt wird. Die neue Individuenmenge U ist abzählbar, so dass wir sie
als Matrix darstellen können. Wie diese aussieht, zeigt Abbildung 7.20.
Als abzählbare Menge besitzt der neue Individuenbereich einen Enu-
merator, den wir aus der Matrixdarstellung ohne Mühe ablesen können.
Es ist
EU = {0, 1, 3, 4, 6, 7, 10, 11, 12, . . .} EU = {0, 1, 3, 4, 6, 7, 10, 11, 12, 15, 16, 17, . . . , }
Weder der Enumerator EU noch irgendeine seiner Obermengen sind in
Abbildung 7.20: Die Individuenmenge U
U enthalten und die Formel ϕSkolem deshalb wahr.
ist abzählbar und besitzt nach Satz 7.10
einen Enumerator. Dieser ist selbst kein Die Diskussion hat gezeigt, dass wir mit dem Skolem-Paradoxon kein
Element des Individuenbereichs und die Paradoxon im eigentlichen Sinne vor uns haben und der vermeintliche
Formel ϕSkolem daher eine wahre Aussage.
Widerspruch nur aus der Ferne sichtbar ist. Er löst sich auf, sobald wir
die inhaltliche Aussage der Formel ϕSkolem korrekt formulieren.
In seiner Veröffentlichung aus dem Jahr 1923 hatte Skolem nicht nur
sein vermeintliches Paradoxon formuliert, sondern zugleich eine ma-
thematisch einwandfreie Erklärung dafür geliefert. Zu keiner Zeit war
daher zu befürchten, das Paradoxon könne das Gebäude der Mathema-
tik in der gleichen Weise beschädigen wie einst die Russell’sche Anti-
nomie. Dennoch müssen wir aus dem Skolem’schen Resultat eine bit-
tere Lehre ziehen. Unverblümt führt es uns vor Augen, dass die Bedeu-
tung mancher Formeln maßgeblich davon abhängig ist, über welchem
Grundbereich wir ihre Symbole interpretieren; diese Formeln besitzen
keine inhaltliche Bedeutung in einem absoluten Sinn. Skolem, der sich
im Rahmen seiner Diskussion auf die Mengenlehre bezieht, nennt die-
ses Phänomen „eine Relativität der Mengenbegriffe, welche bei jeder
konsequenten Axiomatik unvermeidbar ist.“ [180]
entdeckte Wechselspiel zwischen der syntaktischen und der semanti- Die Diskussion des Skolem-
schen Ebene läuft unserer Intuition zuwider, und von mehreren wur- Paradoxons hat uns gelehrt,
de die Meinung vertreten, die Mathematik dürfe nicht auf einem Fun- dass die inhaltliche Bedeu-
dament errichtet werden, das zwar mathematisch widerspruchsfrei sei, tung der Formel ϕSkolem da-
von abhängt, über welchem Grundbereich
aber gleichzeitig nicht die nötige Stabilität aufweise, um den Mengen-
wir ihre Symbole interpretieren; sie be-
begriff in einem absoluten Sinn zu definieren. Zu den Kritikern gehörte sitzt keine Bedeutung in einem absoluten
auch Skolem selbst. Für ihn war das entdeckte Phänomen schwerwie- Sinn. Dass wir dieses Phänomen nicht für
gend genug, um die im Aufbau befindliche axiomatische Mengenlehre jede Formel beobachten können, macht
vollständig in Frage zu stellen. Seine Arbeit schloss er mit den folgen- das folgende Beispiel deutlich:
den Worten:
ϕ := ∃ x ∃ y (x = y)
„Das wichtigste Ergebnis oben ist die Relativität der Men- Inhaltlich besagt diese Formel, dass der
genbegriffe. In einem mündlichen Gespräch habe ich dies Individuenbereich mindestens zwei ver-
schon im Winter 1915–1916 Herrn Prof. F. Bernstein in schiedene Elemente umfasst. ϕ besitzt
Göttingen erzählt. Dass ich nicht früher etwas darüber diese Bedeutung tatsächlich in einem ab-
publiziert habe, hat zwei Gründe: Erstens bin ich inzwi- soluten Sinn; ihre inhaltliche Aussage ist
schen mit anderen Problemen beschäftigt gewesen; zwei- unter allen Interpretationen immer die
tens glaubte ich, dass es so klar sei, dass diese Men- gleiche. Wir müssen daher vorsichtig sein,
um aus dem Paradoxon nicht die falschen
genaxiomatik keine befriedigende letzte Grundlage der
Schlüsse zu ziehen. Es wäre falsch, Sko-
Mathematik wäre, dass die Mathematiker größtenteils sich lems Ergebnis so zu interpretieren, als sei
nicht so sehr darum kümmern würden. In der letzten Zeit die Bedeutung einer Formel immer ei-
habe ich aber zu meinem Erstaunen gesehen, dass sehr ne relative. Wir lernen aus ihm lediglich,
viele Mathematiker diese Axiome der Mengenlehre als die dass nicht jede Formel in einem absoluten
ideale Begründung der Mathematik betrachten; deshalb Sinn bedeutungstragend ist.
schien mir die Zeit gekommen, eine Kritik zu publizieren.“
Thoralf Skolem [180]
Wie gehen wir heute mit Skolems Erbe um? Gegenwärtig wird nur noch
wenig über die philosophische Bedeutung des Paradoxons diskutiert.
Die meisten Mathematiker haben gelernt, mit ihm zu leben; sie sehen
darin eher ein Phänomen als ein Problem, und so beschränken sich fast
alle modernen Abhandlungen darauf, die mathematische Komponente
zu behandeln und den vermeintlichen Widerspruch sauber aufzulösen.
Aus diesem Blickwinkel wirken die Reaktionen, die Skolems Arbeit in
der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hervorrief, als übertrie-
ben. Doch waren sie das wirklich? Vertreten wir vielleicht nur deswe-
gen diese Meinung, weil philosophische Betrachtungen in der moder-
nen Mathematik kaum noch eine Rolle spielen? Eine objektive Antwort
ist schwer zu geben, denn bei einer Beurteilung dürfen wir eines nicht
vergessen: Wir sind alle Kinder unserer Zeit.
398 7 Modelltheorie
Bisher hatten wir uns eine Interpretation stets als ein Tupel (U, I) vorge-
stellt, das neben einer nichtleeren Individuenmenge U eine Abbildung
I enthält, die jedem Prädikatzeichen und jedem Funktionssymbol eine
Relation bzw. eine Funktion über U zuordnet. Sind eine Interpretation
(U, I) und eine Formel ϕ vorgelegt, so ist ϕ unter dieser Interpretation
entweder wahr oder falsch. Im ersten Fall schreiben wir (U, I) |= ϕ und
im zweiten Fall (U, I) |= ϕ. Damit können wir uns eine Interpretation als
eine Abbildung vorstellen, die jeder Formel entweder den Wahrheits-
wert 1 (wahr) oder den Wahrheitswert 0 (falsch) zuordnet. Bezeichnen
wir den Funktionswert dieser Abbildung mit ϕ(U,I) , so lässt sich die-
ser Zusammenhang wie folgt aufschreiben:
1 falls (U, I) |= ϕ
ϕ(U,I) := (7.12)
0 falls (U, I) |= ϕ
Dieses Prinzip lässt sich verallgemeinern, indem der Wertebereich von
ϕ(U,I) auf die Elemente einer beliebigen booleschen Algebra ausge-
dehnt wird. Auf diesem Weg gelangen wir zu neuartigen Interpretatio-
nen, die in der Literatur als boolesche Modelle (boolean valued mo-
Dana Scott (geb. 1932) [7] dels) bezeichnet werden. Eingeführt wurden sie Ende der Siebzigerjah-
re von Dana Scott (Abbildung 7.21), Robert Solovay und Petr Vopěn-
Abbildung 7.21: Dem US-Amerikaner Da- ka [175,204]. Die ursprüngliche Idee stammt von Solovay aus dem Jahr
na Scott verdanken wir wertvolle Beiträ- 1965 und wurde von Scott zwei Jahre später in ihre moderne Form ge-
ge auf dem Gebiet der mathematischen Lo- bracht [175]. Vopěnka entwickelte seine Theorie unabhängig von den
gik und der theoretischen Informatik. Es anderen, inhaltlich traf er aber denselben Kern.
ist Scotts Verdienst, dass wir heute einen
vergleichsweise intuitiven Zugang zu Paul Die Theorie der booleschen Modelle wurde mit der Intention ent-
Cohens Beweis über die Unabhängigkeit wickelt, einen leichter verständlichen Zugang zu Paul Cohens Forcing-
der Kontinuumshypothese in Händen hal- Technik aus dem Jahr 1963 zu schaffen. Tatsächlich verbirgt sich in ei-
ten. 1972 wurde er für seine Arbeiten über nem Forcing-Beweis die Konstruktion eines speziellen booleschen Mo-
boolesche Modelle mit dem Leroy P. Steele dells, aus dem sich anschließend mehrere gewöhnliche Modelle gewin-
Prize ausgezeichnet. nen lassen. Gelingt die Konstruktion derart, dass die Theoreme eines
Seinen wohl größten Erfolg errang er im formalen Systems in allen Modellen wahr, eine Formel ϕ dagegen in
Bereich der theoretischen Informatik, als
einem Modell wahr und in einem anderen Modell falsch ist, so wissen
er 1959, zusammen mit Michael O. Ra-
bin, das Konzept des nichtdeterministischen
wir, dass weder ϕ noch ¬ϕ aus den Axiomen logisch gefolgert werden
Automaten ersann [155]. Hierdurch ist ei- können.
ne völlig neue Denkrichtung entstanden, die
Wir wollen die Idee der Forcing-Technik in groben Zügen offenlegen
sowohl die Berechenbarkeits- als auch die
Komplexitätstheorie bis heute prägt. 1976
und die Konstruktion eines Modells des formalen Systems ZFC skiz-
wurden Rabin und Scott für ihre bahnbre- zieren, in dem die Kontinuumshypothese (CH) falsch ist. Setzen wir die
chende Arbeit mit dem Turing Award aus- Korrektheit von ZFC voraus, so folgt aus der Existenz eines solchen
gezeichnet, der höchsten Auszeichnung im Modells, dass die Kontinuumshypothese in ZFC nicht bewiesen werden
Bereich der theoretischen Informatik. kann.
7.4 Boolesche Modelle 399
Wir wissen aus Kapitel 1, dass die Forcing-Technik auf dem Prinzip der Die Forcing-Technik setzt
Modellerweiterung beruht, die neu konstruierten Modelle also dadurch die Existenz eines abzähl-
entstehen, dass ein bestehendes Modell um neue Elemente ergänzt wird. baren, transitiven Standard-
Ferner ist uns aus Kapitel 4 bekannt, dass wir aufgrund des zweiten modells von ZFC voraus.
Dies wirft die Frage auf, ob ein solches
Gödel’schen Unvollständigkeitssatzes gar nicht sicher sein können, ob
Modell zwangsläufig existieren muss. Die
ZFC überhaupt Modelle hat. Die Existenz eines Modells müssen wir ehrliche Antwort auf diese Frage lautet
einem Forcing-Beweis daher stets in Form einer Annahme voranstel- Nein, und zwar selbst dann, wenn wir die
len. Tatsächlich müssen wir diese Annahme noch etwas verstärken und Widerspruchsfreiheit von ZFC vorausset-
die Existenz eines abzählbaren transitiven Standardmodells einfordern. zen. Ist ZFC widerspruchsfrei, so folgt
Standardmodelle zeichnen sich dadurch aus, dass das Formelsymbol aus dem Modellexistenzsatz und dem Satz
‚∈‘ als die gewöhnliche Elementrelation interpretiert wird. vom Löwenheim-Skolem-Tarski zwar die
Existenz von abzählbaren Modellen, aller-
Die Betrachtung von Standardmodellen bringt einige Vereinfachungen dings ist nicht garantiert, dass sich dar-
mit sich, die sich unter anderem auf die Notation auswirken, mit der unter auch transitive Standardmodelle be-
wir die Modelleigenschaft beschreiben. Anders als in der allgemeinen finden. Dennoch gibt es Gründe, weshalb
Sprache der Prädikatenlogik erster Stufe sind in der Sprache von ZFC die meisten Mathematiker die verschärfte
sämtliche Funktionssymbole verschwunden, und es gibt neben ‚=‘ und Voraussetzung als eine adäquate Annah-
‚∈‘ keine weiteren Prädikate. Um eine ZFC-Formel als wahr oder falsch me akzeptierten. Ein Teil davon stammt
zu klassifizieren, müssen wir uns daher nicht mehr um die Bedeutung aus der Theorie der großen Kardinalzahl-
frei definierbarer Funktionen oder Prädikate sorgen, sondern nur noch axiome, die wir in diesem Buch aber nicht
darum, über welchem Individuenbereich eine Formel interpretiert wird behandeln können.
Vielleicht haben Sie sich gefragt, warum
und mit welchen Individuen die freien Variablen belegt sind. Für eine
wir die Existenz eines Modells eingefor-
geschlossene Formel ϕ spielt dann nur noch der Individuenbereich eine dert haben, das transitiv ist. Tatsächlich
Rolle, so dass wir anstatt erweist sich diese Forderung als eine sehr
(U, I) |= ϕ (7.13) natürliche. Dies wird deutlich, wenn wir
die verkürzte Schreibweise uns an die Rolle eines Modells erinnern,
das Mengenuniversum zu repräsentieren
U |= ϕ (7.14) und damit sämtliche Mengen zu umfas-
sen, die als existent angenommen wer-
verwenden können. Für offene Formeln wollen wir uns eine solche Ver- den. Ist ein Modell nicht transitiv, so muss
mindestens eine Menge ein Element ent-
kürzung ebenfalls erlauben. In diesem Fall soll die Schreibweise (7.14)
halten, das nicht Teil des Mengenuniver-
ausdrücken, dass die Beziehung (7.13) unabhängig davon wahr ist, mit sums selbst ist. Diese Eigenschaft ist zwar
welchen Individuen die freien Variablen belegt werden. gut mit Zermelos ursprünglicher Vorstel-
lung vereinbar, dass Mengen hierarchi-
Erfüllt eine Menge die Beziehung (7.14) für jede in ZFC beweisbare
sche Zusammenfassungen gesondert exis-
Formel, so nennen wir sie ein Modell von ZFC. Das postulierte Modell, tierender Urelemente sind, aber nicht mit
aus dem wir mithilfe der Forcing-Technik neue Modelle erzeugen wol- der modernen Sichtweise, dass sämtli-
len, bezeichnen wir im Folgenden mit M. Wie oben bereits erwähnt, che Elemente von Mengen selbst Mengen
nehmen wir dabei an, dass die Menge M abzählbar viele Elemente um- sind.
fasst, eine transitive Menge im Sinne von Definition 3.7 ist und das For-
melzeichen ‚∈‘ als die gewöhnliche Elementrelation interpretiert wird.
Kurz: M ist ein abzählbares, transitives Standardmodell von ZFC.
Mit ‚∧‘ und ‚∨‘ seien zwei binäre Verknüpfungen auf einer nichtleeren
Menge B gegeben. Das Tripel (B, ∧, ∨) nennen wir eine boolesche Al-
gebra, wenn die beiden Verknüpfungen die vier Huntington’schen Axio-
me aus Tabelle 7.1 erfüllen. Achten Sie darauf, den Begriff des Axioms,
den wir bisher immer nur im Kontext von formalen Systemen verwen-
det haben, an dieser Stelle nicht falsch zu interpretieren. Die Hunting-
ton’schen Axiome sind in diesem Kontext als gewöhnliche algebrai-
sche Beziehungen zu verstehen und nicht als die Axiome eines forma-
len Systems. Das Gleiche gilt für die Symbole ‚∧‘ und ‚∨‘, die jetzt eine
Doppelbedeutung in sich tragen. Im Kontext von booleschen Algebren
stehen sie für die auf B definierten Verknüpfungen und haben mit den
beiden Junktoren, die wir innerhalb von Logikformeln verwenden, im
Augenblick noch nichts zu tun.
George Boole
Wir wollen den Begriff der booleschen Algebra sogleich mit Leben fül-
(1815 – 1864)
len und zwei prominente Beispiele ansehen:
a b∪c a ∩ (b ∪ c) a b∩c a ∪ (b ∩ c)
a a a a a a
b b b b b b
∩ = ∪ =
c c c c c c
=
=
a a a a a a
b b b b b b
∪ = ∩ =
c c c c c c
a∩b a∩c (a ∩ c) ∪ (a ∩ c) a∪b a∪c (a ∪ b) ∩ (a ∪ c)
B := P(T ) • T1 := {1}
a ∧ b := a ∩ b
{1}=1
a ∨ b := a ∪ b
eine boolesche Algebra. Dass (B, ∧, ∨) tatsächlich alle vier Hunting- ∅=0
ton’schen Axiome erfüllt, können wir leicht nachprüfen. Die Gül-
tigkeit der Kommutativgesetze liegt auf der Hand, genauso wie die • T2 := {1, 2}
Existenz neutraler und inverser Elemente: Das neutrale Element 0 ist { 1, 2 } = 1
die leere Menge 0,/ das Element 1 die Trägermenge T und das inverse
Element einer Menge a die Komplementärmenge T \a. Die Gültig-
keit der Distributivgesetze wird offensichtlich, wenn wir die Mengen {1} {2}
in Form von Venn-Diagrammen darstellen (Abbildung 7.23).
Abbildung 7.24 veranschaulicht die Struktur der Potenzmengenal- ∅=0
gebra für die Fälle T1 = {1}, T2 = {1, 2} und T3 = {1, 2, 3}.
• T3 := {1, 2, 3}
I Schaltalgebra
Die Schaltalgebra basiert auf einer zweielementigen Grundmenge { 1, 2, 3 } = 1
B = {0, 1} und der folgenden Operatorendefinition:
{ 1, 2 } { 1, 3 } { 2, 3 }
1 falls a = 1 und b = 1
a ∧ b :=
0 sonst
{1} {2} {3}
1 falls a = 1 oder b = 1
a ∨ b :=
0 sonst
∅=0
Aus praktischer Sicht ist die Schaltalgebra die wichtigste aller boole- Abbildung 7.24: Ordnungsstrukturen der
schen Algebren. Sie ist die mathematische Grundlage des digitalen ersten drei Potenzmengenalgebren
402 7 Modelltheorie
| \M|<| | Die Struktur der Potenzmenge stellt hier sicher, dass sowohl das Supre-
mum als auch das Infimum für jede beliebige Teilmenge A ⊆ B stets ein
Element von B ist. Boolesche Algebren mit dieser Eigenschaft heißen
vollständig.
Grundbereich
Eine solche Struktur können wir mit wenig Mühe aus der Potenzmen-
genalgebra erhalten. Hierzu entfernen wir einige Elemente aus B so ge-
Abbildung 7.25: Konstruktion des Grund- schickt, dass die Huntington’schen Axiome immer noch erfüllt sind,
bereichs einer unvollständigen booleschen aber nicht mehr jede Teilmenge ein Infimum oder ein Supremum be-
Algebra sitzt. Das folgende Beispiel demonstriert, wie dies gelingen kann. Wir
wählen die natürlichen Zahlen als Trägermenge und definieren B fol-
gendermaßen:
Element ¬a immer noch ein Element von B. Ferner führen die Mengen-
operationen ‚∩‘ und ‚∪‘ niemals aus der Menge B heraus, so dass alle
vier Huntington’schen Axiome weiterhin erfüllt sind.
Anders als die bisher betrachteten Algebren ist (B, ∩, ∪) aber nicht mehr
vollständig. Beispielsweise ist
nicht in B enthalten ist. Weder die Menge {0, 2, 4, 6, . . .} noch ihr Kom-
plement {1, 3, 5, 7, . . .} ist endlich.
a ≤ b :⇔ a ∧ b = a
wird jede boolesche Algebra (B, ∧, ∨) zu einer Halbordnung (B, ≤). Be-
achten Sie, dass die Ordnung im Allgemeinen nicht total ist, da zwei
Elemente a, b ∈ B nicht notwendigerweise in einer der beiden Ord-
nungsbeziehungen a ≤ b oder b ≤ a stehen müssen.
Die Definition einer Ordnung auf den Elementen von B macht es mög-
lich, wichtige ordnungstheoretische Begriffe auf boolesche Algebren zu
übertragen. Besonders wichtig ist für uns der Begriff des Filters, den wir
an dieser Stelle formal einführen wollen:
404 7 Modelltheorie
Es sei (B, ∧, ∨) eine boolesche Algebra. Ein Filter ist eine Teilmen-
{ 1, 2 } { 1, 3 } { 2, 3 } ge F ⊂ B mit den folgenden Eigenschaften:
1 ∈ F, 0 ∈
/F (7.15)
{1} {2} {3}
a ∈ F und b ∈ B mit b ≥ a ⇒ b ∈ F (7.16)
a ∈ F und b ∈ F ⇒ a ∧ b ∈ F (7.17)
∅=0
F ist ein Ultrafilter, wenn zusätzlich gilt:
{ 1, 2, 3 } = 1
a ∈ F ⇔ ¬a ∈
/F (7.18)
{ 1, 2 } { 1, 3 } { 2, 3 }
Den Begriff des Ultrafilters kennen wir bereits aus Abschnitt 7.2.2, wo
{1} {2} {3} wir ihn in einem spezielleren Kontext verwendet haben.
Wir können den Begriff der dichten Teilmenge auf eine beliebige Halb-
ordnung (P, ≤) übertragen, indem wir die Menge B\{0} in (7.19) ganz
einfach durch P ersetzen. In diesem Fall entfällt die Sonderbehandlung
des Nullelements, da ein solches Element nicht in jeder Halbordnung
existiert.
Mit den eingeführten Begriffen steht die folgende Definition auf soliden
Füßen:
7.4 Boolesche Modelle 405
x = {(0,
/ {2,3}), ({(0,
/ {1,3})}, {1,3})} Was dies konkret bedeutet, machen wir an zwei Beispielmengen x und
y = {(0,
/ {1,3}), ({(0,
/ {1,2,3})}, {1,2,3})} y fest. Beide sind boolesche Mengen über der Potenzmengenalgebra
(P({1,2,3}), ∩, ∪):
x = {{0}}
/ Nach dem gleichen Denkmuster können wir den booleschen Wahrheits-
y = {0,
/ {0}}
/ wert ϕ einer ZFC-Formel ϕ interpretieren: ϕ gibt an, in welchen
x⊆y Welten die Formel ϕ eine wahre Aussage über die dort vorhandenen
Mengen ist. Eine Formel mit ϕ = 1 ist in allen Welten wahr, eine For-
Abbildung 7.27: Zur Welteninterpretation mel mit ϕ = 0 in allen Welten falsch und eine Formel mit 0 < ϕ < 1
boolescher Mengen in gewissen Welten wahr und in anderen falsch. Für die oben definierten
Mengen x und y gilt beispielsweise der folgende Zusammenhang:
x ⊆ y = {1, 3} (7.21)
x ∈ y = {2} (7.22)
x = y = {3} (7.23)
An dieser Stelle wollen wir eine wichtige Menge einführen, die uns
bis zum Ende dieses Kapitels begleiten wird: die Menge M(B) . Für ei-
M ne vollständige boolesche Algebra (B, ∧, ∨) enthält diese Menge genau
jene Elemente aus dem postulierten Modell M, die die Struktur einer
booleschen Menge aufweisen. Mit anderen Worten: M(B) ist die Menge
M(B) aller booleschen Mengen aus M.
x = {0,
/ {0}}
/ ∈M Obgleich das Modell M eine echte Obermenge von M(B) ist, finden
wir es vollständig eingebettet in M(B) wieder. Jedes Element x ∈ M
hat mit der Menge
x̌ := {(ǔ, 1) | u ∈ x} (7.24)
x̌ = {(0,1),
/ ({(0,1)},1)}
/ ∈ M(B) nämlich einen natürlichen Vertreter in M(B) . In der Terminologie der
booleschen Modelle ist die Menge x̌ die Standardrepräsentation oder
Abbildung 7.28: Einbettung der Menge M der Standardrepräsentant von x (Abbildung 7.28).
in M(B) durch die Bildung von Standardre-
präsentanten
7.4 Boolesche Modelle 407
1M(B) := 1
0M(B) := 0
x ∈ yM(B) := y(v) ∧ x = vM(B) (7.26)
v∈dom(y)
7.5 Forcing
Gewöhnliches
Modell
Wir wissen aus Abschnitt 7.4.3, dass die Menge M(B) ein boolesches
Modell von ZFC ist. Seine eigentliche Durchschlagskraft entfaltet die- M |= ψ für alle ZFC-Theoreme ψ
ses Ergebnis allerdings erst dann, wenn wir es mit einem anderen Er- M |= ϕ oder M |= ϕ
gebnis über boolesche Modelle kombinieren: der Tatsache, dass sich
boolesche Modelle in gewöhnliche Modelle zurücktransformieren las-
sen.
Das aus M(B) generierte Modell heißt M[G] und ist so gestaltet, dass Boolesches
die wahren und falschen Formeln von M(B) auch in M[G] wahr bzw. Modell
falsch sind. Es gilt also:
ψM(B) = 1 für alle ZFC-Theoreme ψ
ϕM(B) = 1 ⇒ M[G] |= ϕ (7.31) ϕM(B) = b mit b = 0 und b = 1
ϕM(B) = 0 ⇒ M[G] |= ϕ (7.32)
Daneben existieren in M(B) auch Formeln, die weder wahr noch falsch
sind, da sie einen von 0 und 1 verschiedenen Wahrheitswert annehmen.
Ob diese Formeln in M[G] zu wahren oder zu falschen Aussagen wer- Gewöhnliches Gewöhnliches
den, steuert die Menge G. Sie ist eine spezielle Teilmenge von B und Modell Modell
determiniert den Wahrheitsgehalt auf die folgende Weise:
b ∈ G1 b∈/ G2
M[G] |= ϕ ⇔ ϕM(B) ∈ G (7.33) M[G1 ] |= ϕ M[G2 ] |= ϕ
Die Formel ϕ wird in M[G] also genau dann zu einer wahren Aussa- Abbildung 7.29: Um die Unabhängigkeit
ge, wenn ihr boolescher Wahrheitswert ein Element von G ist (Abbil- einer Formel ϕ zu beweisen, wird aus dem
dung 7.29). Die geschilderte Konstruktion funktioniert allerdings nicht postulierten Modell M ein boolesches Mo-
für beliebige Teilmengen von B, sondern nur für solche, die gewissen dell M(B) konstruiert, in dem jede in ZFC
Restriktionen unterliegen. Um beispielsweise die Beziehung (7.33) wi- beweisbare Formel wahr ist, ϕ aber we-
der wahr noch falsch. Im nächsten Schritt
derspruchsfrei mit den beiden zuvor formulierten Eigenschaften (7.31)
werden hieraus zwei gewöhnliche Modelle
und (7.32) in Einklang zu bringen, müssen wir an G die folgenden bei- gewonnen, und zwar so, dass ϕ in einem
den Forderungen stellen: dieser Modelle wahr und in dem anderen
falsch ist. Die Konstruktion wird mithilfe
1 ∈ G, 0 ∈
/G (7.34)
eines generischen Filters G gesteuert. Die
Kommen Ihnen diese Beziehungen bekannt vor? Ein Blick auf Defi- Formel ϕ ist genau dann wahr in M[G],
nition 7.2 zeigt, dass wir diese Forderungen auch an jene Teilmengen wenn der boolesche Wahrheitswert von ϕ
ein Element von G ist.
von B gestellt haben, die als Filter einer booleschen Algebra bezeichnet
werden. Damit haben wir die Beschaffenheit der Menge G schon so gut
wie offengelegt. Die beschriebene Transformation gelingt genau dann,
wenn G ein M-generischer Filter von B ist.
Alles in allem erscheint damit das folgende Vorgehen plausibel: Um ei-
ne Aussage wie die Kontinuumshypothese als unentscheidbar zu iden-
tifizieren, wechseln wir aus dem postulierten Grundmodell M gedank-
lich in das boolesche Modell M(B) hinüber und bestimmen dort den
410 7 Modelltheorie
Technisch gesehen erfolgt booleschen Wahrheitswert der Kontinuumshypothese. Wir nehmen an,
die Rücktransformation von dieser Wahrheitswert sei b und von 0 und 1 verschieden, da nur dann ein
M(B) nach M[G] in zwei Unabhängigkeitsbeweis möglich ist. Anschließend erzeugen wir einen
Schritten. Im ersten Schritt M-generischen Filter G1 mit b ∈ G1 und einen M-generischen Filter
wird aus M(B) ein sogenanntes Quotien-
G2 mit b ∈/ G2 . Transformieren wir das boolesche Modell M(B) mit
tenmodell M(B)/G erstellt, das die Ele-
diesen beiden Filtern in zwei gewöhnliche Modelle zurück, so erhal-
mente von M(B) in Äquivalenzklassen
zusammenfasst. Grundlage für die Klas- ten wir mit M[G1 ] eines, in dem die Kontinuumshypothese wahr, und
senbildung ist die folgende Äquivalenzre- mit M[G2 ] ein anderes, in dem sie falsch ist. Aus der Existenz dieser
lation auf den Elementen von M(B) : Modelle ergibt sich dann unmittelbar die Unentscheidbarkeit der Kon-
tinuumshypothese in ZFC.
x ∼G y :⇔ x = yM(B) ∈ G
So plausibel dieser Plan auch klingen mag: In der geschilderten Form
Die Menge aller Äquivalenzklassen ist ist er nur schwer durchzuführen. In erster Linie sind wir mit dem Pro-
das Quotientenmodell M(B)/G : blem konfrontiert, kaum etwas über das postulierte Modell M zu wis-
sen. Tatsächlich können wir uns noch nicht einmal sicher sein, ob dieses
M(B)/G := { [x]G | x ∈ M(B) }
Modell überhaupt existiert. Erst recht wissen wir nichts über den boole-
Dieses Quotientenmodell ist ein gewöhn- schen Wahrheitswert von CH in M(B) , geschweige denn, mit welcher
liches Modell von ZFC, in dem die Un- booleschen Algebra (B, ∧, ∨) wir das Modell M(B) überhaupt bilden
schärfe von M(B) bereits vollständig ver- sollen. Der Hebel, an dem wir ansetzen, wird daher ein anderer sein. Er
schwunden ist. Im Gegensatz zu M, dem ist Bestandteil des folgenden Satzes:
Ausgangspunkt der Konstruktion, ist das
Quotientenmodell aber ein Nichtstandard-
modell, da die Relation ‚∈‘ nicht als die Satz 7.12 (Modelltheorem für boolesche Algebren)
gewöhnliche Elementrelation interpretiert
wird. Stattdessen ist das Formelzeichen Es sei M ein abzählbares, transitives Standardmodell von ZFC,
‚∈‘ mit der folgenden Bedeutung belegt: (B, ∧, ∨) eine vollständige boolesche Algebra aus M und G ⊂ B
ein M-generischer Filter. Dann hat ZFC ein abzählbares, transiti-
M[G] |= [x]G ∈ [y]G :⇔ x ∈ yM(B) ∈ G
ves Standardmodell M[G] mit den folgenden Eigenschaften:
Im zweiten Schritt wird das Quotien-
tenmodell M(B)/G einer Transformati- M ⊆ M[G] (7.35)
on unterzogen, die der polnische Ma- G ∈ M[G] (7.36)
thematiker Andrzej Mostowski im Jahr
1949 entdeckte [132]. Das Resultat die-
ser Transformation wird als Mostowski-
Kollaps bezeichnet und ist das Ergebnis, Das Modelltheorem deckt auf, dass das generierte Modell M[G] den
das wir suchen: das transitive Standard- generischen Filter G als Element enthält. Anders als die boolesche Al-
modell M[G]. gebra (B, ∧, ∨), für die das Modelltheorem fordert, ein Element von M
zu sein, darf sich G auch außerhalb von M befinden. In diesem Fall ist
M[G] eine echte Modellerweiterung, in der G als neues Element hinzu-
gekommen ist. Genau diese Eigenschaft nutzen wir für unsere Zwecke
aus. Wir verwenden den Filter G als Einfallstor, um in M gezielt neue
Mengen einzubringen.
Bevor wir diesen Plan umsetzen, bringen wir das Modelltheorem zu-
nächst noch in eine verallgemeinerte Form, die einfacher zu handhaben
ist und ganz ohne den Begriff der booleschen Algebra auskommt:
7.5 Forcing 411
ℵM aus G konstruieren lassen. Unser Plan besteht deshalb darin, eine Halb-
α 2
ordnung (P, ≤) mit der Eigenschaft zu finden, dass sich aus einem M-
0 0 1 …
generischen Filter dieser Ordnung eine Bijektion zwischen R und ℵ2
n 1 0 … konstruieren lässt.
N Für unsere Zwecke passend wird sich die Halbordnung (P, ⊇) mit
…
…
… ℵM
P := { f : ℵM
2 × N → {0, 1} | f ∈ M und dom( f ) ist endlich}
α 2
gewählt. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Funktionswerte Wenn Sie bereits ein wenig
in den mit α und β markierten Spalten in mindestens einer Zeile unter- Vorwissen über die Forcing-
scheiden. Diese Funktionen fassen wir in der Menge Dα,β zusammen. Technik mitbringen, werden
Sie mit Sicherheit ein ganz
Die Mengen D(α,n) und Dα,β weisen die Eigenschaft auf, dicht in (P, ⊇) bestimmtes Symbol vermissen. Gemeint
zu sein, so dass der generische Filter G mit jeder dieser Mengen min- ist die Forcing-Relation ‚‘, die von Paul
destens ein Element gemeinsam hat. Hieraus können wir zwei wichtige Cohen eingeführt wurde und gewisserma-
Schlüsse ziehen: ßen die symbolische Galionsfigur dieser
Beweistechnik ist. Dass wir das Symbol
‚‘ an keiner Stelle benötigt haben, geht
I Aus der Beziehung auf die Entscheidung zurück, die Forcing-
Technik über die Theorie der booleschen
G ∩ D(α,n) = 0/ für alle α ∈ ℵM
2 und alle n ∈ N Modelle zu erklären. Cohen kannte die-
folgt, dass die Funktion f jedes Element aus der Menge ℵM sen eleganten Zugang zu der von ihm
2 × N in
entwickelten Theorie noch nicht, so dass
ihrem Definitionsbereich enthält. Mit anderen Worten: Die Funktion
sich seine ursprüngliche Herleitung deut-
f ist total. lich von der hier skizzierten unterscheidet.
I Aus der Beziehung In Wirklichkeit ist der Unterschied aber
nur begrifflicher Natur, da sich die Begrif-
G ∩ Dα,β = 0/ für alle α, β ∈ ℵM
2 fe und Konzepte der booleschen Welt di-
rekt auf die von Cohen ersonnenen Be-
folgt, dass die Teilfunktionen fα (n) := f (α, n) paarweise verschie- griffe und Konzepte abbilden lassen. Dies
den sind. gelingt auch für die Forcing-Relation, die
folgendermaßen mit dem hier vorgestell-
Damit sind wir bereit für das große Finale. Da der generische Filter ten Begriffsgerüst zusammenhängt:
G ein Element von M[G] ist, finden wir auch die Funktion f = G
in M[G] wieder, genauso wie die Funktionen fα . Jede dieser Funktio- p ϕ ⇔ p ≤ ϕM(B) (7.41)
nen beschreibt eine reelle Zahl in M[G]. Da diese Funktionen paarwei-
Damit können wir auch ein wenig er-
se verschieden sind, muss M[G] mindestens ℵM 2 verschiedene reel- hellen, weshalb Cohen seine Beweistech-
le Zahlen enthalten, was wir symbolisch folgendermaßen aufschreiben nik als Forcing und die Relation ‚‘ als
können: Forcing-Relation bezeichnet hatte. Neh-
M[G] |= |RM | ≥ ℵM 2 (7.42) men wir das Element p in den generischen
Um die Ziellinie zu überqueren, ist noch ein letzter Schritt notwendig. Filter G auf, so sind darin auch alle Ele-
mente q mit p ≤ q enthalten, mit der Fol-
Wir wissen im Moment nämlich nur, dass die Mengen, die in M die
ge, dass jede Formel ϕ mit p ≤ ϕM(B)
Rollen von R und ℵ2 übernehmen, in M[G] die Ungleichung (7.42)
zu einer wahren Aussage in M[G] wird.
erfüllen. Wir benötigen aber die Aussage, dass die Ungleichung für die Mit anderen Worten: Die Wahl p ∈ G er-
M[G]
Mengen RM[G] und ℵ2 gilt. zwingt die Wahrheit von ϕ in M[G]. Ge-
nauso wird die linke Seite von (7.41) ge-
Da M[G] eine echte Modellerweiterung von M ist, enthält M[G] min- lesen. p ϕ bedeutet:
destens so viele reelle Zahlen wie M, so dass wir (7.42) in
„p erzwingt ϕ.“
M[G] |= |R| ≥ ℵM
2 (7.43)
Oder, wenn wir die englische Sprache be-
umschreiben können. Um den letzten Schritt zu vollziehen, ist un- mühen:
ser mathematisches Instrumentarium allerdings nicht weit genug ent-
wickelt. Wir benötigen an dieser Stelle eine Eigenschaft, die im Engli- „p forces ϕ.“
schen als Countable chain condition, kurz CCC, bezeichnet wird. Für
414 7 Modelltheorie
Sind a und b zwei Elemen- boolesche Algebren mit dieser Eigenschaft lässt sich zeigen, dass das
te einer booleschen Alge- mithilfe von Satz 7.12 generierte Modell M[G] die gleichen Kardinal-
bra, so schreiben wir a ⊥ b, zahlen wie das Modell M enthält und damit insbesondere die Bezie-
M[G]
falls a und b zwei inkompa- hung ℵM 2 = ℵ2 erfüllt. Eine analoge Beziehung gilt für den Fall,
tible Elemente sind. Hiermit sind Elemen-
dass M[G] mithilfe von Satz 7.13 und einer entsprechenden Halbord-
te gemeint, deren Konjunktion das Null-
nung gebildet wird. Hieraus folgt, dass wir (7.43) in
element ergibt:
Eine Antikette einer booleschen Algebra umschreiben können, was das Gleiche ist wie
(B, ∧, ∨) ist eine Teilmenge A ⊆ B\{0}
mit der Eigenschaft, dass alle Elemente M[G] |= 2ℵ0 ≥ ℵ2
aus A paarweise inkompatibel sind. Da
zwei Elemente a, b ∈ B\{0} mit a ≤ b im- Damit sind wir am Ziel. Mit M[G] haben wir ein Modell erschaffen, in
mer kompatibel sind, erweisen sich sämt- dem die Kontinuumshypothese eine falsche Aussage ist.
liche Elemente einer Antikette als mitein-
ander unvergleichbar. Damit ist eine Anti- So leistungsfähig die Forcing-Technik ist, so kompliziert sind ihre De-
kette tatsächlich das Gegenteil einer Ket- tails. Es würde ein eigenes Buch füllen, sie in mathematischer Schär-
te, die als eine linear geordnete Teilmen- fe detailliert aufzuarbeiten, so dass die Ausführungen auf den voran-
ge von B definiert ist. Für zwei Elemente gegangenen Seiten lediglich als ein zaghafter Vorstoß in dieses span-
a und b einer Kette gilt stets a ≤ b oder nende Teilgebiet der Mengenlehre verstanden werden können. Diejeni-
b ≤ a. gen Leser, die sich tiefer in die Theorie der booleschen Modelle und
Die in der Literatur als Countable chain der Forcing-Technik einarbeiten möchten, finden in den Übersichtsarti-
condition bezeichnete Eigenschaft bedeu- keln [31] und [50] sowie den Büchern [8], [167] und [100] die ausge-
tet, dass jede Antikette einer booleschen
lassenen Details.
Algebra höchstens abzählbar viele Ele-
mente enthält. Dass sich diese Eigen-
schaft, wie es im Text angedeutet ist, auf
die Beschaffenheit der Kardinalzahlen in-
nerhalb des booleschen Modells M(B)
auswirkt, ist ein erstaunliches Ergebnis,
da selbst auf den zweiten Blick kein direk-
ter intuitiver Zusammenhang erkennbar
wird. Um dieses Ergebnis mathematisch
herzuleiten, sind zahlreiche Details aus
der Theorie der booleschen Modelle not-
wendig, die den Rahmen dieser Kurzein-
führung aber bei Weitem sprengen wür-
den.
7.6 Übungsaufgaben 415
7.6 Übungsaufgaben
In dieser Übungsaufgabe wollen wir die Prädikatenlogik erster Stufe verwenden, um gerich- Aufgabe 7.1
tete Graphen zu beschreiben. Hierzu fassen wir die Individuenmenge U einer Interpretation
(U, I) als die Knotenmenge eines Graphen auf und legen über das zweistellige Prädikatzei- Webcode
chen E fest, ob zwischen zwei Knoten x und y eine Kante verläuft. Das folgende Beispiel 7731
verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Interpretationen und Graphen:
Ferner sei die folgende Liste von prädikatenlogischen Formeln erster Stufe gegeben:
ϕ1 := ¬E(a, b)
ϕ2 := ¬∃ z1 (E(a, z1 ) ∧ E(z1 , b))
ϕ3 := ¬∃ z1 ∃ z2 (E(a, z1 ) ∧ E(z1 , z2 ) ∧ E(z2 , b))
. . . := . . .
b) Die Eigenschaft, ein zusammenhängender Graph zu sein, ist nicht innerhalb der Prädika-
tenlogik erster Stufe definierbar. Beweisen Sie diese Behauptung, indem Sie zeigen, dass
keine PL1-Formel ϕ mit der folgenden Eigenschaft existiert:
Hinweis: Ein Graph heißt zusammenhängend, wenn für zwei beliebig gewählte Knoten x
und y stets ein Pfad von x nach y existiert. Ein Pfad von x nach y ist eine endliche Folge
von Kanten, die x und y in der gewünschten Richtung miteinander verbinden.
416 7 Modelltheorie
Aufgabe 7.2 K sei ein formales System, in dem sich arithmetische Aussagen ableiten lassen. Wir nehmen
an, K erfüllt die folgende Eigenschaft:
Webcode
7145 ϕ ⇔ |= ϕ
K ist der perfekte Lügner, da genau diejenigen arithmetischen Formeln aus den Axiomen
abgeleitet werden können, die im Standardmodell der Peano-Arithmetik falsch sind.
a) Lassen sich die Symbole ‚s‘, ‚=‘, ‚+‘ und ‚ב so uminterpretieren, dass K ein Modell
besitzt?
b) Kann ein formales System mit der postulierten Eigenschaft überhaupt existieren?
Aufgabe 7.3 Sei ϕ eine Formel der Prädikatenlogik erster Stufe mit Gleichheit. Sind die folgenden Aus-
sagen richtig oder falsch? Begründen Sie Ihre Antworten.
Webcode
7878
a) Hat ϕ ein endliches Modell, dann hat ϕ auch ein unendliches Modell.
b) Hat ϕ ein unendliches Modell, dann hat ϕ auch ein endliches Modell.
Aufgabe 7.4 Der Satz von Euklid besagt, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Hieraus folgt, dass
keine natürliche Zahl x existieren kann, die von jeder Primzahl geteilt wird. Innerhalb der
Webcode Peano-Arithmetik können wir den Sachverhalt folgendermaßen ausdrücken:
7000
ϕ := ¬∃ x ∀ y (prime(y) → y | x)
Ganz offensichtlich ist die Formel ϕ im Standardmodell der Peano-Arithmetik eine wahre
Aussage. Wie üblich nehmen wir an, die Peano-Arithmetik sei frei von Widersprüchen.
I Zeigen Sie, dass ϕ nicht innerhalb der Peano-Arithmetik bewiesen werden kann.
In der von uns gewählten Formulierung gilt der Modellexistenzsatz auch für die Prädikaten- Aufgabe 7.5
logik mit Gleichheit. Beschränken wir uns auf die PL1 ohne Gleichheit, so können wir ihn
sogar geringfügig verschärfen: Webcode
7304
Der Unterschied ist unscheinbar, aber dennoch bemerkenswert: In der Prädikatenlogik ohne
Gleichheit können wir aus der Widerspruchsfreiheit nicht nur die Existenz eines Modells,
sondern die Existenz eines abzählbaren Modells folgern.
a) Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für den Satz von Löwenheim-Skolem-Tarski?
b) Zeigen Sie, dass die vorgenommene Verallgemeinerung nicht für die Prädikatenlogik mit
Gleichheit gilt.
b) Sei F ein Ultrafilter. Was lässt sich über seine Elemente aussagen, wenn wir wissen, dass
die Menge {1} in ihm enthalten ist?
418 7 Modelltheorie
0 1 2 3 4 5 x 0 1 2 3 4 5 x
0 ... 0 ...
1 ... 1 ...
2 ... 2 ...
3 ... 3 ...
4 ... 4 ...
5 20 26 33 41 50 60 ... 5 20 26 33 41 50 60 ...
.. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..
y . . . . . . . y . . . . . . .
M1 := {0,
/ {2, 3}, {2, 4}} M3 := {{2, 3}, {2, 4}}
M2 := {0,
/ {2, 3}, {2, 4}, {3, 4}, {3, 4, 5}} M4 := {{2, 3}, {2, 4}, {3, 4}, {3, 4, 5}}
Aufgabe 7.8 In Abschnitt 7.3 haben wir explizit festgelegt, dass ein Enumerator einer Menge M auch ein
Enumerator für alle Teilmengen von M ist.
Webcode
7988 Nehmen Sie für den Moment an, wir hätten auf die Teilmengenregel verzichtet. Dann wäre
eine Menge E ∈ P(N) genau dann ein Enumerator für eine Menge M ⊂ P(N), wenn M exakt
diejenigen Mengen enthält, die in der Matrixdarstellung von E vorkommen. Die Menge
0 1 2 3 4 5 x
0 0 1 3 6 10 15 ...
1 2 4 7 11 16 22 ...
2 5 8 12 17 23 30 ...
3 9 13 18 24 31 39 ...
4 14 19 25 32 40 49 ...
5 20 26 33 41 50 60 ...
..
y ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ .
{0}
{1}
{2}
{3}
{4}
{5}
Auf den ersten Blick scheint diese Definition unsere intuitive Vorstellung eines Enumerators
besser zu erfassen als die ursprüngliche, und dennoch haben wir sie bewusst nicht verwendet.
Welche Gründe könnte es hierfür geben?
Die nachfolgende Liste enthält eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten, die in jeder booleschen Aufgabe 7.10
Algebra gelten müssen. Zeigen Sie, dass sich alle Gesetze aus den vier Huntington’schen
Axiomen ableiten lassen. Webcode
7573
I Assoziativgesetze I Idempotenzgesetze I Absorptionsgesetze
a ∨ (b ∨ c) = (a ∨ b) ∨ c a∨a = a a ∨ (a ∧ b) = a
a ∧ (b ∧ c) = (a ∧ b) ∧ c a∧a = a a ∧ (a ∨ b) = a
Aufgabe 7.11 In Abschnitt 7.4.1 haben wir mit der Relation ‚≤‘ eine Ordnung auf den Elementen einer
booleschen Algebra eingeführt. Zeigen Sie die folgenden Äquivalenzen:
Webcode
7287 a ≤ b ⇔ a∨b = b ⇔ a → b = 1
Aufgabe 7.12 In Abschnitt 7.5 haben wir das Grundmodell M mithilfe der
Forcing-Technik zu einem Modell M[G] erweitert, das eine Bi-
Webcode jektion zwischen R und ℵ2 enthält. Wenden wir die Forcing-
7212 Maschinerie ein zweites Mal an, und zwar auf das Modell M[G],
so können wir daraus ein weiteres Modell erzeugen, in dem z. B.
eine Bijektion zwischen R und ℵ3 besteht. Dann gäbe es in die-
sem Modell auch eine Bijektion zwischen ℵ2 und ℵ3 , was nicht
sein kann.
Aufgabe 7.13 Wir wollen das Modelltheorem 7.13 auf die Halbordnung (P, ⊇) anwenden, mit:
Webcode P := { f : ℵM
1 →R
M
| f ∈ M und dom( f ) ist in M höchstens abzählbar}
7226 In Worten ausgedrückt umfasst P alle in M enthaltenen partiellen Funktionen, die auf einer
in M abzählbaren Teilmenge von ℵM 1 definiert sind und jedem Element des Definitions-
bereichs eine Menge zuordnen, die in M zu den reellen Zahlen gehört. Geordnet sind die
Elemente aus P durch die Obermengenbeziehung.
In Worten ausgedrückt enthält die Menge Dα alle Funktionen aus P, die an der Stelle α ∈ ℵM
1
definiert sind, und die Menge Dx alle Funktionen aus P, die mindestens ein Element auf die
reelle Zahl x ∈ RM abbilden.
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Bildnachweis
PD Public domain
CC Creative-Commons-Lizenz
GNU GNU-Lizenz
Dinneen, Michael, 358 Henkin, Leon Albert, 122, 123, 289, 376
A Diophantos von Alexandria, 7 Hermes, Hans, 87
Abbe, Ernst, 28 Dirichlet, Peter Gustav, 129 Hermite, Charles, 11
Ackermann, Wilhelm F., 46, 83, 150, Dummett, Michael, 45 Heyting, Arend, 45, 47
212 Hilbert, David, 32, 47, 83, 212, 247, 317
Hofstadter, Douglas R., 202, 291
Aristoteles, 26, 51 E Huntington, Edward Vermilye, 400
Eckert, J. Presper, 52
B Einstein, Albert, 48
Euklid von Alexandria, 140, 257, 416
J
Bennett, Charles, 350, 357
Bernays, Paul, 102, 131, 150, 179, 247 Euler, Leonhard, 4, 5, 11 Jones, James P., 61, 288, 317, 318
Bernstein, Felix, 23, 397
Boole, George, 28, 400 F K
Brouwer, Luitzen E. J., 45, 47
Burali-Forti, Cesare, 38, 180 Fermat, Pierre de, 5, 6, 9 Kant, Immanuel, 367
Burgess, John P., 282 Fourier, Jean Baptiste, 13 Kelley, John L., 150
Fraenkel, Abraham A. H., 42, 157 Kirby, Laurie, 53, 260, 266
Frege, Gottlob, 27, 28, 32, 36 Kleene, Stephen C., 45, 211, 228, 289
C Furtwängler, Philipp, 48 Knuth, Donald E., 265
Calude, Cristian, 358 Kolmogorov, Andrej, 341, 344
Cantor, Georg, 14, 18, 23, 38, 162, 176, G Kreisel, Georg, 264
179, 186, 187, 189, 194 Kripke, Saul Aaron, 149
Carnap, Rudolf, 47, 202 Galilei, Galileo, 26 Kronecker, Leopold, 13, 14, 32
Cauchy, Augustin L., 13 Gardner, Martin, 350, 357 Kučera, Antonín, 358
Chaitin, Gregory, 341, 344, 362 Gauß, J. Carl Friedrich, 13, 26, 387 Kummer, Ernst Eduard, 14
Church, Alonzo, 36, 56, 59, 228, 289, Gentzen, Gerhard, 258 Kuratowski, Kazimierz, 167
291 Gödel, Kurt, 46, 48, 61, 65, 150, 179,
Cohen, Paul J., 63, 398 201, 215, 223, 226, 282, 368,
370, 371 L
Goldbach, Christian, 4
D Goodstein, Reuben L., 53, 260
Lagrange, Joseph-Louis, 139, 319
Leibniz, Gottfried Wilhelm, 1
Gottlob Frege, 27
Dauben, Joseph, 18 von Lindemann, C. L. Ferdinand, 12
Davies, Donald W., 283, 284 Liouville, Joseph, 11, 19
Davis, Martin, 59, 60, 317, 318 H Löb, Martin Hugo, 248, 265
Dedekind, J. W. Richard, 13, 26, 142, Löwenheim, Leopold, 368–370, 377
368 Harrington, Leo Anthony, 53 Łukasiewicz, Jan, 102, 237
M R T
Malcev, Anatolij I., 376, 378 Rabin, Michael Oser, 289, 398 Tarski, Alfred, 370, 378
Matijasevič, Yuri W., 60, 288, 317, 318 Radó, Tibor, 266 Tennenbaum, Stanley, 383
Mauchly, John W., 52 Ramsey, Frank Plumpton, 53 Thue, Axel, 291
Mendelsons, Elliott, 218 Rasiowa, Helena, 405 Turing, Alan M., 36, 54, 56, 58, 272,
Minsky, Marvin L., 285 Rice, Henry G., 300 282, 289
Morse, Anthony P., 150 Riemann, G. F. Bernhard, 13
Mostowski, Andrzej, 410 Robinson, Abraham, 372
Robinson, Julia, 60, 317, 318 V
Rosser, J. Barkley, 205, 227, 228, 289
N Russell, Bertrand A. W., 1, 36, 37, 38, Vopěnka, Petr, 65, 398
Neumann, John von, 46–48, 62, 150, 52, 53, 149, 247, 289
174, 341 Russell, Lord John, 37
Nylander, Paul, 342 W
S Wainer, Stanley Scott, 265
P Weierstraß, Karl T. W., 12–14
Schlick, Moritz, 48 White, Daniel, 342
Paris, Jeffrey B., 53, 260, 266 Schröder, Ernst, 23 Whitehead, Alfred N., 37, 39, 149, 247,
Peano, Giuseppe, 34, 142 Scott, Dana S., 65, 289, 398 289
Péter, Rózsa, 211 Shu, Chi-Kou, 358 Wiener, Norbert, 197
Platek, Richard A., 149 Sierpiński, Wacław, 237, 329 Wiles, Andrew, 5
Poizat, Bruno, 378 Sikorski, Roman, 405 Wolfram, Stephen, 278, 285
Popper, Karl, 51 Skolem, Thoralf, 42, 368–371, 377, 378,
Post, Emil Leon, 60, 283, 284 391, 396
Presburger, Mojżesz, 255
Putnam, Hilary W., 60, 317, 318
Slaman, Theodore A., 358 Z
Smith, Alex, 285
Smith, Peter, 218 Zermelo, Ernst F. F., 42, 157, 165, 174,
Q Smullyan, Raymond M., 267, 289 202
Solomonoff, Ray, 341, 344 Zi, Sun, 216
Quine, Willard Van Orman, 149 Solovay, Robert M., 65, 398 Zorn, Max August, 164
Lebensdaten
Wilhelm Ackermann
1896 1962
Paul Bernays
1888 1977
George Boole
1815 1864
Luitzen Brouwer
1881 1966
Cesare Burali-Forti
1861 1931
Georg Cantor
1845 1918
Alonzo Church
1903 1995
Paul Cohen
1934 2007
Richard Dedekind
1831 1916
Abraham Fraenkel
1891 1965
Gottlob Frege
1848 1925
Gerhard Gentzen
1909 1945
Kurt Gödel
1906 1978
Reuben Goodstein
1912 1985
Leon Henkin
1921 2006
David Hilbert
1862 1943
Stephen Kleene
1909 1994
Andrej Kolmogorov
1903 1987
Leopold Kronecker
1823 1891
Joseph Liouville
1809 1882
Martin Löb
1921 2006
Leopold Löwenheim
1878 1957
Anatoly Malcev
1909 1967
John von Neumann
1903 1957
Giuseppe Peano
1858 1932
Emil Post
1897 1954
Rosza Peter
1905 1977
Mojzesz Presburger
1904 1943
Julia Robinson
1919 1985
Barkley Rosser
1907 1989
Bertrand Russell
1872 1970
Thoralf Skolem
1887 1963
Ray Solomonoff
1926 2009
Alfred Tarski
1901 1983
Alan Turing
1912 1954
Alfred Whitehead
1861 1947
Ernst Zermelo
1871 1953
1800 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020
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