You are on page 1of 152

Hausmitteilung

24. März 2014 Betr.: NSA, Bettler, Ukraine

S eit Monaten präsentieren die SPIEGEL-Redakteure Marcel Rosenbach und


Holger Stark immer neue Erkenntnisse zur NSA-Affäre. In dieser Ausgabe
setzen sie ihre Berichterstattung fort: mit einem Text über das erbitterte Kräfte-
messen zwischen den USA und China, das zurzeit im Internet zu beobachten ist –
und mit einem Gespräch mit Michael Hayden, Direktor der NSA von 1999 bis
2005 und in jener Zeit zuständig für das Abhören deutscher Regierungschefs. Der
Artikel belegt, dass die NSA nicht nur die Staatsführung in Peking attackiert, son-
dern auch chinesische Kon-
Marcel Rosenbach
Holger Stark zerne wie Huawei. Beim In-
DER NSA terview traf Stark auf einen
KOMPLEX
Edward Snowden
nachdenklichen Ex-General,
der sich ernsthaft Sorgen
und der Weg in die totale
Überwachung macht um die deutsch-ameri-
kanischen Beziehungen und
CARSTEN KOALL

den Eindruck vermittelt, die


Affäre tue ihm zumindest in
Teilen leid. Mehr über die
Stark, Rosenbach NSA und ihre Aktivitäten fin-
det sich in einem neuen Buch,
das Rosenbach und Stark veröffentlichen. Es trägt den Titel „Der NSA-Komplex:
Edward Snowden und der Weg in die totale Überwachung“ und schildert bislang
unbekannte Operationen der NSA. Das Buch ist vom 31. März an im Buchhandel
erhältlich (Seite 84).

A
ls SPIEGEL-Redakteurin Katrin Kuntz begann, in der Hamburger Innenstadt
Kontakte zu rumänischen Bettlern zu knüpfen, stand sie vor einem grund-
sätzlichen Problem: Sie konnte sich mit ihnen nicht unterhalten. Die Männer und
Frauen sprechen kein Deutsch, kein Englisch, kein Französisch; und Kuntz spricht
kein Rumänisch. So brauchte sie zahlreiche Versuche, bis sie schließlich auf einen
Bettler traf, mit dem sie sich verständigen konnte. Er hatte zwei Jahre in Spanien
gearbeitet, auf dem Bau. Mit Hilfe des ehemaligen Maurers erhielt Kuntz Zutritt
zu einer abgeschotteten Parallelwelt, die so in vielen deutschen Städten existiert.
Kuntz lernte die Regeln kennen, nach denen die Mitglieder des Hamburger Bet-
tel-Clans arbeiten, sie nahm an der Ausbildung von Anfängern teil, fuhr mit ihnen
im Bus nach Rumänien, traf auch den Boss des Clans. „Das ist das wirklich Un-
gerechte“, sagt Kuntz, „er erhält den Großteil des Geldes, bis zu 90 Prozent“
(Seite 52).

D er Kampf um die Ukraine wird nicht nur mit Waffen aus-


gefochten, sondern auch mit Worten. SPIEGEL-Redakteur
Georg Diez war Zeuge vieler Sprachscharmützel, als er in der ver-
gangenen Woche durch das Land reiste, um Schriftsteller zu treffen,
die in der Krise zu Vorbildern wurden. Diez traf Serhij Zhadan,
der im Osten der Ukraine von bezahlten Schlägern attackiert wor-
den war; er traf Irena Karpa, die in Kiew mit ihrem Auto Verwun-
FABIAN WEISS / DER SPIEGEL

dete ins Krankenhaus gefahren hatte. Mit ihnen und anderen sprach
Diez über die Gegenwart, die mögliche Zukunft des Landes, und
er musste feststellen, dass viele seiner Gesprächspartner nicht
wagen, auf eine schnelle Entscheidung zu hoffen. Der Schriftsteller
Andrej Kurkow formuliert es so: „Ob es ein Erfolg wird oder ein
Diez Misserfolg, das wissen wir erst in vielen Jahren“ (Seite 128).

Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 3
In diesem Heft
Titel
Der Geisterflug von MH 370 erschüttert
den Glauben an die Allmacht der Technik ... 110
Pilot Bill Palmer über Feuer
an Bord von Flugzeugen und das Drama
der Unglücksmaschine .................................. 118
Deutschland
Panorama: Reform der Richterwahl /
Jung gegen Alt – Rentenstreit in der Union /
Kaum Spenden für Berliner Stadtschloss ........ 12
Außenpolitik: Angela Merkels Kurvenfahrt
durch die Krim-Krise ...................................... 16
China soll erstmals den Westen gegen
Putin stärken .................................................. 18
Kommentar: 100 lange Tage Große Koalition ... 20
Karrieren: Peer Steinbrück sucht immer noch
ein Leben danach ........................................... 22
Affären: Der Streit um einen Ausschluss JOHN THYS / AFP

Sebastian Edathys spaltet die SPD ................. 26


Bundesländer: Warum es Ministerpräsidenten Merkel in Brüssel
nicht mehr nach Berlin zieht .......................... 28
Internet: Wie sich drei Minister auf dem
wichtigsten Zukunftsfeld des Landes tummeln 33
Friedensmissionen: Interview mit dem
deutschen Leiter der Uno-Interventionstruppe
im Kongo, Martin Kobler ............................... 34
Eine Frage der Perspektive
Strafjustiz: Ist der Versuch, eine Bombe zu Seite 16: In der Krim-Krise muss Merkel alles auf einmal: Putin bändigen,
basteln, schon Terrorismus? ........................... 36 die EU zusammenhalten, die Deutschen beruhigen und die Ukraine retten.
Bundestag: Die lukrativen Nebenjobs Einen Plan hat sie nicht.
der Abgeordneten .......................................... 37
Kriminalität: Wie US-Agenten einen ehemaligen
Bundeswehrscharfschützen erst als Killer Seite 78: Die Krim-Krise offenbart auch, wie wenig die Russen den Westen
anheuerten und dann ins Gefängnis brachten 38 verstehen und umgekehrt. Präsident Putins nationalistischer Kurs trifft selbst
Europawahl: Die Konservativen würden gern bei seinen Gegnern auf Zustimmung. Sogar Sanktionen könnten ihn kurz-
loslegen, aber sie wissen noch nicht, wie ........ 41 fristig eher stärken und die antiwestliche Mehrheit im Land konsolidieren.
Medizin: Schwere Vorwürfe gegen
Sylter Klinik ................................................... 42 Seiten 128, 132, 134: Die Zukunft der Ukraine beeinflussen nicht nur
Menschenrechte: Amnesty-International- Politiker, sondern auch Worte und Bilder. Im Osteuropa-Schwerpunkt des
Generalsekretär Salil Shetty SPIEGEL-Kulturteils bieten Intellektuelle ihre Sicht auf die Unruhen.
kritisiert die EU-Flüchtlingspolitik und
Merkels Schweigen ......................................... 44
Wohnungen: Wenige Bundesländer hantieren
mit der neuen Mietpreisbremse ..................... 46
Essay: Die Rückkehr zur neunjährigen
Schuldauer wird die Gymnasien schwächen ... 48
Gesellschaft
Der Neustart Seite 22
Szene: Gesegneter Honig / Hat die Erde doch Peer Steinbrück genoss seine Auftritte als Bollerkopf der deutschen
nicht zu viele Menschen? ............................... 50 Politik, dann kam die verunglückte Kampagne als Kanzlerkandidat der SPD.
Eine Meldung und ihre Geschichte – Nun versucht er, sein Leben wieder ins Lot zu bringen.
ein Forscherpaar in Dresden untersucht
4000 Jahre alten Käse ..................................... 51
Unternehmer: In Hamburg hat sich eine
Bettlerfamilie wie eine Firma organisiert ....... 52
Ortstermin: Wie Militärpfarrer Krieg und
Frieden sehen ................................................. 58 Zärtlicher
Wirtschaft
Trends: VW ändert Modellstrategie / Computer Seite 138
Deutsche-Bank-Chef Jürgen Fitschen riskiert Was passiert, wenn Mensch
den Prozess / Mehr Geld für Quandt & Co. ... 59 und Maschine einander
Energie: Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel
will die Industrie vor steigenden Strompreisen lieben? Der Oscar-prämierte
bewahren ....................................................... 60 Film „Her“ und das Buch
Verkehr: Die Bilanz des Bahn-Chefs „Eine vorläufige Theorie der
Rüdiger Grube fällt bescheiden aus ................ 63 Liebe“ spielen mit dieser
Währungen: Frankfurt soll wichtigster Idee. Im Film gilt die Begeis-
europäischer Handelsplatz für Chinas Währung terung einem Betriebssystem
Yuan werden .................................................. 64 mit weiblicher Stimme, im
Landwirtschaft: Lasche Kontrollen erleichtern
den Betrug mit angeblichen Bio-Eiern ........... 66
Buch dem Datensatz des ver-
Geldanlage: Betreiber von Schiffsfonds fordern storbenen Vaters. Beide
WARNER BROS.

Ausschüttungen zurück .................................. 68 erzählen von einem fast per-


Gesundheit: Reform der gesetzlichen Joaquín Phoenix in „Her“ fekten Verhältnis – bis die
Krankenkassen nützt privaten Anbietern ......... 70 Maschinen sich emanzipieren.
4 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Medien
Trends: G + J prüft Verkauf seiner Immobilie /
Nena verlässt „The Voice of Germany“ ......... 71
TV-Events: Warum die Sender wie nie zuvor
auf zeitgeschichtliche Themen setzen ............ 72
Ausland
Panorama: Angst vor Wahlfälschungen in der
Türkei / Südafrikas korrupte Regierungspartei 76
Ukraine: Die Krim-Krise und der Westen,
vom Kreml aus gesehen ................................. 78
Geheimdossier über Putins Mann auf der Krim
und dessen Verbindungen zur Mafia .............. 81

ZUMA WIRE / ZUMA PRESS / ACTION PRESS


Israel: Ein Treffen mit dem Minister, der den
Friedensprozess scheitern lassen möchte ....... 82
NSA: Neue Unterlagen offenbaren den Kampf
amerikanischer und chinesischer
Geheimdienste um die Vorherrschaft im Netz 84
SPIEGEL-Gespräch mit Ex-NSA-Direktor
Michael Hayden über Edward Snowden und
das Handy der Kanzlerin ............................... 92
Betende in Malaysia Afghanistan: Der schüchterne Präsidentschafts-
kandidat Rassoul im Wahlkampf in Jalalabad 95
Global Village: Ein Ire möchte die
letzte französische Baskenmützen-Manufaktur
Das Rätsel um Flug MH 370 Seite 110 retten ............................................................ 100
Sport
Vor mehr als zwei Wochen verschwand eine Boeing 777 mit 239 Menschen Szene: Neue Ticketbörse für Fußballfans /
an Bord. Ermittler versuchen, das Rätsel von Flug MH 370 zu lösen. Profi-Tennis lockt Zocker an ........................ 103
Kieler Ozeanografen wollen mit ihrem Spezial-U-Boot bei der Suche helfen. Abenteuer: Im portugiesischen Nazaré lauern
Extremsurfer auf die Rekordwelle ................ 104
Fußball: DFL-Chef Christian Seifert über
die Dominanz des FC Bayern ....................... 107
Wissenschaft · Technik
Operation Hochofen Seite 60 Prisma: Deutsche sind Weltmeister beim Ärzte-
Hopping / Der Humor der alten Ägypter ..... 108
Um Jobs in der Industrie zu sichern, drückt SPD-Chef Gabriel die Kosten der Umwelt: Führt die globale Erwärmung tatsächlich
Energiewende vor allem den privaten Stromkunden auf. Experten haben zu einem massenhaften Artensterben? ........... 120
errechnet: Die Wirtschaft könnte künftig deutlich weniger für Ökostrom zahlen. Bildung: Wie Verlage das elektronische Ausleihen
wissenschaftlicher Werke behindern ............. 122
Linguistik: Die Sprachpolizei – in deutschen
Amtsstuben und Klassenzimmern breitet sich
geschlechtergerechtes Blähdeutsch aus ......... 124

Schmu mit Bio-Eiern Seite 66


Kultur
Szene: Verfilmung des Reportagebuchs
„Deutschboden“ / Eine Professorin
Produzenten in Mecklenburg haben Millionen Bio-Eier in den Handel
über Sebastian Edathys Äußerungen
gebracht, die den Namen nicht verdienen. Im Mittelpunkt der Ermittlungen zum Knaben-Akt in der Kunst ...................... 126
steht die Erzeugergruppe Fürstenhof, die auch Rewe und Edeka beliefert. Unruhen in Osteuropa: Eine Reise zu
ukrainischen Schriftstellern .......................... 128
Der Historiker Frank Golczewski über den
Einfluss starrer Geschichtsbilder auf die
Krise zwischen Russland und dem Westen ... 132
Warten auf die Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland
hat eine Serie über die Niederschlagung des
Prager Frühlings gedreht .............................. 134
Riesenwelle S. 104 Internet: Ein neues Kinowerk und ein
Roman erzählen von der Liebe zwischen
In einem Tiefseegraben vor Mensch und Computerwesen ....................... 138
Nazaré in Portugal entstehen Theater: Karin Bergmann, die erste Frau auf
nach schweren Stürmen Wel- dem Chefsessel der Wiener Burg, erläutert den
len im Hochhausformat. Profi- katastrophalen Zustand des Bühnenhauses ... 140
surfer aus aller Welt belagern Bestseller ..................................................... 141
Filmkritik: Captain America, Held der
den Fischerort, um den Comic-Adaption „The Return of the First
Rekordbrecher zu erwischen, Avenger“, muss die USA bekämpfen ........... 142
darunter auch der deutsche
Extremsportler Sebastian Briefe ............................................................... 6
Steudtner. Der Bürgermeister Impressum, Leserservice .............................. 144
von Nazaré vermarktet das Register ........................................................ 146
TOMANEPHOTOS

riskante Spiel mit den Natur- Personalien ................................................... 148


gewalten inzwischen erfolg- Surfer an der Küste vor Nazaré Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 150
Titelbild: Foto: Montage DER SPIEGEL, Foto Mauritius images
reich als Touristenattraktion. Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/briefkasten

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 5
Briefe

den Vermögensverhältnissen des Täters,


das wäre hier richtig gewesen. Im Gefäng-
„Das Absurdeste, was ich je vernommen nis hat Hoeneß nichts verloren. Hoeneß
ist und bleibt ein Mensch, dem man je-
habe, ist, dass man versucht, erworbene derzeit die Hand geben kann.
DR. REINHOLD LÜHMANN, ALLENSBACH
Verdienste als mildernde Umstände
anzuführen. Wer sich schuldig macht, der Last but not least kann auch das gericht-
liche Urteil nicht überzeugen. Denn wenn
hat dafür geradezustehen, gleich was 28,5 Millionen Euro Steuerschulden zu
einer Strafe von nur drei Jahren und
immer er ist oder angeblich Gutes er tat.“ sechs Monaten Gefängnis ohne Bewäh-
HANS FANDER, KIEL rung führen, dann stellt sich die Frage,
wie vieler Millionen Steuerschulden es
SPIEGEL-Titel 12/2014 bedarf, um die gesetzliche Höchststrafe
von zehn Jahren Haft auszuschöpfen.
ERHARD LEDERMANN, MASSBACH-POPPENLAUER
Nr. 12/2014, Game Over stärksten Fußball-Club der Welt gemacht.
Dafür gebührt ihm mein Respekt. Angesichts der gewaltigen Gewinne, die
Längst unten durch Menschlich dagegen ist Hoeneß bei mir
längst unten durch. Es waren seine anma-
Uli bei seinen Spekulationen erreicht hat,
drängt sich die Frage auf, ob diese ohne
Strafmaß und Höhe der Steuerschuld hin ßenden wie arroganten Stammtischparo- Insider-Wissen überhaupt möglich waren.
oder her. Ich würde es begrüßen, wenn len, seine ebenso radikale wie platte, ja Seine befreundeten Dax-Vorstände sind
die Zahlen eine öffentliche Diskussion unausgereifte bis dumme politische An- sicherlich an einer schnellen Beendigung
und einen politischen Prozess über die schauung, die er in Politainment-Sendun- des Verfahrens interessiert und werden
Reichtumsverteilung in Gang bringen gen und auf so mancher Jahreshauptver- es ihm danken, dass er die Schuld allein
würden. Denn wie kann ein einzelner sammlung vollmundig kundtat. auf sich nimmt.
Mann solche Mengen an Geld besitzen? THOMAS JOHANN KICK, BERLIN ROLF LEMKE, MÜLHEIM AN DER RUHR
Eine gerechtere Verteilung der in
Deutschland existierenden Gelder sollte Hoeneß hat unbestritten falsch gehandelt.
die wichtigste Erkenntnis aus diesem Ge- Dafür wurde er im Rahmen der Gesetze
richtsprozess sein. bestraft. Er zeigte Reue, indem er „alles“
MICHAEL BLANK, LEUTENBERG (THÜR.) offenlegte und auf die Revision verzichte-
te. So akzeptiert er die Verurteilung für
Der Tenor Ihrer Titeldarstellung bereitet sein Handeln. Der Mann war krank, ge-
PRESSEFOTO ULMER / GETTY IMAGES

mir Unbehagen, weil darin ein totalitäres fangen in der Sucht, wie er selbst sagte.
Staatsverständnis durchschimmert und Jetzt ist Hoeneß selbst Opfer geworden,
die SPIEGEL-Affäre von 1962 wohl ver- in einer Gesellschaft, in der Habsucht und
gessen wurde. Ulrich Hoeneß ist vermut- Gier dominieren. Viele Menschen haben
lich nur ein Opfer seiner Prominenz und jahrzehntelang durch seine Schaffenskraft
des damit verbundenen Medienrummels, profitiert, ohne zu hinterfragen, was ihn
dem man Rechnung tragen musste. antrieb. Offenkundig ist seine eigentliche
KLAUS MÜLLER, ESSEN Bayern-Boss Hoeneß (r.) 2013 Suche nach dem Sinn des Lebens nicht er-
füllt, sondern nur kompensiert worden.
Das Titelbild ist ein übles und allzu billi- Wer mit so hohen Summen zockt, der PETER KOWALTSCHIK, FREIBURG I. BR.
ges Nachtreten und unter Ihrer Würde. muss doch wissen, dass man beim Zocken
WOLF BRUNS, MÜNCHEN nur dann viel Geld verdienen kann, wenn Ein Appell an alle, die sich als Ulis Freun-
andere Menschen sehr viel verlieren, weil de und Unterstützer betrachten: Auch je-
Das Titelbild ist hämisch, reißerisch, in- sie sich nicht so gewiefte Finanzberater den Einzelnen von euch hat er bestohlen,
fam, unzutreffend – allenfalls „Auszeit“ leisten können. Und wenn die Zockerei so wie alle seine Kumpels beim FC Bayern
hätte man es nennen dürfen. dann auch noch im Ausland abgewickelt und 80 Millionen andere Einwohner die-
MANFRED L. SCHUERMANN, ESSEN wird, dann geschieht dies, weil diese Zo- ses Landes, denn nichts anderes ist Steu-
cker sowohl große Teile ihres Vermögens erbetrug doch. Wegen jedes einzelnen die-
Was soll der blöde Anglizismus? Der Ar- als auch ihre Geldgeschäfte und die hier- ser 80 Millionen Diebstähle wäre einer
tikel ist nur eine Schmähschrift, nichts mit erzielten und im Inland zu versteu- Kassiererin fristlos gekündigt worden.
über die Hintergründe, nichts über das ernden Kapitalerträge bewusst verheim- PETER HEINRICHS, GERMERING (BAYERN)
Motiv, kein Gedanke an eine Sucht und lichen wollen. Das ist keine leichtfertige
nichts über das Wie. Steuer-Verkürzung, sondern -Hinterzie- Wenn unsere Kanzlerin „Respekt“ äu-
VEIT HENNEMANN, KÖLN hung und somit strafbar! Wer so handelt, ßert, dann geht das entschieden zu weit.
der ist kein Gutmensch und auch kein Respekt dafür, dass ein Steuerbetrüger
Ich finde das Urteil angemessen. Ein gu- Wohltäter! Der ist eindeutig unsozial! eine von einem ordentlichen Gericht aus-
ter Tag gegen die widerliche bajuwarische WERNER ORTMANN, KORSCHENBROICH (NRW) gesprochene Strafe nun auch antritt? Das
Amigo-Vetternwirtschaft. Wie auf dem ist unerhört. Was ist denn nur in diesen
Platz als aktiver Spieler, wo Hoeneß seine Die Strafe ist aus juristischer Sicht sicher- Köpfen los? Ich hätte von Merkel erwar-
ausgezeichnete Technik mit viel (Ellen- lich korrekt, ich halte sie aber weder für tet, dass sie Respekt äußert für all jene
bogen-)Einsatz überhaupt erst zum Erfolg gerecht noch für klug. Sie sollte in der Menschen, die brav ihre Steuern zahlen
brachte, hat er über mehr als 30 Jahre als gleichen Dimension erfolgen, in der auch und denen von solchen Summen, wie sie
ausgezeichneter Manager den FC Bayern die Untat begangen wurde. Heißt hier: da im Raum stehen, schwindlig wird.
München zum weltbesten und wirtschafts- Geld! Eine hohe Geldstrafe, abhängig von REINHARD STARK, BERLIN

6 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Briefe

Nr. 11/2014, Der europakritische Kurs der Die Prozenthürden müssen im Europa-
Karlsruher Richter parlament nicht aufgestellt werden, weil
seine Entscheidungsfähigkeit dadurch
Die richtige Wunde nicht gefährdet wird. Es hat zu wenig zu
sagen. Wenn ihm also mehr Macht ver-
Wie gut, dass dem Bürger noch das Bun- liehen wird, muss die Prozenthürde wie-
desverfassungsgericht (BVerfG) bleibt. In- der eingezogen werden. Für unser Parla-
soweit finde ich den Artikel enttäuschend. ment ist die Sachlage eine total andere.
Es spricht für sich, dass die Politiker ein Es ist eine funktionierende Legislative.
solches Korrektiv skeptisch betrachten. Es Herr Voßkuhle muss sich nicht verteidi-
ist seine Aufgabe, das staatliche Handeln gen. Nirgendwo. Seine Urteile und die
im Kontext der Verfassung und damit der seiner Kollegen sind mir stets willkom-
Gesetze einzufordern. Dass dabei einiges mene Schlussworte.
anders läuft und sich mancher Parlamen- GRETEL DÖBRICH, BERLIN
tarier in seiner selbstgefühlten Größe be-
einträchtigt fühlt, zeigt, dass das BVerfG
den Finger in der richtigen Wunde hat. Nr. 11/2014, Wie Joachim Gauck seine
CARSTEN KAYATZ, OFFENBACH AM MAIN Rolle gefunden hat
Wenn der SPIEGEL versucht, ein Urteil
des BVerfG zu zerreißen, so zeigt mir das,
Emotional und eitel
dass das Gericht völlig richtigliegt!
HEINZ-R. GÖRITZ, ESSEN

Es ist völlig normal, dass ein Gericht, das


seine Aufgabe, über die Einhaltung einer
Verfassung zu wachen, ernst nimmt, mit
Politikern kollidiert. Diese neigen als Ge-

PPE / FACE TO FACE


setzgeber immer wieder dazu, Verfassung
Verfassung sein zu lassen, wenn es um
„höhere Interessen“ geht. Dass dabei
mangels gesetzlicher Regelung das
BVerfG zwangsläufig als Ersatzgesetzge- Staatsgast Gauck in Amsterdam 2012
ber tätig werden müsste, ist ebenso nor-
mal, weil zwingend. Dies gilt insbeson- Anscheinend ein guter Beobachter politi-
dere, wenn es sich um Entscheidungen scher und menschlicher Schwächen, erliegt
von Institutionen der EU handelt, die Gauck selbst emotional und eitel immer
durch nichts und niemanden demokra- wieder dem süßen Sog der Popularität,
tisch legitimiert sind, sich dennoch anma- über den er sich bei anderen aufregt.
ßen, in die Rechtssysteme von National- SIEGFRIED F. STORBECK, HAMBURG
staaten hineinzuregieren und originäre
Rechte von Parlamenten beiseitezuschie- Vielleicht sind ja die „lieben Deutschen“
ben und Verträge kaltlächelnd zu brechen. deshalb so miesepetrig, weil sie einen Bun-
JENS-CARSTEN PETERSEN, VELLMAR (HESSEN) despräsidenten haben, der sich im Ausland
immer wieder negativ über ihre Eigen-
Die „Anmaßung“ des BVerfG, sich in Ent- schaften äußert. Undenkbar bei einem
scheidungen der Europäischen Zentral- amerikanischen, französischen, polnischen
bank (EZB) einzumischen, ist sehr zu be- Staatsoberhaupt! Es ist natürlich leicht,
sich über Sicherheitsdenken lustig zu ma-
chen, wenn man sich über die Altersver-
sorgung keine Gedanken machen muss.
ANGELIKA SCHILLING, KANDEL (RHLD.-PF.)

Wie kann man erwarten, dass Nachbar-


länder von der deutschen Mentalität be-
geistert sind, wenn der Bundespräsident
UWE ANSPACH / DPA

über seine eigenen Landsleute ein so ne-


gatives Bild verbreitet? Niemals würde der
König oder der Ministerpräsident so etwas
machen, und ich kann als in Holland le-
Verfassungsrichter Voßkuhle (2. v. l.) bende Deutsche versichern, dass auch hier
nicht alles Gold ist, was glänzt.
grüßen. Das Lamento der Europapoliti- BABETTE KLECKER, AMSTERDAM
ker, das BVerfG verstehe nicht, wie die
europäische Demokratie funktioniere, Mir war bisher nicht klar, dass seine
zeigt einen bedenklichen Mangel an Klar- „Sprecher“ darüber befinden, was der
sicht: Eine echte europäische Demokratie Präsident sagen darf oder nicht. Welchen
gibt es bis jetzt noch gar nicht. Sinn hat denn dann noch das Amt?
DR. HOLGER EHRHARDT, LORCH (BAD.-WÜRTT.) KLAUS SCHLEBUSCH, SCHNEVERDINGEN

8 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Briefe

Nr. 11/2014, Ein 30-jähriger Nierenkranker


will nicht mehr zur Dialyse und beschließt,
in einem Hospiz zu sterben

Ändert die Regeln!


Der Artikel hat sehr eindrucksvoll die Ge-
schichte eines von Kindesbeinen an chro-
nisch kranken Menschen aufgezeigt. Je-
doch reicht diese Beschreibung nicht an-
nähernd aus, um tatsächlich zu verstehen,
was in Jürgen selber vorgeht. Die Ausein-
andersetzung mit sich selbst ist die größte
Aufgabe, die diese Patienten haben – nicht
alle schaffen das und geben einfach auf.
Auch wird hier noch nicht deutlich ge-
macht, welche Hürden sie im überversorg-
ten Deutschland zum Teil überwinden
müssen, bis sie allein nur die vom Sozial-
gesetzbuch vorgesehenen Leistungen tat-
sächlich erhalten. „Nach Aktenlage ab-
gelehnt“ – diesen Satz habe ich in den
letzten 15 Jahren so oft gelesen. Auch ich
werde auf ein Organ zur Transplantation
warten müssen (wegen Mukoviszidose)
und kann nur sagen: Ändert die Regeln!
MARCUS HAUSMANN, AMRUM (SCHL.-HOLST.)

DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL


Dialysepatient Jürgen

Dieser Artikel hat mich wirklich betroffen


gemacht, und ich finde die Regelung, dass
man eine Organspende ablehnen und
nicht zustimmen muss, immer besser und
sinnvoller. Ich hoffe, dass solche Artikel
auf Dauer ein Umdenken bewirken, und
wünsche Jürgen alles Gute.
PAUL F. KNIZEWSKI, HERFORD (NRW)

Glücklicherweise ist diese dramatische Pa-


tientenvita eine Ausnahmesituation eines
Dialysepatienten. Vielen, wenn nicht so-
gar der überwiegenden Mehrheit geht es
mit der Therapie deutlich besser als vor-
her, und sie haben, trotz aller Einschrän-
kungen, eine gute Lebensqualität. Leider
erreichen Sie mit Ihrem Artikel aber auch
viele Patienten, die in Kürze dialysepflich-
tig werden und sich in Alpträumen wälzen
werden. Wir Ärzte versuchen, unsere Pa-
tienten behutsam auf diesen neuen Le-
bensabschnitt vorzubereiten. Insofern
bleibt die Hoffnung, dass viele unent-
schiedene Organspender sich jetzt für eine
Spende entscheiden, aber dass auf der an-
deren Seite zukünftige Dialysepatienten
diesen Artikel nicht gelesen haben.
DR. MED. STEFAN HOFEBAUER, RECKLINGHAUSEN

10 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Ich empfehle, den Begriff „Halbwesen“ in
die Liste für das „Unwort des Jahres“ ein-

JOCHEN TACK / GLOWIMAGES / IMAGEBROKER


zutragen. Immerhin verkneift sich Frau
Lewitscharoff Formulierungen wie „nicht
artgerecht“ oder „lebensunwert“ – aber
ich spüre schon ein kräftiges Würgen im
Hals, wenn ich mir vorstelle, dass die
durch „Fortpflanzungsgemurkse“ entstan-
denen Kinder später einmal davon hören,
dass sie von einer Schriftstellerin als „zwei-
felhafte Geschöpfe“ bezeichnet wurden.
Kühlbehälter in Kinderwunschklinik BERND BOECK, MÜNCHEN

Nr. 11/2014, Autorin Sibylle Lewitscharoff In ihrem Eifer, alles „Widernatürliche“ zu


rechtfertigt sich für ihre Skandalrede verteufeln, stellt Lewitscharoff Zusam-
menhänge her, wo keine sind, so zwischen
Unworte des Jahres Kindern in der Dritten Welt und der Re-
produktionsmedizin. Nun können wir mit
Frau Lewitscharoff referiert im Hinblick Verzicht auf Reproduktionsmedizin ge-
auf die Reproduktionsmedizin im Grunde nauso wenig den leidenden Kindern an-
die katholische Position – ohne klerikale derswo helfen, wie durch Verzicht auf ein
Beweihräucherung. Mit ihren in der Sache Stück Brot ein Hungernder in Afrika satt
klugen Argumenten zeigt sie, dass die Ab- wird. Diese Erkenntnis ist – dachte ich –
lehnung einer (überbordenden) Technisie- den meisten Leuten geläufig. Weit gefehlt.
rung von Geburt und Tod einen tiefen RAINER SCHULZ, DRESDEN
Sinn hat. Die Aufregung um ihre Rede
macht die Widersprüchlichkeit unserer Ge- Wer in anderen Zusammenhängen von
sellschaft deutlich: Was Ernährung angeht, „zweifelhaften Geschöpfen“ oder „Halb-
will man auf jeden Fall Öko und keine wesen“ spräche, hätte wohl zu Recht eine
Gentechnik; bei dem, was den Menschen Klage wegen Volksverhetzung am Hals.
in seinem Existentiellsten betrifft, spielt Diffamiert man so eine Bevölkerungs-
das Natürliche dann keine Rolle mehr. gruppe ohne Lobby, bekommt man zur
RÜDIGER HAGENS, HEINSBERG (NRW) Belohnung bei Ihnen ein Interview mit
verständnisvollen Fragen, in dem man
Circa 900 000 Paare in Deutschland wün- auch noch für seine Bücher werben darf.
schen sich ein Kind – und kein „Designer- RAHEL SEEMANN, SCHÖNWALDE-GLIEN
baby“ – und sind dafür auf medizinische (BRANDENBURG)
Hilfe angewiesen. Selbstverständlich ist
es wichtig, sich der Grenzen der medizi- Wie kommt diese Person auf die Idee, dass
nischen Machbarkeit bewusst zu sein, und Paare, die sich mit künstlicher Befruch-
nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten tung beschäftigen, mit einer „ungeheuren
der Kinderwunschbehandlung bleibt die Leichtigkeit, einer Ahnungslosigkeit von
Hälfte aller behandelten Paare kinderlos, Verantwortung“ an die Sache herangehen
die andere Hälfte kommt aber zu ihrem würden? Warum soll man seine Kinderlo-
Wunschkind. Diese Kinder – weltweit cir- sigkeit als schicksalhaft hinnehmen, wenn
ca fünf Millionen – entwickeln sich in der diese Person den Rest der Hightech-Me-
Regel völlig normal. Unsere Gesellschaft dizin gern in Anspruch nimmt? So viel
arbeitet erfolgreich daran, der Stigmati- Doppelmoral muss man lange suchen.
sierung ungewollt kinderloser Paare ein TOBIAS ANGELE, FREIBURG I. BR.
Ende zu setzen und das Thema aus der
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
Tabuzone zu holen. Menschliche Urängste Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-
hinsichtlich der Entstehung von Leben zu tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
aktivieren hilft da nicht. leserbriefe@spiegel.de
DR. TEWES WISCHMANN, HEIDELBERG, In dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich im Mittelbund
DT. GESELLSCH. FÜR KINDERWUNSCHBERATUNG ein vierseitiger Beihefter der Firma Digel, Nagold.

Aus der SPIEGEL-Redaktion


Der Erste Weltkrieg forderte mehr als 15 Millionen Tote, brachte
Hunger, Elend und Zerstörung über weite Teile Europas und
den Zerfall einst mächtiger Imperien. Hundert Jahre nach seinem
Ausbruch bieten Historiker und SPIEGEL-Autoren einen Über-
blick über die Ursachen, den Verlauf und die Konsequenzen die-
ses ersten totalen Kriegs und zeigen, wie vielfältig er die Welt
bis in unsere Tage hinein prägt. Das SPIEGEL-Buch, in Koopera-
tion mit der Deutschen Verlags-Anstalt, erscheint am 24. März.
Es kostet 19,99 Euro; das E-Book ist für 15,99 Euro erhältlich.
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 11
ANDY RIDDER / VISUM Panorama

Ankleideraum im Bundesverfassungsgericht

R I C H T E R WA H L
Juristen, die bisherige Praxis verstoße gegen das Grundgesetz.
In Artikel 94 heißt es, dass die Richter am Verfassungsgericht
je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden.
Im Namen des Plenums Im Bundestag entscheidet aber bisher nicht das Plenum,
sondern ein Wahlausschuss, dem nur zwölf Abgeordnete
angehören. Dieses Verfahren kritisierte auch der amtierende
Die Richter am Bundesverfassungsgericht sollen nach dem Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle in einem
Willen der schwarz-roten Regierungskoalition künftig direkt Grundgesetzkommentar: „Von nicht unerheblichen Teilen
vom Bundestag gewählt werden. Darauf hätten sich Unions- der Literatur wird diese Regelung zu Recht für verfassungs-
Fraktionschef Volker Kauder und dessen SPD-Kollege widrig gehalten.“ Nach den Plänen der Großen Koalition soll
Thomas Oppermann in der vergangenen Woche verständigt, künftig der Wahlausschuss lediglich einen Vorschlag zur
heißt es in der Spitze der Großen Koalition. Mit der Geset- Wahl eines Richters abgeben. Die Entscheidung trifft dann
zesänderung wollen Union und SPD dem Vorwurf begegnen, das Plenum. Um die Kandidaten nicht durch parteipolitisch
dass die höchsten deutschen Richter in einer Art Geheim- motivierte Personaldebatten zu beschädigen, soll auf eine
gremium ausgekungelt werden. Zudem kritisieren namhafte Aussprache im Bundestag verzichtet werden.

MINDESTLOHN
flügels der Union fordern eine
höhere Altersgrenze von min-
destens 21 Jahren, damit junge
Aufträge an die Menschen nicht verleitet wür-

Arbeitsministerin den, einen 8,50-Euro-Job anzu-


nehmen statt eine schlechter be-
zahlte Ausbildung zu beginnen.
RONALD WITTEK / DAPD

Gilt der geplante Mindestlohn schon ab In 21 EU-Mitgliedstaaten gibt es


18 – oder doch erst von einem höhe- einen allgemeinen gesetzlichen
ren Alter an? Das sollen die Bundesmi- Mindestlohn; nur in drei Staaten
nisterien noch einmal prüfen, wenn sie liegt die Altersgrenze über 18 Erntehelferin bei Speyer
über den Gesetzentwurf zum Mindest- Jahren. Arbeitsministerin An-
lohn abstimmen. So haben es die Par- drea Nahles (SPD) erhielt von
teivorsitzenden Angela Merkel (CDU), den drei Parteichefs weitere Aufträge. boten erwartet werden. Zudem soll sie
Horst Seehofer (CSU) und Sigmar Sie soll die Zeitungsverleger auffor- eine Lösung für Erntehelfer finden. Zur
Gabriel (SPD) in der vorigen Woche dern, einen Vorschlag für jene Gebiete Kontrolle des Mindestlohns will das
beschlossen. Insbesondere Vertreter zu unterbreiten, in denen Probleme Bundesfinanzministerium bis zu tau-
der Arbeitgeber sowie des Wirtschafts- mit dem Mindestlohn für Zeitungs- send neue Stellen beim Zoll einrichten.
12 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Deutschland

Z U WA N D E R U N G
Mittwoch vom Kabinett verabschiedet werden soll, kommt
zu dem Ergebnis: „Der größte Anteil der Zugewanderten
sind Arbeitnehmer“, die „zum Wohlstand in unserem Land
Wohlstand plus Probleme beitragen“. Der Bericht konstatiert zugleich, „dass mit der
Zuwanderung auch erhebliche Probleme verbunden sein
Um einen Missbrauch von Sozialleistungen durch Zuwande- können“. Gegen möglichen Missbrauch soll eine Reihe von
rer aus anderen EU-Staaten wie Bulgarien und Rumänien zu Maßnahmen helfen, etwa eine gesetzliche Befristung des
verhindern, will die Bundesregierung die Kontrollen ver- Aufenthaltsrechts zur Arbeitssuche. Soweit es das Europa-
schärfen. Zugleich will der Bund 200 Millionen Euro bereit- recht zulasse, könnten zudem befristete Wiedereinreise-
stellen, damit besonders betroffene Kommunen soziale Pro- sperren verhängt werden. Überdies sollen die Ansprüche
bleme bekämpfen können. Darauf hat sich der Staatssekre- auf Kindergeld penibler überprüft werden. Der Zoll soll
tärsausschuss verständigt, den die Bundesregierung Anfang Schwarzarbeit und Ausbeutung von EU-Ausländern gründ-
des Jahres eingesetzt hatte. Der Zwischenbericht, der am lich verfolgen.

NÜRBURGRING
Deutschen Historischen Muse-
um in Berlin gezeigt, die die
Bundeskanzlerin am 28. Mai er-
Die Pleite nach der Pleite öffnen wird. Zum Jahrestag des
Mauerfalls wird am 9. Novem-
Die Insolvenz des Nürburgrings ber die neue umfassende Dauer-
kommt das Land Rheinland-Pfalz ausstellung in der Gedenkstätte
teurer zu stehen als bekannt. Insider Berliner Mauer eingeweiht. Im
schätzen, dass nur ein kleiner Teil des ganzen Land finden von uns
offiziellen Verkaufspreises für die Lan- geförderte Veranstaltungen zu
deskasse übrig bleiben wird. Das Land vielen unterschiedlichen Aspek-
und die Insolvenzverwalter hatten Mit- ten dieser Jahrestage statt.
te März verkündet, dass der Auto- SPIEGEL: Während Länder wie
mobilzulieferer Capricorn den Ring für Frankreich und Großbritannien
77 Millionen Euro übernehmen und sich seit langem auf das Gedenk-
weitere 25 Millionen Euro investieren jahr 2014 vorbereiten, ist in
werde. Tatsächlich sind bis zur geplan- Deutschland von einer zentralen
ten Übergabe der Rennstrecke Anfang Planung kaum etwas zu spüren.
2015 nur etwa 60 Millionen Euro ge- Grütters: Im Gegenteil. Wir wis-
sichert. 15 Millionen will Capricorn in sen: Gedenken kann man nicht
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL

drei Raten aus Eigenmitteln aufbrin- staatlich verordnen. Zum Glück


gen, 45 Millionen sollen aus einem fühlen sich in unserem födera-
zugesagten Bankdarlehen stammen. len Staat viele in der Pflicht; da-
Auch diese Summen aber fließen nicht her gibt es bundesweit zahlrei-
in voller Höhe in die Staatskasse. Dies Grütters che Veranstaltungen – und das
geht aus Unterlagen der Wirtschafts- finde ich auch gut so. Nehmen
prüfungsgesellschaft KPMG hervor, Sie den 25. Jahrestag des Falls
die das Angebot für die Nürburgring- K U LT U R P O L I T I K
der Mauer. Der Protest der Menschen
Gläubiger aufgeschlüsselt hat. Dem- in der DDR hat zum Zusammenbruch
nach werden 3,5 Millionen Euro für des Systems geführt. Zur Erinnerung
Ausgaben abgezogen, darunter 2,5 Mil- „Gedenken kann man daran finanziert mein Haus die ein-
lionen für einen von Capricorn geplan-
ten Personalabbau um etwa 70 Stellen.
6 Millionen sind ein reiner Rechen-
nicht verordnen“ drucksvolle Open-Air-Ausstellung der
Robert-Havemann-Gesellschaft über
die friedliche Revolution in der DDR.
wert: der angeblich erwartete Gewinn, Monika Grütters, 52, ist Staats- Sie wird künftig auf dem ehemaligen
den der Ring bis zum Jahresende er- ministerin für Kultur und Medien. Stasi-Gelände an der Berliner Nor-
wirtschaften soll. Zudem sollen dem mannenstraße zu sehen sein.
Käufer 11 Millionen teils jahrelang „ge- SPIEGEL: Das Jahr 2014 wird für die SPIEGEL: Zählt es zu Ihren Aufgaben als
stundet“ werden, die Zahlung hängt Bundesrepublik ein Jahr des Geden- Kulturstaatsministerin, Geschichtspoli-
also vom Erfolg des Geschäftsmodells kens: Zum 100. Mal jährt sich der Be- tik zu machen?
am Ring ab. Die angekündigten Inves- ginn des Ersten Weltkriegs, vor 75 Jah- Grütters: Geschichtspolitik: nein. Die
titionen über 25 Millionen Euro sind ren brach der Zweite Weltkrieg aus, Erinnerungskultur hat allerdings einen
bislang reine Absichtserklärungen von vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer. hohen Stellenwert. Das heute wieder
Capricorn, die im Vertrag nicht fixiert Wie wird die Bundesregierung dieses so hohe Ansehen der Kulturnation
sind. Überdies muss die Landesregie- Gedenkjahr begehen? Deutschland in der Welt hat maßgeb-
rung von dem Verkaufserlös zunächst Grütters: Die Bundesregierung wird für lich damit zu tun, dass Deutschland
höherrangige Gläubiger auszahlen und ein würdiges und angemessenes Ge- nach dem Zivilisationsbruch des NS-
die Kosten des Insolvenzverfahrens denken sorgen. In der Verantwortung Terrors in seiner Kulturpolitik Fragen
begleichen. Am Ende könnte dem meines Ressorts wird eine große der Geschichtsaufarbeitung und des
Land nur ein niedriger zweistelliger Ausstellung zum 100. Jahrestag des Gedenkens einen so hohen Stellen-
Millionenbetrag bleiben. Ausbruchs des Ersten Weltkriegs im wert einräumt.
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 13
Panorama

Ü B E R WA C H U N G

12 aus 37 000 000 GLOBALISI ERUNG

Das Bundesverwaltungsgericht wird


im Mai einen ungewöhnlichen Fall ver-
handeln – die Klage eines Bürgers ge- Gabriel für
Freihandel
gen den Bundesnachrichtendienst

RAINER JENSEN / DPA


(BND). Der Berliner Anwalt Niko Här-
ting geht gegen eine Durchleuchtung
von E-Mails durch den Geheimdienst
im Jahr 2010 vor. Das parlamentari-
sche Kontrollgremium hatte in seinem
Jahresbericht bekanntgegeben, dass Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel besonders umstrittenen Investoren-
der BND in rund 37 Millionen E-Mails macht sich für den Abschluss des um- schutzvorschriften aus, die in ersten
von und nach Deutschland Hinweise strittenen europäisch-amerikanischen Vertragsentwürfen enthalten waren.
auf terroristische Aktivitäten oder Freihandelsabkommens stark. Der Ver- Es sei „prinzipiell auszuschließen“,
schwere Straftaten gesucht habe, aber trag könne zum „Hebel einer politi- dass durch das Abkommen politische
nur in 12 Fällen auf „nachrichten- schen Gestaltung der wirtschaftlichen Entscheidungen „gefährdet, ausgehe-
dienstlich relevantes“ Material gesto- Globalisierung werden“, heißt es in ei- belt oder umgangen“ würden. Statt-
ßen sei. Härting will, dass die Bundes- nem Papier des SPD-Chefs für die Vor- dessen empfiehlt Gabriel, die Verhand-
richter die Aktion für exzessiv und da- standssitzung an diesem Montag. Dem- lungen „für eine stärkere Regulierung
mit rechtswidrig befinden, schon weil nach bietet das Abkommen nicht nur bisher nicht ausreichend regulierter
die Mails nach zu schwammigen Stich- wirtschaftliche Vorteile, weil Zölle ab- Bereiche der globalisierten Finanz-
wörtern („Bombe“, „Atom“) gefiltert gebaut und technische Normen verein- märkte zu nutzen“. Er prognostiziert
worden seien. Da die 37 Millionen heitlicht würden. Es könne auch zu langwierige Gespräche: „Tragfähige
geprüften E-Mails nur die engere „weltweiten Fortschritten bei der Be- Verhandlungsergebnisse kann es
Auswahl der Suchaktion gewesen rücksichtigung von Nachhaltigkeits- frühestens Ende 2015 geben.“ Die
seien, argumentiert Härting in seinem aspekten, Verbraucherschutz und Ar- SPD-Spitze hat eine Sondersitzung
Schriftsatz, dürfte die tatsächliche beitnehmerrechten“ führen. Vorausset- angesetzt, nachdem sich zahlreiche
Zahl der geprüften Nachrichten um zung sei, dass keine Umwelt- und Da- Sozialdemokraten und Gewerkschafter
ein Vielfaches höher sein. Deshalb tenschutzrechte eingeschränkt sowie kritisch zu dem Vorhaben geäußert
müsse er „ernsthaft mit der Möglich- Mitbestimmung, Tarifautonomie und hatten. IG-Metall-Chef Detlef Wetzel
keit rechnen“, dass auch seine vertrau- Betriebsverfassung garantiert würden. hatte gefordert, das „gefährliche
liche Anwaltspost geprüft worden sei. Zugleich spricht sich Gabriel gegen die Abkommen“ sofort zu stoppen.

K
ennen Sie das? Sie geraten in Panik, weil Sie denken, Aber heute Morgen überfiel mich der Gedanke, es wäre
Sie hätten eine wichtige Entscheidung vermasselt, hät- anders gelaufen, und es gäbe ein Foto, das mich zwischen
ten das Falsche getan und müssten nun damit leben? Wladimir Putin und Josef Ackermann zeigt, strahlend. Man
Und für ein paar Sekunden kommt es Ihnen vor, als hätten könnte es im Internet aufrufen. Der Mann, der die Welt in
Sie genau diesen Fehler gemacht und lebten jetzt ein schreck- den Abgrund führte. Jeden Tag ein Shitstorm, und der SPIEGEL
liches Leben? Mir ist das heute Morgen passiert, als ich den hätte mich wegen moralischer Unzuverlässigkeit gefeuert.
Liveticker zur Krim-Krise las. Für ein paar grauenvolle Mo- Im Café Einstein wäre es totenstill geworden, sobald ich
mente musste ich mir vorstellen, wie ich mich hätte blicken lassen. Ich würde jetzt in
jetzt dastünde, hätte ich mich 2008 anders Moskau leben, so wie Edward Snowden, aber
entschieden. Ich sah mich als Komplizen von TREIBHAUS BERLIN ohne die Sympathien, die er genießt. Die
Wladimir Putin und der Deutschen Bank, Deutsche Bank hätte mir aus Mitleid einen
sah mich in gewisser Weise verantwortlich
für Krim- und Finanz-Krise, also für so ziem-
Putin und ich mickrigen Anteil an einem Immobilienfonds
überlassen. Ich könnte kaum davon leben
lich alles, was der Welt Sorgen macht. und hätte für ein paar Rubel ein schnelles
Im Jahr 2008 sollte ich entscheiden, wie ein Buch geschrieben, Titel: „Die Attraktivität
Buch von mir über Angela Merkel präsentiert autoritärer Staaten für den Finanzkapitalis-
wird (keine Werbung in eigener Sache, das mus“. Putin hätte keine Zeit gehabt, es zu
Buch ist veraltet, Kauf lohnt sich nicht). Die präsentieren, das hätte Wiktor Janukowitsch
Alfred Herrhausen Gesellschaft, die zur Deut- übernommen, in der Staatsbibliothek von
schen Bank gehört, wollte das übernehmen. Minsk. Kim Jong Un hätte mich zu einer Le-
Als Laudator zog man Putin in Erwägung. sereise nach Nordkorea eingeladen. Dennis
Ernsthaft. Dies ist ein Ort für Scherze, aber das ist kein Rodman und ich hätten vor Beginn eines Basketballspiels in
Scherz. Putin sollte mein Buch präsentieren. Angeblich hatte Pjöngjang einen Freiwurf-Wettbewerb gemacht. Ich hätte
es Signale aus Moskau gegeben, er könne sich das vorstellen. nicht getroffen.
Ich muss zugeben, dass ich damals kurz darüber nach- Jetzt wird es zu schrecklich, ich muss aufhören, daran zu
dachte. Große Aufmerksamkeit, große Auflage. Dann sagte denken. Frühling, Berlin, ich gehe jetzt raus und übe Frei-
ich meinem Verlag, dass ich keine Präsentation will. Puh. würfe. Dirk Kurbjuweit

14 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Deutschland

S TA AT S F I N A N Z E N
dukts einsparen, „um langfristig allen
Verbindlichkeiten nachkommen zu
können“, heißt es in dem Bericht. Dies
Bedingt zukunftsfähig wären zwischen 3 und 15 Milliarden
Euro, die jedes Jahr gestrichen werden
Die deutschen Staatsfinanzen sind – müssten. Zur besonderen Belastung
trotz Überschüssen in den Sozialver- entwickeln sich die sogenannten alters-
sicherungen und fast schuldenfreien abhängigen Ausgaben, vor allem die
staatlichen Haushalten – nicht zu- Rente. „Bereits ohne Berücksichtigung
kunftsfest. Das geht aus dem aktuali- der Auswirkungen aktueller politi-
sierten Tragfähigkeitsbericht hervor, scher Beschlüsse wird eine deutliche
den das Bundesfinanzministerium in Kostendynamik erkennbar“, warnt der
dieser Woche veröffentlichen wird. Bis Bericht, der von unabhängigen Wis-
2020 müsse der Staat in seinen Haus- senschaftlern erstellt wurde. Dabei
halten und Sozialkassen jährlich 0,1 sind die Kosten der Rente mit 63 noch
bis 0,5 Prozent des Bruttoinlandspro- nicht eingerechnet.

RENTE
Rentenpaket koste bis zum Jahr 2030
schätzungweise 233 Milliarden Euro,
„die Reform ist angesichts der dramati-
Widerstand der Jungen schen demografischen Entwicklung ein
Schritt in die falsche Richtung“. Auf
Die Junge Union (JU) fordert ihre Mit- einem Treffen der JU-Führung in
glieder zum Widerstand gegen das Bremen gab es kürzlich Kritik an den
Rentenpaket der Bundesregierung auf. jüngeren Bundestagsabgeordneten wie
„Mit unseren 120 000 Mitgliedern müs- JU-Chef Philipp Mißfelder, 34, und
sen wir vor Ort auf den unverantwort- Gesundheitsexperte Jens Spahn, 33.
lichen Bruch des Generationenvertra- Sie würden sich nicht hart genug ge-
ges aufmerksam machen“, heißt es in gen die Rentenpläne stemmen und
einem Rundschreiben zweier Mitglie- sich zu sehr an die „Koalitions- und
der des Bundesvorstands an die Basis. Fraktionslinie gebunden fühlen“, so
Die JU-Mitglieder sollten mit ihren der Vorwurf. Spahn und Mißfelder be-
Bundestagsabgeordneten „diesen fata- tonten, Änderungen im parlamentari-
len Kurswechsel“ diskutieren. Das schen Verfahren erreichen zu wollen.

die Fassaden eingegangen. Benötigt


Musterfassade des werden Spenden in Höhe von 80 Mil-
Stadtschlosses lionen Euro. Der Bundestag hatte sei-
ne Zusagen für den Bau davon abhän-
gig gemacht, dass die Fassaden aus-
schließlich privat bezahlt werden. Die
Stiftung übt sich in Zweckoptimismus.
Man erwarte die fehlenden Spenden
„mit sichtbar fortschreitendem Bau“,
heißt es auf Anfrage der Grünen im
Bundestag. Allein: Diese Hoffnung
STEFAN BONESS / IPON

hatte der Bauherr bereits vor einem


Jahr formuliert. Seitdem sind die
Spenden für die Fassade kaum gestie-
gen – während der Rohbau wächst
und wächst. Ende 2014 soll bereits die
Traufkante erreicht sein. Die Freunde
BERLIN
der barocken Fassade müssen sich
aber keine Sorgen machen, denn der
Bund ist schon jetzt die erforderlichen
Schloss der Steuerzahler Verpflichtungsermächtigungen einge-
gangen. Im Klartext: Sollten sich keine
Für die Rekonstruktion des Berliner Spender mehr finden, übernimmt der
Stadtschlosses kommen hohe Mehrkos- Steuerzahler die Rechnung für die Fas-
ten auf die Steuerzahler zu. Beim Bau- saden. „Der Bund rennt in die Kosten-
herrn, der staatlichen Stiftung Berliner übernahmefalle“, sagt der Grünen-Ab-
Schloss – Humboldtforum, sind erst geordnete Christian Kühn. Insgesamt
7,8 Millionen Euro an Barspenden für kostet der Bau 590 Millionen Euro.
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 15
Deutschland

AU S S E N P O L I T I K

Die mit dem Bären tanzt


In neuer Schärfe hat die Kanzlerin Russland mit Wirtschaftssanktionen gedroht.
Doch was Wladimir Putin als Nächstes vorhat, weiß auch sie nicht. Die Pläne, die es
in Berlin und Brüssel für die wankende Ukraine gibt, sind vor allem eines: teuer.

D
er vergangene Montag war in den
CDU-Gremien ein Tag der histo-
rischen Vergleiche. Gerade hatten
fast 97 Prozent der Einwohner auf der
Krim für einen Anschluss an Russland ge-
stimmt, und Angela Merkel fühlte sich
an die DDR erinnert. „Jedes Ergebnis
über 90 Prozent muss man in dieser Welt
mit spitzen Fingern anfassen“, so die
Kanzlerin. Und nach kurzer Pause: „Mit
Ausnahme meiner Wahlergebnisse als
Parteivorsitzende natürlich.“
Das gab Gelächter, aber es sollte der
einzig heitere Moment bleiben. Denn an
diesem Morgen gab es fast nur ein Thema:
Russland und die Krise in der Ukraine.
Hessens Ministerpräsident Volker Bouf-
fier diagnostizierte eine „traurige Hilflo-
sigkeit“ des Westens angesichts der russi-
schen Annexion der Krim. Er sah sich an
das Jahr 1938 erinnert, als die Welt es hin-
nahm, dass Hitler das Sudetenland an-
nektieren ließ. Und CDU-Generalsekre-
tär Peter Tauber, ein promovierter Histo-
riker, erinnerte daran, dass es auch da-
mals zuvor Olympische Spiele gegeben
hatte wie jetzt in Sotschi – 1936 in Berlin.
Es waren Vergleiche, die nur einen
Schluss zulassen: Europa muss Putin die
Stirn bieten. Kein Appeasement. Harte
Haltung. Bislang hatte Merkel Deutsch-
lands Rolle in der Ukraine-Krise ganz an-
ders interpretiert: Russland sollte einge-
bunden, eine scharfe Konfrontation ver-
mieden werden. Doch als er Russland die
Krim einverleiben ließ, zwang Putin die
Kanzlerin auf einen härteren Kurs. In ei-
ner für die zaudernde Kanzlerin unge-
wöhnlichen Schärfe drohte sie ihm mit
Wirtschaftssanktionen. „Ganz ohne Zwei-
fel wird es auch um wirtschaftliche Sank-
tionen gehen“, falls sich die Lage weiter
verschärfe, sagte Merkel im Bundestag.
Für eine Kanzlerin, die sich gewöhnlich
tastend bewegt, sind das starke Sätze.
WIKTOR DABKOWSKI / ACTION PRESS

Doch welches Kalkül verfolgt Angela


Merkel, von der es heißt, sie denke jede
Sache vom Ende her? Bei Sanktionen
kommt alles darauf an, den Gegner rich-
tig einzuschätzen, zu verstehen, welches
Ziel er verfolgt, und wer den längeren
Atem haben wird. Glaubt Merkel, dass
Kanzlerin Merkel in Brüssel: „Ich muss verstehen, wie der andere tickt“ schon die Androhung schmerzhafter Wirt-
16 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
schaftssanktionen Putin davon abhalten gangenen Jahr verdankt Merkel vor allem
wird, nach der Krim auch noch nach der dem Versprechen, Unangenehmes von
Ostukraine zu greifen? Oder ist sie tat- den Menschen fernzuhalten. Das erwar-
sächlich bereit, sich auf eine Sanktions- ten sie jetzt auch in der Ukraine-Krise:
spirale einzulassen? Merkel muss nun, ob Sicherheit und Stabilität.
sie will oder nicht, mit dem russischen Bisher halten nach einer neuen Umfra-
Bären tanzen – und es ist nicht klar, wer ge von TNS Forschung 60 Prozent der
führt. Befragten die Reaktionen des Westens in
Es ist eine höchst unkomfortable Situa- der Krise für angemessen. Frühere Um-
tion für Merkel. Doch etliche Telefonate fragen zeigen aber, dass mehr als zwei
mit dem russischen Präsidenten in den Drittel der Deutschen Wirtschaftssanktio-
letzten drei Wochen haben sie davon nen, die nächste Eskalationsstufe, ableh-

SERGEI ILNITSKY / DPA


überzeugt, dass es derzeit keinen anderen nen. Und mehr als die Hälfte der Deut-
Weg gibt. Zwar bleiben die Gesprächs- schen – immerhin 55 Prozent – haben
kanäle offen, doch gleichzeitig werden Verständnis dafür, dass Putin die Ukraine
Reisebeschränkungen erlassen, Konten als russische Einflusszone betrachtet. Fast
gesperrt und gezielte Wirtschaftssanktio- ebenso viele meinen, der Westen solle Präsident Putin im Kreml
nen vorbereitet. Russland wird interna- die Annexion der Krim durch Russland
tional isoliert. akzeptieren. Merkel ist überzeugt,
Im Kanzleramt sah man am Freitag- Wie ernst die Bundesregierung die Kri-
abend einen ersten Erfolg des klaren se in der Ukraine sieht, zeigt, dass sich
dass man Putin nur mit Klarheit
Kurses. Da stimmte Russland nach tage- nun auch Verteidigungsministerin Ursula und Härte begegnen kann.
langem Hin und Her einer Beobachter- von der Leyen zu Wort meldet. Zwar hat
mission der OSZE in der Ukraine zu. Das der Westen ein militärisches Vorgehen
verstand man als Reaktion auf den west- ausdrücklich ausgeschlossen. Es wird aber wie man sich über Putin lustig machen
lichen Druck. Die Konsequenz und Ge- erwogen, die Truppenpräsenz in den bal- könne, wie leicht die Körpersprache des
schlossenheit der EU und der USA hätten tischen Staaten an der Grenze zu Russ- Russen zu deuten, wie offensichtlich sein
Moskau überrascht, heißt es. land zu verstärken. „Jetzt ist für die Schmerz über den Bedeutungsverlust sei-
Doch Merkels Kurs ist nicht unumstrit- Bündnispartner an den Außengrenzen nes Landes sei. Dies sieht Physikerin Mer-
ten – weder beim Koalitionspartner SPD wichtig, dass die Nato Präsenz zeigt“, sagt kel ähnlich, die Putin seit langem wie ein
noch in der Union selbst. „Wenn wir Wirt- von der Leyen. „Die aktuelle Lage spie- Laborexperiment beäugt. Eine Prognose,
schaftssanktionen verhängen, sie am gelt klar, dass die Nato nicht nur ein mi- wie das Experiment sich in nächster Zeit
Ende aber vor allem uns treffen, ist nie- litärisches, sondern auch ein politisches entwickelt, hat sie allerdings nicht.
mandem damit gedient“, warnt CDU- Bündnis ist.“ Was hat Putin als Nächstes vor: Trans-
Vizechef Armin Laschet. Auch die deut- Die Ministerin verteidigte auch die von nistrien anschließen oder Südossetien?
sche Wirtschaft hält Sanktionen natur- Russland kritisierte Ausdehnung der Nato Die russischen Minderheiten im Baltikum
gemäß für den falschen Weg. Deren Kos- auf die Staaten des ehemaligen Ostblocks oder in Kasachstan aufwiegeln? Manch-
ten lassen sich kaum kalkulieren, und was und der Sowjetunion: „Es ist vor allem mal schaut Angela Merkel sich Putins
es die Europäische Union kosten könnte, der demokratische Wertekanon, der hohe Fernsehauftritte im Nachhinein noch ein-
die Ukraine wirtschaftlich und finanziell Anziehungskraft auf Neumitglieder ent- mal an. Sie studiert seine Körpersprache,
über Wasser zu halten, weiß derzeit auch faltet.“ Deswegen sei die Nato seit den hört auch in das russische Original hinein.
niemand. Allein um eine absehbare Zah- neunziger Jahren gewachsen, „nicht weil „Ich muss verstehen, wie der andere
lungsunfähigkeit der Kiewer Regierung die Allianz auf Expansion ausgelegt war“. tickt“, das habe Nelson Mandela ihr ein-
zu vermeiden, braucht es weit mehr als Das eigentliche Krisenmanagement mal gesagt, erzählt Merkel im CDU-Prä-
eine Milliarde Euro. liegt bis auf weiteres allerdings nicht bei sidium. Und beschreibt dann die Welt aus
Und dann sind da noch die Wähler. der Nato, sondern bei der Europäischen der Sicht Putins: Die Russen sähen sich
Merkel weiß, dass die Deutschen das Ri- Union. Als Angela Merkel am Donners- vom Westen her immer weiter in die De-
siko nicht lieben, egal, ob es um die Re- tag ihre EU-Kollegen zum Abendessen fensive gedrängt. Das nachsowjetische
form der sozialen Sicherungssysteme geht trifft, geht es, wie Teilnehmer berichten, Russland erscheint wie ein Schuljunge,
oder um eine Auseinandersetzung mit natürlich auch um Wladimir Putin. Ge- der sich erst bemüht, Anschluss an die
Russland. Ihren großen Wahlsieg im ver- nüsslich berichteten Gipfelteilnehmer, Klasse zu finden, an den Westen, an Mo-
derne und Demokratie. Und der sich
SPIEGEL-UMFRAGE Krim-Krise dann, als das nicht gelingt, in Verweige-
rung und Kraftmeierei flüchtet.
„Russlands Präsident Putin betrachtet „Russlands Vorgehen gegen die Merkel ist überzeugt, dass man diesem
die Ukraine und besonders die Krim als Ukraine und auf der Krim wird in Wladimir Putin nur mit Klarheit und Här-
Teil der russischen Einflusszone. der EU und in den USA heftig te begegnen kann. Wer keinen Wider-
Wie viel Verständnis haben Sie dafür?“ kritisiert. Es wurden bereits stand leistet, hat verloren.
Sanktionen beschlossen. Halten Sie hat beobachtet, wie sich der russi-
viel 15 Sie die Reaktionen des Westens für sche Präsident über die Jahre verändert
etwas 40 angemessen oder für übertrieben?“ hat. Am Anfang nahm sie bei Putin noch
eher keins 19 den bewundernden Blick auf den Westen
gar keins 23 übertrieben 34 wahr, das Bestreben, Russlands Wirt-
schaft zu modernisieren, um den Status
angemessen 60 der Supermacht zurückzuerlangen. Jetzt
meinen, die EU und die USA ist nur noch das Supermachtstreben

54 % sollten den Anschluss der


Krim an Russland akzeptieren.
38 Prozent sind dagegen.
TNS Forschung vom 19. und 20. März;
1000 Befragte ab 18 Jahren; Angaben in Prozent;
an 100 fehlende Prozent: „Weiß nicht“/ keine Angabe

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
geblieben. Und eine neue Verachtung für
den Westen mit seinem Werteverlust und
Relativismus, für den Westen, der in der
17
Deutschland

Finanzkrise seine Verwundbarkeit zeigte, diskutiert, schließlich erklärte der russi- die Frage, wie weit Russland am Ende ge-
der in Afghanistan und im Irak scheiterte. sche Außenminister Sergej Lawrow die hen wird, unbeantwortet. Merkels Politik
Nun muss sich die Kanzlerin eingeste- Idee für erledigt. Auch der OSZE-Beob- ist, was sie oft ist: Reaktion und Notwen-
hen, dass sie in dieser Krise Putins Ent- achtermission drohte zunächst ein ähnli- digkeit. Deutschland fährt auch in dieser
schlossenheit unterschätzt hat. Noch im ches Schicksal. Obwohl Putin am Sonntag Krise auf Sicht.
Februar glaubte sie, ihn von einer Anne- vor einer Woche zugestimmt hatte, stand Was sich allerdings schon deutlich ab-
xion der Krim abhalten zu können. Jetzt die Idee zunächst vor dem Aus, bevor sie zeichnet, sind hohe Kosten – selbst wenn
warnte sie in Brüssel hinter verschlosse- am Freitag wiederbelebt wurde. Aber ob es zu Wirtschaftssanktionen gar nicht
nen Türen die Staats- und Regierungs- die Einigung dieses Mal lange hält, wagt kommt. Die Ukraine muss vor dem
chefs, dass man Putin nicht trauen könne. keiner zu sagen. Früher gab es die Zunft Staatsbankrott bewahrt werden. Und
Er habe sie mehrfach angelogen und Ver- der „Kremlologen“, um zu ergründen, auch das hängt an Wladimir Putin: Wenn
sprechen gegeben, die er dann nicht hielt. was die Sowjetunion im Schilde führte. der russische Staatskonzern Gazprom die
Erst stimmte Putin am Telefon einer Heute sehnt man sich in Berlin nach ei- ukrainischen Zahlungsrückstände von
Kontaktgruppe zu, dann wurde tagelang nem kundigen „Putinologen“. So bleibt mehr als 1,5 Milliarden Euro einfordert,

Vorgehen zunutze machen. Beim

Die chinesische Karte Besuch Xis soll eine gemeinsame


Erklärung verabschiedet werden, in
der Deutschland und China den
Die Bundesregierung will die Krise in der Ukraine dazu nutzen, Grundsatz betonen, internationale
Peking endlich enger an den Westen zu binden. Konflikte „auf der Basis des Völker-
rechts“ zu lösen. Das lässt

A
us chinesischer Sicht waren die sich als Kritik an Putin le-
Deutschen bislang vor allem als sen, der bei der Übernah-
Wirtschafts- und Handelspart- me der Krim durch Russ-
ner interessant. Wenn der chinesische land das Völkerrecht gebro-
Präsident Xi Jinping an diesem Freitag chen hat. Außerdem sollen
nach Berlin kommt, soll sich das nach deutsche und chinesische
dem Willen von Angela Merkel an ei- Politiker in der Zukunft in-
ner wichtigen Stelle ändern. „Wir wol- tensiver über internationale
len, dass die Chinesen uns auch als Fragen reden.
politischen Partner wahrnehmen“, sagt Nicht alle China-Exper-
ein hoher Regierungsbeamter. ten teilen den Berliner Op-
Seit einiger Zeit versucht die Bun- timismus. „Die chinesische
desregierung, Peking bei jenen Fragen Karte lässt sich nicht spie-
auf die Seite des Westens zu ziehen, len, schon gar nicht vom
die für die deutsche Außenpolitik zen- Westen“, sagt Eberhard
LI XUEREN / ACTION PRESS

tral sind. China soll schrittweise Russ- Sandschneider von der


land ersetzen, das in internationalen Deutschen Gesellschaft für
Fragen immer seltener kooperiert. Auswärtige Politik. Andere
Merkel hoffte, dass Peking bei der Lö- sind zuversichtlicher: „Chi-
sung des Bürgerkriegs in Syrien eine na will politisch unabhän-
konstruktive Rolle spielen würde. Bis- Präsident Xi Jinping giger von Russland agie-
lang hat sich die Hoffnung nicht erfüllt. Unbehagen über das Vorgehen Moskaus ren“, sagt der Chef des Mer-
Die Krise in der Ukraine könnte das cator-Instituts für China-
nun ändern. Kanzleramt und Auswär- Die chinesische Führung will Russ- Studien, Sebastian Heilmann. „Peking
tiges Amt sind zuversichtlich, dass das land nicht öffentlich verurteilen, dazu hat gesehen, dass es im Kielwasser
Verhalten Moskaus die Chinesen dazu sind die Beziehungen zu eng. Aber die Moskaus erheblichen Risiken ausge-
bringen wird, ihre internationale Rolle Politik Wladimir Putins läuft dem setzt ist.“
zu überdenken. Im Sicherheitsrat der Grundsatz der Nichteinmischung in Die Bundesregierung setzt darauf,
Vereinten Nationen orientierte sich die Angelegenheiten anderer Länder dass China ein starkes Interesse an der
China bislang in Fragen, die das eigene zuwider, den die chinesische Führung Ukraine hat. Bei einem Besuch des ge-
Interesse nicht unmittelbar berührten, bei jeder Gelegenheit wiederholt. Es stürzten Präsidenten Wiktor Januko-
an Russland. Ansonsten hielt es sich wäre aus Pekinger Sicht verhängnis- witsch in Peking im vergangenen De-
weitgehend heraus. voll, wenn die Unabhängigkeitsbewe- zember versprach China Investitionen
Die Deutschen sehen Anzeichen da- gungen in Tibet und Xinjiang ebenfalls in Milliardenhöhe. In Berlin hofft man,
für, dass sich dies ändert. Bei einer Ab- Volksabstimmungen ausriefen oder dass Xi den Europäern dabei helfen
stimmung über das Krim-Referendum wenn in Taiwan ein entsprechendes wird, die Ukraine wirtschaftlich zu sta-
enthielt sich China im Uno-Sicherheits- Referendum stattfände. Und was wäre, bilisieren. Peking will die fruchtbaren
rat der Stimme. Das sieht man in Ber- wenn Putin erklärt, er müsse der rus- Böden des Landes nutzen, um in in-
lin als deutliches Zeichen der Distanz sischen Minderheit in Kasachstan zu dustriellem Maßstab Nahrungsmittel
zu Russland. Diplomaten berichten, Hilfe eilen? Das Land ist ein wichtiger zu produzieren. Das geht nur, wenn
dass Peking in den Beratungen des Si- Rohstofflieferant für China. die Situation in der Ukraine sich beru-
cherheitsrats die territoriale Unverletz- Die Bundesregierung will sich das higt und Russland auf weiteres Zün-
lichkeit der Ukraine betont habe. chinesische Unbehagen am russischen deln verzichtet. RALF NEUKIRCH

18 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
könnte die neue ukrainische Regierung
wohl nicht zahlen, heißt es in Berliner
Ministeriumskreisen. Europa müsste ein-
springen.
Die Haushaltspolitiker im Bundestag
schauen darüber hinaus auf das Elf-Mil-
liarden-Hilfspaket für die Ukraine, das
die EU Anfang März angekündigt hat.
Eine Aufstellung des Bundesfinanzminis-
teriums zeigt, woher das Geld kommen
soll: Bis zu eine Milliarde könnte die EU
als Darlehen vergeben. Daneben soll die
Ukraine von 2014 bis 2020 Entwicklungs-
unterstützung in Höhe von 1,6 Milliarden
Euro erhalten. Schließlich gewähren die
Europäische Investitionsbank (EIB) und
die Europäische Bank für Wiederaufbau
und Entwicklung (EBWE) zusammen
Darlehen von bis zu acht Milliarden Euro.
Das Ministerium von Wolfgang Schäub-
le geht davon aus, dass dies den Bundes-
haushalt zunächst nicht belastet, denn die
Bundesregierung plant, anders als die
USA, derzeit keine direkte Finanzhilfe
für die Ukraine.
In der Umgebung von Außenminister
Frank-Walter Steinmeier spricht man da-
gegen von jährlich 25 bis 30 Milliarden
Euro, die nötig wären, um die Ukraine
halbwegs zu stabilisieren. Auch politisch
sind die Prognosen im Umfeld des Außen-
ministers nicht optimistisch: Die Ukraine
tief gespalten in Regionen, die unter-
schiedliche Interessen haben, es drohe der
Zerfall. Die Liste der Übel reicht von der
grassierenden Korruption über eine insta-
bile Währung bis zum Einfluss radikaler
Kräfte in der Politik. Auch im Kanzleramt
ist das Wort vom „failed state“ zu hören.
Historische Vergleiche sind, wie gesagt,
in diesen Wochen sehr in Mode. Man ver-
gleicht 2014 mit 1914, Putin mit Hitler und
das heutige Russland mit der Weimarer
Republik. Eine Verbindung wurde bisher
in der Krim-Krise nicht erwähnt: diejeni-
ge zwischen der Kanzlerin und Katharina
der Großen. Merkel ist bekanntlich eine
Bewunderin der russischen Zarin deut-
scher Herkunft. Deren Porträt steht auf
ihrem Schreibtisch im Kanzleramt. Aber
was die wenigsten wissen: Es war Katha-
rina die Große, die im 18. Jahrhundert
die Krim eroberte. Unter ihrer Herrschaft
wurde die Halbinsel am 8. April 1783 dem
russischen Zarenreich einverleibt: „von
nun an und für alle Zeiten“.
DIETMAR HAWRANEK, CHRISTIANE HOFFMANN,
PETER MÜLLER, RALF NEUKIRCH,
CHRISTIAN REIERMANN, GORDON REPINSKI,
GREGOR-PETER SCHMITZ

LESEN SIE WEITER ZUM THEMA:


Seite 78: Von heiligen russischen Orten –
wie Wladimir Putin die Vorherrschaft in
der Ukraine verteidigen will
Seite 128: Der Platz ist ihre Wunde – eine
Reise zu ukrainischen Schriftstellern in
Kiew, Lwiw und Charkiw.
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 19
Deutschland

KO M M E N TA R

Keine Bilanz ist auch eine


Von Nikolaus Blome

K
ommenden Mittwoch ist die Gesetze, die Rente mit 67 zum Bei- dass grobe inhaltliche Widersprüche
Bundesregierung 100 Tage im spiel oder die Verfassungsänderung den Bürgern auffallen und die Partei-
Amt. Die erste Bilanz macht zur Schuldenbremse. Die jetzige Re- en bald Glaubwürdigkeit kosten.
ratlos. Sinnvolles und grober Unfug gierung hat nichts dergleichen vor, sie Nichts davon ist zu spüren. Die Um-
reihen sich ohne Muster aneinander. vertut einen idealen Moment. Löhne fragen sind stabil. Es muss am äuße-
Diese Regierung darf sich rühmen, und Renten steigen, die Wirtschaft ren Erscheinungsbild liegen und an
erstmals seit 45 Jahren einen Bundes- wächst. Jetzt ließe sich zeigen, dass der Arbeitsteilung dahinter.
haushalt ohne neue Verschuldung vor- große Reformen, etwa bei den Steu- Gemessen am Volumen der beweg-
zulegen. In einer Demokratie, deren ern, nicht immer nur aus Zumutungen ten Beträge, gemessen an mehreren
Parteien permanent auf Wählerfang bestehen müssen. Aber dazu müsste aberwitzigen Zugeständnissen der
sind, galt das seit langem CDU-Wahlsieger an die
als unmöglich. Zugleich SPD-Wahlverlierer ist die
plündert dieselbe Regie- Selbst wenn Ruhe der erste Große Koalition glatt und
rung die Rentenkasse Bürgerwunsch ist, ist sie noch lange geräuscharm gestartet.
und schröpft die Beitrags- Den Sturz eines Ministers
zahler, als hätten allein nicht erste Regierungspflicht. verbuchten die wichtigen
die Älteren berechtigte Akteure als bloßen Be-
Ansprüche, nicht aber triebsunfall. Es herrscht
die Jüngeren und die das Gefühl von langem
Arbeitenden. Daneben Familienwochenende oh-
bringt die Regierung ein ne Streit. Das gefällt.
Doppelpass-Gesetz zu- Und wenn es plötzlich
wege, das eine kluge ernst wird wie in der
Antwort auf die demo- Ukraine-Krise, dann gilt in
grafischen Probleme des der Regierung wie in der
Landes ist. Aber sie lockt Republik: Die Kanzlerin ist
auch Hunderttausende ja da. Was Angela Merkel
früher in den Ruhestand, wichtig ist, macht sie selbst
was diese Probleme igno- und derzeit bestimmt nicht
riert, sie vermutlich so- schlecht. Was ihr nicht so
gar verschärft. wichtig ist, macht die SPD.
GETTY IMAGES

Parteigrenzen erklä- Und was die CSU macht,


ren die Widersprüche ist meistens ziemlich egal.
kaum. Der Wirtschafts- Auch das gefällt.
minister will lieber die In- Sitzung des Bundeskabinetts: Plus und Minus ergibt null Niemand wünscht sich
dustrie als die privaten die chaotischen ersten
Verbraucher im reformierten Öko- die Große Koalition mehr sein wollen Monate der rot-grünen Koalition
strom-Gesetz schonen. Die Arbeits- als Opium fürs Volk. 1998/99 zurück, ebenso wenig den
ministerin belastet dagegen die Un- In der ersten Regierungserklärung missratenen Beginn der schwarz-gel-
ternehmen, um den Angestellten mit hat Angela Merkel stattdessen einen ben Regierung vor vier Jahren. In die-
dem Mindestlohn Gutes zu tun. Beide ganz anderen Versuch unternommen, ser Koalition hingegen gibt es kaum
Minister sind in der SPD. ihrer neuen Amtszeit eine Idee zu Reibereien, weil die Teile gar nicht
Das zusammen ergibt keinen Sinn, geben. „Die Koalition will die Quellen erst zu einem Ganzen zusammenge-
Plus- und Minuspunkte heben einan- des guten Lebens allen zugänglich fügt werden. Weil in Wahrheit jeder
der auf, und unter dem Strich steht: machen“, sagte sie. In dem Satz steckt seins macht.
eine Null. Von keinem denkbaren eine gefährliche Selbstermächtigung, Aber selbst wenn Ruhe tatsächlich
Standpunkt aus, von links oder rechts, nahe an gutsherrlicher Zuweisungs- der erste Bürgerwunsch ist, dann ist
aus marktwirtschaftlicher oder aus Autorität einer Obrigkeit, die keine sie noch lange nicht erste Regierungs-
sozialstaatlicher Sicht, streben die Opposition zu fürchten hat. Der Satz pflicht. Von Bismarck soll der Satz
schwarz-roten Beschlüsse auf einen blieb dennoch ohne großes Echo. stammen, wonach die Leute umso
perspektivischen Fluchtpunkt zu. Dass die Kanzlerin besonders ent- besser schliefen, je weniger sie dar-
Das war in früheren Regierungen täuscht war, ist unwahrscheinlich. über wüssten, wie Würste und Geset-
anders, auch die erste Große Koalition Für die Regierung ist nämlich be- ze gemacht werden. Der Mann war
unter Angela Merkel hatte eine tra- deutsamer, wie weit ein zentrales kein Demokrat. Angela Merkel sollte
gende Idee. Sie nutzte ihre Mehrheit Reiz-Reaktions-Schema des politi- ihn sich nicht zum Vorbild nehmen.
für höchst unpopuläre, aber richtige schen Betriebs außer Kraft scheint: Aber sie tut es gerade.

20 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Deutschland

KARRI EREN

51 Wochen
Peer Steinbrück war Meister klarer Worte und Manager der Finanzkrise, der politische Lieb-
ling der Deutschen. Dann wurde er SPD-Kanzlerkandidat, und binnen eines Jahres
verlor er diesen Ruf. Nun sucht er den Weg zurück in sein altes Leben. Von Gordon Repinski

A
n einem sonnigen Donnerstag im Das alles endete am 22. September mit Peer Steinbrück und die Medien, das
Februar läuft Peer Steinbrück über 25,7 Prozent. Es war das zweitschlechteste war lange Zeit hindurch eine symbioti-
den Campus des University College Ergebnis der SPD in der Geschichte der sche Beziehung. Er hat so anders geredet
in London und bekommt langsam Zweifel Bundesrepublik. Es ist viel schiefgelaufen als die Kollegen in der SPD, und die
an seiner Mission. Neben ihm marschiert in dieser Kampagne, und deshalb ist Medien haben diese besondere Art gern
eine deutsche Studentin mit Halstuch und Steinbrücks Geschichte auch eine über angenommen. Wo andere Politiker kon-
Bluse, sie redet sehr schnell, ihre Worte den Umgang mit Fehlern in der Politik. struktive Diskussionen führten, schickte
überschlagen sich. Sie spricht von Uni- Peer Steinbrück hatte ein wunderbares er lieber die Kavallerie. Mit Steinbrück
Ranglisten und ihrem Studium der foren- Leben, bevor er Kanzlerkandidat wurde. gab es immer ein interessantes Interview,
sischen Anthropologie, der Untersuchung Er war ein gefragter Redner, er hatte beide Seiten waren Gewinner.
menschlicher Skelette. Steinbrück schweigt. einen Ruf als zupackender Manager der Im Bundestagswahlkampf ging diese
Vor dem Hauptgebäude der Uni blei- Finanzkrise. Er reiste durch die Welt und Beziehung zu Bruch. Es kommt oft vor,
ben die beiden stehen, gegenüber soll verdiente sehr ordentlich. dass Medienlieblinge fallen, Gerhard
Steinbrück gleich einen Vortrag halten. Die Frage ist auch, ob jemand in das Schröder erlebte das, auch Karl-Theodor
Sein Blick wandert über den Boden zum alte Leben zurückfindet, der als Kanzler- zu Guttenberg.
mächtigen Rundturm des Gebäudes, auf kandidat verloren hat, nicht irgendwie, Bei Steinbrück lagen die Dinge anders.
dessen Spitze eine Regenbogenfahne im sondern schlimm verloren. Mit der Kanzlerkandidatur gab es für die
Wind weht, das Symbol der Homosexu- politische Person Steinbrück plötzlich
ellen-Bewegung. „Wir haben gerade Di- neue Regeln. Aber er hatte keine Lust,
versity Week“, sagt die Studentin. Stein- Steinbrück hat das Wahl- sich darauf einzulassen. Seine rotzige Art
brücks Blick bleibt an der Fahne hängen. galt plötzlich als ungehobelt, sein Anti-
Er presst seinen Mund zusammen, er
kampfjahr als Politikerdasein war nicht mehr angenehm
blickt die Studentin an, dann findet er unwürdig empfunden, er anders, sondern störrisch und besserwis-
doch noch Worte. „Wie haben Sie mich serisch. Die Folge war ein jäher Absturz.
dazu bewegt, ja zu sagen?“ vermisste Respekt. Im Großen und Ganzen ist Peer Stein-
In London ist man an diesem Tag auf brück, ohne sich zu verändern, auf einmal
hohen Besuch eingestellt. Die deutsche Peer Steinbrück hatte ein überborden- ein ganz anderer öffentlicher Mensch ge-
Botschaft hat alle verfügbaren Kräfte los- des Selbstbewusstsein. Er ist ohne Selbst- worden. Weil er das nicht akzeptiert, will
geschickt, um den Ehrengast zu empfan- zweifel ins Rennen gegangen, doch 51 er nun mit diesem Zirkus nichts mehr zu
gen. Das ist allerdings nicht Steinbrück, Wochen Bundestagswahlkampf haben tun haben. Bei der Recherche zu dieser
die Kanzlerin hat sich angesagt. Auf An- seine Welt ins Wanken gebracht. Geschichte gab es immer wieder mürri-
gela Merkels Programm steht eine Rede Wieder ein Donnerstag, diesmal Ber- sche Kommentare. Was wollen Sie hier?
im Parlament, ein Gespräch mit Premier- lin, im Januar. Peer Steinbrück erhebt Warum tun Sie sich das an?
minister Cameron und, als Höhepunkt, sich von seinem Schreibtisch im Abge- Kurz nachdem die Große Koalition
ein Besuch im Buckingham Palace. Als ordnetenbüro, Jakob-Kaiser-Haus, vierter Ende des Jahres ihre Arbeit aufnahm,
Peer Steinbrück sich fragt, was er hier in Stock. Er schlängelt sich an Kartons vor- spielte Steinbrück mit dem Gedanken,
London eigentlich verloren hat, trinkt bei auf eine Couch, die direkt vor seinem sein Bundestagsmandat abzugeben. Ge-
Merkel Tee mit der Königin. Schreibtisch platziert ist. Es ist ein kleines meinsam hielten ihn Fraktionschef Tho-
Der Peer Steinbrück des Frühjahrs 2014 Büro für einen ehemaligen Bundesfinanz- mas Oppermann und Außenminister
bietet einen eigenartigen Anblick. Er war minister, Kanzlerkandidaten und Minister- Frank-Walter Steinmeier davon ab. „Hör
Kanzlerkandidat der SPD, noch vor we- präsidenten. Er wird in größere Räume nicht zu früh auf“, sagten sie ihm. Es gebe
nigen Monaten traf er europäische Staaten- umziehen. Ein Schiffsmast schaut aus da noch etwas, wozu sie ihn brauchten.
lenker in ihren Residenzen. Jetzt läuft er einem Karton, ein Holznashorn ist noch Er könnte doch mal in der Fraktion zu
durch London und winkt an Straßen- nicht verpackt, es steht Steinbrück gegen- schwierigen Themen sprechen oder dafür
ecken, damit endlich ein Taxi anhält. Im über. Es scheint allzeit bereit zum Duell. sorgen, dass nicht nur Wolfgang Schäuble
Hotel muss er warten, bis die Putzkolon- Steinbrücks Blick deutet darauf hin, dass über Europapolitik redet.
ne aus seinem Zimmer verschwindet. es ihm ähnlich geht. Steinbrück blieb erst mal, aber mehr
Steinbrück, 67, trat bei der Bundestags- „Warum treffen wir uns überhaupt?“, als ein Hinterbänkler im Auswärtigen
wahl als Gegenentwurf an, als Anti-Poli- blafft er. „Ich habe keinen Bock, mich zu Ausschuss will er nicht sein. Anfang des
tiker. Er stand dafür, wie man Politik auch erklären.“ Er lehne Presseanfragen in Jahres hat er Wien besucht, jetzt London.
machen kann, neben all den fertiggeschlif- Reihe ab, sagt er. Es wird ein ruppiger Alles Weitere wird man sehen.
fenen Zitaten, wie sie in Berlin jeden Tag Monolog. Das Gespräch ist erst wenige Peer Steinbrück möchte zurück in das
gesagt und gedruckt werden. Er wollte es Minuten alt, aber die Stimmung ist schon Leben vor der Kanzlerkandidatur, als er
anders machen, das war sein Plan. gekippt. mit seiner Frau Scrabble spielen konnte
22 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
und gutes Geld mit Vorträgen verdiente.
In seiner Vorstellung hat er dieses Leben
nur kurz unterbrochen, für eine „beson-
dere Erfahrung“, wie er es nennt. Die
Frage ist, ob das so einfach geht.
Nach der Bundestagswahl hat Stein-
brück sich an seinen Schreibtisch gesetzt
und begonnen, seine Sicht der Dinge auf-
zuschreiben. Es könnte eine Fortsetzung
seines ersten Buchs aus dem Jahr 2010
werden, „Unterm Strich“. Damals schrieb
Steinbrück über seine Erfahrung in der
Finanzkrise und über Fehlentwicklungen
in der Politik, der SPD und in den Medien.
Aus dem Politiker Steinbrück wurde so
der Klartextredner Steinbrück.
So ähnlich dürften auch die Themen
des neuen Buchs werden. Das fiese Spiel
der Medien, der Ärger mit der SPD, mit-
tendrin Steinbrück. Wenn es keiner sonst
macht, dann schreibt er es selbst auf. Es
geht auch darum, die Deutungshoheit
über das Ich zurückzugewinnen.
Aber das ist nicht so leicht. In London
steht Steinbrück an einem Tisch im Un-
tergeschoss des University College und
hält seinen Vortrag über Europa. Peer
Steinbrück provoziert und bollert. Eine
Rede zu Europa, das ist ein Heimspiel.
Es läuft.
Dann stellt ein Student eine Frage:
„Was kann die SPD tun, um bei der
nächsten Wahl nicht wieder zerstört zu
werden?“ Die Frage bringt Steinbrück
völlig aus dem Konzept.
„Ich kann nicht, ich kann nicht …“,
holpert er, „ich kann das nicht in zwei
Minuten beantworten … das ist eine sehr
komplexe Frage.“
Dann sucht er einen Weg heraus aus
dem Schlamassel. Er glaubt, ihn zu finden,
indem er Fragen stellt, statt Antworten
zu geben. „Was war mit der Kampagne?
Was war mit den Umständen? Ich kann
das nicht in wenigen Minuten umschrei-
ben.“ Die SPD habe einige Fehler
gemacht, sagt er dann noch. „Vielleicht
haben wir die Situation falsch einge-
schätzt.“ Mehr kommt nicht.
Es ist nicht so, dass es den Klartext-
Steinbrück gar nicht mehr gibt, doch die
alte Rolle passt für ihn nicht mehr so
recht. Das Thema „Ich und die“ funktio-
niert nicht mehr, weil Steinbrück als Kan-
didat Teil des Systems war. Das Thema
„Vernunft gegen Parteidisziplin“ auch
nicht, denn er ist diszipliniert für Dinge
eingetreten, die er für unvernünftig hält.
„Wenn ich nur dürfte“ ist auch kein gutes
Motiv mehr für seine Reden. Er war
schließlich Kanzlerkandidat und durfte.
Bleibt Europa. Das funktioniert noch, es
war ja kein Wahlkampfthema.
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL

Steinbrück hat noch nicht herausge-


funden, wie er mit den begrenzten Mög-
lichkeiten umgehen soll. In London auf
der Bühne stand er auf einmal blank da.
Ex-Kandidat Steinbrück beim Es ist ein Makel, den Steinbrück seit Sep-
SPD-Bundesparteitag im November 2013 tember mit sich trägt. Er erschwert den Weg
23
Deutschland

zurück in das Leben vorher. Er behindert Peer Steinbrück ist nicht der Typ, der
ihn dabei, die Kampagne zum Sabbatical zeigt, wie es in ihm aussieht. Im vergan- A F FÄ R E N
seines Leben werden zu lassen, nach dem genen Dezember hält er in der SPD-Zen-
er wieder so sein darf wie vorher.
Die 51 Wochen Wahlkampf haben sein
Leben neu geprägt. Lieber früher als spä-
trale eine Festrede zur Eröffnung einer
Fotoausstellung zum 100. Geburtstag Wil-
ly Brandts. Es ist der Tag, an dem seine
Drama ohne
ter will Steinbrück wieder bezahlte Vor-
träge halten. Es gab schon Angebote,
Steinbrück wollte gern zusagen. Mit
Mühe konnten seine Berater ihn davon
Tochter Geburtstag feiert, er möchte so
schnell wie möglich weg.
Plötzlich stellt sich ihm eine Frau in
den Weg: „Ich hoffe, dass sie nach der
Ende
Die Sozialdemokraten werden die
abhalten, das schon kurz nach der Bun- Wahl nach einiger Zeit wieder ein gutes
destagswahl zu tun. Leben führen können.“ Steinbrück sagt: Edathy-Affäre nicht los. Neue
Der Marktwert des Redners Steinbrück „Meine Seelenlage ist stabil.“ Dann ver- Fragen und der geplante Partei-
wird gerade neu vermessen. Ein Redner schwindet er in den Berliner Abend. ausschluss sorgen für
wird nicht als Mensch eingekauft, son- Der Aussteiger Steinbrück sucht seinen Streit und Unruhe in der Partei.
dern als Träger eines Images. Früher galt: Weg zurück, er würde so gern wieder da-

E
Peer Steinbrück, der coole Politmanager, stehen, wo er war, bevor alles losging. s gibt Tage, da ist die Welt der SPD
Mann klarer Worte. Das funktioniert jetzt Ohne Verletzungen, ohne Niederlage. in Ordnung, und es gibt Tage, an
nicht mehr. Den Elder Statesman wird es so schnell denen alles wieder hochkommt.
Jetzt gibt es auf einmal eine Vergangen- nicht geben. Ein halbes Jahr nach der Am vergangenen Donnerstag stand plötz-
heit, mit der er umgehen muss. Über Feh- Wahl ist damit auch klar, was so eine lich ein Oberstaatsanwalt auf den Fluren
Kanzlerkandidatur den Menschen, der des Bundestags und wollte die früheren
kandidiert, kosten kann. Steinbrück hat Dienstrechner von Sebastian Edathy un-
mehr geben müssen für die Kanzlerkan- tersuchen. Die SPD-Abgeordnete Sonja
didatur als Zeit für den Wahlkampf. Steffen und ein IT-Spezialist von Bundes-
Als Gerhard Schröder sein Leben nach tagspräsident Norbert Lammert wohnten
der Kanzlerschaft begann, startete er dem Vorgang bei. Der Staatsanwalt durch-
ohne Rücksicht auf seinen Ruf eine Kar- forstete die Computer nach Spuren von
riere als Geschäftsmann. Schröder han- Kinderpornografie. Ob er fündig gewor-
delte wie jemand, dem die Folgen egal den ist, darüber schweigen sich die Betei-
waren. Aber er hatte sieben Jahre als Re- ligten aus.
gierungschef und einen furiosen Wahl- Die SPD wird die Affäre um Edathy
kampf hinter sich. Obwohl er die Wahl nicht los. Mal meldet sich die Staatsan-
verloren hatte, stand er stark da. Er hat waltschaft. Mal ist es die Öffentlichkeit,
einfach sein Ding gemacht. die in schrillem Ton über den Umgang
Bei Steinbrück ist es anders. Die Nie- mit Edathy streitet. Dann ist es wieder
derlage war schwerer, sie ist mit ihm per- der 44-Jährige selbst, der nicht einsehen
sönlich verbunden. Es hat ihn getroffen. will, dass die von ihm gekauften Nackt-
Er will den Boden unter den Füßen wie- aufnahmen mehr als eine juristisch-straf-
derfinden, doch im Moment zappelt er rechtliche Frage sind. Am Freitag schließ-
noch in der Luft. lich kam heraus, dass vier Beamte des
Es geht bei Peer Steinbrück nicht nur Bundeskriminalamts (BKA) schon weit
darum, seine Marke zu erhalten. Stein- früher als bekannt von der Verbindung
brück hat das Jahr im Wahlkampf als un- Edathys zu den Kinderpornografie-Er-
MAURICE WEISS / OSTKREUZ

würdig empfunden. Er vermisste den Re- mittlungen wussten, aber der Sache laut
spekt an seiner Person, er fühlte sich per- BKA-Erklärung nicht nachgingen. Das
sönlich diffamiert. wird neue Fragen aufwerfen, vor allem
Sein langsamer Weg aus der Öffent- an BKA-Chef Jörg Ziercke. Das SPD-Mit-
lichkeit heraus ist sein Weg, für sich Res- glied soll Anfang April noch einmal vor
pekt zurückzugewinnen. Für den verletz- dem Innenausschuss des Bundestags aus-
Parteifreunde Steinbrück, Helmut Schmidt 2011 ten Steinbrück bedeutet Respekt, dass sagen. „Die Sache nervt einfach“, klagt
Nicht so schnell Elder Statesman man ihn wenigstens die Zeit nach der ein Mitglied des Parteivorstands.
Kandidatur so gestalten lässt, wie er sie Besonders verzwickt ist freilich der ei-
ler zu sprechen scheint aber auch mit Ab- sich gestalten will. Es ist ein letzter Schritt gene Beitrag der SPD zu dem Problem,
stand nicht in Steinbrücks Konzept zu der Unangepasstheit. Er wünscht sich, das von Parteichef Sigmar Gabriel ange-
passen. Für ihn war in der Mediengesell- dass wenigstens das funktioniert. stoßene, unter seinen Genossen höchst
schaft und in einer Bevölkerung, die kei- Am zweiten Tag seiner Londoner Reise umstrittene Parteiordnungsverfahren ge-
ne Zumutungen wollte, die Wahl nicht sitzt Peer Steinbrück in der Lobby des gen Edathy. Das zuständige Schieds-
zu gewinnen. Grand-Royale-Hotels nahe dem Hyde gericht in Hannover hat es zwar auf Eis
„Bemerkungen wie die über die Park, es ist ein dunkler Raum mit Holz, gelegt, bis die Staatsanwaltschaft ihre Er-
Clowns oder den Pinot Grigio hätte ich das jedes Tageslicht schluckt. Steinbrück mittlungen abgeschlossen hat. Aber die
mir wohl besser verkneifen sollen – auch hat eine Zeitung in der Hand, die „Times“. Frage, was dann passiert, könnte die SPD
wenn ich heute darüber lachen kann“, Auf der Titelseite prangt ein großes Foto, in ihre heimlichen Leidenschaften zurück-
sagt Steinbrück. „Die Medien haben das es zeigt Angela Merkel, kurz bevor sie Da- fallen lassen: Selbstbeschäftigung und
dann aufgenommen, zusammengerührt vid Cameron auf die Wange küssen wird. Selbstbeschädigung.
und sich daraus eine Chronique scanda- Steinbrück blickt darauf, dann sagt er zu Viel spricht dafür, dass Gabriel unab-
leuse gebastelt.“ Über die schweren Pat- sich selbst: „Sie hat Cameron nicht viel hängig von einer möglichen Anklage-
zer, den Stinkefinger, die Vorträge, das geboten.“ Es ist, als stellte er sich kurz vor, erhebung gegen Edathy den Ex-Innen-
Kanzlergehalt redet er nicht. wie es wäre, wenn er nicht verloren hätte. experten aus der Partei werfen will. Der
26 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Vorsitzende handelt getreu dem Motto:
Was muss, das muss. Kritiker des Vorha-
bens warnen dagegen vor der Gefahr ei-
ner monatelangen Hängepartie vor der
Schiedskommission, regelmäßigen Eda-
thy-Schlagzeilen und am Ende womög-
lich einer Niederlage der Parteiführung.
Einem Sozialdemokraten die Mitglied-
schaft zu kündigen ist ein schwieriges Un-
terfangen, das lehrt die jüngere Vergan-
genheit. Im Fall von Thilo Sarrazin
preschte Gabriel gegen dessen Ausländer-
Thesen vor – und scheiterte. Auch Ex-Su-
perminister Wolfgang Clement war we-

ROLAND NELLES / DER SPIEGEL


gen seiner Kritik an einem SPD-Wahl-
kampf nicht über Schiedsverfahren aus
der Partei zu bugsieren. Er gab das Mit-
gliedsbuch schließlich freiwillig zurück.
Natürlich will niemand in der SPD Eda-
thy derzeit in Schutz nehmen. Zu proble-
matisch sind die Bilder, die er sich bestell- Sozialdemokrat Edathy: Schwere Schädigung der Partei?
te, zu eigenartig ist seine Verteidigungsli-
nie, die er im SPIEGEL-Gespräch präsen- die Schritte gegen Edathy deutlich, die nur die Mitgliedsrechte Edathys ruhen zu
tierte (SPIEGEL 12/2014). Aber mancher der Parteivorstand in seiner Sitzung am lassen und später über ein Parteiordnungs-
Sozialdemokrat hofft dennoch, dass die 10. März verabschiedete. Die Führung um verfahren zu entscheiden. Das akzeptier-
Parteispitze das Rausschmiss-Vorhaben Gabriel sieht in Edathys Verhalten dem- ten auch die Kritiker. Entsprechend fühl-
überdenkt. „Wenn allein moralische Kate- nach „eine schwere Schädigung“ der Par- ten sie sich hintergangen, als sie wenig
gorien über Parteimitgliedschaften ent- tei. „Dieser Schaden ist nicht etwa zivil- später registrierten, dass das Ruhen der
scheiden – wo fängt das an? Und wo hört rechtlich zu verstehen, sondern politisch, Mitgliedsrechte automatisch einen Antrag
das auf? Schmeißen wir dann auch die als Beeinträchtigung des Ansehens der auf ein Ordnungsverfahren nach sich zieht.
Mitglieder raus, die beim Textildiscounter Partei in der Öffentlichkeit, Gefährdung Offen kritisieren will Gabriel derzeit nie-
einkaufen, weil die Kleidungsstücke unter ihrer Kampagnenfähigkeit oder ihres in- mand, das Thema ist zu sensibel. Was aber,
menschenunwürdigen Bedingungen her- neren Zusammenhalts und die Beein- wenn Edathy nichts Strafbares nachgewie-
gestellt werden?“, sagte der Bundestags- trächtigung ihrer Glaubwürdigkeit“, heißt sen werden kann? „In einem solchen Falle
abgeordnete Burkhard Lischka kürzlich es in dem Papier. „Durch die Aufmerk- gäbe es keinerlei Grundlage für einen
in interner Runde: „Moral und Politik ver- samkeit in der Öffentlichkeit, die der Vor- Rausschmiss mehr“, sagt ein Parteivor-
langt eine breite Diskussion, bevor in Ein- fall schon jetzt hat, ist mit großer Wahr- standsmitglied. „Ich halte es für völlig klar,
zelfällen irgendwelche Parteiordnungs- scheinlichkeit zu erwarten, dass sich die- dass es ohne Anklage auch kein Ordnungs-
verfahren eingeleitet werden.“ ser Schaden noch vergrößert.“ verfahren geben wird“, sagt ein Kollege.
Gabriels Unterstützer halten dagegen. Das Papier legt nahe, dass Gabriel selbst Noch ist es nicht so weit. Die Ermitt-
„Das Ordnungsverfahren gegen Edathy dann auf Kurs bleiben will, wenn die straf- lungen laufen, das zeigt nicht zuletzt die
ist richtig“, sagt der Bundestagsabgeord- rechtlichen Ermittlungen eingestellt wer- Prüfung der Dienstrechner am vergange-
nete Karl Lauterbach. Es gehe nicht dar- den. „Unabhängig von der strafrechtlichen nen Donnerstag. Inzwischen liegen den
um, ob sich jemand strafbar verhalten Relevanz, über die allein die zuständigen Hannoveraner Strafverfolgern fast alle Ko-
habe oder nicht. „Hier geht es nur darum, Ermittlungsbehörden beziehungsweise die pien der fraglichen „Film- und Fotosets“
ob jemand der Partei in einer inakzep- Strafgerichtsbarkeit zu entscheiden haben, vor, die Edathy von 2005 bis 2010 bei dem
tablen Art und Weise gravierenden Scha- hält der Parteivorstand die Bestellung der- kanadischen Versandportal Azov Films
den zugefügt hat. Und das hat Sebastian artiger Film- und Fotoaufnahmen für nicht bestellt hatte. Das „tatrelevante Material“
Edathy“, so Lauterbach. vereinbar mit dem Selbstverständnis einer – so formuliert es die Staatsanwaltschaft –
Wie entschlossen Gabriel ist, wird in Mitgliedschaft in der SPD“, heißt es. Auf enthält eine Vielzahl Abbildungen unbe-
der internen dreiseitigen Begründung für die Frage der Legalität „kommt es hier kleideter Kinder und Jugendlicher. Edathy
nicht an“. Auch legale Nacktaufnahmen selbst bestreitet, dass es sich dabei um il-
könnten die Persönlichkeitsentwicklung legale Kinderpornografie handelt (siehe
der Kinder gefährden. auch das Interview mit der Kunstge-
Gabriel will sich nicht weiter öffentlich schichtsprofessorin Anne-Marie Bonnet
dazu äußern. In der SPD weiß man, dass auf Seite 127).
ihm vor allem zwei Dinge wichtig sind: Das Bundeskriminalamt und die Gene-
BERND VON JUTRCZENKA / PICTURE-ALLIANCE / DPA

zum einen maximale Distanz zu Sebas- ralstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main


tian Edathy und seinen Bestellungen. hatten das Material zunächst als „straf-
Zum anderen Geschlossenheit der eige- rechtlich irrelevant“ eingestuft. Doch die
nen Leute. Hinzu kommt: Er ist Vater ei- Hannoveraner Ermittler wollen die Auf-
ner jungen Tochter. Das Thema regt ihn nahmen jetzt selbst prüfen: Auch einzel-
auch ganz persönlich auf. ne Szenen von strafbarer Kinderporno-
Wie kompliziert die Lage in der SPD grafie könnten für eine Anklage reichen.
ist, zeigte sich in der Vorstandssitzung, in Der Sprecher der Staatsanwaltschaft,
der der Parteichef die harte Haltung gegen Hans-Jürgen Lendeckel: „Die abschlie-
Edathy durchsetzte. Zwei Stunden lang ßende Bewertung dieses Materials steht
SPD-Spitzen Oppermann, Gabriel stritten die Vorständler an jenem 17. Fe- noch aus.“ HORAND KNAUP,
Harter Kurs bruar. Dann schlug Gabriel vor, zunächst VEIT MEDICK, SVEN RÖBEL

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 27
BUNDESLÄNDER

Spurenelemente
In der Geschichte der Bundesrepublik waren die Ministerpräsidenten oft gefährliche Rivalen
der Mächtigen in Bonn und Berlin. Heute rüttelt keiner der Amtsinhaber
mehr am Zaun des Kanzleramts. Was ist passiert? Von Konstantin von Hammerstein

GOETZ SCHLESER

Regierungschef Albig an der Kieler Förde


Deutschland

T
orsten Albig hat einen kalten Blick irgendetwas schuldet. Seinen Wahlerfolg Denn die Ministerpräsidenten spielten
auf die Welt. Seinen bundespoliti- in Schleswig-Holstein hat er allein erzielt. in der Nachkriegsgeschichte eine überra-
schen Stellenwert kann der schles- „Was ich hier mache“, sagt er, „hat gende Rolle. Selbst Konrad Adenauer hat-
wig-holsteinische Ministerpräsident an ei- kaum Bezug zur virtuellen Berliner Welt. te Respekt vor ihrem Einfluss. Zwar ver-
nem einzigen Buchstaben ablesen, einem Hier ist das Leben echt.“ Er verspürt kei- spottete er sie als „Zaunkönige“, doch
kleinen „h“. Ihm muss man nichts erzäh- nen Drang, in der Hauptstadt Karriere gleichzeitig war er vor ihnen auf der Hut.
len. Als Sprecher der drei SPD-Finanz- zu machen, auch materiell wäre es kaum Den Düsseldorfer CDU-Regierungschef
minister Oskar Lafontaine, Hans Eichel eine Verbesserung. Karl Arnold nahm er als Rivalen immer-
und Peer Steinbrück war er einer der Albig ist wie viele seiner 15 Kollegen hin so ernst, dass er ihn am Ende sogar
wichtigen Strippenzieher der Hauptstadt. ein Ministerpräsident neuen Typs. Sie mit einer gezielten Rufmordkampagne
„Schön hier, oder?“, fragt Albig. Er er- wollen ihr Bundesland repräsentieren, sie aus dem Amt getrieben haben soll.
wartet keine Antwort. Die Wintersonne sehen sich eher als Landesoberbürger- Vier der sieben Kanzler nach Adenauer
scheint in sein Arbeitszimmer. Vor dem meister, sie sind knallharte Vertreter ihrer waren vorher Ministerpräsidenten, und
Fenster zieht die Skandinavien-Fähre vor- regionalen Interessen. Aber auf der Bun- auch die meisten Kanzlerkandidaten dien-
bei. „Ich habe von allen Ministerpräsi- desebene spielen sie nur dann mit, wenn ten als Regierungschefs in den Ländern.
denten das Büro mit dem schönsten sie zu Hause punkten müssen. Helmut Kohl hatte es ihnen vorgemacht.
Blick“, sagt Albig. Die Aussicht auf die „Bundespolitische Spurenelemente“ 1969 zog er in Mainz in die Staatskanz-
Kieler Förde ist unbezahlbar. nennt das der sozialdemokratische Par- lei ein. Kohl habe früh erkannt, dass ein
In Berlin schreiben die Journalisten sei- teivize Ralf Stegner. Und CSU-Veteran Ministerpräsident, „so er nur genug Be-
nen Vornamen konsequent falsch. Thors- Edmund Stoiber konstatiert ernüchtert: denkenlosigkeit besitzt, gewissermaßen
ten mit h. Er spielt keine Rolle in der „Viele Ministerpräsidenten haben sich den Marschallstab des Bundeskanzlers im
Hauptstadt. „Wenn ich da auf einer Ver- mehr zu Regionalpolitikern entwickelt.“ Tornister hat“, schreibt Kohl-Biograf
anstaltung bin, fragen sich die Leute doch Es ist ein Schicksal, das nur teilweise Hans-Peter Schwarz.
eher: Wer ist denn der nette Mann mit selbst gewählt ist. Weil jede Partei inzwi- Ministerpräsident, Bundesvorsitzender,
Glatze?“, sagt Albig. Er macht keinen un- schen mit jedem kann, wechseln die Ko- Kanzlerkandidat – diesen Zusammen-
zufriedenen Eindruck.
„Es ist ziemlich cool, Ministerpräsident
zu sein“, findet er. Im vergangenen Jahr
ist Albig 50 geworden, in Berlin besitzt
er noch ein Haus, aber er fühlt sich wohl
hier in Kiel. „Mein Politikstil ist schon
eher ein präsidialer“, sagt er, „es ist ein
großes Privileg, ein so wunderschönes
Land zu repräsentieren, das auch sehr
freundlich zu seinem Ministerpräsidenten
ist. Da wartet wirklich ganz selten jemand
ROLF VENNENBERND / PICTURE ALLIANCE

mit faulen Eiern auf dich.“


Im November hat er in Berlin an den
Koalitionsverhandlungen teilgenommen.
Spaß hat es ihm nicht gemacht. Er hat
keine Lust mehr auf Konferenzen, auf de-

GÖTZ SCHLESER
nen 40 Leute durcheinanderreden. Lieber
leitet er seine eigenen Sitzungen. Da re-
det nur er, und am Ende wird gemacht,
was der Chef sagt. Länderchefs Kraft, Kretschmann: Wer kein Geld hat, hat auch keine Bedeutung
Aber Albig weiß, was er seinen Wäh-
lern schuldig ist. Sie erwarten von ihrem alitionen in den Ländern und damit auch hang der „drei Zentralelemente des deut-
Ministerpräsidenten, dass er ab und an die Ministerpräsidenten häufiger als frü- schen politischen Systems“ habe Kohl
in der Hauptstadt Beute macht. Und so her. Bevor sie sich an ihren Job gewöhnt verinnerlicht, so Schwarz. Und nach ihm
fuhr er nach Berlin und sorgte dafür, dass haben, sind sie ihn oft schon wieder los. viele andere: Franz Josef Strauß, Oskar
im Koalitionsvertrag zweimal das Wort Die Beteiligung an den Landtagswah- Lafontaine, Johannes Rau, Rudolf Schar-
„Nord-Ostsee-Kanal“ auftaucht. Die Men- len ist zurückgegangen und liegt im ping, Gerhard Schröder, Edmund Stoiber.
schen in Westerrönfeld und Neuwitten- Schnitt nur noch bei 60 Prozent. Landes- Kohl war noch gar nicht Kanzler, da
bek konnten zufrieden sein. politik interessiert immer weniger Men- saßen ihm die mächtigen CDU-Landes-
Im Januar machte ihm Sigmar Gabriel schen. Für die Ministerpräsidenten ist es fürsten schon im Nacken: Gerhard Stol-
ein Gottesgeschenk. Der neue Wirt- deshalb schwerer geworden, bundesweit tenberg in Kiel, Ernst Albrecht in Han-
schaftsminister will den Ausbau der wahrgenommen zu werden, es sei denn, nover, Lothar Späth in Stuttgart und spä-
Windenergie begrenzen. Im Windmüh- sie werden von einem Skandal verfolgt. ter Richard von Weizsäcker in Berlin. Der
lenland Schleswig-Holstein fand man das Bayern hatte bei den Verfassungsbera- Druck ließ nicht nach, als Kohl 1982 ins
unkomisch. Albig nutzte die Chance, den tungen 1948 durchgesetzt, dass die Minis- Kanzleramt einzog. Wenige Wochen vor
eigenen Parteichef zu beschimpfen, und terpräsidenten über den Bundesrat in der dem Fall der Berliner Mauer musste er
verglich Gabriels Pläne mit dem Sozialis- nationalen Politik ein wichtiges Mitspra- noch einen schlecht vorbereiteten Putsch-
mus. In Berlin hassten sie ihn dafür, in cherecht bekamen. „I am also a Bundes- versuch des baden-württembergischen
Neumünster gab es Schulterklopfen. politiker“, tönte später der Münchner Ministerpräsidenten abwehren.
Das Große und Ganze interessiert ihn Premier Franz Josef Strauß auf Auslands- Auch Angela Merkel wurde in den ers-
nicht. Mag sein, dass ihn bundesweit nie- reisen. Wenn jetzt die bundespolitische ten Jahren ihrer Kanzlerschaft von den
mand kennt, in Kiel ist Albig die Nummer Bedeutung der Landesfürsten abnimmt, Landesfürsten bedrängt. Jeder Schritt,
eins. Sein Parteichef ist ihm eher gleich- verändert sich das Machtgefüge der Re- den Roland Koch in Hessen unternahm,
gültig. Er glaubt nicht, dass er Gabriel publik. ließ sich unter dem Blickwinkel seiner
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 29
Ministerpräsidenten der Länder nüchternen Nato-Saal des Kanzleramts
statt, einen Kamin gibt es nicht. Schon
die Namensschilder sind aufschlussreich.
Torsten Albig, SPD „MP Ypsilon“, steht bei den Ministerprä-
seit Juni 2012 sidenten, das Pappschild am Platz von
Angela Merkel dagegen verzichtet auf
SCHLESWIG- Erwin Sellering, SPD den Namen: „Bundeskanzlerin“. Damit
HOLSTEIN seit Oktober 2008 ist die Hierarchie klargestellt.
MECKLKLENBURG
KL
MECKLENBURG- Merkel erscheint zusammen mit ihren

TH . KO EH LER
M. WEI SS
CH . TH I EL
ORPOMMER
MMERN
MMER
VORPOMMERN Fachministern, die Ministerpräsidenten
müssen allein kommen. „Wir sitzen da
Olaf Scholz, SPD wie Schüler vor ihrer Klassenlehrerin“,

EVENTPRESS
seit März 2011 so beschreibt ein Regierungschef die ab-
Jens Böhrnsen, SPD surde Situation.
seit Nov. 2005 HAMBURG Die Kanzlerin dominiert das Treffen.
Klaus Wowereit, SPD Wenn ihr danach ist, demütigt sie selbst
BREMEN seit Juni 2001
TH . KO EH LER

Horst Seehofer vor den versammel-


BERLIN ten Kollegen mit einer spitzen Be-
NIEDER- merkung. Anfangs versuchte noch

P. FRI SCH MUTH


K RO N F OTO
SACHSEN Hannelore Kraft, Kontra zu geben,
Stephan Weil, SPD doch Merkel ließ sie kühl abtropfen.
Reiner Haseloff, CDU
BRANDEN- Inzwischen hat sie keinen ernsthaf-
seit Februar 2013 BURG
seit April 2011 ten Gegenspieler mehr.
H. SCHACHT

Dietmar Woidke, SPD Die Veranstaltung spiegelt das


SACHSEN-
Hannelore Kraft, SPD ANHALT seit August 2013 Machtgefälle, das mittlerweile zwi-
seit Juli 2010 schen Bund und Ländern herrscht.
Die Ministerpräsidenten sind Bitt-
R. P FE IL

NORDRHEIN- steller. „Kein Land kommt heute


WESTFALEN
ohne Bundeshilfen aus“, sagt Hes-
SACHSEN sens Regierungschef Volker Bouf-
CH. THIE L

fier, „damit hat der Bund eine viel größe-


TH. TRUTSCHEL

THÜRINGEN Stanislaw
Tillich, CDU re Bedeutung als früher.“ Die Länder sind
Volker Bouffier, CDU
seit August 2010 Christine Lieber- seit Mai 2008 hoch verschuldet, sie kämpfen mit der
Malu Dreyer, SPD Schuldenbremse, die ihnen ab dem Jahr
G. W E STRICH

knecht, CDU
seit Januar 2013 2020 verbietet, ihre Haushalte mit neuen
HESSEN seit Oktober 2009
RHEIN- Krediten auszugleichen. Wer aber kein
TH. TRUTSCHEL

LAND- Geld hat, hat auch keine Bedeutung. So


PFALZ einfach ist es.
Zudem hat sich die politische Land-
Horst Seehofer, CSU
schaft verändert. Zwei Jahre und sieben
seit Oktober 2008
Monate lang regierte David McAllister in
Hannover. Im Dienstalter-Ranking der 16
SAARLAND BAYERN
Winfried Kretsch- Ministerpräsidenten lag der Christdemo-
Annegret Kramp- mann, Grüne krat damit schon auf Platz acht. McAllis-
Karrenbauer, CDU ter galt als charismatischer Nachwuchs-
M. MÜLLE R

seit Mai 2011


seit August 2011 star seiner Partei, gut möglich, dass er
TH. TRUTSCHEL

BADEN- nach einigen Jahren in der niedersächsi-


M. WEI S S

WÜRTTEM- schen Staatskanzlei auch bundespolitisch


BERG an Macht und Einfluss gewonnen hätte.
Doch dazu kam es nicht. Vor einem Jahr
Parteienzusammensetzung wurde er abgewählt.
der Landesregierungen
„Das Zeitalter der Tabus ist vorbei“,
CDU CSU SPD Grüne FDP Linke Südschleswigscher Wählerverband sagt der Bremer SPD-Bürgermeister Jens
Böhrnsen. Die Verhältnisse änderten sich
Rivalität zur Kanzlerin interpretieren. rhein-Westfalens Regierungschef Jürgen dadurch immer häufiger. In Hessen ko-
Später war es der Umfrageliebling Chris- Rüttgers sorgte fast im Alleingang dafür, alieren jetzt Schwarze und Grüne, in Thü-
tian Wulff, der ihr gefährlich erschien. dass ältere Arbeitslose länger Arbeitslo- ringen kann sich die SPD mittlerweile
Merkel beförderte den Rivalen aus Han- sengeld beziehen konnten. vorstellen, auch unter einem linken
nover ins Schloss Bellevue. Ein Schach- Und heute? Ministerpräsidenten mitzuregieren. Im
zug, der im Desaster endete. Die wahren Machtverhältnisse der Re- Osten gibt es schon Kommunen, in denen
Doch den Ministerpräsidenten ging es publik zeigen sich bei einem Ritual von Union und Linke zusammenarbeiten.
nicht nur darum, an die Spitze vorzusto- erhabener Bedeutungslosigkeit: der Minis- Zehn unterschiedliche Regierungskonstel-
ßen, sie wollten in der Hauptstadt mit- terpräsidentenkonferenz, die viermal im lationen sind derzeit in den Ländern zu
reden. Aus dem kleinen Saarland mischte Jahr stattfindet, zuletzt am Donnerstag besichtigen.
Oskar Lafontaine in den achtziger Jahren vor zwei Wochen in Berlin. „Höchst- Kein Ministerpräsident kann sich
regelmäßig mit seinen Vorstößen die Bun- strafe“ nennt ein ehemaliger Regierungs- darauf verlassen, dass er wie früher auf
despolitik auf, der sächsische Minister- chef die Veranstaltung. Jahre hinaus fest für sein Amt gebucht
präsident Kurt Biedenkopf war eine wich- Höhepunkt ist das „Kamingespräch“ ist. Das hat Folgen. Wer im Land Erfolg
tige Stimme in der Euro-Debatte, Nord- mit der Kanzlerin. Das Treffen findet im haben will, darf keinen Zweifel daran
30 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Deutschland

lassen, dass er im Land auch bleiben Kleiner Test: Wer kann fehlerfrei die Anders als Hannelore Kraft. Die Frau
wird. 16 Ministerpräsidenten aufzählen? Selbst aus Mülheim an der Ruhr regiert das be-
Das Scheitern des CDU-Kandidaten langgediente Berliner Kabinettsmitglie- völkerungsreichste Bundesland, sie kann
Norbert Röttgen in Nordrhein-Westfalen der bitten dann manchmal um eine Nach- auf Parteitagen mit Abstand über die
und der grünen Spitzenfrau Renate Kü- spielzeit. Wie heißt er noch mal, der meisten Delegiertenstimmen verfügen,
nast in Berlin ist in den Ländern aufmerk- Mann aus Schwerin? Falsch. Erwin Selle- sie ist stellvertretende SPD-Bundesvorsit-
sam beobachtet worden. Beide wollten ring. zende. Wenn Kraft in Berlin Karriere ma-
für den Fall der Niederlage auf ihre Ber- Als der Baden-Württemberger Kretsch- chen wollte, wäre es schwer, sie daran zu
liner Ämter nicht verzichten. Diesen Feh- mann vor drei Jahren zum ersten grünen hindern. Aber will sie?
ler wird niemand wiederholen, auch um Ministerpräsidenten der Republik ge- Die Frage verfolgt sie bis nach Groß-
den Preis, die eigenen bundespolitischen wählt wurde, war er ein Star. Der knor- britannien. Im Februar hält sie vor der
Karriereambitionen zu beerdigen. rige Gymnasiallehrer aus Sigmaringen London School of Economics einen Vor-
Doch es gibt noch eine andere Entwick- konnte sich kaum der vielen Talkshow- trag zur deutschen Energiewende. Müh-
lung, die den Ministerpräsidenten zusetzt. Einladungen erwehren und schaffte es sam quält sie sich auf Englisch durch die
Die „Verpapstung der deutschen Politik“ auf die Treppe der populärsten Politiker. komplizierten Fachbegriffe. Am Ende
nennt der Stuttgarter Regierungschef Es war ein kurzer Ruhm. Im Bundestags- meldet sich der Reporter der Studenten-
Winfried Kretschmann das Phänomen, wahlkampf machte Kretschmann im vori- zeitung und hat nur eine einzige Frage:
das nicht nur ihn besorgt. In der katho- gen Herbst eine ungewohnte Erfahrung: „Wie stehen Sie zur Kanzlerkandidatur?“
lischen Kirche konzentrierte sich immer „Wenn ich in einem anderen Bundesland Er bekommt keine Antwort.
schon alles auf den Mann an der Spitze. auftrat, kam keiner mehr.“ Kraft hat das Gefühl, zu diesem Thema
In der Politik lässt sich inzwischen Ähn- Für ambitionierte Landespolitiker gibt alles gesagt zu haben. Ende November
liches beobachten. es zwei Möglichkeiten, bundespolitisch schockierte sie ihre Partei, als sie sich auf
Durch das Internet hat sich die Zahl aufzufallen. Koch und Wulff waren die einer Sondersitzung der SPD-Landtags-
der Medien in den vergangenen Jahren letzten, die mit diesem Instrument ge- fraktion in Düsseldorf eindeutig festlegte:
vervielfacht; mit dem paradoxen Ergeb- spielt haben. Wer die Kanzlerin heraus- „Ich werde nie, nie als Kanzlerkandidatin
nis, dass inzwischen immer mehr Medien fordert oder gar selbst Kanzler werden antreten. Ich bleibe in Nordrhein-West-
über immer weniger und dann auch noch will, erzielt große öffentliche Wirkung falen. Darauf könnt ihr euch verlassen.“
die immer gleichen Themen berichten. und spielt sofort in der Bundesliga. Das kategorische Nein markierte das
Die quantitative Erweiterung hat zu einer Doch nicht jeder Ministerpräsident hat Ende einer politischen Fehleinschätzung.
qualitativen Verengung geführt. Für die die Möglichkeit dazu. In der Runde der Bereits am Tag der Bundestagswahl hatte
Politik hat das gravierende Folgen. 16 Regierungschefs gilt Olaf Scholz mo- Kraft gegenüber Parteichef Gabriel ange-
Jahrzehntelang genoss jeder Minister mentan als der Einzige, dem bundespoli- deutet, sie könne ihm die Unterstützung
des Bundeskabinetts Prominentenstatus. tischer Karriere-Ehrgeiz nachgesagt wird. des größten Landesverbands entziehen,
Inzwischen richtet sich der Scheinwer- Der Hamburger Bürgermeister gehört zu sollte er eine Große Koalition anstreben.
ferkegel der medialen Berichterstattung den wenigen Ministerpräsidenten, die Gabriel verstand ihre Bemerkung so, wie
nur noch auf die Nummer eins, die sich vom SPIEGEL für diesen Artikel sie wohl gemeint war: als Drohung.
Kanzlerin, und allenfalls drei, vier nicht befragen lassen wollten. Er war zunächst verunsichert, ließ sich
Minister. Die anderen agieren weitgehend Doch der Sozialdemokrat ist bei seinen dann aber nicht beirren und setzte sich
unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Genossen unbeliebt. Der Parteitag in am Ende durch. Kraft hingegen hatte die
Auch die Ministerpräsidenten sind Opfer Leipzig strafte ihn im November bei der Stimmung in der Partei falsch einge-
dieser veränderten Wichtigkeitshier- Wahl zum Parteivize regelrecht ab. Zu- schätzt und musste beidrehen. Nach ih-
archie. „Landespolitiker haben in der dem hat Scholz nur einen kleinen Lan- rem Düsseldorfer Nein zu einer Kanzler-
Regel den Bekanntheitsgrad meines desverband hinter sich und damit allen- kandidatur verbreiteten ihre Vertrauten,
Labradors“, lästert FDP-Mann Wolfgang falls eine Außenseiterchance, 2017 Kanz- sie habe Spekulationen entkräften wollen,
Kubicki. lerkandidat der SPD zu werden. sie werde bei einer möglichen Neuwahl
Deutschland

als Spitzenkandidatin antreten, falls die morgens zu seiner Bank und wies 600
schwarz-rote Koalition von den SPD-Mit- Euro für belegte Brötchen an. Kaffee,
gliedern abgelehnt würde. Blechkuchen, Wein und Sekt kosteten
War die Absage an die Kanzlerkandi- noch einmal 600, macht zusammen 1200.
datur also nur ein politisch motiviertes An seinem Geburtstag hatte er sich vor-
Manöver? Kraft kann sich endlos über mittags die Zeit zwischen zehn und halb
die Berliner Käseglocke aufregen. Über zwölf für Gratulanten frei gehalten. Ha-
die latente Illoyalität der Parteifreunde, seloffs Frau Gabriele, die als Zahnärztin
das gegenseitige Schlechtreden, die in Wittenberg arbeitet, band sich eine
Durchstechereien, die fehlende Vertrau- Schürze um und bediente.
lichkeit, den Druck der Lobbyisten. Die Haseloff ist seit drei Jahren Ministerprä-
Koalitionsverhandlungen, bei denen sie sident von Sachsen-Anhalt, er liebt seine

WERNER SCHUERING / IMAGETRUST


die SPD als Energie-Unterhändlerin ver- Heimat. Im Keller seines Hauses bewahrt
trat, hat sie als Alptraum erlebt. er in Kisten sämtliche Quittungen auf, die
Sie weiß, dass sie als nordrhein-west- in seiner Politiker-Karriere angefallen
fälische Ministerpräsidentin in der Haupt- sind. „Ich kann jeden Teebeutel belegen“,
stadt mitspielen muss. Das wird von ihr sagt der CDU-Mann. Er ist gerüstet.
erwartet. Und so spielt sie mit, als Regie- „Ich zahle alles selbst“, sagt er, „jeden
rungschefin und als Vize ihrer Partei. Cent. Aber wissen Sie was?“ Der Minis-
Doch zum Befremden ihrer Kollegen im Landespolitiker Haseloff terpräsident beugt sich in seinem schwar-
Bund nutzt sie ihre Ämter vor allem dazu, „Ich kann jeden Teebeutel belegen“ zen Ledersessel nach vorn. „Am Ende
für Nordrhein-Westfalen so viel wie mög- werden sie mir vorwerfen, dass durch
lich rauszuholen. meine Geburtstagsfeier das Parkett der
Vieles spricht deshalb dafür, dass sie Staatskanzlei um 0,6 Millimeter abgetre-
wirklich nicht will. Kraft sagt, natürlich ten wurde.“ Haseloff lässt sich zurückfal-
traue sie sich jedes Berliner Amt zu. Das len. Kleiner Scherz am Rande. „So“, sagt
behaupten auch die anderen Regierungs- er, „und jetzt stellen Sie sich das Ganze
chefs. „Jeder Ministerpräsident kann mal in Berlin vor.“
auch Kanzleramt“, sagt Torsten Albig. Lieber nicht. Haseloff blickt auf die
Doch Kraft kennt ihre Grenzen. Sie Hauptstadt wie Erich Maria Remarque in
mag es nicht, wenn die Lage unübersicht- seinem Roman „Im Westen nichts Neues“
lich ist. Parteitagsschlachten sind nicht auf das Grauen des Ersten Weltkriegs.
ihr Ding. Zu Hause in Düsseldorf wird Für den Christdemokraten ist Berlin eine
sie, wie die meisten Ministerpräsidenten, Kampfzone, und er hat kein Bedürfnis,
von den landespolitischen Journalisten mit „dem Messer zwischen den Zähnen
freundlich behandelt. Sie hat keine in den Schützengraben“ zu steigen: „Als
Übung darin, mit einer feindlichen Presse Landespolitiker muss ich in diesem Kro-
umzugehen. Kraft sagt, sie wolle noch kodilsbecken nicht mitmachen.“
ein Leben neben der Politik führen, und Er hat erlebt, wie es seinen Kollegen
SVEN SIMON

sie scheint es ernst zu meinen. ergangen ist. Den beiden angesehenen


Am Ende ist auch Kraft eine Minister- Ministerpräsidenten Matthias Platzeck
präsidentin neuen Typs. So wie ihr Kieler Bundespolitiker Kohl 1969 und Kurt Beck, die in Berlin nach kurzer
Kollege Albig, der davon schwärmt, dass Marschallstab des Kanzlers im Tornister Zeit als SPD-Chefs scheiterten und trau-
man sich als Landesvater „die Befriedi- matisiert in die Provinz zurückkehrten.
gung aus dem Konkreten“ holen könne. ne regionalen Interessen durchsetzen will, Oder, am spektakulärsten, Christian
Oder Christine Lieberknecht in Erfurt, wird sich kaum noch in eine bundespoli- Wulff aus Hannover, den der Hauptstadt-
die beteuert, das Amt als Ministerpräsi- tische Parteidisziplin einbinden lassen. betrieb erst zermalmte, dann ausspie, um
dentin reiche ihr völlig aus, denn da „trifft Schon jetzt ist es schwer, große Reform- schließlich – nach dem Freispruch – ein
man jeden Tag Leute, die einem dankbar projekte durchzusetzen. In Zukunft wird wenig Reue zu heucheln.
sind“. Und all die anderen Regierungs- es so gut wie unmöglich sein. Haseloff wird das nicht passieren. Die
chefs, die selbst im Traum nicht daran Die neue Kleinteiligkeit zeigt sich im Kanzlerin kann ruhig schlafen, wenn sie
denken würden, so wie Gerhard Schröder Bundesrat. Die Zeiten, in denen sich Uni- an den Reiner aus Magdeburg denkt.
im Herbst 1982 erst einen zu picheln, um on und SPD in der Länderkammer geeint „Die Angéla“ nennt Haseloff seine Par-
dann an den Gitterstäben des Kanzler- gegenüberstanden und ein gemeinsamer teivorsitzende, Betonung auf dem e. Er
amts zu rütteln und zu rufen: „Ich will Kompromiss gefunden werden musste, wird nicht nach der Macht greifen.
hier rein!“ scheinen vorbei zu sein. Immer häufiger Haseloff steht auf, er muss los. Drau-
Für die Mächtigen in Berlin mag das hat es der Bund nun mit Ad-hoc-Bünd- ßen vor der Tür seiner Berliner Landes-
eine gute Nachricht sein. Ihnen droht nissen zu tun, deren Zustimmung er sich vertretung warten zwei schwere Limou-
jetzt weniger politische Konkurrenz. Für teuer erkaufen muss. Damit steigt das sinen, eine für ihn, die andere für seine
das Land aber ist es eine schlechte Nach- Risiko, dass man sich am Ende nur noch Leibwächter – Standard bei Deutschlands
richt, denn der Rückzug der Ministerprä- auf den kleinsten gemeinsamen Nenner Ministerpräsidenten, die als gefährdet gel-
sidenten in ihre Provinz verändert die einigen wird. Beim Streit um die Ener- ten. Die Autos sind Bedeutungssignale,
Machtarchitektur der Republik. Wie in giewende deutet sich das bereits an. doch die Bedeutung ist verschwunden.
vielen anderen politischen und gesell- Es ist eine andere Welt, in der sich die Haseloff könnte an diesem Abend die
schaftlichen Bereichen lösen sich nun Ministerpräsidenten zu Hause bewegen. kurze Strecke ins Kanzleramt auch zu
auch im Verhältnis zwischen Bund und So kann man auch ausschließen, dass Rei- Fuß gehen. Attentäter müsste er nicht be-
Ländern alte Loyalitäten auf. ner Haseloff irgendwann am Zaun des fürchten. Die Gefahr, dass er auf den Stra-
Wer nicht mehr das große Ganze im Kanzleramts rütteln wird. Im Februar ßen der Hauptstadt erkannt wird, tendiert
Blick hat, sondern nur noch beinhart sei- wurde er 60. Eine Woche vorher ging er gegen null.
32 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Zuletzt surften die Deutschen im gut, doch das Problem ist: Auch ein halbes
INTERNET Schnitt mit sieben Megabit pro Sekunde, Jahr nach der Wahl bleibt sein Vorhaben
in vielen Regionen gibt es Internet auch Zukunftsmusik, Dobrindt hat keinen funk-

Digital naiv im Jahr 2014 nur in Zeitlupe. Für die Bür-


ger ist das ein Ärgernis, sie können weder
rasch Musik herunterladen noch zügig
tionierenden Apparat. Im Innen- und Wirt-
schaftsministerium, wo seine Konkurren-
ten mit dem hippen Thema ebenfalls punk-
Alexander Dobrindt will der große Mails verschicken. Für Selbständige ten wollen, wechselte nur die Leitung, die
Internetminister sein. und Unternehmen kommt der Status quo Bürokratiemaschine läuft auf Hochtouren.
Doch seine Kollegen torpedieren oft einem Desaster gleich. Niemand fürchtet dort ernsthaft, dass
Untersuchungen der Unternehmens- Dobrindt ihm Kompetenzen wie die mo-
das Vorhaben – beratung Boston Consulting Group bele- derne digitale Verwaltung oder die Un-
zum Schaden der Nutzer. gen, dass Deutschland bis 2020 bis zu terstützung der Start-up-Szene streitig
120 Milliarden Euro Wertschöpfung ver- macht – und er hat es bislang intern auch

D
er Verkehrsminister würde gern schenken würde, wenn der Ausbau des nicht getan. Was Gabriels und de Mai-
eine Menge Kluges über die Inter- Breitbandnetzes weiter vernachlässigt zières Leute umtreibt, ist Dobrindts Rhe-
netrevolution sagen, hier auf der wird. Das entspräche rund 900 000 Jobs, torik. Wann immer er die Gelegenheit
Cebit, der größten Computermesse der die entweder gar nicht entstehen oder bekommt, spricht der Verkehrsminister
Welt. Blöderweise ist der CSU-Mann Ale- verlorengehen. viel über das schnelle Internet, aber we-
xander Dobrindt bei der Veranstaltung Mit- Dobrindt könnte also viele Sympathien nig über langsame Straßen und Schienen.
te März nicht allein, seine Kabinettskolle- gewinnen. Doch sein Thema ist nicht nur Angesichts seiner überschaubaren Zu-
gen Sigmar Gabriel (SPD) und Thomas de populär, es ist auch undankbar. Der Netz- ständigkeiten ist diese Gewichtung durch-
Maizière (CDU) sind auch gekommen. ausbau kostet Geld, das bislang nicht vor- aus mutig. „Die größte Gefahr ist, dass
Und die beiden denken gar nicht daran, handen ist. Deshalb mischt sich Dobrindt Dobrindt merkt, wie wenig er beim The-
dem selbsternannten Minister für „Mobi- in Themen ein, die er gar nicht verant- ma Internet zu melden hat, und sich dann
lität und Modernität“ den Vortritt zu las- wortet. So schlüpft er am vergangenen noch mehr aufplustert“, sagt ein Regie-
sen. Munter parlieren sie über digitalen Mittwoch in die Rolle des Start-up-Minis- rungsmitglied. Und ein anderes fügt hin-
Wandel, Datenschutz, die Gründersze- ters, der um die IT-Szene buhlt. „Wir müs- zu: „Dobrindt weckt im Moment Erwar-
ne – und als Dobrindt endlich dran ist, sen der Old Economy erklären, den Move tungen, die er nicht erfüllen kann.“
sind alle schönen Inhalte abgegrast. in die New Economy zu machen“, ruft er Ganz unbegründet ist die Befürchtung
Also flüchtet sich der Verkehrsminister auf der Berliner Gründerkonferenz „hy!“ nicht. Schließlich ist der Ausbau des
ins Philosophische, spricht von „dynami- jungen Internetunternehmern entgegen. Breitbandnetzes alles andere als gesi-
schen Prozessen“ und einem „Tsunami Immerhin will Dobrindt nun das Fach- chert. Dobrindt will den Netzausbau mit
an Datenmengen“. Zum Dank nennt wissen seiner Behörde in einer Abteilung Erlösen aus künftigen Versteigerungen
Gabriel ihn einen „Digital Native“, also „Digitale Gesellschaft“ bündeln. Das klingt von Mobilfunkfrequenzen voranbringen.
einen, der mit dem Internet auf- Die Milliarden sollen nicht in den
gewachsen ist. Dabei ist er gera- Turbo-Breitbandanschlüsse* Haushalt fließen, sondern dem
de einmal zehn Jahre älter als Bau der ultraschnellen Anschlüs-
Verfügbarkeit, in Prozent der Haushalte
Dobrindt. se dienen. Allerdings stellen
bis 10 * ab 50 Megabit
Die Große Koalition hat Gro- pro Sekunde einige Mobilfunkanbieter wie
ßes vor, sie will „Deutschland >10–50
E-Plus gar keine schnellen Fest-
zum digitalen Wachstumsland >50– 75 netzanschlüsse bereit. Sie müss-
Nummer eins in Europa ma- >75–95 ten also für ihre Mobilfunklizen-
chen“, wie es in einem internen >95 Hamburg zen Geld zahlen, hätten aber
Papier heißt. Gleich drei Minister nichts vom Netzausbau. Viel-
von Gewicht kümmern sich um mehr würden sie mit ihrem Geld
die „Digitale Agenda“, also vor auch noch Konkurrenzangebote
allem Breitbandausbau, Daten- Berlin der Telekom zu ihrem schnellen
sicherheit und Internetwirtschaft. LTE-Mobilfunk finanzieren.
Bislang ziehen sie zwar am glei- „Es ergibt keinen Sinn, dem
chen Kabel, aber nicht am selben Mobilfunkmarkt Investitionsmittel
Ende. zu entziehen und auf das Festnetz
Erst nach langen Verhandlun- zu verlagern“, sagt Jürgen Grütz-
gen konnten sich Gabriel, de ner, Geschäftsführer des Telekom-
Maizière und Dobrindt auf ihre Köln munikationsverbands VATM. Kla-
jeweiligen Zuständigkeiten eini- gen gegen die Umverteilung der
gen, das Kanzleramt musste ver- Gelder, heißt es in einem Bran-
mitteln. chenpapier, seien programmiert.
Das Ergebnis kann vor allem Frankfurt am Main Doch der „Digital Native“
einen nur bedingt glücklich ma- Dobrindt will nicht als digital
chen, dem das Thema besonders naiv dastehen, zäh kämpft er um
am Herzen liegt: Dobrindt. Von die Erweiterung seiner Zustän-
den sieben „zentralen Hand- digkeiten. Vor kurzem konnte er
lungsfeldern“ der digitalen Agen- einen weiteren Erfolg verbuchen.
da hat er nur eines allein ab- München
Den Deutschen Computerspiel-
bekommen, den Ausbau des preis vergibt künftig nicht mehr
Breitbandnetzes. Bis 2018, so das der Kulturstaatsminister, sondern
Vorhaben der Regierung, sollen der Bundesverkehrsminister.
alle Bürger Zugang zum schnel- SVEN BÖLL, FRANK DOHMEN,
len Internet haben. Quellen: BMVI, TÜV Rheinland Stand: 10.März ANNETT MEIRITZ, PETER MÜLLER

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 33
PHIL MOORE
Kongo-Sondergesandter Kobler

zen, wo es hoffnungsvolle Zeichen gibt,


FRIEDENSMISSIONEN zum Beispiel im Kongo.
SPIEGEL: Wo in den vergangenen 15 Jahren

„Es geht um zu viel“ mehrere Millionen Menschen ums Leben


gekommen sind.
Kobler: Die menschlichen Katastrophen,
die dort stattfinden, sind unvorstellbar.
Martin Kobler, 60, Leiter der Uno-Interventionstruppe im Kongo, Es nimmt nur kaum jemand Notiz davon.
über das robuste Auftreten von Uno-Blauhelmen, deutsche Insofern würde ich mich sehr freuen,
wenn sich die deutsche Politik stärker da-
Soldaten in Afrika und seine Sympathie für Ursula von der Leyen für interessieren würde.
SPIEGEL: Bisher sind wir Deutschen in Afri-
SPIEGEL: Herr Kobler, seit einem Jahr gibt welchem Erfolg wir die Interventionstrup- ka ja eher zurückhaltend. Nach Mali schi-
es ein Uno-Mandat für eine spezielle pe einsetzen. cken wir Ausbilder, vielleicht noch Sani-
Eingreiftruppe im Ost-Kongo. Ihre Sol- SPIEGEL: Heißt das, in Mali oder der Zen- tätsflugzeuge nach Zentralafrika. Wären
daten schießen und kämpfen, inzwischen tralafrikanischen Republik müsste die für Sie auch deutsche Peacekeeper, also
geht es im Friedensprozess voran. Uno ebenfalls massiv eingreifen? Soldaten mit robustem Uno-Mandat, auf
Braucht es diese Härte, um Fortschritte Kobler: Man kann das kongolesische Bei- dem Kontinent vorstellbar?
zu erzielen? spiel nicht einfach auf die Zentralafrika- Kobler: Wenn es dafür einen innenpoliti-
Kobler: Ich glaube ja. Die internationale nische Republik oder den Südsudan über- schen Konsens gibt, würde ich das sehr
Gemeinschaft hat 15 Jahre lang ohne tragen. Aber richtig ist, dass man sich vor- begrüßen. Man sollte ohne Scheuklappen
Erfolg versucht, der Lage im Ost-Kongo her genau überlegen muss, wie man seine an die Frage herangehen.
Herr zu werden. Dann sind wir dort, wo Ziele erreicht. Eine der Lehren aus dem SPIEGEL: Um es klar zu formulieren: Wir
es nötig war, auch mit Gewalt gegen die Kongo ist, dass die Erfolgsaussichten grö- sprechen von Kampftruppen, die bei Aus-
bewaffneten Milizen vorgegangen. Das ßer sind, wenn man mit einer militärisch einandersetzungen entschlossen zurück-
hat die Situation spürbar verbessert. starken Truppe in solche Einsätze hinein- schlagen.
SPIEGEL: Was hat sich denn verändert? geht. Mindestens genauso wichtig sind Kobler: Manchmal hilft nur das, aber mili-
Kobler: In vielen Gegenden gibt es keine aber die zivile Ergänzung und die Wie- tärische Aktionen sind nicht nachhaltig,
illegalen Checkpoints mehr. Wo vorher derherstellung der staatlichen Autorität. wenn es keine zivilen Folgemaßnahmen
ein Terrorregime herrschte, können die SPIEGEL: Die Bundesregierung prokla- gibt.
Bauern jetzt wieder ihr Gemüse anbauen miert, unterstützt vom Bundespräsiden- SPIEGEL: Verteidigungsministerin Ursula
und auf den Markt bringen. Die Provinz- ten, eine aktivere Rolle Deutschlands in von der Leyen sagt, Deutschland dürfe
verwaltung hat ihre Arbeit aufgenom- der Welt. Dazu gehört auch ein größeres nicht zur Seite schauen, wenn Mord und
men, Schulen sind wieder in Betrieb, und Engagement in Afrika. Ist das aus Ihrer Vergewaltigung an der Tagesordnung
400 Polizisten sind auch eingestellt. Jetzt Sicht sinnvoll? sind. Ist das auch Ihre Meinung?
müssen wir dafür sorgen, dass dies so Kobler: Ich bin sehr erfreut über die Dis- Kobler: Absolut meine Meinung!
bleibt. kussion und will sie mit voller Kraft un- SPIEGEL: Ist das eine Aufforderung zur be-
SPIEGEL: Ist das ein Vorbild für andere terstützen. In Mali oder der Zentralafri- waffneten Dauerintervention? Mord und
Uno-Einsätze? kanischen Republik sind wir eigentlich Vergewaltigung sind an vielen Orten der
Kobler: Im Moment schauen jedenfalls alle schon zu spät. Wir müssten viel früher Welt gang und gäbe.
sehr aufmerksam auf das Beispiel Kongo. präventiv tätig werden. Aber das gibt es Kobler: Natürlich ist es immer eine Frage
Es wird genau beobachtet, wie und mit nicht zum Nulltarif. Wir sollten da anset- der Dimension. Ich war vor kurzem in
34 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Deutschland

Katanga im Süd-Kongo. Da hatten Rebel- digt, weil unsere Devise an der Stelle müssen jetzt klotzen, nicht kleckern. Wir
len gerade drei Dörfer niedergebrannt, ganz klar ist: Wir gehen nicht zurück hin- können nicht nur auf das Militärische star-
da roch es noch nach Rauch und ver- ter das, was wir einmal erreicht haben. ren und den zivilen Aufbau vernachlässi-
branntem Holz. Ich habe die Kindersol- 15 000 Vertriebene sind danach wieder gen. Deshalb muss die Regierung in Kin-
daten gesehen, die Kinder in den Minen. nach Pinga zurückgekommen. shasa entschlossen Verantwortung über-
Alles inakzeptabel. Da sehen Sie Dinge SPIEGEL: Auch die kongolesische Armee nehmen, und wir müssen sie einbinden.
in einer Dimension, die durchaus recht- hat nicht den besten Ruf. SPIEGEL: Will die denn eingebunden wer-
fertigen, dass man nicht weg-, sondern Kobler: Da hat sich vieles gebessert in den den?
hinschaut. Das tun wir vor Ort, und das letzten zwei Jahren. Wir arbeiten nur mit Kobler: Wir müssen immer an das Morgen
sollten wir auch von Deutschland aus tun. Einheiten der kongolesischen Armee eng denken, an den zweiten Schritt. Wenn
SPIEGEL: Also keine Kaffeerunden mehr zusammen, die wir auf Menschenrechts- wir die Sicherheit erhalten wollen, die
von Blauhelm-Kommandeuren mit War- verletzungen überprüft haben. wir jetzt erreicht haben, brauchen wir die
lords, wie es im Kongo ja immer wieder SPIEGEL: Ihr robuster Auftritt stützt sich kongolesische Armee, die Polizei, den
vorkam? auf eine besonders ausgerüstete, 3000 Staat. Die gute Regierungsführung ist das
Kobler: Nein. Im Kongo haben wir die Ko- Mann starke Interventionstruppe mit Sol- A und O. Ohne Sicherheit und Stabilität
habitation mit bewaffneten Gruppen be- daten aus Südafrika, Tansania und Mala- gibt es aber auch keine gute Regierungs-
endet. wi. Sie haben es geschafft, sich bei den führung. Deswegen will ich die Diskus-
SPIEGEL: Wie konnte es überhaupt zu die- Rebellen Respekt zu verschaffen. Ziehen sion wegführen von der rein militärischen
ser Nähe mit Mördermilizen kommen? die übrigen 16 500 Blauhelme, überwie- Betrachtung.
Kobler: Wenn sich unsere Leute in Rebel- gend vom indischen Subkontinent, denn SPIEGEL: Ihr Plan in allen Ehren. Aber er
lengebieten bewegen, müssen sie sich na- jetzt in gleicher Weise mit? kostet Geld. Wer soll die Offiziere, Poli-
türlich selbst schützen. Und sie müssen Kobler: Das ist ein zentraler Punkt. Wir zisten und Richter bezahlen?
mit den Rebellen reden. Aber da gibt es sind jetzt 15 Jahre im Land, haben aber Kobler: Hauptsächlich die Regierung in
jetzt einen Mentalitätswandel. nichts oder nur wenig gelöst. Das muss Kinshasa. Die internationale Gemein-
SPIEGEL: Das heißt, jetzt wird gleich ge- man selbstkritisch sagen. Stattdessen ha- schaft kann helfen, aber die Verantwor-
schossen? ben sich bestimmte Dinge eingeschliffen. tung liegt bei der Regierung. Und sie hat
Kobler: Nein, in der Stadt Pinga zum Bei- Mit der neuen Interventionstruppe und auch die Mittel dafür. Wo Mittel fehlen,
spiel haben wir mit einem Warlord na- ihrer Dynamik ändert sich allmählich kann die internationale Gemeinschaft ein-
mens Cheka verhandelt. Wir haben seine auch das Denken der traditionellen Peace- springen, sie kann aber nie fehlenden po-
Leute dazu gebracht, ihre Waffen abzu- keeper. Viele Truppensteller, die Blauhel- litischen Willen ersetzen.
geben, und die Kämpfer dann ausgeflo- me stellen, gehen heute robuster an die SPIEGEL: Dieser Wille war in der Haupt-
gen. Da ist kein einziger Schuss gefallen. Sache heran. stadt Kinshasa nicht immer erkennbar.
SPIEGEL: Und Cheka pflanzt jetzt Kartof- SPIEGEL: Jetzt wird also alles gut? Kobler: Es gibt ihn durchaus. Etwa das
feln an? Kobler: Natürlich nicht alles sofort. Ich war- Land in seiner Einheit zu erhalten, es zu
Kobler: Leider nicht. Er hat mit neuen Leu- ne im Gegenteil sehr davor, die Interven- entwickeln oder auch die Bodenschätze
ten Mitte Januar Pinga erneut angegriffen. tionstruppe und überhaupt das Peacekee- zu nutzen.
Im Nachhinein war es ein Fehler, mit ihm ping-Modell im Kongo isoliert zu betrach- SPIEGEL: Das reicht nicht, um das Land
zu verhandeln. Wir lernen hier eben auch ten. Es wird alles vergebens sein, wenn aufzubauen und ihm eine funktionieren-
noch. Heute weiß ich, dass man in diesen auf den militärischen Erfolg nicht die zi- de Struktur zu geben.
Gebieten nur schwierig Deals mit bewaff- vile Ergänzung folgt. Diese Mission kostet Kobler: Die Welt ändert sich nicht über
neten Gruppen machen kann, zumal jetzt 1,4 Milliarden Dollar pro Jahr, Nacht. Aber es ist eine positive Tendenz
wenn sie einen kriminellen Hintergrund Deutschland trägt davon 100 Millionen! erkennbar. Und es gibt eine Dynamik. Und
haben. Es geht hier um Gold, um Minen, Wenn man jetzt nicht richtig zupackt, geht die wollen wir nutzen. Now or never – es
um Waffen, es geht um zu viel. Die kon- das noch viele Jahre so weiter. Und jedes gibt keine Garantie, aber gute Chancen.
golesische Armee hat Pinga dann vertei- weitere Jahr kostet 1,4 Milliarden. Wir INTERVIEW: HORAND KNAUP, RALF NEUKIRCH
FRANK RUMPENHORST / PICTURE ALLIANCE / DPA

TORSTEN SILZ / DDP IMAGES / DAPD


Vernarbte Hände des Verurteilten G., BGH-Richter Mayer, Becker: Selbst strafbar nach dem Terror-Paragrafen?

erst 2009 ins Gesetz eingefügten Strafvor- men war, hatte sich auf Drängen seines
STRAFJUSTIZ schrift zweifelt: Dort sei Verhalten unter Vaters noch im Krankenhaus von der
Strafe gestellt, das sich „kaum von recht- Polizei vernehmen lassen – ohne Anwalt.

Schwarzpulver mäßigem Handeln abgrenzen“ lasse.


Am Donnerstag dieser Woche wird
sich nun der sogenannte Staatsschutz-
Dabei gab er zwar zu, sich seit längerem
mit dem Dschihad beschäftigt zu haben
und dass ihn das Qaida-Magazin auf die

im Mixer senat des Bundesgerichtshofs (BGH) mit


dem Fall und damit erstmals mit diesem
relativ neuen Straftatbestand befassen.
Idee mit dem Bombenbau gebracht habe.
Allerdings sei er sich nicht sicher gewesen,
ob man im Falle eines Einsatzes auch Un-
Ein Mann bastelt daheim an einer Aus der Taufe gehoben wurde die Vor- schuldige damit treffen dürfe. Er zeigte
Bombe. Darf man ihn deshalb schrift als Reaktion auf die Terroranschlä- sich sogar zufrieden mit dem Fehlschlag
wegen der Vorbereitung eines An- ge von Madrid und London und auf die seines Vorhabens: Dieses sei dumm ge-
in deutschen Regionalzügen entdeckten wesen – und er sei froh, dass er alles ab-
schlags bestrafen? Der Bundes- Kofferbomben. Ziel des Gesetzes ist es, bekommen habe und niemand sonst. Im
gerichtshof muss nun entscheiden. „eine möglichst effektive Strafverfolgung späteren Strafprozess betonte G., er habe
auch von organisatorisch nicht gebunde- niemals daran gedacht, mit einem Spreng-

D
ie Überschrift des Artikels war nen Tätern“ zu ermöglichen. Da vor al- satz Menschen zu schaden.
eindeutig: „Make a bomb in the lem bei Selbstmordattentaten die Phase Für G.s Anwalt Tietze sind bereits des-
kitchen of your Mom“ – bau eine zwischen Vorbereitung, Versuch und Voll- sen frühe Einlassungen ein Beleg dafür,
Bombe in der Küche deiner Mutter. Der endung außerordentlich kurz sei, müsse dass sein Mandant zwar „buchstäblich ge-
Text entstammt einem Online-Magazin, man das Strafrecht vorverlagern, also be- zündelt“ und auch mit dem Gedanken
produziert von einem Qaida-Ableger, reits ansonsten nicht strafbare „Vorberei- gespielt habe, die Bombe irgendwo mal
und lässt auch keinen Zweifel, was damit tungshandlungen“ erfassen. zu zünden – dass aber höchst zweifelhaft
bezweckt ist: Die selbstgebastelte Bombe Neben der Vorbereitung von Anschlä- sei, „ob er bereits zu einem Anschlag auf
werde „dem Feind Schaden zufügen“, gen durch Einzeltäter stellt die Vorschrift Menschen entschlossen war“. Dagegen
heißt es darin, „wenn Du Dein Vertrauen auch noch andere Handlungen im Vorfeld spreche etwa, dass G. noch keine Nägel
in Allah setzt und dann diese Sprengvor- eines möglichen Terrorakts unter Strafe, besorgt hatte, obwohl die gemäß Bau-
richtung ordnungsgemäß einsetzt“. etwa den Besuch eines sogenannten Ter- anleitung für die Bombe notwendig seien.
Keramat G., ein Maschinenbaustudent rorcamps oder das Sammeln und Bereit- Auf Basis des Paragrafen 89a folgerten
aus Frankfurt am Main, hatte sich die stellen von Geldmitteln für solche staats- die Richter im Fall G. jedoch: Wer sich
Anleitung im Netz heruntergeladen, die gefährdenden Gewalttaten. mit dem Dschihad beschäftige und mit
meisten Ingredienzen der Bombe besorgt Davor hätte G. wegen der Vorbereitung Sprengstoffen hantiere, plane auch einen
und mit dem Bau begonnen. Doch als er eines Anschlags nicht bestraft werden kön- Anschlag. Diese Argumentation, moniert
Leuchtkugeln aus Feuerwerkskörpern zu- nen: Die „Mitgliedschaft in einer terroris- Tietze, führe zu einer „Gesinnungsstraf-
sammen mit Schwarzpulver und dem Ab- tischen Vereinigung“ etwa setzt mehrere barkeit“, bei der jemand „nicht dafür be-
rieb von Streichhölzern in einem Küchen- Beteiligte voraus, die „Vorbereitung eines straft wird, was er tut, sondern was man
mixer zerkleinern wollte, explodierte die Explosionsverbrechens“ erfordert eine ihm als Gedanken unterstellt“.
Mischung. Die Rigips-Decke seines Zim- konkretisierte Tat; und versuchter Mord Mit der Ansicht ist Tietze nicht allein.
mers hob es um sechs Zentimeter an, Ke- greift nur, wenn der Täter mit der Tataus- Schon während des Gesetzgebungsver-
ramat G. erlitt bei der Explosion Verbren- führung schon begonnen hat, also etwa fahrens wurde die Norm als zu weit kriti-
nungen zweiten Grades im Gesicht und dabei ist, den Sprengsatz zu platzieren. siert: Das Gesetz erfasse „nicht nur straf-
an beiden Unterarmen. Keramat G. hatte dagegen laut Urteil bares Unrecht“, mahnte Ulrich Sieber,
Drei Wochen lang lag der Bombenbast- noch gar kein konkretes Anschlagsziel – Direktor des Freiburger Max-Planck-In-
ler Anfang 2011 im Krankenhaus. Inzwi- selbst dass er bereits einen Anschlag plan- stituts für ausländisches und internatio-
schen sitzt er in Haft, verurteilt vom te, ist streng genommen nur eine Inter- nales Strafrecht, sondern auch lediglich
Landgericht Frankfurt zu drei Jahren we- pretation der Richter. Es genüge, heißt gefährliche oder verdächtige Verhaltens-
gen „Vorbereitung einer schweren staats- es im Urteil, dass G. eine „in groben weisen, die „nur eine nachrichtendienst-
gefährdenden Gewalttat“ nach Paragraf Zügen vorhandene Vorstellung der maß- liche oder polizeirechtliche Beobachtung
89a des Strafgesetzbuchs. geblichen Tatumstände“ hatte – nämlich oder Ermittlung rechtfertigen können“;
Doch wenn es nach G.s Verteidiger Ju- einen Sprengstoffanschlag zu verüben, zudem gehe der Gesetzgeber „weit über
lian Tietze geht, soll es dabei nicht blei- bei dem Menschen zu Tode kommen. die bisherigen internationalen Vorgaben
ben. Der Anwalt hat Revision eingelegt, G., der als Kind mit seinen Eltern aus zur Kriminalisierung von terroristischen
weil er an der Verfassungsmäßigkeit der Afghanistan nach Deutschland gekom- Vorbereitungshandlungen hinaus“.
36 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Deutschland

Und der Regensburger Strafrechtspro- Mindestens 123 der 631 Parlamentarier


fessor Tonio Walter warnte, „der Rechts- B U N D E S TA G verdienen sich ein üppiges Zubrot. Und
staat verliert die Nerven“, weil er Geset- bei vielen ist nicht klar, wessen Interessen
zeslücken schließe, „die keine sind“: Das
Sprengstoffgesetz etwa sehe schon jetzt
bei „gravierender Missachtung“ Krimi-
Üppiges Zubrot sie vertreten: die des Volkes oder die der
Firmen und Verbände, von denen sie
Honorare kassieren.
nalstrafen vor; wolle man mehr, sei das Die Liste ihrer Nebenjobs Einige der Mehrfachverdiener sind lan-
Polizeirecht und nicht das Strafrecht „der zeigt, wie schwer sich viele Abge- ge nicht so bekannt wie Mißfelder, aber
richtige Ort für die legislative Abwehr ordnete mit der Trennung dafür umso umtriebiger. Der CDU-Mann
terroristischer Gefahren“. Rudolf Henke etwa ist stellvertretender
Der Grünen-Abgeordnete Hans-Chris- zwischen Amt und Lobbyarbeit tun. Vorsitzender des Gesundheitsausschusses.
tian Ströbele will sich deshalb für die Zugleich bekleidet er mehrere Spitzen-

F
Streichung des Paragrafen einsetzen. ür die Leser der gehobenen Klatsch- ämter in der Ärztelobby: Henke, 59, ist
„Die Vorverlagerung des Strafrechts auf presse ist der Unternehmer Hendrik Chef der Gewerkschaft Marburger Bund
vermutete Deliktsvorbereitung“, so der teNeues ein guter Bekannter. Sie und verdient als Präsident der Ärztekam-
Rechtsanwalt, „leistet uferloser Auswei- kennen seine Partnerin (Stephanie Gräfin mer Nordrhein mindestens 84 000 Euro
tung des Strafrechts sowie Missbrauch bei Bruges von Pfuel), seine Society-Auftritte im Jahr. Dazu kommen gutbezahlte Pöst-
der Anwendung Vorschub.“ (Bambi, Fashion Week, Salzburger Fest- chen in einem Ärztebeirat des Versiche-
Wie weit das gehen kann, zeigte sich spiele) – und seine Erfolge: Die Produkte rers Allianz und der Deutschen Ärzte-
nun ausgerechnet in der Person eines im von teNeues’ Verlagsgruppe zieren land- versicherung. Alles in allem weist Henke
Fall G. beteiligten BGH-Richters. In einer auf, landab die Coffee-Tables der Reichen Einkünfte aus elf Nebentätigkeiten von
„dienstlichen Erklärung“ wies Herbert und Schönen. mindestens 147 000 Euro aus.
Mayer, Mitglied des 3. Strafsenats, darauf Vom politischen Geschäft hält sich Hen- Wegen möglicher Interessenkonflikte
hin, dass man auch bei ihm auf eine Tat drik teNeues fern. Nur einmal, im Oktober ist seine Präsenz im Gesundheitsaus-
nach Paragraf 89a schließen könnte – je- 2008, als die schwarz-rote Bundesregie- schuss umstritten. „Henke ist ein aktiver
denfalls dann, wenn man diese Maßstäbe rung eine Reform der Erbschaftsteuer plan- Lobbyist und über jeden Schritt infor-
auch bei ihm anlege: Er habe – legale – te, schrieb der Familienunternehmer einen miert“, schimpft ein Ausschusskollege.
Chemikalien zu Hause, aus denen sich Brief an die Kanzlerin, der seinen Weg in „Als Abgeordneter erfährt er alles, wäh-
ein Explosivgemisch herstellen lasse, und die Presse fand. Darin warnte er die „liebe rend er gleichzeitig die Ärzte vertritt,
besitze auch das dazu nötige Wissen; zu- Frau Dr. Merkel“ vor „einer der größten die von den Reformen betroffen sind.“
dem habe er aus privatem Interesse wie- Fehlentscheidungen Ihrer Regierungszeit“. Ratschläge, in einen anderen Ausschuss
derholt islamistische Texte im Internet Zu den verlässlichsten zu wechseln, soll Henke
heruntergeladen – etwa von einem frü- Mitstreitern gegen die Re- in den Wind geschlagen
heren Qaida-Führungsmitglied –, er spre- formpläne zählte damals haben. Ausschussposten
che Arabisch, besitze einen Koran in der CDU-Abgeordnete Phi- sind Schlüsselpositionen
dieser Sprache und habe Kontakte in lipp Mißfelder. Der Jung- im Parlament: Wer hier
den Nahen Osten. Er könne deshalb politiker gehörte im Bun- sitzt, kann erheblichen
„auch aus persönlichen Gründen“ die destag nicht nur zu den Ab- Einfluss auf Gesetzesvor-
Norm nur dann für verfassungsgemäß weichlern, die der eigenen haben nehmen.
halten, wenn zu ihr der Nachweis einer Koalition ihre Stimme ver- Zweifelhaft erscheint
bereits „konkretisierten Tat“ gehöre – weigerten – er forderte gar auch die Doppelrolle des
und damit lasse sich an seiner Unpartei- die Abschaffung der Ab- SPD-Abgeordneten Ulrich
lichkeit zweifeln. gabe: „Ich bin prinzipiell Freese. Der frühere Vize-
Seine Senatskollegen unter Vorsitz von für das Aus der Erbschaft- chef der Gewerkschaft IG
STEFAN BONESS / IPON

Jörg Peter Becker nahmen die Erklärung steuer“, erklärte er. BCE sitzt nebenbei in acht
so ernst, dass sie Mayer wegen „Besorgnis Mißfelder wusste nur zu Aufsichtsräten, darunter in
der Befangenheit“ ablehnten und nun in gut um die Steuersorgen dreien des Energiekonzerns
neuer Besetzung verhandeln. Sollten sie von Managern wie teNeues. Plenarsaal des Bundestags Vattenfall. Das bringt ihm
den Paragrafen mehrheitlich für verfas- Kurz zuvor hatte er bei zusammen jährlich mindes-
sungswidrig halten, müssten sie die Sache dessen Firmengruppe an- tens 59 000 Euro ein.
dem Bundesverfassungsgericht zur Ent- geheuert – als „strategischer Berater der Im Parlament ergatterte Freese, 62,
scheidung vorlegen; falls sie die Verurtei- Verlagsleitung“. Seit der Bundestag am ausgerechnet einen Platz im Energie-
lung G.s bestätigen, wird dieser wohl Freitag die Nebenverdienste der Abge- ausschuss. Wenn es dort demnächst um
selbst das Verfassungsgericht anrufen. ordneten erstmals genauer veröffentlich- die Energiewende geht, wird der Lausit-
Das wiederum beunruhigt Wolfgang te, weiß man auch, wie viel Mißfelders zer Politiker eingreifen können. Einen
Bosbach, den Vorsitzenden des Bundes- Rat der Firma wert ist: zuletzt über Vorgeschmack auf seine Rolle lieferte
tags-Innenausschusses. Er sieht „von ter- 100 000 Euro pro Jahr. Freese bei seiner ersten Rede im Hohen
roristischen Vorbereitungshandlungen Natürlich habe das eine mit dem ande- Haus.
eine erhebliche Gefahr“ ausgehen. Falls ren nichts zu tun, sagt Mißfelder heute. Mitte Februar schaltete sich der New-
die Karlsruher Grundrechtsspezialisten Sein Einsatz gegen die Erbschaftsteuer sei comer in eine Debatte um den Jahres-
die Vorschrift kippten, wäre das „ein er- allein aus Sorge um den Mittelstand er- wirtschaftsbericht ein: „Nur dann, wenn
heblicher Rückschlag für unsere Bemü- folgt. Der Verlag begründet das hohe Ho- wir Rohstoffe gewinnen, sie veredeln und
hungen, terroristische Aktivitäten zu be- norar mit den vielfältigen Tätigkeiten des die daraus hergestellten Produkte verkau-
kämpfen“, fürchtet der Christdemokrat. Beraters. Unter anderem sei der Historiker fen“, rief Freese, könne die soziale Ent-
„Dann müssten die Ermittlungsbehörden Projektleiter einer Buchreihe und für eine wicklung der Republik „ordentlich und
für den Nachweis einer Straftat abwarten, Tochterfirma tätig, die „Apps, eMagazines vernünftig“ gewährleistet werden. Das
bis der Täter unmittelbar zur Tat schrei- bzw. Lifestyle Content“ produziere. Protokoll verzeichnet viel Beifall aus den
tet – das kann für den Schutz der Allge- Mißfelder, 34, ist nicht der einzige Ab- Reihen der Großen Koalition.
meinheit zu knapp sein.“ DIETMAR HIPP geordnete, der seine Diäten aufbessert. SVEN BECKER, NICOLA KUHRT, SVEN RÖBEL

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 37
Deutschland

K R I M I N A L I TÄT

Der Bonus-Job
Ein ehemaliger Scharfschütze der Bundeswehr sitzt in New York im Gefängnis.
Ihm wird vorgeworfen, Teil eines Killerkommandos gewesen zu sein.
Doch seine vermeintlichen Auftraggeber waren Agenten der US-Regierung.

E
s schien alles perfekt vorbereitet für groß. Er hat die Hosenbeine aufgekrem- Solche Fallen gelten in den USA als
den Job, den der ehemalige Bun- pelt, seine Arme sind tätowiert. Das brau- ein probates Mittel im Krieg gegen Dro-
deswehrsoldat und sein amerikani- ne Haar trägt er kurz. genkartelle, man nennt sie Sting Opera-
scher Komplize im fernen Westafrika aus- Der Deutsche setzt sich auf einen pink- tions. In Deutschland sind solche Metho-
führen sollten: einen Doppelmord. farbenen Plastikstuhl an der Wand. Er den rechtlich umstritten.
Zwei Maschinenpistolen sollten die rutscht auf dem Sitz hin und her. Die Der New Yorker Staatsanwalt Preet
Söldner von einem Kontaktmann erhal- ersten drei Monate im Gefängnis habe er Bharara sagt, die Anklage gegen den Ex-
ten, dazu zwei Pistolen, Kaliber .22 mit nur geheult, sagt er. „Ich wollte das alles Bundeswehrsoldaten und seine Bande lese
Schalldämpfer, sowie Latexmasken, mit nicht, so war das nicht geplant, ich will sich wie ein Thriller von Bestsellerautor
denen sich die beiden Weißen als Einhei- nach Hause.“ Warum er den Auftrag Tom Clancy. Dennis G. sei Mitglied einer
mische tarnen wollten. 800 000 Dollar wa- angenommen hat? „Ich wollte das Geld, hochkarätigen Söldnertruppe, die sich aus
ren ausgelobt für die Killer und deren ich wollte den Job.“ Ein Abenteuer sei es ehemaligen Angehörigen von Armee-Spe-
Boss. Dafür sollten sie den Verräter eines zialeinheiten zusammensetze. Die Männer
kolumbianischen Drogenkartells und den hätten für ein kolumbianisches Drogen-
Ermittler einer US-Behörde töten. kartell in Asien, in der Karibik und in Afri-
Doch als Dennis G. und Tim V. am ka Kokaintransporte und Dealer bewacht.
25. September 2013 in Monrovia, der Die US-Fahnder, so Bharara, hätten ein
Hauptstadt von Liberia, aus dem Flug- „internationales Killerteam neutralisiert“.
zeug stiegen, wich die Realität rasch vom CHAIWAT SUBPRASOM / REUTERS (O.); WILLIAM FARRINGTON / POLARIS / LAIF (U.) War das wirklich so? Ist Dennis G. ein
Drehbuch ab. Drei Afrikaner erwarteten potentieller Mörder? Oder eher ein Groß-
sie am Ankunftsterminal, und statt zum maul? Ein Leichtfuß? Dumm, naiv, ohne
Auto wurden sie in ein anderes Gebäude Halt? Eine Spurensuche.
geführt. „Ich dachte noch: Was soll das
denn?“, erinnert sich G., „dann fliegen
die Türen auf, bewaffnete Männer kom-
men rein und zielen auf uns.“
I m Oktober vergangenen Jahres liest der
Hannoveraner Pastor Andreas Latz in
der „Bild“-Zeitung über einen Deutschen,
Es war tatsächlich alles perfekt vorbe- der in Afrika als Auftragsmörder verhaf-
reitet – jedoch auf eine Weise, mit der tet worden sei. Latz erkennt den muskel-
Dennis G. und Tim V. nicht gerechnet bepackten Mann wieder, der im Tarn-
hatten. Die drei Afrikaner gehörten nicht anzug fröhlich in die Kamera lächelt, er
zur Drogenmafia, sondern zur hiesigen hat ihn in Religion unterrichtet, früher,
Polizei; und die bewaffneten Männer zu an der Südstadtschule in Hannover.
einem liberianischen Sondereinsatzkom- Dennis sei eines von vielen Problem-
mando, das die Söldner überwältigte. Als kindern in der Klasse gewesen, erinnert
der Deutsche gefesselt am Boden lag, trat sich Latz. „Er ließ sich leicht verführen
ein Amerikaner hervor, hielt Dennis G. Söldner-Boss H.*, US-Staatsanwalt Bharara und ging immer ein Stück zu weit.“ Der
einen Haftbefehl vor das Gesicht und las Wie aus einem Thriller von Tom Clancy Junge wuchs bei der Oma auf. Seine Mut-
die Worte: „Verschwörung zum Mord“. ter war gestorben, als er vier Jahre alt
Am nächsten Morgen wurden die beiden gewesen. „Es war ein ganz neues Leben.“ war, seinen Vater kannte er kaum. Der
Festgenommenen in einem Privatflug- Dennis G. beteuert, er habe noch nie je- Junge habe „nach Anerkennung gegiert“,
zeug nach New York verfrachtet. manden getötet, jedenfalls niemanden, sagt sein ehemaliger Schulrektor Dieter
Seitdem sitzt Dennis G. im neunten der nicht zuvor auf ihn gefeuert habe. Thren. Dennis habe sich für großartiger
Stock des Metropolitan Correctional Cen- Die Ermittler aber haben ein Gespräch gehalten, als er tatsächlich war. „Er hätte
ter, eines braunen Hochhauses aus den aufgezeichnet, in dem er sich brüstet, am sein Leben in den Griff bekommen, wenn
siebziger Jahren im Süden Manhattans liebsten einen Job als Killer anzunehmen. ihn jemand an die Hand genommen hät-
nahe der Brooklyn Bridge. Durch eine Fest steht: Der junge Mann aus Han- te.“ Aber so jemanden gab es nicht.
Stahltür führen Wärter ihn in den Be- nover ist in eine Falle getappt, die ihm 2006 meldete sich Dennis G. zur Bun-
suchsraum. Der 28-Jährige hält die Hände eine Spezialeinheit der US-amerikani- deswehr, Panzergrenadierbataillon 411 bei
eng beieinander, als trüge er noch die schen Drogenbekämpfungsbehörde DEA Pasewalk. Das strukturierte Soldatenleben,
Handschellen, die sie ihm für den Besuch gestellt hat. Zum Schein gaben die Er- das nach klaren Regeln abläuft, tat dem
abgenommen haben. Er ist groß, blass mittler die Order für einen Doppelmord. jungen Mann offenbar gut. Weil er eine
und sieht schlanker aus als auf Fotos, die ruhige Hand hat, wurde er zum Scharf-
ihn vor der Tat zeigen. Der orangefarbe- * Nach seiner Festnahme am 26. September 2013 in schützen ausgebildet. Und er hatte Erfolg:
ne Gefangenenoverall ist ihm viel zu Thailand. 2008 erhielt der Hauptgefreite G. eine Ur-
38 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
kunde wegen „außerordentlicher Leis-
tungs- und Einsatzbereitschaft“. Er sei
„ein Vorbild für alle Soldaten“.
Er traf eine frühere Schulkameradin
wieder, die blonde Jennifer. Die beiden
wurden ein Paar. Als er kurz darauf für
drei Monate ins Kosovo versetzt wurde,
machte die Freundin sich Sorgen, aber
kämpfen musste er dort nicht. Nach vier
Jahren Dienstzeit schied G. aus der Bun-
deswehr aus, ihm war das Gehalt zu nied-
rig. „Er hätte bleiben können, doch weil
die mittlere Reife fehlte, wäre er nicht
weit gekommen“, erinnert sich Jennifer.
Sie sitzt in einem Café in Hannover
und sagt, Dennis sei ein guter Mensch, er
habe ein Gewissen. Er könne aber nicht
gut Schwäche zeigen und wolle immer
etwas Besonderes darstellen. Auch mit
Geld könne er nicht umgehen.
In Deutschland ermittelte die Polizei
mehrmals gegen G., einmal soll er eine
Freundin verprügelt, einmal sein Konto
Betrügern zur Verfügung gestellt haben.
„Er war naiv und gutmütig“, sagt sein An-
walt Urs Kobler.
Nach der Bundeswehr ging Dennis
G. für ein Vierteljahr nach Afghanistan.
Bei der Sicherheitsfirma Kaboora, die
auch für die Deutsche Gesellschaft für In-
ternationale Zusammenarbeit tätig ist,
trainierte er Wachpersonal.
Wieder in Deutschland begann er eine
Ausbildung zur Sicherheitsfachkraft, un-
terstützt vom Berufsförderungsdienst der
Bundeswehr; nebenher jobbte er in Han-
nover als Wachmann und Kaufhaus-
detektiv für ein paar Euro die Stunde. Den
Abschluss der Lehre fast in der Tasche,
schwänzte er die mündliche Prüfung.
Im Herbst 2011 heuerte Dennis G. bei
einer Hamburger Firma an. Sie stellt be-
waffnete Teams für Schiffe zusammen,
die von Piraten bedrohte Seewege pas-
sieren müssen. Stolz präsentierte er auf
Facebook Fotos von sich an Deck.
Ein paar Monate hielt er durch, dann
fühlte er sich wieder unterschätzt und un-
terbezahlt. Er machte sich selbständig,
doch zu dem Zeitpunkt ging die Zahl der
Piratenangriffe bereits zurück. Auf der
MS „Sinbad“, die vor der Arabischen
Halbinsel lag, bekam er Kontakt zu je-
nem Mann, der sein Leben verändern soll-
te: Ein Belgier erzählte ihm, es gebe da
einen Job im Personenschutz, 10 000 Dol-
lar Gehalt im Monat, ein schwerreicher
Mann im Drogengeschäft solle bewacht
werden. Noch an Bord des Schiffs benutz-
te Dennis G. das Satellitentelefon, um sei-
nen Lebenslauf loszuschicken, an einen
Amerikaner namens Joseph H.
Der 48-Jährige stammt aus Owensboro
in Kentucky, einem verschlafenen Kaff,
in dem sich der Scharfschütze nach sei-
nem Dienstende in der US-Army lang-
weilte. Joseph H. spielte viele Videospiele
Bundeswehrsoldat G. um 2008 auf der Xbox, berichten seine Freunde.
Aber geliebt habe er Actionfilme, sagt
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 39
Deutschland

torrad, eine schwarze Kawasaki Ninja.


Bei Jennifer in Hannover meldet er sich
nicht mehr, er hat in Patong die Russin
Anna kennengelernt und lebt jetzt mit
ihr zusammen.
Anna erinnert sich heute, dass Dennis
öfter mal für ein paar Stunden oder ein
paar Tage weg gewesen sei. Sie habe nicht
nachgefragt, und er habe nichts gesagt.
Fast täglich sei er ins Fitnessstudio gegan-
gen, habe Anabolika geschluckt.
Dennis G. gefällt dieses Leben: Party
in Patong, coole Jobs, schnelles Geld. Nur
merkt er nicht, auf welches Ende die Ge-
schichte zusteuert.
Die Undercover-Agenten der DEA tei-
len Dennis G. und den anderen Söldnern
mit, dass der angekündigte Bonus-Job
nun zu erledigen sei: in Liberia. In einem
Gespräch mit den Auftraggebern überle-
gen Dennis G. und Tim V., ob sie die Män-
ner am besten mit Gewehren, einer Gra-
nate oder Gift töten. „Wir sollten erst den
Söldner Tim V., Dennis G., Michael F. 2013: Party in Patong, coole Jobs, schnelles Geld Agenten töten und dann den Verräter“,
sagt Tim. Dennis verlangt Latexmasken,
seine Schwester, vor allem jene mit Syl- dem Touristenort Patong. Dennis G. zog Rambo bestellt das „Werkzeug“.
vester Stallone als Rambo. So ließ er sich in eine zweistöckige Villa mit Pool in der Am 9. September erfährt G. die Flug-
von seinen Kumpels auch gern nennen. Nähe. Im Wohnzimmer waren Kameras zeiten für Liberia. Von da an, sagt Anna,
Joseph H. alias Rambo präsentierte installiert – angeblich gegen Einbrecher. habe er kaum noch ein Wort gesprochen
sich nicht nur vor seinen Freunden als Im März bewachte die Söldnertruppe und stattdessen den ganzen Tag Play-
harter Hund. Er besaß neben seinem ame- ein Schiff in Thailand, das angeblich Dro- station gespielt. Er verspricht ihr, wenn
rikanischen Pass gefälschte Dokumente gen geladen hatte. Joseph H., so steht es er zurückkomme, wolle er den Sicher-
aus Südamerika, Zimbabwe und Deutsch- in der Anklage, hatte seinen Leuten er- heitsjob aufgeben, ein Hotel eröffnen und
land. In der Anklage heißt es, dass Joseph klärt, dass sie für ein kolumbianisches ein neues Leben beginnen.
H. seit seinem Ausscheiden aus der Ar- Kartell arbeiten und „Tonnen von Kokain Doch Dennis G. kommt nicht zurück.
mee 2004 „die Ermordung mehrerer und Millionen von Dollars“ sehen wür- Er sitzt im Besuchsraum des New Yorker
Personen für Geld organisiert sowie wei- den. Er habe außerdem behauptet, schon Gefängnisses an der Park Row und sagt,
tere Gewalttaten auf Bezahlung“ verübt mehrere Leute umgebracht zu haben. Die ihm sei klar, dass er 15 bis 20 Jahre Haft
habe. Laut Staatsanwaltschaft „rekrutiert Auftragsmorde habe er Bonus-Jobs ge- bekommen werde. Er beteuert, mit den
H. Ende 2012 bis Anfang 2013 sein Team nannt. Und gegenüber seinen Auftrag- Bonus-Jobs seien keine Morde gemeint
aus ehemaligen europäischen Soldaten“. gebern habe er versichert, sein Team sei gewesen, sondern nur alles, was über Per-
Die Strafverfolger gehen davon aus, ganz wild darauf, „so viele Bonus-Jobs sonenschutz hinausgehe.
dass Dennis G. versucht hat, Mitstreiter wie möglich zu übernehmen“. Überhaupt habe er das mit den Bonus-
für Rambos Mission anzuwerben. Micha- Jobs nur gesagt, weil er den Auftrag nicht
el F., ein alter Bundeswehr-Kumpel, sagte
zu. Auch Carsten Tiebe, ein Ex-Soldat,
mit dem G. einst einen VW-Händler in
N ur: Seine Auftraggeber, das ahnt da
Joseph H. noch immer nicht, sind
DEA-Agenten. Sie schicken Rambos Söld-
verlieren wollte. Er habe niemanden töten
wollen. Sein Plan sei gewesen, unverrich-
teter Dinge wieder aus Liberia abzureisen
Langenhagen bewachte, wurde von ihm ner im April von Thailand nach Mauritius, und Rambo zu berichten, dass der Mord
angerufen. Doch Tiebe war skeptisch, um dort ein Treffen angeblicher Drogen- nicht möglich gewesen sei. Dennis beginnt
wollte Details wissen. Dennis G. gab sich bosse zu bewachen. zu weinen: „Ich vermisse mein Leben.“
wortkarg. „Nichts über WhatsApp. Das Die Fahnder leiten nun die Endphase Bleibt die Frage, warum die DEA Zig-
ist nicht sicher“, schrieb er am 12. Februar ihrer Sting Operation ein. Sie erklären tausende Dollar für einen Undercover-
2013. Tiebe blieb auf Distanz: „Dennis Rambo, in ihrem Drogenkartell gebe es Einsatz ausgibt. Kurz nach dem Schlag
wusste immer alles besser und hielt an- einen Spitzel, der mit einem DEA-Agen- gegen Rambos Gang verhafteten US-
dere für Idioten“, sagt er heute. ten zusammenarbeite. Diese beiden müss- Fahnder fünf weitere Männer, die dem
Noch im Februar flog Dennis G. nach ten ausgeschaltet werden. „Meine Jungs Netzwerk des Joseph H. zugerechnet wer-
Thailand. „Er war euphorisch“, erinnert erledigen das“, sagt Joseph H., „sie brau- den und tonnenweise Drogen aus Nord-
sich Jennifer. Er erzählte ihr, dass er für chen nur das richtige Werkzeug.“ Etwa korea geschmuggelt haben sollen.
9000 Dollar im Monat eine prominente zur selben Zeit stößt Tim V. zur Truppe, Experten gehen davon aus, dass die
Person und deren Familie auf der Ferien- er ist ein alter Vertrauter von Rambo. Sting Operation Joseph H. unter Druck
insel Phuket beschützen solle. Von ihrem Stützpunkt in Thailand aus setzen sollte – damit dieser über seine
Das war gelogen. Schon im Januar hat- fliegen die Söldner im Juni auf die Baha- Partner im Drogengeschäft auspackt.
te Joseph H. alias Rambo zwei under- mas, um ein Flugzeug zu bewachen, das KARIN ASSMANN, MARC HUJER,
cover operierenden DEA-Agenten sein angeblich mit 300 Kilogramm Kokain ANDREAS ULRICH
Team vorgestellt: die beiden Deutschen beladen wird. „Mission complete“, mailt
Dennis G. und Michael F. sowie einen Rambo an seine Auftraggeber, nachdem Video: Auf den Spuren
polnischen Ex-Soldaten, allesamt Scharf- das Flugzeug gestartet ist. von Dennis G.
schützen. Auf Phuket wohnte Rambo in- Im Sommer 2013 ist Dennis G. offenbar spiegel.de/app132014auftragskiller
mitten einer Golfanlage in Kathu, nahe gut bei Kasse, er kauft ein schnelles Mo- oder in der App DER SPIEGEL

40 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Schröders ehemaligen Kampa-Chef. Und Idee eines europäischen Spitzenkandida-
E U R O PAWA H L der will bis zu 80 zusätzliche Leute ver- ten zu akzeptieren. Jetzt hat sie ihren
pflichten. Frieden mit Juncker gemacht – zumindest

Hase und Igel Junckers Team dagegen bestand bislang


aus einem Mitarbeiter – seinem Sprecher
Ady Richard. Vergangene Woche konnte
bis zum Wahltag. Immerhin spreche Jun-
cker Deutsch, so könne man ihn in den
beiden deutschen Fernsehduells gegen
Der Spitzenkandidat der der Luxemburger immerhin einen Leiter Schulz ins Rennen schicken, heißt es in
Konservativen Jean-Claude für seine Wahlkampftruppe rekrutieren, der CDU-Zentrale.
Juncker tut sich schwer. den deutschen Europarechtler Martin Sel- Doch dass Juncker im Falle eines Wahl-
mayr, 43, derzeit Kabinettschef von Kom- sieges auch Präsident der Europäischen
Seine Kampagne hakt, die CDU missarin Viviane Reding. Doch der muss Kommission wird, darauf will sich in der
plant weitgehend ohne ihn. sich für seinen neuen Job noch beurlau- Union derzeit niemand festlegen. Im Ge-
ben lassen und wartet derzeit auf eine Ge- genteil: Für den Montag nach der Euro-
Das Treffen fiel ernüch- nehmigung. Zudem stellt ihm EVP-Chef pawahl hat Merkel bereits den Koalitions-

+
ternd aus. Jean-Claude Jun- Daul zwei Millionen Euro in Aussicht. So ausschuss eingeladen. Da will die Kanz-
cker und der Chef der Eu- kann Juncker in der Schlussphase des lerin besprechen, wie es mit dem euro-
ropäischen Volkspartei im Wahlkampfs ein Flugzeug mieten, um die päischen Spitzenpersonal aus deutscher
EUROPA Europaparlament Joseph weiten Distanzen in der Europäischen Sicht weitergehen soll.
WAHL Daul saßen am vergangenen Union schnell zu überwinden. Entsprechend wenig interessiert ist die
2014 Montag in Luxemburg zu-
sammen. Ihr Thema: der an-
Doch das Rennen gleicht dem aus der
Fabel von Hase und Igel: Wo immer Jun-
CDU-Führung an ihrem europäischen
Spitzenkandidaten. „Juncker spielt im
stehende Europawahlkampf. Schnell stell- cker hinkommt, Schulz war schon da. Die deutschen Europawahlkampf keine Rol-
ten die beiden fest, dass es den Konser- Schuld dafür weisen sich europäische und le“, heißt es bei den Strategen der CDU.
vativen an fast allem für eine länderüber- deutsche Konservative gegenseitig zu. Der Luxemburger hilft wenig, so sehen
greifende Kampagne mangelt: an pfiffi- In der EVP-Führung werden Junckers es die Parteistrategen, um die Wähler zwi-
gen Slogans, an einem schlagkräftigen Startschwierigkeiten nicht zuletzt der schen Friedrichshafen und Flensburg von
Team und auch am Geld. „Wir sind ei- deutschen Kanzlerin angelastet. Angela Europa zu begeistern. Anders als in Dub-
gentlich nicht kampagnenfähig“, so fasst Merkel hatte lange gebraucht, um die lin wird Juncker daher beim CDU-Partei-
ein hochrangiger EVP-Mann die tag in knapp zwei Wochen in Ber-
Lage zusammen. lin eher eine Randfigur sein. Auf
Dabei hatte die Sache so viel- „Wen würden Sie als Präsidenten der der Bühne soll der deutsche CDU-
versprechend begonnen. Ein gu- Spitzenmann David McAllister sit-
tes Dutzend Staats- und Regie- EU-Kommission bevorzugen?“ zen, so der derzeitige Plan.
rungschefs, 800 Delegierte und Vom Esprit einer länderübergrei-
sogar Rockstar Bono waren An- fenden Europakampagne ist im
fang März zum Wahlkampfauf- Berliner Konrad-Adenauer-Haus
takt Junckers nach Dublin gereist, wenig zu spüren. „Die Europakom-
um ihn zum Spitzenkandidaten petenz der Union heißt Merkel“,
der konservativen Parteienfamilie sagt man dort knapp. Zwar sind
zu küren. Es war ein Spektakel, eine Handvoll Auftritte mit Juncker
mit dem die Europäische Volks- in Deutschland anvisiert, doch noch
partei ihren Anspruch als stärkste fehlt es an klaren Zusagen aus Brüs-
politische Kraft des Kontinents un- sel. „Die bei der EVP können kei-
termauern wollte. „Wir werden nen Nagel in die Wand schlagen“,
Martin Schulz und die Sozialisten lästert ein führender Unionsmann.
sehr bald einholen“, versprach Ein Streitgespräch, das Juncker
Juncker. im SPIEGEL (12/2014) mit Schulz
In Wahrheit zieht keine der re- führte, sorgte zusätzlich für Irri-
levanten europäischen Parteien tationen. Darin hatte sich der Spit-
schlechter vorbereitet in die Zeit zenkandidat erneut für Euro-
bis zur Europawahl Ende Mai
als die EVP. Junckers schärfster
Konkurrent, der Sozialdemokrat
Schulz, tourt bereits seit Monaten
durch Europa und wirbt für sich.
35%
Martin Schulz, SPE
Bonds ausgesprochen. Dumm nur,
dass die Forderung dem Europa-
wahlprogramm widerspricht, das
die deutschen Christdemokraten
beschließen wollen. Darin erteilen

30%
Dabei greift der Präsident des Eu- sie einer gemeinsamen Haftung
ropaparlaments auch auf die Res- für die Schulden von Pleitelän-
sourcen seiner Verwaltung zurück. dern eine Absage.
Was das Geld angeht, ist Martin Bei seiner regulären Pressekon-
Schulz seinem konservativen Kon- Jean-Claude Juncker, EVP ferenz nach der Präsidiumssitzung
trahenten ohnehin überlegen. Al- musste CDU-Generalsekretär Peter
lein die deutsche SPD hat nach Tauber daher vergangenen Montag
eigenen Angaben ein Rekordbud- zu einer ungewöhnlichen Maßnah-
get von über zehn Millionen Euro me greifen. Er stellte den europäi-
zur Verfügung. Die CDU ist froh, schen Spitzenmann öffentlich in
wenn sie auf etwas mehr als die den Senkel. „Wer CDU wählt,
HC PLAMBECK

Hälfte kommt. Außerdem hat sich weiß, dass es keine Euro-Bonds ge-
Schulz Matthias Machnig als Wahl- Quelle: Infratest dimap für ARD-Deutschlandtrend vom 6.3.2014 ben wird.“ Juncker hin oder her.
kampfmanager geholt, Gerhard PETER MÜLLER, CHRISTOPH SCHULT

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 41
Deutschland
ANGELIKA WARMUTH / PICTURE ALLIANCE / DPA

Sylter Nordseeklinik in Westerland: Für Risikoschwangere nicht ausgestattet

banden, galten als Fall mit erhöhtem


MEDIZIN Risiko.
Die Selbstverständlichkeit, mit der nach

Gefährliche Entbindung Aktenlage gegen die Regeln der ärztlichen


Sorgfalt offenbar verstoßen wurde, passt
zu den Ergebnissen zweier interner Un-
tersuchungen, die der Asklepios-Konzern
In der Geburtsklinik des Asklepios-Konzerns auf Sylt widersetzten in den Jahren 2012 und 2013 veranlasste.
sich zwei Ärzte offenbar jahrelang Vorschriften. Sie dokumentieren, welche Zustände über
Jahre auf der Sylter Geburtsstation
Die Eltern eines behinderten Jungen erheben schwere Vorwürfe. herrschten. Von lückenhaften Patienten-
akten ist darin die Rede, von einem ver-

A
ls die hochschwangere Frau um den später auf die Station zurück. Um schwundenen Herzton- und Wehen-Pro-
halb drei Uhr nachts auf der Ge- 16 Uhr holt er das Kind per Kaiserschnitt. tokoll und fehlender Aufklärung über
burtsstation der Sylter Nordsee- Wenige Tage später stellen Ärzte in einen Kaiserschnitt; aber auch davon,
klinik aufgenommen wird, ahnt sie nicht, Flensburg bei dem Jungen einen Schlag- dass die strukturellen Voraussetzungen
welche Qualen sie in den nächsten Stun- anfall fest, er ist seitdem halbseitig ge- für eine Geburtsklinik fehlten.
den erwarten. Sabine Rießen* klagt über lähmt. Dass der Gehirnschlag mit den Ge- Dass diese Mängel jetzt im Detail be-
starke Schmerzen, woraufhin die Heb- burtsstrapazen zusammenhing, hält ein kannt werden, ist der vorläufige Höhe-
amme den diensthabenden Frauenarzt zu Gutachter für wahrscheinlich. punkt eines Streits, der seit Monaten die
Hause anruft und ihn bittet, in die Klinik Hätte sich der Arzt an die Vorschriften Sylter erregt – und bei dem es längst nicht
zu kommen. gehalten, hätte Sabine Rießen ihren Sohn mehr allein darum geht, ob zukünftig
Die Sylter Geburtsstation ist eine so- auf der Insel überhaupt nicht gebären dür- noch Kinder geboren werden, die den Ge-
genannte Belegabteilung. Zwei nieder- fen. Sie war damals 35 Jahre alt, der Gy- burtsort Sylt im Ausweis tragen.
gelassene Gynäkologen betreuen die Ent- näkologe hatte sie 19 Monate zuvor wegen Mitte November hatte Asklepios ver-
bindungen im wöchentlichen Wechsel. einer Gebärmuttererkrankung operiert, kündet, die Geburtsklinik zum Jahres-
Der Träger des Krankenhauses, der As- zudem war ihre Schwangerschaft das Er- ende zu schließen. Der Klinikkonzern, der
klepios-Konzern, stellt nur Räume, me- gebnis einer künstlichen Befruchtung. Rie- bundesweit 53 Krankenhäuser betreibt,
dizinisches Gerät und Pflegepersonal. ßen galt demnach als Risikoschwangere. sah sich nicht länger in der Lage, die Be-
Trotz des Anrufs aus der Klinik schaut Für deren Betreuung war die Sylter Sta- rufshaftpflicht für die beiden Belegärzte
der diensthabende Frauenarzt dem Ge- tion aber weder fachlich noch personell zu übernehmen. Später hieß es, nur noch
burtsbericht zufolge erst am Morgen ge- ausgestattet. Der Gynäkologe hätte die einer der beiden Gynäkologen wolle zu-
gen 9 Uhr nach der Patientin, anschlie- werdende Mutter deshalb zur Entbindung künftig Geburten betreuen. Unter dieser
ßend fährt er in seine Praxis. Rießens aufs Festland schicken müssen. Voraussetzung könne man den Stations-
Schmerzen werden indes schlimmer, Doch diese Vorschrift ignorierten die betrieb unmöglich aufrechterhalten.
gegen Mittag vermutet die Hebamme ei- beiden Sylter Frauenärzte offenbar im- Mit den tatsächlichen Gründen rückte
nen lebensbedrohlichen Gebärmutterriss. mer wieder. Jahrelang holten sie in der Asklepios erst Mitte Dezember heraus.
Dennoch kehrt der Gynäkologe erst Stun- Nordseeklinik Kinder von Risikoschwan- Nebulös sprach man von „Qualitätspro-
geren auf die Welt. Über die Hälfte der blemen“. Auch dass 2011 ein Neugebore-
* Name von der Redaktion geändert. Frauen, die 2013 in Westerland ent- nes tot zur Welt kam und ein Jahr darauf
42 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
ein Baby kurz nach der Geburt starb, gab haften. Man habe ihnen gegenüber keine
der Klinikkonzern zu. Sanktionsmöglichkeiten, außer ihren Ver-
Am 17. Dezember schließlich schickte trag zu kündigen.
Asklepios-Geschäftsführer Kai Hankeln Doch die Versäumnisse des Asklepios-
eine E-Mail ans Gesundheitsministerium Konzerns reichen womöglich noch weiter.
in Kiel, in der er die Ergebnisse der beiden Wenn ein Träger seinen Klinikbetrieb
internen Untersuchungen von Februar nicht hinlänglich organisiert, sprechen
2012 und April 2013 schildert. „Kritische Juristen vom Organisationsverschulden
Geburtsverläufe“, so schreibt Hankeln des Trägers. Dann ist auch er verantwort-
beispielsweise, seien nicht ausführlich do- lich – und unter Umständen haftbar.
kumentiert worden. „Oft fehlen handeln- Und dass es der Nordseeklinik an or-
de Personen, Maßnahmen, Datum und ganisatorischen und personellen Struk-
Uhrzeit.“ Weil die Ärzte ihre Dokumen- turen mangelte, um eine Geburtsstation
tationspflicht offenbar nicht allzu ernst zu betreiben, legt der interne Untersu-
nahmen, kam es zu Ungereimtheiten wie chungsbericht nahe: Den klinikeigenen
dieser: Ein Säugling wurde laut Akte um Anästhesisten fehle es an Erfahrung, um
16.08 Uhr geboren, die letzte Ultraschall- Neugeborene bei Komplikationen be-
aufnahme des Embryos im Mutterleib ist handeln zu können, so das Dossier des
hingegen auf 17.55 Uhr datiert. In einem Klinikgeschäftsführers. Für Notfälle exis-
anderen Fall wurde ein Kind erst 16 Tage tierten zudem „keine Dienstregelungen,
nach dem errechneten Geburtstermin per die eine sichere Versorgung der Patien-
Kaiserschnitt geholt – was Experten für tinnen und des Neugeborenen gewähr-
bedenklich spät halten. leisten“.
Jede untersuchte Patientenakte sei lü- Völlig unverständlich ist ebenfalls, dass
ckenhaft gewesen, so das Ergebnis der in- Asklepios in seinen Qualitätsberichten
ternen Untersuchung. Aus diesem Grund die Betreuung von Risikoschwangerschaf-
beständen „erhebliche Risiken von feh- ten als „Versorgungsschwerpunkt“ der
lerhaften Behandlungen“. Nordseeklinik auswies. Warum man da-
Die beiden Gynäkologen bestreiten die mit warb, konnte das Unternehmen auf
Vorwürfe; sie hätten fachlich stets korrekt Nachfrage nicht erklären. Es müsse sich
gehandelt. Die Kriterien, wann eine Frau um den Fehler eines Sachbearbeiters
als Risikoschwangere einzustufen ist, hal- handeln.
ten sie für zu streng. Bloß weil eine Frau Ob auch der Tod der beiden Neuge-
über 35 oder übergewichtig sei, bestehe borenen auf einem Verschulden der Ärz-
nicht automatisch ein erhöhtes Geburts- te oder der Klinik beruht, ist nicht geklärt.
risiko: „Die schweren Fälle haben wir im- Eine Hebamme aus Eckernförde hat im
mer aufs Festland verlegt.“ Januar Strafanzeige gegen Asklepios we-
Strittig ist auch die Verantwortung des gen Organisationsverantwortung für die
Krankenhauses. Kenntnis von den Män- beiden Todesfälle gestellt. Die Staatsan-
geln hatte Asklepios seit Februar 2012; waltschaft Flensburg hat daraufhin Er-
doch statt unmittelbar einzugreifen, mittlungen aufgenommen. Von der Ge-
wartete der Konzern eine zweite Unter- burt des 2012 verstorbenen Säuglings ist
suchung im April 2013 ab – und auch nach Angaben von Asklepios das CTG-
danach, so die Klinik, habe man die Protokoll verschwunden, das Herztöne
Geburtsstation nicht sofort schließen und Wehen aufzeichnet.
können. Belegärzte würden für ihre Auch Sabine Rießen und ihr Mann lie-
Behandlungsfehler grundsätzlich selbst gen fast vier Jahre nach der Geburt ihres
Sohnes noch immer im Streit mit dem
Voraussetzungen für Kliniken, die Gynäkologen und dessen Versicherung.
Risikoschwangere betreuen dürfen Der Arzt widerspricht der Darstellung
der Eltern, die Hebamme habe ihn mit-
Geburtsklinik mit angeschlossener Kinder- tags erneut angerufen und aufgefordert,
klinik, die auch auf Notfälle vorbereitet ist in die Klinik zu kommen. Ein Gebärmut-
terriss sei bei der Patientin ohnehin nicht
Betreuender Kinderarzt mit mindestens drei möglich gewesen, weil sie gar keine
Jahren Erfahrung in Neugeborenenmedizin Wehen gehabt habe. Der Geburtsbericht
lässt indes erhebliche Zweifel an seiner
Möglichkeit zur Beatmung Aussage zu.
Ein von der Familie beauftragter Gut-
Diagnostik wie Radiologie, Sonografie, achter kommt ebenfalls zu einem ande-
Echokardiografie und EEG ren Urteil: Dass der Arzt trotz des Ver-
24-Stunden-Präsenz eines Kinderarztes dachts auf einen Gebärmutterriss nicht
in der Klinik in der Klinik erschien und den Kaiser-
schnitt mehrere Stunden hinauszögerte,
Die Sylter Geburtsklinik fiel bis zu ihrer sei „schlechterdings unverständlich“. Die-
Schließung in die Kategorie, die ausschließlich se Versäumnisse seien „grundsätzlich
Schwangere ohne Risikofaktoren aufnehmen geeignet“, um bei dem Jungen einen
darf, da sie die angeführten Voraussetzungen Hirninfarkt ausgelöst zu haben.
nicht erfüllt. ANN-KATHRIN NEZIK

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 43
Deutschland

ANTONELLO NUSCA / POLARIS / STUDIO X


Särge ertrunkener Flüchtlingskinder auf Lampedusa

schen Migrationspolitik basiert darauf,


MENSCHENRECHTE Menschen auszusperren. Der frühere
Gouverneur von New Mexico, Bill Ri-

„Die Reichen schotten sich ab“ chardson, hat mal gesagt: Wenn wir einen
vier Meter hohen Zaun bauen, wird je-
mand eine fünf Meter hohe Leiter mit-
bringen. Sie werden das Flüchtlingspro-
Salil Shetty, 53, Generalsekretär von Amnesty International, blem nicht mit technischen Mitteln lösen
über die Hightech-Überwachung der EU-Außengrenzen, das Ver- können. Es ist ein politisches Problem,
aber es gibt keinen politischen Willen.
sagen der Flüchtlingspolitik und das Schweigen Angela Merkels SPIEGEL: Was schlagen Sie vor? Alle Gren-
zen zu öffnen?
SPIEGEL: Mr. Shetty, Sie waren vergangene linge geschossen, Griechenland treibt Shetty: Natürlich nicht. Jeder Staat hat
Woche bei Angela Merkel. Halten Sie die Nussschalen mit Frauen und Kindern zu- das Recht und die Pflicht, seine Grenzen
Kanzlerin für eine glaubwürdige Anwäl- rück aufs offene Meer, Bulgarien steckt zu schützen. Aber Europas Politiker ver-
tin der Menschenrechte? Einwanderer in Internierungslager. Euro- suchen, das Problem einfach auszusitzen,
Shetty: Sie hat unser Treffen ernst genom- pas Flüchtlingspolitik ist gescheitert. Die das wird nicht gelingen. Und man macht
men, und ich hatte den Eindruck, dass EU schützt ihre Grenzen, aber nicht die es sich auch zu einfach, wenn man sagt,
sie vom Wert der Menschenrechte über- Menschenrechte von Flüchtlingen. die Griechen oder die Italiener sollen das
zeugt ist. In Bezug auf die Krim-Krise hat SPIEGEL: Europa nimmt auch Flüchtlinge mal schön allein regeln. Ich habe zu Bun-
sie klar ihre Sorge um die Einhaltung von auf, zum Beispiel aus Syrien. deskanzlerin Merkel gesagt, dass sie na-
Menschenrechten ausgedrückt. Aber of- Shetty: Ja, aber wie viele? Wir reden hier türlich so tun kann, als sei die Tragödie
fen gestanden würde ich mir wünschen, von zweieinhalb Millionen Menschen. von Lampedusa mit rund 400 ertrunke-
dass Kanzlerin Merkel auch gegenüber Und Deutschland hat sich bereit erklärt, nen Flüchtlingen ein rein italienisches
Ländern wie China öfter mal Klartext re- rund 10 000 aufzunehmen, von denen Problem. Aber die Welt betrachtet es als
det. Wenn man bedenkt, wie ungewöhn- noch nicht einmal 4000 da sind. Parado- europäisches Problem. Das war nicht Ita-
lich stark ihre Position in Europa und der xerweise ist Deutschland damit, europa- liens Schande, es war Europas Schande.
Welt ist, haben wir von ihr zu dem Thema weit betrachtet, noch weit vorn. Tatsache SPIEGEL: Die Europäische Grenzschutz-
in letzter Zeit erstaunlich wenig gehört. ist: 80 Prozent der weltweiten Flüchtlinge agentur Frontex wird zunehmend bei-
SPIEGEL: Achtet Deutschland die Men- sind von armen Ländern aufgenommen spielsweise vor der nordafrikanischen
schenrechte? worden. Die Reichen schotten sich ab. Küste aktiv, um Flüchtlingsboote daran
Shetty: Wir kritisieren zwar auch einiges SPIEGEL: Seit Anfang Dezember ist an zu hindern, Europa überhaupt zu errei-
an der Lage innerhalb Deutschlands, Europas Außengrenzen das Hightech- chen. Halten Sie das für akzeptabel?
etwa fehlende unabhängige Untersuchun- Überwachungssystem Eurosur in Betrieb, Shetty: Auch die nordafrikanischen Län-
gen von Polizeigewalt. Aber das größere mit dem Flüchtlingsbewegungen lücken- der selbst spielen aus unserer Sicht eine
Problem sehen wir mit Blick auf Europa. los erfasst werden sollen. Ist dagegen et- höchst zweifelhafte Rolle. Wir sprechen
Da tut Merkel oft so, als ginge das ihr was einzuwenden, etwa wenn es hilft, das auch sehr deutlich dort an. In bilate-
Land nichts an. An Europas Außengren- Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten? ralen Abkommen mit den Europäern ver-
zen sterben täglich Menschen, in Spanien Shetty: Das ist aber nicht der Zweck von pflichten sie sich, Flüchtlinge, die bei ih-
wird mit Gummigeschossen auf Flücht- Eurosur. Die gesamte Logik der europäi- nen stranden, erst gar nicht rauszulassen.
44 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
SD14-107
Oft werden sie sogar interniert. Seien wir weitet. Sie beschäftigen sich häufiger
doch bitte ehrlich: Migration ist ein Ne- etwa mit ökonomischen Entwicklungen,
benprodukt der Globalisierung. Wenn Hunger, Abtreibungen. Hat das auch et-
Waren und Geld nach Europa strömen, was mit der Notwendigkeit zu tun, mehr
warum sollten das nicht auch Menschen Spenden einzuwerben?
wollen? Die Aufgabe der europäischen Shetty: Ach was, Amnesty hat noch nie
Politik kann nicht sein, das Geld zu schüt- eine Kampagne gestartet, weil wir uns
zen, aber die Menschen nicht. davon einen Haufen Geld versprochen
SPIEGEL: Was wären Alternativen? haben. Wir reagieren auf reale Probleme,
Shetty: Zum Beispiel eine gerechte Ver- die wir uns nicht ausgedacht haben. Ich
teilung der ankommenden Flüchtlinge in gebe Ihnen ein Beispiel: In Nepal leiden
Europa. Und eine wirkliche Einzelfall- mehr als eine halbe Million Frauen unter
prüfung. Nicht jeder will aus rein wirt- Gebärmuttervorfall, weil sie zu früh zu
schaftlichen Gründen nach Europa. Viele viele Kinder bekommen und dann sofort
machen sich auf den Weg, weil sie be- wieder zur Arbeit aufs Feld geschickt
droht und verfolgt werden. Und sobald werden. Nun könnten Sie argumentieren,
die reichsten Länder dieser Welt, wenn das ist ein reines Gesundheitsproblem.
es um Menschenrechte geht, endlich zu Wir sehen das nicht so. Deshalb habe ich
Hause praktizieren würden, was sie an- auch im Gespräch mit der nepalesischen
deren predigen, könnten sie auch die Regierung von einer strukturellen Diskri-
Fluchtursachen besser bekämpfen. minierung von Frauen gesprochen, die
SPIEGEL: In welchem Rahmen sollte das beendet werden muss. Deshalb haben wir
stattfinden? auch unsere Kampagne „My Body, My
Shetty: Wofür haben wir zum Beispiel die Rights“ gestartet.
europäisch-afrikanischen Gipfel? In etli- SPIEGEL: Mr. Shetty, hat sich die Situation
chen afrikanischen Staaten, also etwa in der Menschenrechte in der Welt seit Ih-
Nigeria, Uganda, Malawi, Sambia oder rem Amtsantritt 2010 verbessert?
Kamerun, werden zurzeit Schwule und Shetty: Nun, ich wäre größenwahnsinnig
Lesben auf brutale Weise verfolgt. Und zu behaupten, das hätte etwas mit mir zu
je länger das so bleibt, desto mehr Men- tun. Aber seit 2010 haben wir immerhin
schen werden versuchen, nach Europa zu den Arabischen Frühling erlebt, Protest-
fliehen. Deutschland ist eines der Haupt- bewegungen von Iran bis Brasilien. Das
geberländer dieser Staaten. Nehmen wir heißt nicht, dass überall eitel Sonnen-
Uganda. Deutschland finanziert dort eine schein herrscht. Aber wir haben an vielen
Reihe von Programmen. Was ist so Orten größere Medienfreiheit, der Zu-
schwer daran, das zu nutzen, um huma- gang zum Internet ist für viele Menschen
nitäre Mindeststandards durchzusetzen? einfacher geworden, und die Twitter-Ex-
Kanzlerin Merkel hat in unserem Ge- plosion ist einfach unglaublich.
spräch auch versprochen, beim nächsten SPIEGEL: Andererseits haben Twitter und
EU-Afrika-Gipfel mit Bezug auf die Uni- soziale Netzwerke es autokratischen Re-
versalität der Menschenrechte deutliche gimen auch erlaubt, die Rädelsführer der
Worte zu finden. Proteste schneller ausfindig zu machen.
SPIEGEL: Amnesty hat sein Themenfeld in Ist es eine Erfolgsgeschichte, wenn sich
den vergangenen Jahren deutlich ausge- mehr Proteste erheben, anschließend
aber auch die Gefängnisse voller sind?
Shetty: Das ist ein Problem, das nicht erst
mit dem Internet entstanden ist. Ich habe
das selbst erlebt. Ich komme ja aus einer
Familie von Menschenrechtsaktivisten.
Mein Vater hat immer behauptet, unser
privater Telefonanschluss in Bangalore
werde überwacht. Ich dachte, er über-
treibt da ein bisschen. Dann sah ich eines
morgens auf der Titelseite einer indischen
Zeitung eine Liste mit überwachten
Anschlüssen, die ein Whistleblower ge-
liefert hatte – und unserer war an erster
Stelle.
SPIEGEL: Inwiefern ist Amnesty Inter-
national von staatlichen Eingriffen be-
troffen?
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL

Shetty: In Saudi-Arabien und China wird


unsere Website blockiert. Aber heißt das,
junge Saudis oder Chinesen sind von uns
und unseren Ideen abgeschnitten? Natür-
lich nicht. Es wird immer findige Leute
geben, die staatliche Zensur zu umgehen
Amnesty-Generalsekretär Shetty wissen. INTERVIEW: SVEN BECKER,
„Das war Europas Schande“ JÖRG SCHINDLER

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 45
Demonstrierende im Februar in Berlin
Viele Probleme nicht gelöst

das Preisniveau. Weil der Mietspiegel in


den meisten Fällen als Referenz für die
Preisbremse gelten wird, eröffnen sich
somit zusätzliche Spielräume für spätere
Erhöhungen.
Ist die Mietpreisbremse erst einmal in
Kraft getreten, wächst zudem die Gefahr,
dass Vermieter geringere Erhöhungs-
potentiale an anderer Stelle kompensie-
ren. Möglichkeiten dafür gibt es genug,
von der üppigeren Ablöse für die Küche
bis zu einem teureren Stellplatz in der
Tiefgarage.
Das Hauptproblem des Gesetzentwurfs
ist jedoch, dass er suggeriert, er könne
Marktmechanismen außer Kraft setzen.
Das wird dem Juristen Maas allerdings

BJÖRN KIETZMANN / ACTION PRESS


kaum gelingen. Die Vermieter können
die Konditionen bestimmen, sofern die
Nachfrage nach Wohnungen das Angebot
übersteigt. Dort, wo die Mietpreisbremse
ihre segensreiche Wirkung entfalten soll –
also in beliebten Gegenden wie Berlin-
Mitte, München-Schwabing oder Ham-
burg-Eppendorf –, ist dies immer der Fall.
tungen mal eben 50 Prozent aufzuschla- Und daran wird sich auf absehbare Zeit
WOH NUNGEN gen. Derzeit passiert das nicht selten. nichts ändern.
In der Theorie klingt das Vorhaben gut. Hinzu kommt: Der Vermieter wird im

Mieten rauf! Der Staat greift in einen Markt ein, der


in bestimmten Gegenden außer Kontrolle
geraten ist. In der Praxis, das ist die
Zweifel immer dem Interessenten den
Vorzug geben, der alle seine Forderungen
erfüllt, egal wie unanständig sie auch sein
Der Verbraucherschutzminister schlechte Nachricht, werden viele Proble- mögen. Zu kontrollieren, auf welche
forciert die Mietpreisbremse. me nicht gelöst, es kommen sogar neue Miete sich beide Seiten tatsächlich ge-
Ob das Instrument wirkt, ist zweifel- hinzu. einigt haben, ist für den Staat unmöglich.
Das fängt schon damit an, dass die Ver- Es sei denn, die Regierung erweitert die
haft. Die Vermieter reagieren mieter auf die bloße Ankündigung des Kompetenzen des Zolls, damit die Beam-
bereits – und erhöhen die Preise. Gesetzes reagieren – und saftige Preisauf- ten nicht nur Schwarzarbeiter, sondern
schläge verlangen. Dabei ist nicht einmal auch Mietpreisbremsenbetrüger ausfindig

K
ein Kabinettsneuling hat schneller klar, wann die Mietpreisbremse in Kraft machen.
verstanden, wie man sich in Berlin tritt – und wo. Maas kann den Ländern Weil bislang niemand die Einführung
einen Namen macht, als Heiko nur die Möglichkeit eröffnen, das Instru- einer Mietpolizei plant, werden auch gie-
Maas. Seit der langjährige Landespoliti- ment einzuführen. Eine SPIEGEL-Umfra- rige Vermieter weiter in der Lage sein,
ker Ende 2013 in die Hauptstadt gewech- ge ergab, dass nur fünf Landesregierun- das gutgemeinte Gesetz von Maas zu
selt ist, schafft es der Minister für Justiz gen einen solchen Schritt für bestimmte ignorieren und höhere Zuschläge als die
und Verbraucherschutz regelmäßig in die Gegenden planen, zwei weitere können erlaubten zehn Prozent zu kassieren.
Schlagzeilen. Mal fordert Maas schärfere es sich vorstellen. Macht gerade einmal 7 „Der Vermieter hat kein Risiko“, sagt Ul-
Gesetze gegen Kinderpornografie, dann von 16 Ländern. rich Ropertz, Geschäftsführer beim Deut-
kündigt er Haftstrafen für Dopingsünder Die Panik bei Vermietern ist dagegen schen Mieterbund. Kritisch für den Ver-
an oder verspricht die baldige Einführung bereits überall ausgebrochen. Das zeigen mieter werde es erst, wenn einem Mieter
der Frauenquote. Zahlen des größten Online-Anbieters der auffalle, dass seine monatliche Zahlung
Nun will Maas, 47, sein sozialdemokra- Branche, Immobilienscout24. Die Mieten das erlaubte Maß übersteigt. Doch selbst
tisches Meisterstück abliefern – und dafür legen im Moment fast fünfmal so schnell dann hält sich der Schaden des Vermie-
sorgen, dass Wohnen in Deutschland er- zu wie in den Monaten vor Unterzeich- ters in Grenzen. Er muss die zu Unrecht
schwinglich bleibt. Schließlich besitzt nicht nung des Koalitionsvertrags. „Wenn sich kassierte Miete nicht zurückerstatten.
einmal die Hälfte der Haushalte Wohn- dieser Trend verstetigt“, sagt Immobi- Wer trickst, stellt sich somit auf jeden Fall
eigentum, so wenige wie kaum sonst wo lienscout-Geschäftsführer Marc Stilke, besser.
in Europa. Maas’ Zauberwort für die Be- „zeigt sich einmal mehr, wie ein gutge- Immerhin scheint das auch Maas zu
freiung der Deutschen von gierigen Spe- meinter Markteingriff zu völlig gegentei- ahnen. „Kann die Mietpreisbremse nicht
kulanten lautet: Mietpreisbremse. ligen Effekten führen kann.“ leicht umgangen werden?“, lautet eine
In der vergangenen Woche hat der Selbst Vermieter, die ihren Mietern bis- Frage, die sich der Minister auf seiner In-
Minister seinen Gesetzentwurf vorgelegt. lang nur bescheidene Preise abverlangt ternetseite selbst stellt. Seine knappe
Wird eine Wohnung künftig neu verge- haben, also vorbildlich waren, dürften bis Antwort: „Die übergroße Zahl der Bürger
ben, so die Idee, darf der Preis maximal zum Inkrafttreten des Gesetzes im kom- sind rechtstreu, und das gilt natürlich
zehn Prozent über der ortsüblichen Miete menden Jahr ihre Chance nutzen. Diese auch für Vermieter und Mieter unter Gel-
liegen. Vermietern soll so die Möglichkeit höheren Mieten fließen wiederum in die tung einer Mietpreisbremse.“ SVEN BÖLL,
genommen werden, bei Wiedervermie- künftigen Mietspiegel ein – und heben ANN-KATRIN MÜLLER, FRITZ ZIMMERMANN

46 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Deutschland

E S S AY

Masse der Mittelmäßigen


Die Rückkehr zur neunjährigen Schuldauer wird die Gymnasien schwächen.
Von Jan Friedmann

D
ie vergangenen Gymnasium, verglichen
Wochen waren für etwa mit rund 32 Prozent
die Gegner des im Jahr 1996. In der Uni-
Turbo-Abiturs reine Er- versitätsstadt Heidelberg
folgswochen. Gleich in waren es sogar zwei Drit-
mehreren Bundesländern tel, gerade zwei Prozent
wollen die Landesregierun- der Eltern wählten die
gen die ungeliebte G8-Re- Haupt- oder Werkreal-
form wieder zurückdrehen. schule. Der Ansturm
Niedersachsen kündigte ei- geht häufig zu Lasten des
nen Kurswechsel hin zu G9 zweiten weiterführenden
an. Hessen, wo bereits Schultyps, der je nach
Wahlfreiheit herrscht, wird Bundesland etwa Ge-
bestehenden G8-Klassen meinschafts-, Stadtteil-
der Stufen fünf bis sieben oder Regionalschule heißt.
die Abkehr ermöglichen. Diesen Schulen droht

LINDENTHALER / IMAGO
In Bayern denkt die CSU das Schicksal der Haupt-
über eine längere Schul- schule, die mangels Po-
dauer nach, gleichzeitig pularität allmählich den
reichten die Freien Wähler Betrieb einstellen muss.
mehr als 25000 Unterschrif- Die neue Haupt-Schule
ten für ein Volksbegehren Protest gegen G8 in München ist das Gymnasium.
ein. Und in Hamburg, wo Die Politik hat bisher
die SPD noch an acht Jah- Durch die verlängerte Schulzeit könnte sich wenig getan, um dieser
ren festhält, bekommt die Entwicklung entgegen-
Volksinitiative „G9-jetzt!“ das Gymnasium, der einstige Stolz zuwirken, im Gegenteil.
mehr Zeit zum Stimmen- des Bildungsbürgertums, zu Tode siegen. Vertreter aller Parteien
sammeln – was ihre Er- fordern, mehr Abiturien-
folgschancen erhöht. ten und mehr Akademi-
Angesichts dieser Ankündigungen ging eine Zahl etwas unter, ker zu produzieren, angeblich zum Wohl der Nation. Im
die das Statistische Bundesamt Ende Februar meldete: 370 000 Koalitionsvertrag der grün-roten Landesregierung in Baden-
Schülerinnen und Schüler haben in Deutschland im vergange- Württemberg steht etwa: „Wir streben an, dass mittelfristig
nen Jahr das Abitur abgelegt, so viele wie noch nie. mindestens 50 Prozent eines Altersjahrgangs im Lauf ihres
Der Trend zurück zum neun Jahre dauernden Gymnasium Lebens ein Hochschulstudium abschließen.“ Gerade hat die
und die Zahl der Gymnasiasten hängen zusammen. Denn G9 oppositionelle CDU im Ländle angekündigt, im Falle eines
verstärkt zusätzlich den Ansturm auf die Gymnasien, weil der Wahlsiegs die verbindliche Übergangsempfehlung nicht wieder
Leistungsdruck dort abnimmt. Das wird die begehrte Schulform einzuführen – den Konflikt mit den kampfbereiten Eltern
wohl bald an die Grenze ihrer Kapazitäten bringen. scheuen alle Parteien.
Die Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder mehr Zeit haben, Als Folge dieses Kuschelkurses wird das Niveau am Gymna-
damit sie neben der Schule Sport treiben oder im Orchester spie- sium sinken, die Lernbedingungen werden sich verschlechtern,
len können. So berechtigt dieser Wunsch für den Einzelnen auch obwohl die Kinder mehr Zeit haben. Denn auch wenn es nur
sein mag, so schädlich ist er für das Schulsystem insgesamt. Denn wenige offen aussprechen: Bereits heute sitzen in den Gymna-
durch die verlängerte Schulzeit könnte sich das Gymnasium, der sien viele Schüler, die dort überfordert sind. Diese Gruppe
einstige Stolz des Bildungsbürgertums, endgültig zu Tode siegen. muss nicht deckungsgleich sein mit jenen, die über zu viel
Mit der Rücknahme des von vielen als zu straff empfundenen Stress durch G8 klagen. Aber es gibt Schnittmengen.
achtjährigen Bildungsgangs verschwindet auch der letzte An-

A
reiz für die Familien, ihre Kinder auf eine andere weiterfüh- n manchen Hamburger Gymnasien sind mehr als die
rende Schulform zu schicken. Früher gab es vielerorts verbind- Hälfte der Schüler gegen das Votum der Grundschul-
liche Empfehlungen der Lehrer nach der Grundschule. Doch lehrer auf diese Schulform geschickt worden. Und es
bis auf Ausnahmen haben die Bundesländer diese verpflich- sind genau diese Schulen mit vielen Nichtempfohlenen, die
tende Übergangsempfehlung abgeschafft. Die Eltern entschei- im Schnitt beim Abitur schlecht abschneiden. Die fehlende
den. Und sie wählen mit Vorliebe das Gymnasium. Eignung lässt sich nicht ausgleichen, auch nicht mit dem soge-
Im einst restriktiven Baden-Württemberg wechselten zu nannten individualisierten Unterricht, der angeblich jeden
Beginn des Schuljahrs knapp 45 Prozent der Viertklässler aufs Schüler auf seinem Leistungsstand abholt.
48 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Das Gymnasium schöpft seinen Ruf aus der Tatsache, dass es Die Propaganda für mehr Akademiker zeigt Wirkung: 33 000
eine Leistungsschule ist. „Das Gymnasium vermittelt eine ver- Lehrstellen blieben in Deutschland laut dem jüngsten Berufs-
tiefte Bildung und sichert die allgemeine Studierfähigkeit für leis- bildungsbericht unbesetzt. Stattdessen, kritisiert die Industrie-
tungsfähige und leistungsbereite Schülerinnen und Schüler.“ So und Handelskammer Stuttgart, werde der Nachwuchs an die
definiert die Bundesdirektorenkonferenz Gymnasien die Funk- Gymnasien getrieben. „Nicht wenige Schüler werden es an
tion der Schulform. Dies darf inzwischen als Wunschbild gelten. den Gymnasien nicht schaffen“, sagt der Stuttgarter IHK-Haupt-
Das real existierende Gymnasium wird durch die Masse der geschäftsführer Andreas Richter. „Ihr Lebensweg wäre ohne
Mittelmäßigen geprägt. „Die meisten Gymnasiasten in Deutsch- den Druck zum Abitur und mit einer beruflichen Ausbildung
land sind nur mittelmäßig begabt und intellektuell nicht ganz erfolgreicher verlaufen.“
auf der Höhe“, kritisiert die Lernforscherin Elsbeth Stern von Volkswirtschaftlich bürgen viele Gymnasiasten nicht un-
der ETH Zürich. „Sie können nicht so gut logisch denken oder bedingt für Erfolg, das zeigt der Blick ins Ausland. „Je höher
sich in abstrakte Themen einarbeiten.“ Das ergebe sich die Abiturientenquote, desto höher die Jugendarbeitslosigkeit“,
„zwangsläufig aus der Normalverteilung der Intelligenz“. sagt sogar der Düsseldorfer Bildungsforscher Rainer Bölling,
15 Prozent überdurch- der einige Mittelmeerlän-
schnittlich, 70 Prozent in der genauer untersucht
der Nähe des Mittelwerts, hat. Frankreich etwa pro-
15 Prozent unterdurch- fitiere nicht davon, dass
schnittlich, so verteile rund vier Fünftel der
sich die Intelligenz in der Schüler dort das Bacca-
Bevölkerung. Und auch lauréat, das französische
wenn diese Quoten nicht Abitur, ablegen. Ähnlich
als Blaupause für ein drei- sieht es in Italien, Spa-
gliedriges Schulsystem nien und Griechenland
dienen dürfen, drängt aus, wo jeweils zwei Drit-
sich die Frage auf, ob die tel eines Altersjahrgangs
besten 15 Prozent noch die Hochschulreife erwer-
eine Heimat am Gym- ben, die ihnen aber
nasium finden. So dia- nichts nützt. Denn der
gnostizierten die Pisa- Abschluss ist unspezi-

ULRICH BAUMGARTEN / VARIO IMAGES


Forscher Deutschland fisch, er bringt die Abitu-
jüngst „Handlungsbedarf rienten nicht mit der Be-
im oberen Leistungsbe- rufswelt in Kontakt, er ist
reich“. Erfolgreiche Län- ein Jedermannsdiplom.
der wie Korea, Japan Viele dieser wirtschaft-
oder Neuseeland seien lich schwächeren Länder
bei den Spitzenleistungen schauen deshalb mit
weit voraus, heißt es im Neid auf die deutsche Be-
aktuellen Pisa-Bericht. Auszubildende in Ludwigsfelde rufsausbildung, jenes Mo-
Einige G9-Fans argu- dell, das die Bildungspo-
mentieren, das zusätzli- Die Propaganda für mehr Akademiker zeigt litik durch ihre Akademi-
che Jahr biete die Chance, kerfixierung zunehmend
sich um die vernachläs- Wirkung: 33 000 Lehrstellen von innen aushöhlt.
sigte Spitze zu kümmern, blieben in Deutschland unbesetzt. Als Gegenpart zu den
etwa in speziellen Kursen zertifikategläubigen Kri-
oder mit zusätzlichen Auf- senländern kann die
gaben. Doch die Lehrerinnen und Lehrer werden kaum dazu Schweiz dienen – ein Land mit erfolgreichen Unternehmen
kommen. Sie müssen erst mit der potentiell schwierigeren Klien- und einigen weltweit angesehenen Universitäten. Dort kom-
tel fertig werden, die nun an die Gymnasien drängt. Auf manche men zwei Drittel der jungen Leute über eine Berufsausbildung
dieser Kinder sind die Schulen nicht eingerichtet – Sozialarbeiter in den Job, die Abiturientenquote liegt bei nur 20 Prozent.
oder Sprachkurse teilen die Bildungspolitiker vor allem den an- Am höchsten ist sie im Tessin – ausgerechnet in dem Kanton,
deren Schultypen zu. Die Lernstarken drohen sich am Gymna- in dem besonders viele Jugendliche arbeitslos sind.
sium zu langweilen, statt acht nun neun Jahre lang. Das achtjährige Abitur hätte die Chance geboten, die Bun-
desrepublik auf den Schweizer Pfad zu bringen und sie vor

F
orscher wie Stern empfehlen eine Gymnasialquote von der Abiturienteninflation zu bewahren. Und zwar durch ein
20 bis 25 Prozent, „wenn man das Gymnasium als Vor- zweigliedriges Schulsystem, wie es einige Bundesländer bereits
bereitung auf ein Studium versteht“. Wer solche Zahlen eingeführt hatten: Das Gymnasium führt in acht Jahren zum
in die deutsche Bildungsdiskussion wirft, gilt schnell als elitär. Abitur, wer länger Zeit braucht, geht an die zweite Schulform.
Ganz so, als wäre es sozial gerecht, jeden möglichst lange Dort kann er das Abitur machen oder aber sein Herz für einen
durchzuschleppen. Das Scheitern an den Anforderungen wird Ausbildungsberuf entdecken, was hochwillkommen wäre.
dadurch nur möglichst weit nach hinten in die Bildungskarriere Dass eine anfängliche Entscheidung gegen das Gymnasium
verlegt. An die Universität etwa, wo derzeit jeder dritte Ba- auf lange Sicht nicht von Nachteil sein muss, haben gerade
chelor-Student sein Studium abbricht. Wissenschaftler des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft
Elitär ist etwas anderes: die von der Politik genährte und der Arbeit errechnet. Sie fanden heraus, dass gute Realschüler
von den Eltern aufgesogene Rhetorik, dass nur das Abitur und später ähnlich viel verdienen wie Gymnasiasten. Das deutsche
ein akademischer Abschluss eine gelungene Bildungsbiografie Schulsystem sei außerdem relativ durchlässig nach oben, etwa
krönen könnten. Ganz so, als wären der Handwerker oder die über das Fachabitur. Künftig werden noch mehr Grundschul-
Kauffrau intellektuell nur halbe Menschen. An diesem fatalen abgänger gleich aufs Gymnasium wechseln. Dadurch sind
Grundtenor ändert auch die aktuelle Kampagne der Bundes- zwangsläufig jene Schulen weniger nachgefragt, die die Kinder
forschungsministerin für mehr Lehrlinge nichts. auf alternativen Wegen zum Abitur führen können. 
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 49
Szene

Was war da los,


Frau Domozetska?
Christina Domozetska, 74, Rentnerin
aus Blagoewgrad, Bulgarien, über
Heilkräfte: „Ich bin Imkerin, an die-
sem Tag in der Kirche habe ich für
eine gute Ernte gebetet. Die Kirche
ist immer voll am Tag des heiligen
Haralampi, das ist der Schutzheilige
der Imker. Alle bringen dann ihre Ho-
niggläser mit und lassen sie segnen.
Mein Mann und ich ernten mindes-
tens 20 Kilogramm Honig im Jahr.
Jedes Jahr bringen wir unsere Bienen-
stöcke in einen Kiefernwald in den
Bergen, wir stellen sie direkt auf eine
Wiese mit wilden Kräutern. Ich glau-
be, dass Gott uns den Honig gegeben
hat, um uns vor Krankheiten und
bösen Mächten zu schützen. Meine
Vorfahren sind deshalb bis ins hohe
Alter gesund geblieben.“
DPA

Gibt es zu viele Menschen, Herr Boote?


Werner Boote, 48, Filmregisseur und breiten werde, sagt heute, dass das Be- ihre Ein-Kind-Politik, weil es in Zu-
Autor, hat vier Jahre zur Über- völkerungswachstum ein Ende nimmt. kunft viel zu wenige junge Menschen
bevölkerung recherchiert. Diese SPIEGEL: Nach der jüngsten Uno-Progno- geben wird. Dort wird es massive Pro-
Woche kommt sein Film „Population se soll die Erdbevölkerung bis 2050 auf bleme mit einer alternden Bevölkerung
Boom“ in Deutschland in die Kinos. 9,6 Milliarden Menschen anwachsen. geben. Hochaltrigkeit ist ein viel größe-
Boote: Richtig. Aber danach sinkt die res Problem als die Bevölkerungszahl.
SPIEGEL: Gerade hat der US-Biologe Zahl wieder. Auf allen Kontinenten SPIEGEL: Mehr als 800 Millionen Men-
Camilo Mora vorgeschlagen, dass we- geht das Bevölkerungswachstum zu- schen hungern. Ist das kein Problem
gen der Überbevölkerung jede Frau rück. Die Geburtenziffer lag im Welt- der Überbevölkerung?
nur noch ein Kind bekommen solle. durchschnitt in den siebziger Jahren bei Boote: Nein, das ist ein Problem der fal-
Was halten Sie von diesem Vorschlag? etwa 5 Kindern pro Frau. Danach be- schen Verteilung. Weltweit produzieren
Boote: Das ist völlig absurd. Überbevöl- gann sie zu sinken, aktuell liegt sie bei wir mehr Nahrungsmittel, als benötigt
kerung ist ein Märchen. Wer von uns 2,5. Die Chinesen lockern gegenwärtig werden. 1,5 Milliarden Menschen sind
ist denn zu viel? Die Afrikaner? Die übergewichtig. Ursache des Hungers ist
Chinesen? Deutschlands Bevölkerungs- nicht eine Überzahl an Menschen, son-
dichte ist nahezu doppelt so hoch wie dern es sind Armut und Ungerechtigkeit.
Chinas. Es ist wie im Stau: Merkwürdi- SPIEGEL: Mehr Menschen bedeuten auch
gerweise sind immer die anderen zu einen höheren Ressourcenverbrauch.
viel. Der Grund für das Horrorszena- Boote: Der ökologische Fußabdruck ist
rio: In den siebziger Jahren befürchtete ausgerechnet in den Ländern größer,
man, dass es ein endloses Bevölke- in denen Menschen immer weniger
rungswachstum geben würde. Das hat Kinder bekommen. Statt davon zu
sich als falsch erwiesen. Sogar der Club sprechen, wie viele Kinder eine Fami-
of Rome, der damals lauthals davor ge- lie haben darf, sollten wir uns lieber
warnt hatte, dass sich der Mensch un- Gedanken darüber machen, wie viele
aufhaltsam wie ein Krebsgeschwür aus- Boote (l.) in der Serengeti Autos eine Familie haben sollte.
50 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Gesellschaft

Käse aus dem Jenseits


EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Forscher aus Dresden entschlüsseln 4000 Jahre alte Proteine.

K
äseforschung ist kein Spaziergang, „Du erklärst nicht gut“, sagt sie. nen. Würde man sich nun ein Bakterium
all die Testreihen, Nächte und Wo- „Bitte, dann du“, er schüttelt ungläubig von der Größe eines Hochhauses denken,
chenenden, die man im Labor ver- den Kopf. dann wäre ein mittleres Protein so groß
bringt, brütend über Chromatografie-Re- „Man kann sagen, Proteinanalyse ist wie ein Streichholzkopf. Das sind die Grö-
sultaten, Protease-Sequenzen, Peptid-For- Abenteuer“, sagt sie und lächelt. ßenverhältnisse, in denen die Shevchen-
mationen, Kefir-Kulturen; aber nach drei Das Abenteuer begann, als sich 2011 kos unterwegs sind.
Jahren hatten sie ein Ergebnis, und sie ver- ein chinesischer Archäologe namens Dr. Mit Massenspektrometrie bestimmt
öffentlichten es im „Oxford Journal of Ar- Yang Yimin meldete. Ob sie den Hals- man die Masse eines Moleküls. Allerdings
chaeology“, was für einen Biochemiker fast schmuck der „Schönen von Xiaohe“ ent- nicht, indem man es wiegt. Sondern in-
schon ein bisschen unter seiner Würde ist. schlüsseln könnten? dem man das Molekül spaltet, es in Be-
Dann kam die Mail, der Tri- wegung versetzt, zum „Fliegen“
umph. bringt. Das geschieht, indem
Die Redaktion der Zeitschrift man die Molekülteile ionisiert,
„Nature“ teilte mit, die Resultate elektrisch lädt. Vom „Flugverhal-
aus Dresden seien als „High- ten“ lassen sich Rückschlüsse zie-
light“ für die nächste Nummer hen auf die Beschaffenheit der
vorgesehen; mehr Anerkennung Substanz, Kohlenstoff oder Ei-
war kaum denkbar. Sie hatten weiß, Salz oder Fett.
einen Käse erforscht. Ein Sturm Zunächst reinigten die Shev-
von Anfragen brach über sie chenkos die Bröckchen, indem

Y. LIU / Y. YANG / PICTURE ALLIANCE / DPA


herein. sie Fette und Salze auskämmten.
„Also – am Ende steht Sieg“, Dann spalteten und ionisierten
sagt Andrej Shevchenko. Er sitzt sie die Proteine, verglichen sie
in seinem Büro, Max-Planck- in einer Datenbank von 35 Mil-
Institut, Dresden, Zimmer lionen anderer Substanzen. Bis
139/Nord, er kratzt sich den Bi- sie sicher waren: Bei den Bröck-
zeps, wackelt mit den Zehen. Sei- chen handelt es sich um Käse.
ne Straßenschuhe stehen unter Aber was für Käse? Immer neue
dem Tisch, während der Arbeit Mumie „Schöne von Xiaohe“ Vergleichsmessungen. Immer
trägt er Birkenstock-Sandalen, neue Labordaten.
ein formloses T-Shirt, Dreitage- Die Geschichte der erforsch-
bart. Geboren ist er im damali- ten Käseklümpchen müsste ei-
gen Leningrad, seit 1996 lebt er gentlich in Schulbüchern nachge-
in Deutschland. In einem staubi- druckt werden – als Beispiel, wie
gen Regal eine Urkunde: Preis Naturwissenschaft funktioniert,
der „Deutschen Gesellschaft für als Lehrstück, wie Neugier, Intel-
Massenspektrometrie“. Von der Website nachrichten.de ligenz, Sturheit und Akribie zu
Auf dem Weg zu ihm geht einem Resultat führen können.
man vorbei an lichtdurchfluteten Einerseits sinnlos, andererseits
Labors, die mit piependen, rau- großartig.
schenden, tuckernden, summenden Ge- Bei der „Schönen“ handelt es sich um Am Ende wussten sie, dass die Bröck-
räten ausgestattet sind, wo seine Leute eine 4000 Jahre alte, mumifizierte Frau chen vor 4000 Jahren eine Art Kefir-Käse
an Proben von Fruchtfliegen, Spulwür- aus der Wüstenregion im Westen Chinas. gewesen waren, wahrscheinlich eine
mern, Maden arbeiten; Shevchenko holt Um ihren Hals fanden die Archäologen Grabbeigabe, Wegzehrung für die letzte
einen Stuhl für seine Frau Anna, sie ar- kleine, braune Bröckchen. Eine Kette? Ein Reise. Die Archäologen, Yang und seine
beitet auch hier. Er ist bärig-brummig, sie magisches Irgendwas? Menschenfleisch? Kollegen, waren sehr aufgeregt. Was be-
klein, schmal, lebhaft. Wie lebten diese Leute? Woran glaubten deutet es, wenn man Käse als Grabbei-
Die beiden kennen sich aus Russland, sie? Yang hatte viele Fragen, große Fragen. gabe verwendet? Waren diese Menschen
vor 26 Jahren haben sie sich in einem La- Die Shevchenkos hingegen bewegen womöglich die Ahnen der heutigen Chi-
bor ineinander verliebt, wo sonst. Sie ha- sich in der Welt der sehr kleinen Zusam- nesen? Waren sie eine frühe Hochkultur?
ben zwei Kinder, außerdem die Ange- menhänge. Sie finden: Gott ist in den Die Shevchenkos beteiligten sich nicht
wohnheit, sich gegenseitig ins Wort zu Details. an diesen Spekulationen. Ihr Job war es
fallen, vor allem aber haben sie eine Lei- Wäre eine Fruchtfliege, Drosophila me- gewesen, ein Rätsel zu lösen, eine präzise
denschaft – die Proteinanalyse. Was im- lanogaster, so groß wie ein Passagierflug- Antwort zu geben. Erledigt. Sie arbeiten
mer das sein mag. zeug, wäre ein durchschnittliches Bakte- am nächsten Projekt: 4000 Jahre altes
„Was ist Proteinanalyse? Wichtige Fra- rium im Vergleich dazu ein Tennisball. Lampenöl. Woraus es gewonnen wurde.
ge! Proteine werden untersucht mittels Dieses tennisballgroße Bakterium bestün- In ein paar Jahren wissen sie mehr.
Massenspektrometrie“, sagt er. de auch aus Proteinen, Eiweiß-Baustei- RALF HOPPE

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 51
JÖRG MÜLLER / AG. FOCUS / DER SPIEGEL

Bettel-Neuling Vasile (2. v. l.) in Hamburg, Kollegen, Passantin


ZOLTAN EGYED / DER SPIEGEL

Bettlerin Lizica in ihrem Heimatort Titeşti


Gesellschaft

UNTERNEHMER

Der Boss der Bettler


Am Hamburger Hauptbahnhof lebt eine Familie aus Rumänien von Almosen. Sie
organisiert sich wie eine Firma, mit Fahrern, Aufpassern, Angestellten. Weil sie
am Arbeitsmarkt scheitert, hat sie ihre Armut zum Beruf gemacht. Von Katrin Kuntz

A
n seinem ersten Tag in Deutsch- Stunden am Tag nichts anderes tut, als Jeden Morgen nach dem Aufstehen,
land, auf einem Stück Brachland am Bahnhof zu stehen und zu lügen. sagt Sandu, danke er Gott dafür, dass er
hinter den Gleisen am Hauptbahn- Vasile ist der neueste Mitarbeiter eines hier in Hamburg sein dürfe, an diesem
hof, lernte der Neue, ein guter Bettler zu Unternehmens, und seit er in dieses Un- wunderbaren, aufgeräumten Ort. Wo er
sein. Seine Lektion begann damit, dass ternehmen geraten ist, hat er nur ein Ziel: seinem Geschäftssinn folgen kann, wo
er sich zwei alte Pullover überstreifte, Er will es so schnell wie möglich wieder man ihn machen lässt oder sogar unter-
eine Krücke mit einem blauen Schaft in verlassen. Vasile sagt, seit seinem Arbeits- stützt. Denn in den 30 Jahren, die er jetzt
die Hand nahm und übte, mit ihr zu ge- beginn habe er immer wieder gedacht, er auf der Welt sei, habe ihm als Rom nie
hen. Das linke Bein warf er weiter nach müsse sterben vor Scham. Aber aus jemand etwas zugetraut, vor allem nicht
vorn als das rechte, er knickte in der Hüf- Angst vor dem Boss kommt er trotzdem die Leute in Rumänien.
te ab und stolperte über die Gräser. zum Dienst. Als Sandu vor vier Jahren nach Ham-
Nach zehn Metern blieb er stehen, neig- Der Boss, Sandu Trandafir*, ist ein burg kam, habe er lange Arbeit gesucht,
te seinen Oberkörper vor und sprach drei Mann, mit dem er früher, in Titeşti in den sagt er. Jeden Tag habe er am Bahnhof
deutsche Wörter, deren jeweils ersten Südkarpaten, Kartoffeln aus den Feldern rumgestanden und in die Gegend, in die
Vokal er dehnte: Bitte. Danke. Entschul- geholt hat. Die Firma des Bosses besteht Luft geschaut, irgendwann saß er dann
digung. Anschließend stammelte er eine im Kern aus einer Gruppe von zehn Män- auf dem Boden. Als ihm jemand eines
Geschichte, in der er Vater eines Sohnes nern und Frauen, die aus diesem Dorf Morgens eine Münze in einen leeren Be-
ist, der in einem rumänischen Heim auf stammen, die meisten sind miteinander cher warf, den er vor sich stehen hatte,
eine Operation wartet. Das Kind aus die- verwandt. Eine wechselnde Zahl Ange- dachte er darüber nach, Bettler zu wer-
ser Geschichte hat die Glasknochenkrank- stellter kommt hinzu. Sandu Trandafir den. Er schaute sich ein paar Tricks von
heit, seine Glieder sind verbogen und zer- hat ein Geschäftsmodell entwickelt, das den anderen Bettlern ab, es lief gut, und
brechlich. Der Mann übte eine halbe nun ihr Leben bestimmt: Er hat die Ar- irgendwann kam ihm die Idee eines eige-
Stunde lang. Sein Boss, sagt er, stand da- mut zum Beruf gemacht. nen Unternehmens.
neben und schaute zu. Sandu Trandafir ist ein kleiner, aufrech- Vor drei Jahren holte er seinen Bruder
Der Mann, Vasile Rotaru*, ist 31 Jahre ter Mann mit dichtem Bart, er steht an nach Hamburg. Er erzählte ihm von der
alt, eine kleine Gestalt mit festem Bauch einem Wintermorgen am östlichen Aus- geplanten Firma, Sandu wusste, dass es
und dicken Armen. Er stammt aus einem gang des Hamburger Hauptbahnhofs und nicht einfach werden würde. Es würde
Dorf in Siebenbürgen an den Ausläufern trinkt schwarzen Kaffee aus einem Papp- keinen Urlaub geben, keine Lohnfortzah-
der Karpaten, im Zentrum Rumäniens. Als becher mit der Aufschrift „Dat Backhus – lung im Krankheitsfall, keine Kantine,
er Anfang des Jahres nach Deutschland Ein Stück Hamburg, das schmeckt“. Er keine Versicherung. Aber Konkurrenz.
kam, hatte er einen bescheidenen Traum. wartet auf den Bus, der morgens gegen Die Frage war also, was er, Sandu Tran-
Er wollte Arbeit finden, vielleicht ein klei- neun Uhr seine Arbeiter bringt. dafir, tun konnte, um erfolgreicher zu
nes Haus bauen und ein glücklicher Mann Sandus Vorfahren waren Roma und sein als die anderen.
werden. Davon, dass es in Deutschland von Beruf Löffelschnitzer, aber davon Auf den ersten Blick sieht es nicht aus,
einen Arbeitsmarkt mit hohen Anforde- kann man heute auch in Rumänien nicht als täte seine Firma etwas Verbotenes,
rungen gibt, hatte er nichts gehört. mehr leben. Wer Arbeit sucht als Rom, denn selbständiges Betteln ist in Deutsch-
Es ist Ende Januar, drei Tage sind seit hat nicht viele Chancen, eine gute zu fin- land, anders als in Sandus Heimat Rumä-
seiner Ankunft in Hamburg vergangen, den. Das Kindergeld beträgt in Rumänien nien, erlaubt. Organisiertes, gewerbliches
und Vasile steht an einem späten Nach- umgerechnet neun Euro im Monat. Die Betteln aber ist nicht erlaubt und kann,
mittag, an dem der Himmel sich dunkel- Sozialhilfe beträgt monatlich etwa 25 sofern die Bettler zum Geldverdienen ge-
blau verfärbt, in eine alte Jacke gehüllt Euro, man bekommt sie, wenn man beim zwungen werden, unter Menschenhandel
an einer Ecke des Bahnhofs. Er hält einen Amt nachweist, dass man sich vergebens fallen. Die Täter werden in der Regel aus-
Pappbecher mit ein paar Münzen vor sich um einen Job bemüht hat. Oder wenn gewiesen und, wenn auch selten, in ihrem
und sieht aus, als schwitze er. Passanten man 72 Stunden im Monat für die Ge- Heimatland vor Gericht gestellt. Drei bis
gehen an ihm vorbei, Reisebusse fahren meinde Müll einsammelt oder Schnee zwölf Jahre müssen sie dafür laut rumä-
hinter ihm ab, gurrende Tauben landen schippt; diese Regelung soll sicherstellen, nischem Gesetz ins Gefängnis.
vor seinen Füßen. Würde man von oben dass der Betreffende nicht im Ausland ist Vasile Rotaru, das neue Mitglied in
eine Aufnahme mit langer Belichtungs- und dort Geld verdient. Sandus Hände Sandus Firma, kennt diese Gesetze nicht.
zeit von Vasile beim Betteln machen, fühlen sich rau und trocken an, so, als Er weiß auch nicht, dass Menschen wie
wäre er ein stiller Punkt in einem ver- habe er in seinem Leben schon oft Schnee er, Zuwanderer aus Rumänien, ungelieb-
wischten Strom voller Bewegung. geschippt. te Neubürger in Deutschland sind, dass
Der Boss hat Vasile zu einer Art schlecht- es Politiker gibt, die dieses Land vor ih-
angezogener Statue gemacht, die acht * Name von der Redaktion geändert. nen schützen wollen. Vasile mag Ham-
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 53
geben, das Angebot soll niedrigschwellig
bleiben, damit keiner erfriert.“
Er sagt es nicht gern, aber er hat davon
gehört, dass vor ein paar Tagen ein Bus
mit 13 Rumänen an einer Schule ange-
kommen ist. Auch dass die Sozialarbeiter
sie eingelassen haben, hat sich für Pörk-
sen nicht gut angefühlt, aber er sagt: „Ob
jemand ausgebeutet wird oder nicht, ist
schwer erkennbar.“ Manchmal wissen
auch die Bettler selbst nicht genau, was
sie erwartet.

JÖRG MÜLLER / AG. FOCUS / DER SPIEGEL


Die meisten Bettler haben sich einem
Vermittler anvertraut, den sie aus ihrer
Heimat kennen und der sich um die Fahrt,
eine Matratze, einen Standplatz kümmert
und dafür Provision einstreicht. Wenn es
gut läuft, verdienen sie 50 Euro am Tag
oder etwas mehr, bei Regen keine 10; viel-
leicht 10 oder 15 Prozent davon dürfen sie
Firmengründer Sandu: „Bitte, danke, Entschuldigung“ behalten, den Rest kassiert der Boss.
Mehr als 300 000 Personen wurden im
burg, sagt er. Ihm gefallen die Möwen Geld verdienen. Am Abend fährt sie der Jahr 2012 weltweit von Menschenhändlern
und die Art, wie die Menschen hier grü- Bus zu ihren Schlafplätzen des Winter- zum Betteln gezwungen, das ergab eine
ßen. Er könnte sich vorstellen, morgens notprogramms zurück. Studie der Internationalen Arbeitsorgani-
aus einem Klinkerhaus zu treten, seiner Der Mann, der dafür verantwortlich ist, sation. Weil das Problem größer wird, hat
Frau am Fenster zu winken, wenn er eine heißt Jan Pörksen und ist Staatsrat bei die EU-Richtlinie gegen Menschenhandel
hätte, und dann eine Fahrkarte für den der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie 2011 zum ersten Mal erzwungene Bettelei
Weg zur Arbeit zu lösen. Auch Deutsch und Integration in Hamburg, die ihre Räu- als mögliche eigene Straftat miteinbezogen.
hat er schon ein wenig gelernt, sein liebs- me in einem Einkaufszentrum hat, ihr Für Sandu und seine Firma hat das bis-
tes Wort ist „tschüs“, er spricht es aus Eingang ist gegenüber einem TUI-Reise- her keine Auswirkungen. Das Landeskri-
wie „schuus“, mit langem u. Alles in büro. Pörksen ist ein Mann mit blassblau- minalamt Hamburg hat zuletzt vor sechs
Hamburg, sagt er, erscheine ihm so weit en Augen und roter Krawatte, er kommt Jahren in einer solchen Sache ermittelt.
freundlich. gerade aus dem Urlaub, und jetzt, da er Die Beamten kennen das Problem, sie wis-
Nun aber, an diesem Morgen, sitzt Va- wieder da ist, kümmert er sich weiter um sen, dass es nicht verschwunden ist. Aber
sile in einem Reisebus in Richtung Haupt- das Winternotprogramm, das zur Woh- in der Regel sagt kein Bettler freiwillig aus.
bahnhof und wird von Sandu erwartet. nungslosenhilfe gehört. Vasile Rotaru hat sich entschieden, dis-
Er hat sich ans Fenster gesetzt, um ein Die Sache mit dem Bus ist Herrn Pörk- kret seine Geschichte zu erzählen, er
wenig rauszuschauen, doch eigentlich ist sen ein wenig unangenehm; fragt man muss dafür aber warten, bis sein Chef
er müde. Um halb neun steigt er an einer ihn danach, schaut er für eine Weile aus zum Essen verschwindet. Dann will er
Haltestelle gegenüber dem Bahnhof aus. dem Fenster. unauffällig zur S-Bahn gehen und zehn
Es ist die Haltestelle, an der auch die
roten Touristenbusse halten, bevor sie zur
Stadtrundfahrt losfahren. Sandu nickt Eine nette Geste, dass die Stadt morgens und abends
Vasile stumm zu, dann geht Vasile zur
Ladeklappe des Busses, wo ein Busfahrer
seine Leute und ihre Krücken transportiert.
mit einem goldenen Kettchen schon das
Gepäck auslädt. Vasile nimmt jetzt seine Dann sagt er: „Immer wenn unsere Un- Minuten fahren, egal in welche Richtung.
Krücke mit dem blauen Schaft in die terkünfte weiter außerhalb liegen, bieten In einem Asia-Bistro in St. Pauli bestellt
Hand und geht zu seinem Platz neben wir einen Bus-Shuttle an.“ er einen Eintopf mit Fleisch und eine
dem Bahnhof. Pörksen sagt, das müsse so sein, denn Cola, auf seiner Nase schimmert ein
Sandu, sein Chef, blickt ihm stumm die Schulen, in denen diese Leute schlie- Schweißfilm. Er will reden. Seine Ehre,
nach. Auch er mag Hamburg, die frische fen, würden ja jeden Tag grundgereinigt. um die geht es ihm jetzt.
Luft und dass niemand, außer Betrunke- Die Leute müssten also raus, aber sie soll- Vor einer Woche habe Sandu ihn und
nen, sie hier auf der Straße beschimpfe, ten nicht in den Wohngebieten bleiben, zehn weitere Männer mit seinem Kasten-
sagt er. Er betrachtet es als nette Geste denn das gefalle den Anwohnern nicht. wagen in seinem Dorf in Rumänien ab-
der Stadt, dass sie für seine Firma mor- Eine Fahrt mit der U-Bahn will die Stadt geholt, erzählt er. Er hatte ihnen in Ham-
gens und abends Menschen und Krücken ihnen nicht zumuten. Vielleicht will sie burg eine Arbeit in Aussicht gestellt und
transportiert. es auch sich selbst nicht zumuten, denn ihnen Fahrt und Unterkunft für 100 Euro
Es sind diesmal etwa 30 Fahrgäste im es könnte passieren, dass sonst hundert angeboten, die sie später zahlen oder
Bus, die meisten haben Krücken dabei, Leute mehr am Tag schwarzfahren. abarbeiten könnten. Auf einer alten Ma-
Plastiktüten, Rucksäcke, einer nimmt Das Image von Pörksens Stadt hat in tratze, die ihnen als Unterlage im Lade-
vom Busfahrer einen Rollstuhl entgegen. letzter Zeit etwas gelitten, wegen der raum diente, legten sie 2000 Kilometer
Sie kommen aus Quartieren des Winter- Lampedusa-Flüchtlinge und der Straßen- zurück. Sie sprachen wenig, Vasile hat
notprogramms, aus Randbezirken, wo die kämpfe; Pörksen weiß das. Das Winter- keine Ahnung, welche Länder sie passier-
Stadt sie untergebracht hat, und werden notprogramm aber ist ein Vorzeigepro- ten. Er schaute an die Decke und dachte
morgens im Auftrag der Stadt ins Zen- gramm, es hat rund 700 Plätze. Pörksen an sein neues Leben in Hamburg.
trum gefahren. Die meisten werden den sagt: „Wir nehmen erst einmal alle an. Bisher war er erst einmal im Ausland
Tag in der Fußgängerzone verbringen. Niemand muss seinen echten Namen an- gewesen, in Spanien, wo er Arbeit auf ei-
54 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Mutter sitzt an der Petrikirche in der Mön-
ckebergstraße. Ihr Mann hat seinen Platz
an der Alster. Sandus Brüder, die Aufpas-
ser, bleiben am Bahnhof, in der Nähe von
Vasile. Die übrigen Bettler arbeiten am
Rathaus. Sie wandeln hin und her wie
Landstreicher im Halbschlaf. Doch in
Wirklichkeit hat jeder jeden im Blick.
Sandu, der Chef, weist die Vorwürfe
zurück. Er weiß nicht, dass sie von Vasile
kommen. Aber er sagt: „Ich schätze es
nicht, wenn Menschen Lügen über mich
verbreiten.“ Sicher helfe er den Bürgern
aus seinem Ort, sich in Hamburg zu orien-

ZOLTAN EGYED / DER SPIEGEL


tieren. „Wenn es sein muss, leihe ich ihnen
auch einmal Geld. Aber ich bereichere
mich an niemandem“, sagt Sandu. „Ich
bin ein ehrenwerter Mann.“
Sandu geht nach dem Mittagessen sei-
nen Weg durch die Fußgängerzone, er
Heimatbesucherin Lizica, Enkelin: In ein paar Wochen fährt der nächste Transport sucht seine Leute auf, er will schauen,
dass seine Firma auch an diesem Tag
ner Baustelle gefunden hatte, daher kann Denn so funktioniert das Geschäfts- funktioniert. Zu Hause im Dorf hat er
er fast fließend Spanisch, so dass man modell: Sandu macht die Familienange- eine Frau und zwei Kinder. Seine Mutter
sich auf Spanisch gut mit ihm verständi- hörigen zu seinen Fahrern und Aufpas- Lizica wird an diesem Abend mit dem
gen kann. Als die Finanzkrise kam, verlor sern, sie bilden den Kern und dürfen Bus nach Rumänien abfahren, um die Fa-
er die Arbeit. Von da an habe er wieder behalten, was sie selbst erbetteln. Die an- milie zu sehen, Geld nach Hause zu brin-
in Rumänien gesessen und nichts getan, deren, die Nachbarn und Bekannten, so gen, neue Leute anzuwerben; in drei, vier
sagt er. Während der Fahrt nach Ham- erzählt es Vasile, verschulden sich durch Wochen, wird sie den Dorfbewohnern er-
burg war er aufgeregt. Er überlegte sich, den Transport. Solange sie die Schuld, die zählen, sei Sandu mit seinem Kastenwa-
wie es sein würde, auf Deutsch zu träu- sie bei der Ankunft in Hamburg hätten, gen wieder da. Abends fährt sie, mit vier
men, wie die Frauen in Hamburg ausse- und die Zinsen, die der Chef willkürlich Salamibrötchen, einer Brezel, Salat mit
hen würden. Und er schlief viel. draufschlage, nicht zurückzahlen könn- Gurken und einem Eurolines-Ticket, das
Abends, nach der Ankunft in Hamburg, ten, blieben sie zur Bettelei gezwungen. die Stadt bezahlt. Die Idee ist, dass die
brachte Sandu ihn in eine ehemalige Schu- Vasile bestellt im Asia-Bistro noch eine Stadt Hamburg Gescheiterten und kran-
le am Rand der Stadt. Sandu, der Boss, Cola. Er sagt: „Sandu hat sich vor mich ken Obdachlosen die Fahrt in die Heimat
habe gesagt, manchmal schliefen er und auf ein Feldbett gesetzt und langsam eine finanziert; das ist leichter, als ihnen vor
die anderen Mitarbeiter der Firma dort Brioche gegessen, ohne mir etwas davon Ort eine Perspektive zu verschaffen.
auch, wenn es ihnen im Freien zu kalt sei. zu geben.“ Erst habe Vasile seinem Chef Es ist März, Sandu Trandafir ist nach
Vasile ließ also seinen Namen in eine nur 100 Euro für die Fahrt geschuldet, Titeşti aufgebrochen, und Vasile steht in
Liste eintragen und bekam dafür einen sagt er, dann habe Sandu 10 Euro Zin- Hamburg vor dem Saturn-Kaufhaus in
Schlafsack. Eine freundliche Frau zeigte
ihm ein Feldbett in einem Zimmer voller
Bulgaren und bedeutete ihm, dass er sei- Die Mutter fährt nach Hause, um die Familie zu sehen,
ne Bierflaschen mit einem Namensschild
bekleben und sie in einen Kasten vor die
Geld heimzubringen und neue Leute anzuwerben.
Tür stellen könne, erinnert er sich. Er
überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass er sen draufgeschlagen, dann noch einmal der Fußgängerzone. Er hat sich einen
nicht schreiben kann. Aber da er auch 20 Euro, und wenn er am nächsten Tag Bart wachsen lassen und trägt neue, zitro-
kein Bier trinkt, schwieg er. Lust darauf habe, würden es noch einmal nengelbe Stoffturnschuhe. Er hat auch
In der Nacht lag er mit aufgerissenen 10 Euro mehr. Jeden Abend um 18 Uhr ein wenig zugenommen. Vasile, der vor
Augen auf seiner Pritsche und wartete würde Sandu das Geld, das seine Arbeiter kurzem noch wie eine Statue hinter dem
darauf, dass ein Bulgare kommen würde, erbettelt haben, einsammeln und ihre Bahnhof stand, will jetzt einen Spazier-
um ihn abzustechen. Stunde um Stunde, Namen mit der Summe dahinter in ein gang zum Hafen machen, er sagt, er kön-
zum Glück ist dann aber doch nichts grünes Buch schreiben, sagt Vasile. „Pro ne nicht still sitzen, er sei so verliebt in
passiert. Tag bekommt Sandu 800 oder 900 Euro.“ Moni, seine neue Freundin, die er am
Am nächsten Morgen nahm Sandu ihn So funktioniere die Firma. Bahnhof in Buxtehude kennengelernt hat.
mit zu einem Flohmarkt im Westen der Vasile sagt, er könne nicht abhauen, Vasile hat die Firma verlassen. Er ist
Stadt, wo er Kleider kaufte und sechs weil er nicht wisse, wohin. Und er könne jetzt kein Bettler mehr. Drei Wochen
Krücken für je zwei Euro. Dann gingen nicht aufhören zu betteln, wegen der habe er gebraucht, um seine Schulden
sie zu dem Brachland hinter den Gleisen. Schulden. von 140 Euro begleichen zu können, er-
Als er Sandu zum letzten Mal in sei- Nie käme er auf die Idee, sich an eine zählt er. „Dann habe ich dem Chef gesagt,
nem Dorf in Rumänien gesprochen hatte, Behörde zu wenden. Er geht, nachdem dass ich aufhöre.“ Und der Chef habe ihn
hatte der ihm eine Arbeit als Zeitungs- er seine Geschichte erzählt hat, wieder gelassen.
verkäufer in Hamburg versprochen, er- zum Bahnhof, er hat Angst, dass die Auf- Vasile tauschte seine Krücke gegen ein
zählt Vasile. Davon war nicht mehr die passer ihn rügen werden, und er hat paar Handschuhe ein, die braucht er für
Rede, und inzwischen hatte er durch die Angst vor Sandu. seine neue Arbeit. Jeden Morgen um acht
Fahrt mit dem Kastenwagen Schulden bei Um den Bahnhof herum haben sich am Uhr fährt er nach Buxtehude. Vasile ist
Sandu, die jeden Tag wuchsen. Morgen auch die anderen verteilt. Sandus jetzt selbständig. Er sammelt Flaschen. 
56 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Gesellschaft

LUTHERSTADT WITTENBERG
Rührt euch!
ORTSTERMIN: In Wittenberg suchen evangelische Militärpfarrer
nach der richtigen Haltung.

E
s gibt die einfachen Berufe, die kei- sei alles etwas komplizierter geworden. Im Saal „Luther 1“ steht vor der Palm-
ner Erklärung bedürfen, und es gibt Es gebe kein Gut gegen Böse mehr. „Es pflanze ein kleiner weißhaariger Professor
die anderen, die Erklärungen nach ist schwammig“, sagt Sennhenn. Dann aus Berlin. Er redet von der Zuversicht in
sich ziehen wie Treibanker. Militärpfarrer geht er in den nächsten Vortrag. Amerika, die in Deutschland fehle.
ist so ein Beruf. Soldaten betrachten solch Deutsche Militärpfarrer sind Beamte Dann spricht er von Luther. Er zitiert
einen Menschen als Pfarrer, viele Pfarrer des Verteidigungsministeriums. In ihrer ihn: „Wir Deutsche sind Deutsche und
betrachten ihn als eine Art Soldat. Mili- Lehre sind sie aber der Kirche verpflich- bleiben Deutsche, das heißt Säue und
tärpfarrer führen eine Existenz an den tet. Sie sollen mit den Soldaten unterwegs unvernünftige Bestien.“ Die Pfarrer
Außenposten der Gesellschaft, am Rand, sein, im Lager, da jeder Anspruch hat auf schmunzeln, immer kritisch, dieser Luther.
als merkwürdige Zwitterwesen, in Fleck- einen Gottesdienst, schließlich hat Jesus Der Professor erzählt, dass Luther
tarn, aber ohne Rangabzeichen, mit auch dem Hauptmann geholfen. Sie sol- ein Gutachten geschrieben habe, im Jahr
Schutzweste, aber ohne 1526, es heißt: „Ob Kriegs-
Waffe. Und sie müssen oft leute in seligem Stand
erklären, wie das zusam- sein können“. Luther mein-
menpasst: Nächstenliebe te: ja. Der Krieg sei wie
und Panzerhaubitze. ein guter Arzt, der eine
An einem Mittwoch im Hand abtrennt, um den
März sitzen sie zusammen ganzen Körper zu retten.
im Saal „Luther 1“ im Lu- Vielleicht ist es kein Zu-
ther-Hotel Wittenberg. Es fall, dass sich die Militär-
tagt die 59. Gesamtkonfe- pfarrer in der Lutherstadt
renz Evangelischer Militär- treffen, im Luther-Hotel,
geistlicher. Es geht um Aus- im Konferenzraum „Lu-
tausch und Fortbildung. ther 1“. Man bekommt das
Ein Workshop heißt: „Wer Gefühl, dass sich die Mi-
bin ich und wenn ja, wie litärgeistlichen hier auf si-
viele?“ So klar scheint das cheren Grund zurückge-
SVEN DOERING / AGENTUR FOCUS

nicht zu sein. zogen haben, auf Luther-


Die Pfarrer im Saal ha- Grund.
ben Gummibärchen vor Wenn man sich umsieht,
sich auf den Tischen und dann entdeckt man weite-
das Evangelische Gesang- re Hinweise, das Luther-
und Gebetbuch für Sol- Puzzle, den Luther-Maß-
datinnen und Soldaten. Es humpen, den Luther-Schlüs-
heißt: „LebensrhYthmen“ Andacht von Militärgeistlichen: Normalität des Absurden selanhänger und die Lu-
mit großem Y, dem Kfz- ther-Socken. „Hier stehe
Kennzeichen für die Bun- ich, ich kann nicht anders“,
deswehr. Es soll „Stärkung ist mit weißem Garn dar-
fürs Unterwegssein“ anbieten, außerdem len aber auch unabhängig sein, den Ein- aufgestickt. Daneben hat jemand auf ein
„frohe Töne“ anschlagen. satz kritisch begleiten. Ermutigen, aber Schild geschrieben: „Luthersocken. Ein
Vor dem Saal gießt sich Militärpfarrer keine Waffen segnen. In anderen Ländern Stück Selbstbewusstsein“. Luther war ge-
Jochen Sennhenn heißes Wasser auf sei- ist es leichter. wissermaßen der Schutzheilige der Mili-
nen Teebeutel und spricht vom Beschuss In den USA gibt es die Geschichte von tärpfarrer.
in Kabul: „Wenn die Sirene heult, läuft Kaplan Howell Forgy, der nach dem An- Nach der Zitronencreme am Mittag
man schnell in den Unterstand, dann griff auf Pearl Harbor ausrief: „Praise the gibt es Ausflüge und Geländespiele. Im
rumpelt es zweimal, und dann haben Lord and pass the ammunition.“ Also: Hinterhof des Hotels sieht man ein paar
zwei Raketen eingeschlagen.“ Er schaut „Lobet den Herrn und her mit der Muni- Militärpfarrer in den Himmel blicken, sie
auf seine Teetasse und sagt: „Das war so tion.“ Es muss ein tröstliches Selbstver- wollen eine Schnitzeljagd machen, so wie
die Normalität des Absurden.“ Sennhenn ständnis sein, für Gottes eigene Nation früher, nur mit modernen Mitteln. Sie
ist seit elf Jahren Militärpfarrer, zuvor zu kämpfen. müssen mit Hilfe von GPS-Koordinaten
war er Gemeindepfarrer im Schwalm- Deutschland hat dieses Selbstverständ- Orte finden, an denen Luther gewirkt hat,
Eder-Kreis, Hessen. Dann dreimal Afghani- nis nicht. Es hat aber seit einiger Zeit eine die Marienkirche, das Luther-Haus, die
stan, Kunduz, Kabul. Reisen an den Rand. Verteidigungsministerin, einen Außenmi- Luther-Eiche.
Zweifel? Ja. Aber keine Reue. Sennhenn nister und einen Bundespräsidenten, die Ein Helfer teilt gelbe GPS-Empfänger
war selbst mal Soldat. Vier Jahre lang, der Meinung sind, Deutschland müsse aus. Die Militärpfarrer recken unter blau-
erzählt er, hat er in der elektronischen häufiger als früher in Kriege ziehen. Aber em Himmel die Geräte in die Höhe. Sie
Kampfführung die Russen abgehört. „Ich wer versteht das schon zu Hause, wie das müssen erst mal ihren Standort finden.
war ein Kalter Krieger“, sagt er. Heute ist mit dem Krieg? JONATHAN STOCK

58 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Trends Wirtschaft

DEUTSCH E BANK

Fitschen riskiert
den Prozess
Jürgen Fitschen, Co-Chef der Deut-
schen Bank, hat eine Einigung mit den
Münchner Staatsanwälten offenbar
ausgeschlagen – nun droht ihm eine
Anklage wegen Prozessbetrugs. Die
Ermittler verdächtigen den Bankmana-
ger und vier ehemalige Kollegen, sie
hätten während des jahrelangen
Rechtsstreits mit dem verstorbenen

DAVID HECKER / DAPD


Medienunternehmer Leo Kirch und
seinen Erben vor Gericht bewusst
falsch ausgesagt, um Schadensersatz-
ansprüche abzuwehren. Fitschen selbst
werfen die Ermittler vor allem die Ver- VW-Autostadt in Wolfsburg
letzung von Aufsichtspflichten vor.
Nachdem die Deutsche Bank sich mit AU TOM O B I L B RA N C H E
den Klägern auf einen Vergleich geei-
nigt hat und ihnen rund 900 Millionen
Euro zahlt, wollten die Staatsanwälte
das Ermittlungsverfahren gegen Fit-
schen schnell beenden. Sie boten ihm
Strategiewechsel bei Volkswagen
an, es nach dem Ordnungswidrigkei- Konzernchef Martin Winterkorn wicklung neuer Fahrzeuge für mehre-
tengesetz gegen Zahlung einer Geld- ändert die Strategie von Volkswagen. re hundert Millionen Euro nicht. Der
buße einzustellen. Doch Fitschen und Die Zeiten, in denen für jedes Modell Wolfsburger Konzern will seine Inves-
seine Anwälte lehnten das Angebot stets ein Nachfolger entwickelt wurde, titionen auf wachsende Segmente wie
ab, offenbar aus Sorge, die Bundesan- sind vorbei. „Manche Nischen sind so das der Geländewagen konzentrieren.
stalt für Finanzdienstleistungsaufsicht klein, dass es sich nicht lohnt“, sagt So soll aus dem Tiguan eine Modell-
(BaFin) könnte daraufhin möglicher- Winterkorn. So wird es für das Cabrio familie entstehen mit einem größeren
weise seine Eignung zur Führung der Eos keinen Nachfolger geben. Fraglich SUV und einem Coupé. Und zugleich
Bank überprüfen. Stattdessen lassen ist auch, ob das Retro-Modell Beetle, muss VW viel Geld in alternative An-
sie es nun wohl auf einen Prozess an- der Familien-Van Sharan und die Kom- triebe investieren. „Früher haben wir
kommen – in der Hoffnung auf einen bi-Variante des Seat Leon noch eine zwei Motoren gemacht, Diesel und
Freispruch für Fitschen. Die Deutsche Neuauflage erhalten. Volkswagen hat Benziner“, sagt Winterkorn, „heute
Bank wollte sich zu dem Vorgang 2013 gerade mal gut 40 000 Sharan und fünf.“ Für ihre Volumenmodelle kon-
unter Berufung auf das laufende Ver- weniger als 8000 Eos produziert. Für struieren die Wolfsburger zusätzlich
fahren nicht äußern. solche Stückzahlen lohnt sich die Ent- Hybrid-, Gas- und Elektroantriebe.

HANDEL
nisation schlanker zu machen und INDUSTRIE
„Schnittstellen“ zu reduzieren. Die
Entlassungen sind der größte Personal-
Douglas feuert 140 abbau des bislang als eher sozial Mehr Geld für
Mitarbeiter geltenden Familienunternehmens.
Kritiker sehen dahinter die Hand-
schrift des Finanzinvestors Advent,
Milliardäre
Die Einzelhandelskette Douglas hat der 2012 bei Douglas eingestiegen war. Wenn es ums Geldverdienen geht,
vergangene Woche an die 140 ihrer dann liegt die Familie Quandt (BMW)
rund tausend Holding-Mitarbeiter vor klar vor den Familien Porsche und
die Tür gesetzt. Der Geschäftsführung Piëch (VW). BMW überweist an Jo-
sei die Entscheidung „sehr schwerge- hanna Quandt und ihre Kinder Stefan
fallen“, heißt es in einem Brief von Fir- und Susanne, die knapp 47 Prozent
menchef Henning Kreke an die „lie- der Stammaktien halten, in diesem
TAMMO BORK / ACTION PRESS

ben Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Jahr 731 Millionen Euro an Dividen-


ter“. Der Handel stehe vor einem den. 2013 hatte es 701 Millionen gege-
rasanten Wandel. Douglas komme aus ben. Die Familien Porsche und Piëch,
der „heilen Welt des stationären Han- die 50,7 Prozent der Stammaktien des
dels“, die „richtige Verzahnung“ mit VW-Konzerns halten, kassieren dage-
dem Online-Geschäft sei „nur teil- gen weniger als die Hälfte: Dividen-
weise gelungen“. Es gelte, die Orga- Douglas-Filiale den in Höhe von 312 Millionen Euro.
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 59
Wirtschaft

Industriezweige, die Verarbeitung und Konservierung


Anspruch auf Rabatte von Obst und Gemüse
bei der EEG-Umlage
subve subventioniert
ntion
haben (Auswahl)

iert
Quelle: Bafa

t
on ier
vne ti Salzgewinnung

sub Aluminium-
produktion
subventioniert iert
t i o n
en
subv
subven
tioniert subventioniert
Fruchtsaft-
herstellung
Herstellung von Malz- Zement-
Plastikgeschirr produktion herstellung

ENERGIE

Artenschutz für Stahlkocher


Die hohen Stromkosten machen der Industrie zu schaffen, Wirtschafts-
minister Sigmar Gabriel will die Unternehmen vor weiter steigenden Preisen
bewahren. Die Bürger werden dafür umso stärker zur Kasse gebeten.

S
igmar Gabriel, 54, hat in seiner land. Es komme darauf an, „wenigstens teiligen. Nun lässt der von Gabriel und
Karriere schon viele Rollen gespielt. die Rücklichter des fahrenden Zuges der der EU-Kommission ausgehandelte Leit-
Er war Funktionär bei der sozialis- Industrialisierung in den USA“ nicht aus linienentwurf für die Ökostrom-Hilfen
tischen Jugendorganisation „Die Falken“ den Augen zu verlieren, verkündete er befürchten, dass vorrangig die Bürger die
und Landesvater von Niedersachsen, unter dem Beifall seiner Zuhörer. Lasten tragen müssen. Nach Berechnun-
Pop-Beauftragter der SPD und Umwelt- Gabriel will nun eine Schutzzone um gen des Öko-Instituts geht es um bis zu
minister im ersten Kabinett von Angela die verbliebenen Hochöfen, Stahlkessel 1,5 Milliarden Euro, die ihnen zusätzlich
Merkel. und Raffinerietürme errichten. In seinen aufgebürdet werden könnten.
Am vergangenen Mittwochabend zeig- ersten hundert Tagen im Wirtschafts- und Die großzügigen Privilegien für die
te er sich in seiner neuen Lieblingspose: Energieministerium hat er intensiv dar- Wirtschaft dagegen will Gabriel nicht an-
als Schutzpatron der Schwerindustrie. über nachgedacht, wie er die mit der tasten. „Die Industrie wird nicht stärker
„Ganz Europa hat als Industriestandort Energiewende verbundenen Kosten von an den Kosten der Energiewende betei-
ein Problem“, sagte er beim Berliner Stahl- der Wirtschaft möglichst fernhält. „Indu- ligt, es könnte auch das Gegenteil eintre-
dialog, einer Veranstaltung mit 330 Ver- strie zu verlieren geht schnell“, sagt er, ten“, sagt Holger Krawinkel vom Verbrau-
tretern einer Branche, in der man sich „sie zurückzugewinnen ist ein mühsamer cherzentrale Bundesverband. „Das ist ein
bei der Arbeit auch heute noch die Hände Prozess.“ handfester Skandal.“
schmutzig macht. „Unsere Wettbewerbs- Die Unternehmen werden sich über Gabriel weiß, dass die Pläne den Pro-
fähigkeit steht auf dem Spiel.“ den Industriepolitiker Gabriel freuen – test der Verbraucher provozieren. Es ist
Die viel zu hohen Energiepreise mach- die privaten Stromkunden nicht. Vor der ihm egal. Lieber hält er den Protest der
ten den Unternehmen zu schaffen. In Wahl hatten alle Parteien versprochen, Stromkunden aus, als für Betriebsverla-
Amerika sei der Strom billiger; viele In- Bürger und Unternehmen gleichermaßen gerungen und Jobabbau in der Industrie
dustriebetriebe ziehe es weg aus Deutsch- an den Kosten der Energiewende zu be- verantwortlich gemacht zu werden. Seine
60 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Steinkohlen- Herstellung Spinnen von
abbau von Seilen, Textilfasern
Garnen und
Netzen
subve subventioniert subventioniert
ntion
iert EEG-Beitrag
der Industrie
G E T T Y I M AG E S ( 7 ) ; F 1 O N L I N E ( 3 ) ; I M AG O / A N K A AG E N CY I N T E R N AT I O N A L ;

2014*
aktuelle
Regelung

i o niert Herstellung

bv e n t ie rt
von Leder 5,1
su
IMAGO / SEP P SP I EGL; I MAG O / CA RO

subvention
Mrd. €
Öl- und Fett-
produktion Entwurf
der EU-
Kommission

subve
ntion
Papier- iert 3,6
bis 5,2
herstellung Mrd. €
Schätzung;
Quelle: Öko-Institut

Leute im Ministerium haben die will nicht so recht folgen, weil es Und ausgerechnet in dieser Woche will
Lage mit kaltem Blick analysiert und die Bundesregierung bislang nicht Gabriel die EU-Kommission in Brüssel
sind zu dem Schluss gekommen: Für das schafft, den Umstieg vernünftig zu orga- dazu bringen, das Schonprogramm für
sozialdemokratische Lager zählt ein si- nisieren. Die USA setzen lieber auf Schie- die Industrie endgültig durchzuwinken.
cherer Arbeitsplatz mehr als ein stabiler fergas, Australien auf Kohle, China auch Ein Gutteil der deutschen Wirtschaft soll
Strompreis. auf Atom. Der Wirtschaftsweise Lars Feld auch in Zukunft nur einen ermäßigten
Doch Gabriel riskiert, dass die Energie- und Justus Haucap von der Monopolkom- Strompreis bezahlen, indem er Rabatt bei
politik weiter an Akzeptanz verliert. Vie- mission wollen an diesem Montag eine der sogenannten EEG-Umlage, dem För-
le Bürger fragen sich, warum sie die volle Analyse vorstellen, wonach die deutsche derinstrument für erneuerbare Energien,
Umlage für Wind- und Sonnenstrom be- Energiewende international nicht als Vor- bekommt. Auf einer vorläufigen Liste der
zahlen müssen, während schon jetzt mehr bild, sondern zunehmend als abschre- Profiteure stehen 65 Branchen, von Stahl
als 2000 Unternehmen davon weitgehend ckendes Beispiel dafür angesehen wird, und Zement bis Kunststoff und Fenster-
befreit sind. Die Energiewende, das ehr- wie man es nicht machen soll. glas. Doch auch Frucht- und Gemüsesaft-
geizigste Wirtschaftsprojekt seit der Wie- abfüller haben es merkwürdigerweise auf
dervereinigung, gerät mehr und mehr un- die Liste geschafft, ebenso die Hersteller
ter Rechtfertigungsdruck: Die Förderung von Hygiene- und Toilettenartikeln.
der erneuerbaren Energien ist auf über Wer flüchtig hinsieht, könnte dennoch
20 Milliarden Euro gestiegen. Trotzdem glauben, die Zahl der privilegierten Un-
wird in alten Kraftwerken so viel Braun- ternehmen werde künftig zurückgehen,
und Steinkohle verfeuert wie seit Jahren schließlich sind aktuell sogar Unterneh-
nicht, was den Ausstoß von klimaschäd- men aus über 170 Branchen begünstigt.
lichem CO2 in Deutschland in die Höhe Doch der Entwurf bietet der Wirtschaft
treibt. noch zwei weitere Möglichkeiten, sich
Das bayerische Atomkraftwerk Gra- an der Ökostrom-Umlage vorbeizutrick-
fenrheinfeld könnte demnächst für „sys- sen. Wenn der Energieverbrauch eines
temrelevant“ erklärt werden, um zu ver- Unternehmens 25 Prozent seiner Brutto-
hindern, dass es vorzeitig abgeschaltet wertschöpfung ausmacht, darf es sich von
wird. Die Träume von einem grünen Wirt- der EEG-Umlage teilweise befreien las-
TOBIAS SCHWARZ / REUTERS

schaftswunder sind derweil geplatzt. sen. Auch alle Firmen, die mehr als 4 Pro-
Deutsche Solarpanel-Hersteller halten zent ihrer Waren auf Märkten außer-
der internationalen Konkurrenz nicht halb der EU verkaufen, werden geringer
stand und gehen reihenweise pleite. belastet.
Nach der Reaktorkatastrophe von Fu- Das Öko-Institut hat die Pläne analy-
kushima wollte Deutschland mit seiner siert. Demnach werden künftig nicht we-
Energiewende zum Vorbild für andere Industriepolitiker Gabriel niger, sondern mehr Firmen als heute be-
Länder werden. Doch der Rest der Welt „Wir müssen dahin, wo es brodelt“ günstigt. „Hier wird nach dem Gießkan-
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 61
tomatisch. „Schon in den letzten Jahren
war das ein beliebter Trick, mit denen
Kupfer- sich etwa Schlachthöfe den Ökostrom-
produktion Rabatt erschlichen haben“, so Verbrau-
subve cherschützer Krawinkel.
ntion Die Hoffnungen der Kritiker ruhen nun
REINHOLD TSCHERWITSCHKE / CHROMORANGE / ULLSTEIN BILD; F1ONLINE

iert auf der EU-Kommission. Wettbewerbs-


kommissar Joaquín Almunia hatte die
Bundesregierung schon seit Jahren unter
Druck gesetzt, den Förderdschungel
gründlich zu lichten. Doch dann geriet er
selbst unter Druck: Die Lobbyisten der

rt
deutschen Industrie mischten sich in

t i o nie Brüssel ein.

en BASF-Vorstandsmitglied Harald Schwa-

subv
ger berichtete im vergangenen Herbst in
einer internen Sitzung des Unterneh-
mens- und Industrieausschusses vor etli-
Sanitärkeramik- chen EU-Generaldirektoren, dass sein
herstellung* *geplant Konzern jetzt lieber im US-Bundesstaat
Louisiana investiere. Europa sei leider im-
nenprinzip verfahren“, sagt der zustän- Nur für besonders energieintensive Un- mer unattraktiver für die petrochemische
dige Experte Felix Matthes. „Damit bläht ternehmen ist dieser Satz nochmals ge- Industrie. Im November lud Business
sich die Menge des privilegierten Stroms deckelt. Hier sieht der Minister weiteren Europe, die Hauptlobbyorganisation der
noch über das heutige Niveau auf.“ Verhandlungsbedarf mit der EU-Kom- europäischen Industrie, die Vorstands-
Das Szenario sieht etwa so aus: Die mission. chefs großer europäischer Stahl-, Chemie-
Menge subventionierten Industriestroms Und noch ein weiteres Förderinstru- und Energiekonzerne nach Brüssel ein.
steigt von derzeit 96 Terawattstunden auf ment zum Nutzen der Industrie möchte Sie diskutierten einen Tag lang mit EU-
114 Terawattstunden. Hinzu kommen wei- Gabriel erhalten: das sogenannte Eigen- Kommissionspräsident José Manuel Bar-
tere 31 Terawattstunden bei Firmen, die strom-Privileg. Produziert ein Unterneh- roso und zwei Kommissaren über die
unter den Schutz der beiden Extraklau- men seinen Strom mit einem eigenen künftige Energiepolitik der EU. Ihr Haupt-
seln fallen. Insgesamt muss deshalb künf- Kraftwerk, muss es darauf bislang keine argument: Ohne niedrige Strompreise
tig auf fast 50 zusätzliche Terawattstun- EEG-Umlage zahlen. Gleiches gilt für Be- könne die EU ihre Pläne vergessen, den
den Strom keine volle EEG-Umlage mehr sitzer eines Solardachs oder Windrads, Anteil der Industrie am Bruttoinlandspro-
gezahlt werden. Die Industrie würde dem- die sich selbst mit Strom versorgen, wenn dukt wieder in Richtung 20 Prozent zu
nach nochmals um bis zu 1,5 Milliarden es die Wetterlage hergibt. bringen.
Euro im Jahr entlastet. Das Privileg sollte eigentlich fallen. Die Auch Günther Oettinger, der für Ener-
Dieser Betrag müsste auf alle anderen Regierung wollte auch Selbsterzeuger giefragen zuständige EU-Kommissar,
Stromverbraucher umgelegt werden. Die zwingen, sich an den Kosten der Energie- kämpfte massiv für die Preisermäßigun-
EEG-Umlage von derzeit 6,24 Cent pro wende zu beteiligen, immerhin profitier- gen. Mehrmals mahnte er in Gesprächen
Kilowattstunde könnte weiter Richtung ten auch sie vom Gesamtsystem. seinen Kollegen Almunia, „die Wettbe-
7 Cent steigen – zuzüglich Netzentgelten, Doch die Firmenchefs protestierten – werbsfähigkeit der deutschen Industrie
Konzessionsabgabe, KWK-Umlage, Off- offenbar mit Erfolg. Ein internes Arbeits- nicht vor unlösbare Aufgaben zu stellen“.
shore-Haftungsumlage, Sonderkunden- papier des Wirtschaftsministeriums skiz- Und sogar beim Abendessen für Bun-
umlage, Stromsteuer und Mehrwertsteuer ziert Möglichkeiten, wie sich das Eigen- deskanzlerin Angela Merkel, das der fran-
versteht sich. Holger Krawinkel vom Ver- strom-Privileg für manche Unternehmen zösische Präsident François Hollande
braucherzentrale Bundesverband rechnet bewahren lässt. „Im Ergebnis wird so die beim deutsch-französischen Gipfel Mitte
damit, dass die EEG-Umlage bis 2020 auf energieintensive Industrie gezielt entlas- Februar gab, saßen Vertreter des Euro-
etwa 8 Cent pro Kilowattstunde steigen tet“, schreiben die Ministeriellen stolz. pean Round Table of Industrialists, eines
wird. Die Belastung eines durchschnitt- Für Solardachbesitzer und andere „pri- Lobbyvereins führender Industriemana-
lichen Vier-Personen-Haushalts durch die vate Verbraucher“ werde sich – leider, ger, mit am Tisch. Ihr Thema: Warum es
EEG-Umlage stiege damit auf etwa 300 leider – aber nichts an der Beschlusslage eine Kehrtwende in der deutschen Ener-
Euro im Jahr. ändern. giepolitik brauche.
Doch Wirtschaftsminister Gabriel sieht Das ohnehin übersteuerte Förder- und Die Gewerkschaften machten ebenfalls
darin kein Problem. „Es geht nicht primär Ausnahmesystem wird mit diesen Plänen Druck. Gabriels Parteifreund Michael
um eine Entlastung der anderen Strom- künftig noch komplizierter und anfälliger Vassiliadis, Chef der Chemiegewerk-
verbraucher“, sagte er vergangenen Mitt- für Tricksereien. „Da steht eine ganze schaft, drohte sogar mit Demonstra-
woch. „Der Maßstab muss die Wettbe- Armada von Fachanwälten bereit, um die tionen, falls Industriejobs in Gefahr gera-
werbsfähigkeit der deutschen Industrie Firmen zu beraten“, sagt Energieexperte ten sollten.
sein.“ Früher hätte die Wirtschaft unter Matthes vom Öko-Institut. Doch solche Nachhilfe hat der SPD-
den hohen Arbeitskosten gelitten, heute Ein Trick geht so: Um den Anteil der Boss gar nicht nötig. Er hatte seinen Ge-
seien die Energiekosten das größte Energiekosten an der Bruttowertschöp- nossen schon vor Jahren klargemacht,
Problem. fung über die magische 25-Prozent- dass ihr Platz im Zweifel immer an der
Am liebsten wäre es Gabriel, er könnte Schwelle zu hieven und damit die EEG- Seite der Fabrikarbeiter ist. „Wir müssen
noch mehr Vorteile für die Industrie her- Umlage zu reduzieren, ersetzt ein Unter- dahin, wo es laut ist“, sagte er, „wo es
ausholen. Bislang ist vorgesehen, dass die nehmen Teile seiner Belegschaft durch brodelt, dahin, wo es manchmal riecht,
privilegierten Unternehmen zumindest Werkvertragsbeschäftigte. Dadurch redu- gelegentlich auch stinkt.“
einen Minisatz von 20 Prozent der nor- zieren sich die Lohnkosten des Unterneh- ALEXANDER NEUBACHER, CHRISTOPH PAULY,
malen EEG-Umlage beisteuern müssen. mens, der Energiekostenanteil steigt au- GERALD TRAUFETTER

62 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Wirtschaft

Rund fünf Milliarden Euro Investitionen


fließen pro Jahr ins Schienennetz, über-
VERKEHR wiegend finanziert vom Bund. Der Ver-
kehrsminister spendiert das Geld, das der

Der Gute-Laune-Bär Bahn-Chef munter ausgibt – nur so lässt


sich aufrechterhalten, was zu den größten
Mythen der Verkehrspolitik gehört: dass
sich der Schienenverkehr dank der Bahn-
Dürftige Zahlen im Ausland, bescheidenes Ergebnis daheim: reform vor 20 Jahren profitabel betreiben
Bahn-Chef Grube hat dem Staatsbetrieb ein besseres Image lässt. „Es reicht, an einem Rädchen zu dre-
hen, und das Unternehmen ist betriebs-
verschafft, seine Bilanz als Manager fällt weniger glanzvoll aus. wirtschaftlich am Ende“, sagt ein Insider.
Selbst in ihren besten Zeiten war die

I
m Saarbrücker Hauptbahnhof ist an Es ist inzwischen Nachmittag in Saar- Bahn ein Zuschussgeschäft. Im bislang
diesem Morgen kaum etwas los, außer brücken, Grube hat gefühlt über hundert erfolgreichsten Jahr 2006 erzielte sie ein
im Reisezentrum. „Da fährt man ein- Mitarbeiterhände geschüttelt, sich mit Ergebnis von 1,7 Milliarden Euro. Zieht
mal im Jahr mit der Bahn, und dann hat Köchinnen in der Kantine fotografieren man davon das Geld ab, das der Bund
der Zug eine Stunde Verspätung“, raunzt lassen und sich anderthalb Stunden den damals spendierte, stand für den Steuer-
der Mann im Anzug die Mitarbeiterin an. Fragen der Belegschaft gestellt. Nun sitzt zahler unterm Strich ein Minus von über
Die Frau am Schalter kann den Kunden er neben Ministerpräsidentin Annegret 1,5 Milliarden Euro.
nicht besänftigen. Doch dann mischt sich Kramp-Karrenbauer (CDU) in der Staats- Wie defizitär der Schienenverkehr ins-
jemand ein, der eigentlich nur mal vor- kanzlei und gibt wohlklingende Verspre- gesamt ist, zeigt eine interne Übersicht
beischauen wollte, wie es so läuft. „Guten chen ab. „Bis Ende 2017 investiert die der Regierung, die unter anderem Mittel
Tag, mein Name ist Rüdiger Grube“, sagt Deutsche Bahn im Saarland insgesamt für die Pensionslasten und den Regional-
er. „Das ist wirklich sehr ärgerlich für 300 Millionen Euro“, sagt er stolz, die Re- verkehr berücksichtigt: Demnach steckte
Sie.“ In Frankreich sei ein Güterzug ent- gierungschefin der wirtschaftlich nicht allein der Bund zwischen 2005 und 2012
gleist. Kann passieren. Der Kunde solle eben prosperierenden Region lächelt. über 130 Milliarden Euro in das System.
auch künftig Bahn fahren. Ist doch ein Das Problem an Grubes Millionen- Hauptprofiteur: die Bahn.
wunderbares Verkehrsmittel. Und bei Fra- geschenk ist nicht einmal, dass er um zu- Diese inoffizielle Rechnung sagt mehr
gen möge er sich einfach melden. Bitte meist längst beschlossene Investitionen über die wahren Kosten aus als Grubes
schön, hier ist die Visitenkarte. nur eine neue Schleife bindet. Schwerer offizielles Zahlenwerk. Doch davon lässt
Der Reisende ist von der Freundlich- wiegt, dass es sich um eine Mogelpackung sich der Vorstandsvorsitzende nicht irri-
keit des Bahn-Chefs überrascht. „Herr handelt. Eigentlich müsste Grube sagen: tieren, konsequent verfolgt er sein Projekt
Grube, sorry für meine Kritik“, sagt er, „Der deutsche Steuerzahler steckt mit „Unsere Bilanz soll schöner werden“ wei-
„Sie können ja wirklich nichts dafür.“ überschaubarer Beteiligung der Bahn 300 ter. Am Donnerstag dieser Woche steht
Ein Kunde, der sich beim Chef dafür ent- Millionen Euro in die Region.“ Das klingt er vor der undankbaren Aufgabe, auf der
schuldigt, dass er sich beschwert hat – so natürlich nicht so großzügig. Bilanzpressekonferenz die schlechtesten
etwas muss man erst einmal schaf- Zahlen seiner Amtszeit präsen-
fen. Für Rüdiger Grube ist es Rou- tieren zu müssen. Im vergange-
tine, er ist der Gute-Laune-Bär der nen Jahr stagnierte der Umsatz,
Bahn, der bei Kunden, Mitarbei- der Gewinn halbierte sich auf
tern und Politikern für angenehme rund 650 Millionen Euro (siehe
Stimmung sorgt und seine Ferien Grafik).
unterbricht, um urlaubende Stell- Nicht nur wegen der mageren
werker zur Rückkehr an den Main- Bilanz des Vorjahrs wäre es not-
zer Hauptbahnhof zu motivieren. wendig, den Konzern stärker zu
Als Kümmerer ist Grube un- kontrollieren – und seinen glo-
umstritten. Doch spätestens seit balen Aktionsradius zu begren-
er Ex-Kanzleramtschef Ronald zen. Fast die Hälfte des Umsat-
Pofalla (CDU) ohne ausreichen- zes erwirtschaftet die Bahn im
de Abstimmung im Konzern und Ausland, vor allem mit der Lo-
in der Koalition zu seinem Chef- gistiktochter Schenker.
lobbyisten machen wollte, wird Doch das Geschäft ist konjunk-
lauter denn je nach seinen Qua- turabhängig und selbst in guten
litäten als Manager gefragt. Hat Zeiten äußerst ertragsschwach. So
Grube noch das richtige Gespür schaffte Schenker im Boom-Jahr
für die Befindlichkeit von Politi- 2012 nur eine lächerliche Rendite
kern und Aufsichtsräten? Setzt von deutlich weniger als drei Pro-
er in dem Staatsbetrieb mit sei- zent. „Es ist bereits fragwürdig,
nen zahlreichen in- und auslän- dass ein deutscher Staatskonzern
dischen Geschäftsfeldern die Pakete von Japan in die USA
richtigen Schwerpunkte? Ist der transportiert“, sagt der Bahnex-
CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL

Bahn-Chef nur ein guter Verkäu- perte Christian Böttger von der
fer oder auch ein erfolgreicher Hochschule für Technik und Wirt-
Stratege, der das Unternehmen schaft Berlin. „Aber wenn die
an den richtigen Stellen umbaut? Bahn es schon tut, sollte sie we-
nigstens Geld damit verdienen.“
* Bei einem Besuch des S-Bahn-Werks in In anderen Bereichen ist die
Hamburg-Ohlsdorf 2013. Bahn-Vorstand Grube*: Ertragsschwaches Geschäft Lage noch kritischer: Die vom
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 63
Wirtschaft

Steuerzahler alimentierte Bahn verdient frühere Bahnmitarbeiter Torben Greve.


nicht nur kein Geld, sie macht sogar Ver- Mit einem Studienfreund hat er im Zuge WÄ H R U N G E N
luste, wenn auch klammheimlich. Unter der Liberalisierung des Fernbusmarktes
weitgehendem Ausschluss der deutschen
Öffentlichkeit verkaufte die Bustochter
Arriva, immerhin die größte Akquisition
die Firma Meinfernbus gegründet.
Seit vergangenem Jahr wächst das
Start-up rasant, inzwischen hat es einen
Vorteil Frankfurt
der Grube-Ära, Anfang des Jahres ihr Ge- Marktanteil von 40 Prozent und befördert Politik und Wirtschaft
schäft auf Malta für einen symbolischen rund 10 000 Kunden pro Tag. Damit ge- wollen Deutschlands Börsen-
Euro an die Regierung. Binnen zweiein- ben sich die Gründer nicht zufrieden. metropole zum wichtigsten
halb Jahren soll die Firma dort rund 50 Bald weiten sie ihr Angebot weiter aus,
Millionen Euro Miese angehäuft haben. schließen zusätzliche Städte ans Netz an Handelsplatz für den chinesischen
Die Bahn will sich dazu nicht äußern. und starten Nachtlinien. „Wir werden den Yuan in Europa machen.
Im Aufsichtsrat ist die Rede davon, dass Markt richtig aufrollen“, sagt Greve.

W
Arriva auch in anderen Regionen Proble- Je schlechter das Angebot der Bahn enn Chinas Präsident Xi Jinping
me habe. „Wir betrachten die Entwick- und je länger die Reisezeit mit dem Zug, ausländischen Staats- und Re-
lung mit großer Sorge“, heißt es aus dem desto mehr kann die Konkurrenz ihren gierungschefs seine Aufwartung
Kontrollgremium. „Grube muss sich dar- Vorteil ausspielen. So dauert die Fahrt macht, geht es oft zu wie beim Besuch
um endlich kümmern.“ von Freiburg nach München mit dem Bus des reichen Onkels. Der erste Mann der
Zunehmend scheint sich auch bei eini- ungefähr so lange wie mit dem Zug – kos- aufstrebenden Supermacht hat eine Men-
gen Aufsehern die Überzeugung durch- tet aber statt über 90 Euro mit etwas ge Gunstbeweise zu verteilen, und jede
zusetzen, dass Grubes Management-Stil Glück gerade einmal 14. Kein Wunder, Regierung möchte bedacht werden.
an Grenzen stößt. Besonders gern geht dass Busse nicht nur von Azubis und Stu- Auch in Berlin, wo Xi am kommenden
der Chef dorthin, wo er mit seinen denten genutzt werden. Bei Meinfernbus Freitag erwartet wird, macht sich schon
Freundlichkeitsattacken rasche Erfolge er- ist bereits jeder fünfte Kunde über 50, Vorfreude breit. Seit Monaten buhlen
fast jeder zehnte sogar ein Geschäftsrei- Bundesregierung, Bundesbank und Wirt-
Gewinn sender. Tendenz steigend. schaftsvertreter darum, dass Deutsch-
der Deutschen Bahn Die Bahn, so heißt es bei Konzernken- lands wichtigster Börsenplatz Frankfurt
nach Steuern nern, würde die unliebsame Konkurrenz am Main erstes Abwicklungszentrum für
1477 am liebsten wieder eliminieren und das den Zahlungsverkehr mit China außer-
in Millionen Euro
1332 Rad der Regulierung zurückdrehen. Es halb Asiens wird. Bislang gibt es solche
ist der verzweifelte Versuch, strategische Clearingstellen für die chinesische Wäh-
Fehlentscheidungen zu kaschieren. rung Yuan erst in Hongkong, Singapur
Schließlich bieten Betreiber wie Mein- und in Taiwan. Die Chancen der Hessen-
1058
fernbus ihren Kunden besonders dort ein metropole stehen nicht schlecht.
attraktives Angebot, wo die Bahn ihr ei- Handelsplätze außerhalb der Volksre-
830 genes Netz ausgedünnt hat. Gute Schie- publik einzurichten ist Teil eines großan-
nenverbindungen gibt es fast nur noch gelegten Liberalisierungsprogramms der
rund zwischen Großstädten. Wehe, man muss chinesischen Machthaber. Schrittweise
650 zwischen zwei Provinzorten reisen, dann wollen sie ihre bislang streng regulierte
heißt es oft: totes Gleis. Währung freigeben und sie so Dollar und
Um die Defizite zu beseitigen, bettelt Euro ähnlicher werden lassen.
der Bahn-Chef nun lauter denn je um die Was mit dem Yuan passiert, entschei-
Hilfe der Politik. „Wir brauchen dringend det bislang die chinesische Regierung. Sie
2009 2010 2011 2012 2013 mehr Investitionen in die Infrastruktur“, setzt den Zielkorridor für den Wechsel-
sagt Grube auf einer Fahrt von Berlin kurs fest und bestimmt die Höhe der
zielen kann, harte Entscheidungen dage- nach Hamburg. Angesichts der dramati- Zinsen. Außerdem darf der Yuan nicht
gen meidet er. So duldet es Grube seit schen Unterfinanzierung gebe es einen beliebig in andere Währungen getauscht
langem, dass die Güterverkehrssparte Investitionsstau von über 30 Milliarden werden. Stück für Stück beseitigt die
Schenker Rail regelmäßig optimistische Euro. Grube rattert zig Zahlen herunter, Regierung in Peking die Beschränkungen.
Planzahlen vorlegt, die sie dann nicht er- von Brücken über Weichen bis hin zu In den nächsten Jahren will sie die Zins-
reicht – und als Konsequenz einfach neue Stellwerken. Er kann sie alle auswendig. bildung vollständig freigeben, dann dür-
Jubelszenarien präsentiert. Und der Bahn-Chef weiß auch schon, fen Banken den Preis für Kredite selbst
2012 schaffte Schenker Rail gerade so wie er an die benötigten Mittel kommen festlegen. In der vergangenen Woche ver-
eine schwarze Null und verbreitete für will: Das Lobbying soll auf eine neue Stu- doppelte sie die Bandbreite, in der der
2013 entsprechend Optimismus. Nach al- fe gehoben werden. Kurs des Yuan schwanken darf.
lem, was zu hören ist, rutschte der Be- An diesem Mittwoch präsentiert er Das sind wichtige Schritte auf dem Weg
reich nach Abzug aller Kosten allerdings dem Aufsichtsrat sein Konzept. Danach der Chinesen, ihre Währung völlig frei-
offenbar erneut ins Minus. soll Ronald Pofalla 2015 zunächst Gene- zugeben. Ihr Ziel ist es, den Yuan neben
Es gibt einige Leute im Umfeld des ralbevollmächtigter des Konzerns werden. Dollar und Euro als dritte Reservewäh-
Konzerns, die sich angesichts dieser Pro- 2017 soll er schließlich das entsprechende rung auf den Weltmärkten zu etablieren.
bleme fragen, ob Grube seine Zeit wirk- Ressort übernehmen, wenn der jetzige Der Erfolg des Unterfangens ist unaus-
lich sinnvoll investiert, indem er ständig Vorstand altersbedingt ausscheidet. So weichlich. Das Potential einer Währung
Mitarbeiter in der Provinz herzt, Politiker würde Pofalla erst nach einer Übergangs- als weltweit akzeptierte Anlageform
umwirbt oder auf irgendwelchen Podien zeit in die Chefetage aufrücken. steigt mit der ökonomischen Potenz des
die Bahn verteidigt. Die Frage, ob der frühere CDU-Spitzen- Wirtschaftsraums, in dem sie als Zah-
Zumal sich die Konkurrenz im Kern- politiker nach dem Hickhack der vergan- lungsmittel dient. So machte die politi-
geschäft des Unternehmens, dem Perso- genen Monate überhaupt noch Lust auf sche und wirtschaftliche Vormachtstel-
nenverkehr, massiv verschärft. Keiner den Job hat, ist inzwischen beantwortet. lung der USA den Dollar im vergangenen
führt das derzeit deutlicher vor als der „Ja, er will“, heißt es intern. SVEN BÖLL Jahrhundert zur alles dominierenden
64 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Bankangestellte in China
„Partnerschaft zu gegenseitigem Nutzen“

handelt werden. Wenn der Yuan frei kon-


vertierbar würde, hätte Frankfurt beste
Chancen, wieder eine führende Rolle im
Devisenhandel zu spielen. Die ging verlo-
ren, als mit der Einführung des Euro viele
nationale Währungen verschwanden.
Doch auch die Konkurrenten hoffen
mit den Chinesen ins Geschäft zu kom-
men. Durchaus möglich sind Kombi-Lö-
sungen, bei denen mehrere Standorte be-
dacht werden. An London, dem bedeu-
tendsten Finanzplatz Europas, kommen
die Chinesen kaum vorbei, schon allein
wegen des dort geballt versammelten In-
vestmentbankings.
Daneben, so das Kalkül der Frankfurt-
Befürworter, könnte sich der deutsche
Börsenplatz als Abwicklungszentrum für
jene Zahlungsströme etablieren, die mit
dem europäisch-chinesischen Warenver-
kehr zusammenhängen. Schwer vorstell-
bar sei hingegen, dass gleichzeitig Paris

REUTERS
und Frankfurt den Zuschlag erhalten.
Kürzlich legten alle wichtigen Wirt-
schafts- und Bankenverbände noch ein-
Weltwährung, und auch die Bedeutung Zugang zum deutschen Mittelstand, auf mal nach. In einem Brief an Präsident Xi
des Euro leitet sich aus der geballten öko- den es die Chinesen doch besonders ab- warben sie eindringlich für die Mainme-
nomischen Macht des gemeinsamen Wäh- gesehen hätten. Zudem tausche China so tropole. „Frankfurt als Finanzzentrum
rungsraums ab. Es gilt die Regel: Je mehr viele Waren mit Deutschland wie mit der Euro-Zone und Deutschlands steht
ein Land zum globalen Handel beiträgt, Großbritannien, Frankreich und Italien für politische und ökonomische Stabilität
desto attraktiver wird seine Währung für zusammen. Deshalb sei es attraktiv für und wäre deshalb ein vorteilhafter Stand-
den Rest der Welt. Da hat der Export- die Unternehmer und Politiker in Peking, ort“, schrieben deren Repräsentanten, dar-
weltmeister China einiges zu bieten. Frankfurt zur Drehscheibe für den bei- unter Deutsche-Bank-Co-Chef Jürgen
Schon jetzt werden fast neun Prozent des derseitigen Zahlungsverkehr zu machen. Fitschen. Wegen der „exzellenten Wirt-
Welthandels in Yuan abgerechnet. Auszahlen würde sich der Zuschlag schaftsbeziehungen“ mit China spiele
Kein Wunder, dass um den europäi- auch für die deutsche Wirtschaft. Heimi- Deutschland eine wichtige Rolle im
schen Standort für das Abwicklungszen- sche Unternehmen erhoffen sich Kosten- grenzüberschreitenden Geschäft mit dem
trum nun ein regelrechter Wettlauf ent- vorteile, am Bankenplatz Frankfurt könn- Yuan. „Wir glauben fest daran, dass ein
brannt ist. Neben Frankfurt bewerben ten zusätzliche Geschäfte – und damit solcher Schritt unsere wirtschaftliche
sich London, Paris und Luxemburg um neue Arbeitsplätze – rund um die chine- Partnerschaft zu gegenseitigem Nutzen
den Zuschlag. sische Währung entstehen. festigen würde.“
Die Entscheidung trifft die chinesische Zunächst würde die chinesische Füh- Eine klare Entscheidung dürfte Xi den
Regierung. Frankreich und Großbritan- rung eine sogenannte Clearingbank in erwartungsfrohen Europäern diese Wo-
nien schickten deshalb bereits hochran- Frankfurt bestimmen, tra- che bei seiner Europa-
gige Delegationen, angeführt von den Fi- ditionell ein chinesisches Chinesischer Yuan Tournee – neben Berlin be-
nanzministern und Notenbankchefs, nach Institut. Wie eine Art Zwi- Anteil am globalen 2,2 sucht er auch Brüssel und
Peking, um für ihren jeweiligen Standort schenhändler würde es die Devisenhandel, Paris – noch nicht mittei-
zu werben. Transaktionen von Unter- in Prozent len. Die Chinesen sind zu
Auch für Frankfurt fand sich eine ex- nehmen und Banken mit höflich, um bei einem Be-
Quelle: BIZ
klusive Allianz. Kanzlerin Angela Merkel dem Yuan abwickeln. In such dem einen Gastgeber
und ihr Finanzminister Wolfgang Schäu- einem nächsten Schritt 0,9 eine gute, dem anderen
ble (beide CDU) machten sich bei ihren könnte daraus, so die eine schlechte Botschaft
chinesischen Gesprächspartnern für die Hoffnung vieler Frankfur- 0,5 zu überbringen.
deutsche Bankenmetropole stark, selbst ter, ein größeres Abrech- 0,1 Dennoch erhoffen sich
die sonst auf Zurückhaltung bedachte nungshaus entstehen, an 0,0 die Frankfurter von dem
Bundesbank engagierte sich. Deren Prä- dem sich dann auch die 2001 2004 2007 2010 2013 Besuch eine deutliche
sident Jens Weidmann bearbeitete seine deutschen Banken beteili- Ansage, dass sie mit ihren
Kollegen bei der chinesischen Zentral- gen. Und dabei sollen vie- zum Vergleich: Vorbereitungen weiterma-
bank. le neue Jobs nicht nur für Chinas Anteil am weltweiten chen dürfen. Die Signale,
Koordiniert wird die Kampagne vom Banker, sondern auch für Bruttoinlandsprodukt 2013 die sie von ihren Ge-
hessischen Wirtschaftsministerium. Mehr- Rechtsanwälte und Berater in Prozent sprächspartnern in Peking
fach reisten Delegationen nach Peking, entstehen. bekommen haben, stim-
um den Chinesen die Vorzüge Frankfurts Eines Tages könnten men sie jedenfalls zuver-
näherzubringen. Die Deutschen glauben, dann in Yuan ausgestellte sichtlich.
dass die besseren Argumente für Frank- Wertpapiere und Derivate 12,2 CHRISTIAN REIERMANN,
furt sprechen. Nur dort gebe es direkten in großem Stil am Main ge- Quelle: IWF ANNE SEITH

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 65
Auf Fragen zu antworten, überlässt
der Vorzeigefunktionär Bassewitz seinem
Kompagnon Behrens, dem Fürstenhof-
Geschäftsführer. Und der versichert: „Wir
haben nichts falsch gemacht.“ Von den
Öko-Vermarktungsverboten im vergange-
nen März sei die Erzeugergemeinschaft
nicht betroffen gewesen, sagt er. Tatsäch-
lich, so ein Sprecher der Staatsanwalt-
schaft, gab es bereits damals zeitweilige
Öko-Vermarktungsverbote für Betriebe
der Fürstenhof-Gruppe. Laut den Unter-
lagen war auch Gut Dalwitz Ei betroffen.
Knapp 25 Prozent der deutschen Bio-
Eier kommen inzwischen aus Mecklen-
burg. Zwischen 2008 und 2012 stieg die
Zahl der Hennen von 500 000 auf fast

BILDWERK / IMAGO
800 000, nur Niedersachsen hat mehr.
Der durch Subventionen erzeugte in-
Durchleuchten von Bio-Eiern dustrielle Bio-Boom hat Spuren hinterlas-
sen: Vor ein paar Jahren filmte ein Fern-
sehteam des MDR Bassewitz’ Hennen. Sie
waren so zerrupft, dass sich viele Verbrau-
LANDWIRTSCHAFT cher empörten. Bauernfunktionär Basse-
witz hatte eine ganz eigene Erklärung für

Alles Bio – oder was? sein schütteres Federvieh: „Es sind die
fleißigen, die den nackten Hintern haben.“
Das Vertrauen in die Bio-Branche dürften
solche Äußerungen nicht stärken.
Von Mecklenburg aus gelangten Millionen Öko-Eier in den Handel, Als die Problem-Eier in Mecklenburg
die den Namen nicht verdienen. Der Fall zeigt, wie lukrativ publik wurden, versprach Agrarminister
Backhaus sofort, sich zu kümmern: Im
dieser Schwindel ist und wie lasch die Kontrolleure arbeiten. Interesse des Verbrauchers „bleiben wir
an der Sache dran“. Stattdessen schien

D
er Skandal begann mit einer spär- Im Mittelpunkt der Affäre steht der Er- er eifrig bemüht, wenig nach außen
lichen Meldung: Die Eier von zeugerzusammenschluss Fürstenhof. Mit dringen zu lassen. Der Skandal um die
12 000 Öko-Legehennen aus vier 14 Farmen und gut 80 Millionen Eiern im Eier zeigt auch, wie schwer es Konsumen-
Betrieben in Mecklenburg-Vorpommern Jahr gilt die Gruppe aus der Nähe von ten gemacht wird, an Informationen zu
dürfen nicht mehr unter dem Öko-Siegel Rostock als einer der größten Bio-Erzeu- kommen.
vermarktet werden. ger Deutschlands. Zu ihren Kunden ge- Entdeckt hatte den mangelnden Aus-
Es schien nichts Großes, was Mecklen- hören Einzelhändler wie Rewe, Edeka lauf der Hennen ein Bürger. Der hatte
burg-Vorpommerns Agrarminister Till und Alnatura. Alle vier Betriebe, gegen Luftbilder einiger Höfe ausgewertet und
Backhaus (SPD) da vor einem Jahr in die ermittelt wird, sind Fürstenhof-Betrie- auf die Zahl der Hühner umgelegt. Ende
Schwerin mitteilte. Und Backhaus mühte be. Zu den Beschuldigten zählt auch der 2012 setzten sich die staatlichen Inspek-
sich in der Folge auch redlich, die Sache Geschäftsführer Friedrich Behrens. toren dann in Gang. Sie merkten: An den
klein zu halten. Einer der Bio-Höfe, Gut Dalwitz Ei, Angaben des Mannes war allerhand dran.
Die Namen der Betrüger geben weder wird von Heinrich Graf von Bassewitz Viele Farmen waren offenbar über Jahre
das Ministerium noch die Kontrolleure mitbetrieben, dem Beauftragten des Deut- mit zu kleinen Gehegen betrieben wor-
des Landesamts für Landwirtschaft, schen Bauernverbands für den ökologi- den. Millionen Bio-Eier wären demnach
Lebensmittelsicherheit und Fischerei schen Landbau. Wachsen oder weichen, in den Handel gelangt, die den Namen
(LALLF) preis. Eine Nennung, hieß es, das alte Verbandsmotto, hat Bassewitz nicht verdienten.
würde „das Eigentum und die körperliche sich auch bei seinen Bio-Hühnern zu Her- An die Kontrollstellen erging im Mai
Unversehrtheit der Unternehmen bzw. sei- zen genommen: Rund um das Gut des 2013 eine Anweisung, wie Auslaufgrößen
ner Repräsentanten in Gefahr“ bringen. Grafen verrichten inzwischen 35 000 zu messen seien. Eine LALLF-Leiterin
Inzwischen sieht es so aus, als seien die Stück Federvieh ihren Dienst. wies auf Dinge hin, die offenbar jahrelang
12 000 Hühner nur die Spitze eines Skan- Um die finanzielle Dimension zu ver- unterblieben waren: Ausläufe müssten mit
dals, der den gesamten Bio-Sektor Meck- stehen, genügt ein Blick in die Öko-Ver- GPS-Gerät kontrolliert werden. Außer-
lenburgs erfassen könnte: Behörden, Pro- ordnung: Haben Hennen weniger Aus- dem sei eine „visuelle Kontrolle“ nötig.
duzenten und Kontrolleure. Gegen vier Un- lauf als vier Quadratmeter pro Tier, kön- Einige Bürger wollten es genauer wis-
ternehmen ermittelt die Staatsanwaltschaft nen die Eier weder als Bio- noch als sen, sie fragten nach den Namen der Be-
in Rostock wegen des Verdachts des Be- Freiland-, sondern nur als Bodenhal- triebe und nach Querverbindungen zur Tie-
trugs und Verstoßes gegen das Ökolandbau- tungs-Eier vermarktet werden. Verkauft mann-Gruppe aus Niedersachsen. Auch
gesetz. Die Öko-Kontrollstelle Fachverein man sie dennoch als Bio-Eier, bringt das die war wegen des Verdachts des Bio-Be-
wird wegen des Verdachts zu lascher Prü- pro Stück etwa 15 Cent mehr. Für einen trugs ins Visier der Ermittler geraten.
fungen von Aufsichtsbehörden durch- gängigen Stall mit 24 000 Hühnern (eine Verwertbare Antworten? Gab es keine.
leuchtet. Und bei allem geht es auch dar- Bio-Henne legt etwa 270 Eier pro Jahr) In Fürstenhof-Verpackungen hatten Kun-
um, wie die industrielle Bio-Produktion bedeutet der Auslauf-Schmu einen ille- den jedoch Eier von Tiemann und aus Be-
den ursprünglichen Gedanken ökologi- galen Gewinn von knapp einer Million trieben in Brandenburg gefunden. Eine
scher Landwirtschaft verwässert hat. Euro pro Jahr. Verbraucheranfrage lehnte das dortige
66 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Wirtschaft

Agrarministerium „aus Gründen des Ver- Kann ein Wasserrohr eine Sitzstange folglich keine, was Behrens bestreitet.
braucherschutzes, aber auch zur Siche- sein? Welche Länge darf der Auslauf ha- Seine Betriebe gewährten teilweise mehr
rung eines fairen Wettbewerbs“ ab. ben? Gerade diese Frage war lange nicht Auslauf als verlangt.
Bevor er Antworten auf seine Fragen geregelt, weswegen eine „Bund-Länder- Behrens’ Kontakt zu den Ämtern läuft
erhielt, bekam ein anderer kritischer Bür- Gruppe“ im Jahr 2010 ein „Geflügel- indes nicht mehr ganz so reibungslos wie
ger vom LALLF einen Kostenvoranschlag: papier“ aufsetzte: Maximal 350 Meter ab früher: Vor kurzem erging eine Geldbuße
3076,64 Euro sollte er für Informationen Stallöffnung, hieß es darin, worauf eilig über rund 14 000 Euro – in einem Fürs-
zu Hühnerausläufen zahlen. manch schlauchartige Ausläufe korrigiert tenhof-Betrieb waren 9000 Hennen mehr
Im Schweriner Landtag gab es sogar wurden. „Ohne diese Regeln hätte sich eingestallt worden als beantragt.
zwei parlamentarische Anfragen zum keiner getraut, gegen die Geflügelbarone Überwacht wurden die Fürstenhof-Be-
Thema. Backhaus wurde nach Namen der vorzugehen“, sagt ein Kontrollstellen- triebe von der Kontrollstelle Fachverein.
Schmu-Betriebe gefragt. Antworten dar- leiter. Wie sie arbeitet, zeigt ein interner Bericht
auf blieb er bis heute schuldig. Auch auf Gut Dalwitz wurden Ausläufe des Landes Sachsen. Danach hätten die
Auch der SPIEGEL fragte das Ministe- immer mal wieder um- und angesteckt. Fachverein-Kontrolleure die räumlich kla-
rium. Warum werde nicht der Paragraf 40 Lange wurde ein geschütztes Biotop als re Trennung von konventionellen und
des Lebens- und Futtermittelgesetzbuchs Auslauf genutzt, was eigentlich unzulässig Bio-Tieren als „Formalismus“ abgetan.
angewendet? Darin steht, die Öffentlich- ist, aber von den Kontrolleuren des Fach- Einem Legehennenbetrieb sei 2010 durch
keit sei über die Namen der Firmen zu vereins und des LALLF akzeptiert wurde, dreijährige Genehmigung von zu geringer
informieren, wenn der Verdacht besteht, wie Fürstenhof-Manager Behrens sagt. Auslauffläche ein wirtschaftlicher Vorteil
dass Verbraucher getäuscht wurden. Zudem gestattete das Staatliche Amt verschafft worden. Dem Fachverein, heißt
Mit dem Paragrafen, so einer von Back- für Landwirtschaft und Umwelt (Stalu) es schonungslos, fehle die „fachliche und
haus’ Juristen, sei es so eine Sache. Einige in Rostock die Biotop-Nutzung. Dass es sachliche Kompetenz“ für Öko-Kontrol-
Gerichte hätten „verfassungsrechtliche Be- dafür gar nicht zuständig war, wie Stalu- len – weshalb er sie in Sachsen auch nicht
denken“ geäußert – also nicht anwendbar. Chef Hans-Joachim Meier selbst ein- mehr durchführen darf. Dazu äußern
Dennoch, so der Jurist, werde er die Fra- räumt, störte Behrens nicht. Die zustän- wollten sich die Kontrolleure nicht.
gen beantworten. Wenig später hieß es: dige Untere Naturschutzbehörde, gibt er Der Mecklenburger Backhaus, dessen
Antworten gebe es nicht, weil „das Be- lächelnd zu, „war hier anderer Meinung“. Ministerium den Fachverein lange un-
kanntwerden der Informationen eine er- Dort spricht man von „rechtswidriger“ behelligt ließ, fordert nun die „Verstaat-
hebliche Gefahr für die öffentliche Sicher- Ausdehnung der Auslauffläche. lichung der Kontrollen“. Angesichts der
heit verursachen kann“. Selbst Stalu-Chef Meier räumt ein, dass Leistungen seiner eigenen mickrig besetz-
Ein Problem für die Ermittler des Bio- durch das Biotop die Auslauffläche eines ten Behörde „ein schlechter Witz“, wie
Betrugs ist die EU-Ökoverordnung. Sie Geheges etwa ein Jahr lang zu klein war. das Fachmagazin „BioHandel“ befand.
ist ein Spielplatz für Auslegungskünstler. Viele von Bassewitz’ Bio-Eiern waren NILS KLAWITTER
GUNTER GLUECKLICH / LAIF

CHRISTIAN O. BRUCH / LAIF


Reeder Ebel, Containerschiff im Trockendock in Kiel: Nie dagewesene Krise

fahrt gesteckt haben: Fondsgesellschaften


GE L DA N LAGE überziehen sie mit Schreiben, um sie zu
zwingen, Ausschüttungen aus früheren

Teure Klauseln Jahren zurückzuzahlen. Allein die Hansa


Treuhand hat bereits gegen rund hundert
säumige Investoren juristische Schritte
eingeleitet. Man sei zu diesem Vorgehen
Wer in Schiffsfonds investiert hat, muss damit rechnen, gezwungen, erklärt eine Sprecherin auf
von den Gesellschaften verklagt zu werden: Anfrage schlicht.
„Da hat ein juristischer Kleinkrieg be-
Die fordern früher ausbezahlte Ausschüttungen zurück. gonnen, der sich noch über Jahre hinzie-
hen wird“, sagt der Frankfurter Anleger-

H
ermann Ebel gilt in Hamburg als alle zehn bis zwölf Jahre ein neues Auto anwalt Klaus Nieding.
hanseatischer Vorzeigekaufmann: und joggt morgens früh um die Alster. Was auf den ersten Blick absurd wirkt,
kultiviert und bodenständig, trotz Harald Meyer* lernt derzeit allerdings war vergangenes Jahr sogar Thema beim
seines Reichtums. die weniger charmante Seite des Unter- Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Dort
Der Reeder, Jahrgang 1949, grauer nehmers kennen. Meyer ist 85 und war ging es um eine Anlegerin, die an einen
Kapitänsbart, wohltemperiertes Gemüt, früher selbständiger Bauingenieur. Weil Fonds der Dortmunder Dr. Peters Group
fördert mit seiner Stiftung allerlei Kultur- es mit seiner gesetzlichen Rente nicht mehr als 60 000 Euro zurückzahlen sollte.
projekte, ein Lesecafé sowie junge, be- weit her war, investierte er 400 000 Euro Die Begründung der Fondsgesellschaft:
sonders talentierte Musiker. Er restaurier- in Containerschiffe, über geschlossene Die Zahlungen seien gar nicht vom Ge-
te liebevoll einen alten Viermaster, mit Fonds, die unter anderem Hermann Ebels winn der Schiffe gedeckt gewesen.
dem er dann stolz am Hafen posierte, Emissionshaus Hansa Treuhand aufgelegt Eine kryptische Klausel im dicken
kauft sich eigenen Worten zufolge nur hatte. Dass seine Schiffsgesellschaften ihn Vertragswerk besagte, dass vom Gewinn
einmal vor Gericht zerren könnten, „hätte „unabhängige“ Auszahlungen eine „Dar-
ich niemals für möglich gehalten“, sagt er. lehensverbindlichkeit“ darstellten. Im
Versunkene Meyer hatte sich auf die blumige Werbung Klartext sollte die ahnungslose Sparerin
in den Verkaufsprospekten verlassen: Dem- daraus schließen, dass solche Überwei-
Milliarden nach sollten die Schiffe für ihn und seine sungen eine Art Kredit darstellten – der
Insolvente Fondsschiffe 131 Mitinvestoren jährlich hohe Gewinne ein- jederzeit gekündigt werden könnte.
seit 2008 fahren, die regelmäßig ausbezahlt würden. Der Bundesgerichtshof fand das ähn-
Doch die jährlichen Überweisungen lich unverständlich wie sie: Das Vertrags-
Betroffenes 105 bleiben nicht nur längst aus – mittlerwei- werk müsse die mögliche Rückzahlung
Investitions-
volumen
le fordern Ebels Schiffsgesellschaften von solcher „Darlehen“ zumindest ausdrück-
Meyer sogar Zahlungen aus früheren Jah- lich vorsehen, erklärten die Richter.
7,4 Mrd. € ren zurück. Es geht um mehr als 13 000 Doch wer glaubte, mit diesem Spruch
davon 2,8 Mrd. € Euro – wenn Meyer nicht zahlt, wird des obersten Gerichts sei die Frage ein
Anlegerkapital er sich demnächst vor Gericht wieder- für alle Mal geklärt, der irrte. Denn das
bisher finden. Kleingedruckte ist ja immer anders.
37 Denn wer solchen Forderungen nicht Die Hansa Treuhand Gruppe etwa ist
27 nachkommt, wird verklagt. Das müssen überzeugt, dass in ihren Verträgen die
derzeit Tausende Sparer in ganz Deutsch- Rückforderung der vermeintlichen Dar-
11 7 land feststellen, die ihr Geld in die Schiff- lehen viel genauer geregelt ist. Deshalb
4
klagen die Schiffsgesellschaften der Ham-
2008 Quelle: Dobert + Partner 2014 * Name von der Redaktion geändert. burger weiter.
68 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Wirtschaft

Und als in den letzten Monaten Richter sparsameren Motoren – und 2013 haben 4700 Euro dieser Überweisungen zurück-
in weit über 40 Fällen dennoch den Anle- sie dreimal so viele Bauaufträge bekom- zahlen, um die endgültige Insolvenz zu
gern recht gaben, wurde Berufung ein- men wie im Jahr zuvor. Der Grund: Pri- vermeiden.
gelegt. Drei Verfahren habe man schon vate-Equity-Investoren wie Apollo oder „Ich traute meinen Augen nicht, als ich
gewonnen, heißt es auf Anfrage. Man sei Oaktree kaufen sich gerade in der Hoff- das las“, sagt der 76-Jährige. „Nie gab
deshalb jenen Investoren gegenüber, die nung auf bessere Zeiten massiv in den es in den 18 Jahren einen Hinweis darauf,
ihre Zahlungen bereits geleistet hätten, Markt ein, große Linienreeder nutzen die dass meine Ausschüttungen mit einem
verpflichtet weiterzumachen. Krise zudem, um ihre Flotte zu moder- Rückzahlungsrisiko behaftet seien.“
Vielen Fondsverwaltern sitzen außer- nisieren. Die verklausulierten Warnungen, die
dem die Banken im Nacken, die die Bran- Viele deutsche Anlegergesellschaften die Emissionshäuser in den Verträgen und
che einst großzügig unterstützten und sollten deshalb ihre Schiffe schnellstens Prospekten untergebracht haben wollen,
nun Abermilliarden an ausfallgefährdeten verkaufen, anstatt ständig neues Geld von hat selbst Gosch nicht erkannt: Dabei ist
Schiffskrediten in den Büchern haben. ihren Investoren zu fordern, findet der An- er studierter Jurist und hat einmal die
Das ist zurzeit besonders unangenehm: legeranwalt Karl-Georg von Ferber. „Mit Hamburger Niederlassung einer großen
Die Europäische Zentralbank, die in Zu- jedem Tag entsteht weiterer Schaden.“ Bank geleitet.
kunft die Aufsicht über die Finanzbran- Heute allerdings finden die Fondsver-
che übernimmt, fordert teure Sicherheits- ANZEIGE
walter sehr deutliche Worte für ihre
maßnahmen für solche Klumpenrisiken. Anleger. Sparer, die in den Frachter MS
Obwohl ihre Berater Schiffsfonds in bes- „San Rafael“ investiert hatten, bekamen
seren Zeiten massenweise in den Markt vergangenes Jahr etwa die „Rechtliche
gedrückt haben, zeigen sich die Banken Stellungnahme“ einer Anwaltskanzlei zu-
deshalb wenig kulant, wenn es um die gesandt.
Tilgung ihrer Kredite geht. Sollten sich Anleger weigern, Ausschüt-
Die Dr.-Peters-Fondsverwaltung erklär- tungen zurückzuzahlen, müssten sie so-
te schon in einem Geschäftsbericht von gar mit Schadensersatzforderungen der
2011 offen, Ausschüttungen müssten, Gesellschaft rechnen, hieß es darin.
„auch auf Drängen der Banken“, von den Sollte der Fonds etwa gezwungen sein,
Anlegern zurückgeholt werden. Der ihretwegen sein Schiff „im aktuellen
Hamburger Reeder Ebel musste kürzlich schlechten Marktumfeld“ zu verkaufen,
zwei von Anlegern finanzierte Container- wäre die Differenz zu dem Preis „nach
schiffe sogar in die Insolvenz schicken, Besserung der Wirtschaftslage“ von die-
weil seine Bank einen Aufschub der ser Schadensersatzpflicht umfasst. „Das
Kredittilgung verweigerte. „Das ist eine wären ja womöglich Hunderttausende
bittere Pille“, sagte er danach. oder sogar Millionen Euro, für die ein
Insgesamt sind in den vergangenen oder wenige Anleger dann verantwortlich
Jahren schon mehr als 300 Schiffe, die gemacht würden“, sagt der Münchner
von Privatsparern finanziert waren, in Anwalt Ralph Veil. So eine Schadens-
die Pleite gefahren. Rund 2,8 Milliarden ersatzpflicht gebe es schlicht nicht, fügt
Euro an Anlegerkapital dürften damit er hinzu. „Das ist aus meiner Sicht
verbrannt sein, „und das ist nur der An- Nötigung.“
fang“, sagt Anwalt Nieding. Er allein ver- Das verantwortliche Emissionshaus
tritt eine vierstellige Zahl von Sparern, Lloyd Fonds AG weist diesen Vorwurf
die um die 900 Millionen Euro in die „aufs schärfste“ zurück. Man sei mit dem
Branche investiert haben, um die sie jetzt Schreiben nur der „Aufklärungs-“ und
bangen. Fürsorgepflicht gegenüber den Anlegern
Denn die Schifffahrt ist in einer nie da- nachgekommen.
gewesenen Krise. Die Charterraten waren Der Vorstandsvorsitzende des Hauses,
in den letzten Jahren um mehr als 80 Pro- Torsten Teichert, ist außerdem überzeugt:
zent eingebrochen, weil in den Boomjah- Die Anleger tun sich keinen Gefallen,
ren viel zu viele Schiffe bestellt wurden. wenn sie sich vor Gericht gegen die Rück-
Die meisten von ihnen fahren jetzt al- forderungen der Fondsgesellschaften weh-
lenfalls ihre Betriebskosten ein. Hunderte ren. Selbst wenn sie recht bekommen, sei
liegen beschäftigungslos in Häfen oder das „ein Pyrrhussieg“.
Buchten auf der ganzen Welt. Damit dürf- Dann nämlich droht noch mehr Fonds
te ein beträchtlicher Teil der 30 Milliarden Etliche Reeder allerdings dürften ein gro- die Pleite. Und der nächste juristische
Euro, die deutsche Anleger in die Bran- ßes Interesse daran haben, dass die Schiffe Kleinkrieg beginnt.
che gesteckt haben, verloren sein. vorerst weiterbetrieben werden. Denn sie Denn ein Insolvenzverwalter dürfte er-
Doch jede Krise nimmt einmal ihr haben in vielen Fällen nicht nur den Fonds neut versuchen, nicht vom Gewinn ge-
Ende, lautet das Credo, das deutsche Ree- aufgelegt, sondern auch das Management deckte Ausschüttungen von den Anlegern
der Anlegern heute noch stoisch vorbe- übernommen und die Besatzung gestellt. zurückzuverlangen. Und dann ist die
ten. „Steigende Charterraten werden Alles gegen Gebühr, versteht sich. Rechtslage für die Anleger heikler: Dieser
kommen“, orakelte Ebel vor wenigen Für viele Anleger dagegen ist das In- Fall ist im Handelsgesetzbuch relativ ein-
Monaten. vestment schon jetzt ein finanzieller Alp- deutig geregelt.
Doch selbst wenn er recht hat, ist frag- traum. Der Hamburger Rentner Hans-Jür- Dieses Risiko kennt auch Anwalt Veil.
lich, ob seine Anleger davon profitieren. gen Gosch beispielsweise hat von den Trotzdem glaubt er, dass Nichtstun keine
Denn die meisten Fondsschiffe sind längst 45 000 Euro, die er vor knapp 20 Jahren Alternative ist. „Nur wenn Anleger ihre
in die Jahre gekommen. in einen Schiffsfonds gesteckt hat, bislang Rechtsposition geltend machen, wahren
Asiatische Werften bauen inzwischen gerade einmal die Hälfte ausgeschüttet sie ihre Chance, noch irgendetwas wieder-
wesentlich größere Pötte mit sehr viel bekommen – und jetzt soll er noch über zubekommen.“ JÜRGEN DOBERT, ANNE SEITH
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 69
notierten sie in neun knappen Zeilen: Da-
nach dürfen die Kassen von 2015 an wie-
der selbst ihre Beitragssätze festlegen.
Mindestens müssen diese aber bei 14,6
Prozent liegen – das wären 0,9 Prozent-
punkte weniger als heute. Bei Bedarf sol-
len klamme Kassen obendrauf daher pro-
zentuale Aufschläge erheben. Doch was
aus den Prämien werden soll, die finanz-
kräftige Kassen heute auszahlen, notier-
ten Spahn und Lauterbach nicht.
Die SPD unterstellte, die Boni liefen
automatisch aus. Die Union hoffte, die
Prämien liefen weiter. Nun schafft Bun-
desgesundheitsminister Hermann Gröhe

GLOWIMAGES
Fakten: Die Möglichkeit der Versicherun-
gen, ihren Mitgliedern Prämien zukom-
men zu lassen, werde abgeschafft, heißt
es im Gesetzentwurf. Die Kassenmanager
Wer mehr verdient, muss dann auch hö- könnten ihre Mitglieder im nächsten Jahr
GESUNDHEIT here Zusatzbeiträge zahlen. doch viel einfacher entlasten, indem sie
Doch was die SPD noch während der die neuen prozentualen Aufschläge mög-

Bares für Babys Koalitionsverhandlungen als „histori-


schen Sieg“ (Gesundheitsexperte Karl
Lauterbach) über die verhasste merkel-
lichst niedrig oder gar nicht ansetzten, ar-
gumentieren die Beamten.
Allerdings war die Prämie, ausgewie-
Die geplante Reform der gesetz- sche Kopfpauschale feierte, bereitet den sen in Cent und Euro, ein wichtiges Wer-
lichen Kassen hat einen Kassen Kopfzerbrechen. Das gilt vor al- beargument für viele Versicherungen. Al-
unerwünschten Nebeneffekt: Viele lem für jene Versicherungen, die viele lein der Branchenriese Techniker Kran-
Gutverdiener anwerben. Sie fürchten, das kenkasse hat im Februar und März über
Versicherte könnten zur priva- Gesetz könne sich zum heimlichen Revi- sechs Millionen Schecks an seine Mitglie-
ten Konkurrenz getrieben werden. talisierungsprogramm für die Konkurrenz der verschickt. Es gab Familienväter, die
von der Privatassekuranz entwickeln. sich per Grußkarte bedankten, weil allein

D
as Hochglanzheft, das die Kran- „Man darf bezweifeln, ob der Gesetz- eine Jahresprämie von 80 Euro „für eine
kenkasse „BIG direkt gesund“ geber das beabsichtigt hat“, schimpft BIG- ganze Kühlschrankfüllung“ gereicht habe.
Anfang März an ihre Kunden direkt-Vorstand Peter Kaetsch. CDU-Politiker Spahn fordert daher nun,
schickte, lockte unverhohlen mit Geld; Es waren CDU-Gesundheitspolitiker „im Gesetzgebungsverfahren noch einmal
viel Geld sogar, gemessen an den oft Jens Spahn und sein SPD-Kollege Lau- über die Prämie zu reden, wenn die Kas-
schmalen Budgets gesetzlich Versicherter. terbach, die Ende November den ent- sen diese Option wünschen“.
„Kann sein, dass du nur wegen der Kohle scheidenden Passus des Koalitionsvertra- Der Abgeordnete weiß: In den nächs-
zu uns kommst. Aber warum auch ges ausgekungelt hatten. Das Ergebnis ten Jahren wird es ohnehin für alle Versi-
nicht?“, warb die Kasse. „Jetzt 100 Euro cherten teurer. Derzeit schwimmen die
BY-STUDIO / FOTO LIA

kassieren.“ Diese Prämie will sie allen 5,4 Kassen zwar noch im Geld. Doch bald
Kunden noch in diesem Jahr auszahlen – werden ihre Überschüsse aufgebraucht
den ganz treuen wie den ganz neuen. sein. „Bis 2017 wird der durchschnittliche
Es dürften die letzten Köderschreiben Zusatzbeitrag auf 1,3 bis 1,5 Prozentpunk-
dieser Art sein, die in der gesetzlichen te ansteigen“, schätzt Gesundheitsöko-
Krankenversicherung verschickt werden. 4,2 nom Jürgen Wasem von der Universität
Mehr als acht Millionen Mitglieder haben Duisburg-Essen. Das Bundesversiche-
in diesem oder dem vergangenen Jahr rungsamt rechnet gar mit einer Anhe-
einen Scheck mit einer Beitragsrück- bung auf bis zu 1,7 Prozent des Brutto-
erstattung aus dem Briefkasten gezogen, Fette Jahre lohns.
beinahe jede fünfte Kasse schüttete einen Überschuss/Defizit der Belastet fühlen dürften sich dann vor
Teil ihrer Überschüsse aus. Doch vom gesetzlichen Kranken- allem Gutverdiener, die sich auch privat
nächsten Jahr an soll es damit vorbei versicherung versichern könnten. „Es besteht für die
sein. in Milliarden Euro gesetzlichen Kassen die Gefahr, dass viele
In dieser Woche wird das Bundeskabi- freiwillig Versicherte sich überlegen wer-
nett ein Gesetz absegnen, das die Finan- 1,6 1,7 den, ob sich ein Wechsel in die private
zierung der gesetzlichen Krankenversi- 1,4 1,4 Krankenversicherung lohnt“, mahnt TK-
cherung umkrempelt. Die Prämie, die 1,2 Chef Jens Baas. Das Gesetz werde „auf-
profitable Kassen ihren Kunden derzeit putschende Wirkung in Richtung PKV
noch zahlen dürfen, fällt nach den Plänen entfalten“, konstatiert Kaetsch.
des Gesundheitsministeriums künftig 2010 Prophylaktisch locken die Kassen da-
ebenso weg wie ihr ungeliebtes Gegen- her schon mal mit neuen Werbeangebo-
2006 07 08 09 – 0,4 11 12 13
stück: der pauschale Zusatzbeitrag. ten. So buhlt etwa die BIG auch um die
Stattdessen sollen Kassen, die mit den allerjüngsten Kunden. Für jedes Neuge-
Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds 25 Krankenkassen 8 Mio. Mitglieder borene verspricht sie einen Bonus, dessen
nicht auskommen, von 2015 an einen Auf- zahlten 2013 wegen – und damit mehr als Höhe sogar die bisherige Versicherten-
schlag erheben, der sich prozentual nach hoher Überschüsse jedes siebte – konnten prämie übersteigt: 200 Euro.
dem Einkommen der Kunden richtet. Prämien aus. davon profitieren. CORNELIA SCHMERGAL

70 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Trends Medien

PRESSE-ETHIK
„The Voice of
Germany“-Jury

„Immer dreister“ 2013

Lutz Tillmanns, 57,


Geschäftsführer des
Deutschen Presserats,

WARWICK SAINT / PA / OBS / SAT 1 / PRO 7


über die Vermischung
von redaktionellen
Inhalten und Reklame
in den Medien

SPIEGEL: In der „Gala“ war vor kurzem


ein Interview mit den Schauspielerin-
nen Nadja Uhl und Karoline Herfurth
zu lesen. Sie loben darin hemmungslos
den Autohersteller Opel – für den
beide derzeit Werbung machen. Ein CASTI NGSHOWS
besonders dreister Fall von Schleich-
werbung?
Tillmanns: Der Fall ist bei uns in
einem Beschwerdeverfahren anhängig.
Aber es ist nicht das erste Mal, dass
Nena verlässt Jury
wir uns mit solchen Interviews aus- Das letzte Jurymitglied der ersten in den USA an neuen Alben und
einandersetzen. Es gibt 70 bis 90 Be- Stunde verlässt das Castingformat schreibe derzeit auch zwei Bücher. In
schwerden im Jahr, die das Gebot „The Voice of Germany“: Gabriele der ProSiebenSat.1-Gesangsshow trai-
des Pressekodex betreffen, redak- Susanne Kerner, besser bekannt als nierte die Sängerin drei Staffeln lang
tionelle Inhalte und Werbung strikt Popsängerin Nena („99 Luftballons“). verschiedene Kandidaten. Vor Nena
zu trennen. Sie wolle sich „neuen Projekten“ wid- kündigten zuletzt schon ihre Jurykolle-
SPIEGEL: Ist das Genre der People-Blät- men. „Ich schaue mit viel Freude in gen der Band The BossHoss ihren
ter da besonders schmerzfrei? In der eine kreative Zukunft, denn da steht Rückzug aus der Castingsendung an.
aktuellen „Gala“ werden Fotos ab- einiges für mich an – und überall ist Wer den Künstlern nachfolgen wird,
gebildet, im Text dazu steht, dass die viel Musik drin“, so Nena. Sie arbeite ist derzeit nicht bekannt.
Bilder mit einer Olympus-Kamera
gemacht worden sind. Ein paar Seiten
weiter wirbt Olympus.
Tillmanns: Im Lifestyle-Bereich geht VERLAGE
eine Vermischung natürlich einfacher.
In einer Ausgabe der „Bunten“ gab es
ein Interview mit Veronica Ferres, in
der sie über eine Kosmetikmarke
G+J prüft Verkauf der Immobilie am Baumwall
sprach, für die sie selbst warb. Auch Gruner+Jahr (G+J) rechnet offenbar ei- das imposante Gebäude am Hafen erst
bei welt.de wurde beanstandet, dass in nen Verkauf seiner Immobilie am Ham- vor vier Jahren gekauft. Nach dem Bau
einem Stück über Jogi Löw eine burger Baumwall durch. Neben anderen 1990 war es an eine Leasingfirma ver-
Creme-Marke untergebracht wurde. Optionen prüft der Zeitschriftenverlag äußert und dann von G+J gemietet wor-
Jeder kann werbende Beiträge platzie- derzeit, ob sich ein Sale-and-Lease- den. Weil der Preis günstig war, ent-
ren, aber man muss es auch so nennen Back lohnen könnte: G+J würde das schied sich der Verlag 2010 jedoch, das
und eben Anzeige drüberschreiben. Haus verkaufen und zurückmieten. In Haus wieder zu erwerben. Geprüft wird
SPIEGEL: Nehmen mit dem wirtschaft- Immobilienkreisen ist bereits von einer derzeit auch ein Umbau. So sind größe-
lichen Druck auf die Verlage Grenz- möglichen Mietdauer von 10 bis 15 Jah- re Modernisierungen etwa der Klima-
überschreitungen zu? ren und einem geschätzten Wert von und IT-Technik nötig, zudem will der
Tillmanns: Sicher, aber auch die Indu- 180 Millionen Euro die Rede. G+J hatte Verlag neue Großraumbüros schaffen.
strie wird immer dreister in ihren Als denkbar, aber unwahrscheinlich gilt
Forderungen. Wenngleich es dort auch der Umzug an einen anderen Standort.
die gegenläufige Entwicklung gibt: Ein Verkauf des Filetgrundstücks am
Große Firmen geben sich immer öfter Baumwall würde die Liquidität von G+J
auch Compliance-Regeln. Schleich- deutlich erhöhen, ein Teil der künftigen
werbung wird da meist ausgeschlos- Mietkosten aber würde wohl als Schul-
sen. Man darf auch nicht vergessen, den gebucht. Ein Gewinnsprung bliebe
ANNA MUTTER / FOTOGLORIA

dass durch das Internet die Medien- damit aus. Auf Anfrage erklärt G+J,
kritik schneller und umfassender man entwickle „derzeit – mit sehr lang-
wird. Da wird der Widerspruch schnel- fristigem Blick – mögliche Zukunfts-
ler aufgedeckt, wenn große Häuser szenarien für moderne Raumkonzepte“.
sagen, sie würden mehr auf Qualität Es gebe aber weder konkrete Planun-
setzen, aber trotzdem solche Verstöße gen noch Entscheidungen. Der Verlag
begehen. G+J-Zentrale in Hamburg fühle sich am Baumwall „sehr wohl“.
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 71
Medien

T V- E V E N T S

Schön war die Zeit


Uwe Barschel, das Gladbecker Geiseldrama
und immer wieder Hitler: Die Sender verfilmen so
viel Zeitgeschichte wie nie zuvor.
Manchmal sind sie dabei schneller als die Wirklichkeit.

D
er tote Uwe Barschel lässt den Zeitzeugen auf, die ein Echtheitszertifikat
Fernsehmachern bis heute keine ausstellen.
Ruhe. Und sie ihm auch nicht. Wo- Vor allem die ARD, aber auch das ZDF
bei nicht alle gleich so einen Hokuspokus pflegt intensiv die Erinnerungskultur. Zu-
veranstalten wie RTL. Der Sender schick- nehmend entdecken nun die Privaten
te Barschels Witwe vor gut drei Jahren wieder ihre Lust daran. Kaum ein Skan-
eine Frau ins Haus, die als Medium an- dal bleibt unverfilmt. Biografien deut-
geblich mit dem Verstorbenen Kontakt scher Legenden werden zum TV-Event.
aufnahm, auf Anhieb seinen Lieblings- Für ältere Zuschauer sind die Filme
sessel benannte und von ihm ausrichtete, Déjà-vus, für die jungen ein Abendkurs
er sei vergiftet worden. Mit Gas. in deutscher Geschichte, auch wenn diese
Wenig später trieb auch die ARD ihren verkürzt oder zurechtgebogen wird.
Unfug mit dem Toten. 2012, zum 25. Ster- Gerade bereiten Sender und Produzen-
betag des früheren Ministerpräsidenten ten sich auf den 70. Jahrestag des Kriegs-
von Schleswig-Holstein, setzte sie den endes 2015 vor. Wie immer, wenn Jubi-
Kieler „Tatort“-Kommissar Borowski auf läen anstehen, laufen die Gedenkma-
den Fall an. Auch der konnte nicht ver- schinen auf Hochtouren. Am heißesten
lässlich klären, wie Barschel umkam: War rotieren sie mal wieder in Deutschlands
es Mord? Oder doch Freitod? größter TV-Historienfabrik, der Ufa in
1
Nun aber müht sich das Erste um eine Potsdam-Babelsberg. Die hat einen Drei-
angemessene Auseinandersetzung. Im teiler über die „Stunde null“ in Arbeit,
September sollen die Dreharbeiten für ei- einen Film über deutsche Kriegsgefange-
nen zweiteiligen Spielfilm beginnen, den ne in den USA und den Dreiteiler
Ariane Krampe von der Firma Zeitsprung „Ku’damm 56“, der im Wirtschaftswun-
für die ARD-Tochterfirma Degeto produ- der-Berlin spielt.
ziert. „Wir maßen uns nicht an, Fragen Danach beginnt das Unheil von vorn,
zu beantworten“, sagt Krampe. „Aber mit einer Ufa-Serie über Hitlers Aufstieg,
wir werden sie aufwerfen.“ die RTL 2016 ausstrahlen will. Seinen Hit-
Barschel. Schon bei der Erwähnung des ler sucht Produzent Nico Hofmann dafür
Namens haben viele das Foto der Leiche noch. Und einen weiteren für seinen ZDF-
in der Badewanne vor Augen. Dunkle Ka- Film über die Propagandaregisseurin Leni
cheln, weißes Hemd, Krawatte, das Was- Riefenstahl mit Maria Furtwängler in der
ser steht bis zum Hals, der Kopf ist zur Hauptrolle.
Seite geneigt. Aufgenommen hat es der Manche Historien-Epen erweisen sich
„Stern“-Reporter Sebastian Knauer*, der als Schmonzette mit Bombenhagel. An-
CHRISTINE TAMALET / SWR (O.); KEYSTONE / AP (2.); K. BETHKE (3.); DPA (4.)

Barschel im Oktober 1987 fand. Genf, Ho- dere, wie der ZDF-Dreiteiler „Unsere
tel Beau-Rivage, Zimmer 317. Mütter, unsere Väter“ im vorigen Jahr,
Das Bild entstammt dem großen Er- reißen tatsächlich noch einmal deutsche
innerungsalbum der Deutschen, wie Wunden auf: Was hat Opa im Krieg ge-
Brandts Kniefall oder der RAF-Gefange- tan? Wie hätte ich mich verhalten?
ne Hanns Martin Schleyer. Wer es gese- Ein Menschenleben nach dem Ende des
hen hat, vergisst es nicht mehr. Und der Zweiten Weltkriegs sind die Deutschen
schaut vielleicht den Film zum Bild, das hungrig auf Zeitgeschichte. „Wir haben
jedenfalls hofft die ARD. nun endlich die Möglichkeit und das
Zeitgeschichte garantiert den Sendern Selbstvertrauen, unsere Geschichte etwas
die Aufmerksamkeit der Medien und ver- freier und unverkrampfter zu betrachten“,
leiht einem Film Relevanz. „Nach einer sagt der Schauspieler Ulrich Tukur.
wahren Geschichte“ gilt als Gütesiegel. Das Praktische an Tukur ist, dass man
Im Idealfall wartet danach ein Talk mit ihn in jede Epoche der jüngeren deut-
schen Geschichte verpflanzen kann, und
* SPIEGEL-Redakteur von 1988 bis 2009. er macht immer eine passable Figur, ob
72 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
mit Uniform oder ohne. In seiner Karriere
als Historiendarsteller war der 56-Jährige
schon Dietrich Bonhoeffer, Andreas Baa-
der, Erwin Rommel, Herbert Wehner und
Helmut Schmidt. Tukur ist das Gesicht
Deutschlands, das gute und das böse.
Im April wird er für die ARD als Tier-
filmer Bernhard Grzimek vor der Kamera
stehen, im Frankfurter Zoo und in Süd-
afrika.
Hinter massenhaft verfilmter Zeitge-
schichte vermutet Tukur eine Angst der
Fernsehmacher, „sich mit einer modernen
Welt auseinanderzusetzen, die den Men-
schen gläsern und beliebig macht“. Da-
gegen sei der Blick „in scheinbar abge-
schlossene, analoge Vergangenheiten
wohltuend“. Schön war die Zeit. Biswei-
len auch schön schaurig.
Doch längst wird nicht nur das deut-
sche Geschichtsbuch verfilmt, sondern
bereits die Tageszeitung. Tukur etwa ist
im Herbst in einem ARD-Film als Rektor
der Odenwaldschule zu sehen, der über
viele Jahre seine Schüler missbrauchte,
was 2010 in seinem ganzen Ausmaß öf-
fentlich wurde.
Weil Skandale eine immer kürzere
Halbwertszeit haben, sichern Produzen-
ten sich Persönlichkeitsrechte oft schon,
solange ein Ereignis noch die Nachrichten
beherrscht.
ARD-Verfilmung „Rommel“ 2012 Manchmal überholen sie damit sogar
die Wirklichkeit, wie im Fall Christian
Wulff. Sat.1 zeigte sein Doku-Drama
1 Leiche Uwe Barschels im Hotel „Der Rücktritt“ zwei Tage bevor das
2 Beau-Rivage 1987 Landgericht Hannover über den früheren
2 Gladbecker Geiselnehmer in Bundespräsidenten Recht sprach. Und
einem Linienbus 1988 kaum war Uli Hoeneß verurteilt, kündig-
3 Tierfilmer Bernhard Grzimek im ten die Produktionsfirmen AVE und Zeit-
TV-Studio um 1970 sprung reflexartig einen Film über sein
4 Marlene Dietrich als Lola im Ufa- Leben an.
Film „Der blaue Engel“ 1930 Fehlen die Persönlichkeitsrechte, wird
verfremdet. Oder anonymisiert. Wie bei
dem Film über eine deutsche Kanzlerin,
4 den der NDR und Studio Hamburg
gerade vorbereiten, basierend auf dem
satirischen Roman „Die Eisläuferin“ von
Katharina Münk. Der Name der Re-
gierungschefin steht nicht darin, wohl
aber, dass ihre Mundwinkel bisweilen
3 das Kinn erreichen.
Als ihr im Urlaub ein Bahnhofsschild
auf den Kopf fällt, verliert sie das Ge-
dächtnis. Nun müssen ihre Leute sie täg-
lich neu in die Spur setzen. Gedreht wer-
den soll im Mai. Die Hauptrolle wird Iris
Berben spielen. Wie merkelig sie werden
soll, mag der Sender noch nicht verraten.
Man sehe den Film aber in einer Reihe
mit einem geplanten Doku-Drama über
Hannelore Kohl.
Dass die Fernsehmacher sich an die
Wirklichkeit krallen, mag auch daran lie-
gen, dass sie der Kraft ihrer eigenen Phan-
tasie nicht trauen. Zudem weichen sie mit
urdeutschen Themen dem Vergleich mit
den hochgelobten US-Serien aus. So be-
gründete etwa RTL-Chef Frank Hoff-
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 73
Medien

mann die neue Affinität seines Senders müsste allerdings im Studio nachgebaut
für Zeitgeschichte kürzlich im SPIEGEL. werden, denn Zimmer 317 sieht inzwi-
Die Produzentin Regina Ziegler sagt: schen anders aus.
Um zum Spielfilm zu werden, müsse ein Die Filmemacher würden auch gern
Ereignis exemplarisch für etwas stehen, Freya Barschel treffen, die in Mölln leben-
das viele Menschen angeht. Eine Geschich- de Witwe. Die Familie weiß durch einen
te also, die „zwischen Tod oder Leben Brief der Produzentin von dem Projekt.
spielt, zwischen arm oder reich, schwarz Der damalige Chefermittler Heinrich Wille,
oder weiß, gut oder böse. Fallhöhe eben“. Verfechter der Mordthese und Autor eines
Diese Forderung erfüllt das Geiseldra- Barschel-Buchs, hat ihn einem der Familie
ma von Gladbeck, das 1988 die Republik nahestehenden Pfarrer übermittelt.
in Atem hielt und nun durch Ziegler zum Angehörige einzubinden gehört zum
TV-Zweiteiler werden soll. kleinen Einmaleins der Geschichtsverfil-
Ebenso die SPIEGEL-Affäre, zu sehen mung. Sonst ergeht es Produzenten wie
im Mai bei der ARD. Produziert wurde Oliver Berben, dem es nicht gelang, die
der Film von Gabriela Sperl, am Dreh- Erben von Anne Frank für sich zu gewin-
buch wirkte der frühere SPIEGEL-Chef- nen, weshalb es seinen geplanten ZDF-
redakteur Stefan Aust mit. Die Besetzung Film über das jüdische Mädchen nun
der Redaktion 1962, die Verhaftung des nicht geben wird.
Herausgebers Rudolf Augstein und die So- Auch die ARD-Tochter Degeto und die
lidarisierung der Öffentlichkeit mit ihm ge- Regisseurin Julia von Heinz haben sich
hören zum verspäteten Gründungsmythos frühzeitig mit der Familie beraten, als sie
des Magazins und der Bundesrepublik. einen Film über den 1987 verstorbenen
Und auch der Zweiteiler über Uwe Bar- Showmaster Hans Rosenthal zu planen
schel soll „ein Psychogramm der damali- begannen. Im nächsten Jahr soll gedreht
gen Bundesrepublik werden“, sagt die werden. Sein Sohn und seine Witwe un-
Produzentin Ariane Krampe. „Es geht terstützen das Vorhaben.
um Machterhalt im Regierungsbetrieb der
achtziger Jahre.“
Kiels CDU-Ministerpräsident Barschel Längst wird nicht nur das
war 1987 zurückgetreten, nachdem sein deutsche Geschichts-
Referent den SPD-Kandidaten Björn Eng-
holm im Wahlkampf hatte bespitzeln las- buch verfilmt, sondern
sen. Kurz darauf wurde er tot in der Wan-
ne gefunden. In Magen und Blut fand bereits die Tageszeitung.
man Medikamente. Hatte er sie selbst ein-
genommen? Wurden sie ihm eingeflößt? In seiner Autobiografie „Zwei Leben
Drehbuchautor und Regisseur Kilian in Deutschland“ hat Rosenthal beschrie-
Riedhof will den Fall aus der Sicht zweier ben, wie er als jüdischer Junge den Zwei-
befreundeter Journalisten erzählen, die ten Weltkrieg überlebte, weil drei Berli-
für die fiktive Zeitung „Hamburger All- nerinnen ihn in einer Laubenkolonie
gemeine“ arbeiten. Waterkantgate eben. versteckten. Nach dem Krieg machte er
Einer der beiden Reporter hängt der Karriere in Radio und Fernsehen. Mit sei-
Selbstmordthese an, der andere glaubt an nem Ratespiel „Dalli Dalli“ war er in den
Mord. Ein Urteil soll der Film nicht fällen. siebziger und achtziger Jahren populärer
Doch Riedhof sagt: „Wir wehren uns da- als heute Jauch und Pilawa zusammen.
gegen, uns auf die naheliegende Deutung Von seiner Show-Idee lebt die ARD,
Suizid zu fixieren und dabei ein mögli- die vom ZDF die Rechte erworben hat,
ches Staatskomplott auszuschließen. Bar- heute ganz gut. Die Neuauflage von „Dal-
schel wusste sehr wahrscheinlich von den li Dalli“ erreicht mit Kai Pflaume ordent-
Geschäften der deutschen Waffenlobby. liche Quoten. Das schreit geradezu nach
Neueren Erkenntnissen zufolge wollte er einem Themenabend im Ersten mit Ro-
vermutlich darüber auspacken.“ senthal-Film plus Pflaume-Quiz.
Ein früherer Barschel-Film, Heinrich Auf die Spitze treibt die Denkmalpfle-
Breloers „Die Staatskanzlei“, neigte eher ge jedoch die Traditionsfirma Ufa. Sie
der These vom Suizid zu. Das Doku-Dra- bereitet einen Film vor, der im Berlin
ma entstand zeitnah zum Todesfall, noch der Zwanziger bis Dreißiger spielt und
vor dem zweiten Untersuchungsaus- über dessen Umsetzung sie mit der ARD
schuss. Riedhof sagt, er werde auch spä- verhandelt.
tere Erkenntnisse berücksichtigen. So Das Werk soll die Lebenslust der Gol-
wurden 2012 dank neuer wissenschaft- denen Zwanziger beschwören, es soll von
licher Methoden auf Barschels Kleidung den schillernden Varietés jener Tage er-
DNA-Spuren einer zweiten Person aus- zählen, vor allem aber von der aufstre-
gewertet, die sich in dem Hotelzimmer benden Kinobranche. Es ist die Zeit von
befunden haben könnte. Stars wie Emil Jannings und Marlene
In den nächsten Wochen wollen Kram- Dietrich und Regie-Giganten wie Fritz
pe und Riedhof nach Genf reisen und das Lang. Der Arbeitstitel des Films lautet
Hotel Beau-Rivage besichtigen, wo sie „Berlin, ein Traum“. Es ist die Geschichte
gern drehen möchten. Das Badezimmer der Ufa. ALEXANDER KÜHN

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 75
Ausland Panorama

LUNAE PARRACHO / REUTERS


Speere gegen Feuerwaffen Munduruku-Indios haben Westen des Bundesstaats Pará. Die Eingeborenen haben wie-
einen jener Goldsucher gestellt, die immer tiefer in die Stam- derholt Anzeige bei der staatlichen Umweltbehörde erstattet
mesgebiete der brasilianischen Amazonasregion eindringen, und sogar bei der Regierung in Brasília protestiert – nichts ge-
um illegal zu schürfen. Seit vielen Jahren setzen die „garimpei- schah. Nun nehmen die Indianer das Recht in die eigene Hand,
ros“ ihre Bagger ein an den Zuläufen des Tapajós-Flusses im obwohl bewaffnete Goldsucher sie mit dem Tod bedrohen.

TÜRKEI
ein Gericht den Zugang sperren. Der verpflichtete Staatssender TRT rund
Online-Dienst wurde immer wieder 90 Prozent seiner Wahlkampf-Bericht-
für Proteste gegen die AKP-Regierung erstattung der Regierungspartei AKP
Premier in Panik genutzt. Auch wurde dort auf Telefon-
mitschnitte verwiesen, die Erdogans
gewidmet habe. Wegen der anhalten-
den Proteste und der Korruptions-
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdo- Verwicklung in einen Korruptionsskan- vorwürfe gegen Erdogan sei die Stim-
gan rühmt sich, das Land in den elf dal belegen sollen. Für den Regie- mung im Land inzwischen so ange-
Jahren seiner Regierung freier und de- rungschef sind die sozialen Medien spannt wie nie, sagt Oya Özarslan von
mokratischer gemacht zu haben. Doch deswegen unerträglich. Kurz vor den der Nichtregierungsorganisation Trans-
mit der Abschaltung des Kurznachrich- Kommunalwahlen am 30. März parency International: „Erdogan hat
tendienstes Twitter am vergangenen scheint Erdogan nun in Panik zu gera- seine Zukunft an den Ausgang der
Donnerstag hat der auto- ten. „Er schlägt um sich Wahlen geknüpft, seine Kritiker be-
ritär regierende Premier wie ein tollwütiger zweifeln jedoch, dass er eine Niederla-
einmal mehr bewiesen, Hund“, so ein User über ge auch akzeptieren wird.“ Um der
wie sehr er die Meinungs- das Twitter-Verbot. Auch Gefahr von Wahlfälschung vorzubeu-
freiheit verachtet. Nur we- die regulären Medien gen, fordern Abgeordnete des Euro-
nige Stunden nach einem werden von Erdogan of- päischen Parlaments nun, EU-Wahlbe-
Wahlkampfauftritt, bei fenbar massiv unter obachter zu entsenden. „Sie können
dem Erdogan vor Tausen- Druck gesetzt. So kriti- ruhig kommen“, kommentierte Erdo-
den Anhängern drohte, sierte die türkische Rund- gan die Idee – wohl wissend, dass sich
Twitter „mit Stumpf und funkaufsicht, dass der eine solche Mission in der verbleiben-
Stiel auszurotten“, ließ eigentlich zur Neutralität den Zeit nicht mehr organisieren lässt.
76 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Panorama Ausland

U R U G UAY

Drogen vom Staat


Montevideos Streitkräfte sollen die Pro-
duktion des Cannabis überwachen, das
in dem südamerikanischen Land bald
unter staatlicher Kontrolle angebaut
und verkauft werden soll. Präsident
José Mujica will so verhindern, dass die
Legalisierung des Rauschgifts zu einem

GETTY IMAGES
Kifferboom wie in Holland führt. Das
Parlament hatte im Dezember ein Ge- Protestierende Krankenhausangestellte in der Provinz Zhejiang
setz zur Freigabe von Marihuana erlas-
sen. Die Regulierung des Anbaus und
Verkaufs „bedeutet keine Anarchie“, CH INA
öffentlich; zuvor war unter seiner Auf-
sagte Ex-Guerillero Mujica, „der Ver- sicht ein betrunkener Patient verstor-
kauf wird nicht freigegeben“. Die Re- ben. Insgesamt haben Angriffe auf
gierung will 10 bis 20 Hektar mit Can-
nabis bepflanzen, um die heimische
Verhasste Helfer Krankenhauspersonal seit 2002 jährlich
um durchschnittlich 23 Prozent zuge-
Nachfrage nach dem Rauschgift zu stil- Während die Zahl der Raubüberfälle nommen. Verantwortlich für die Wut
len. Die Anbauregion solle möglichst und Vergewaltigungen in China seit der Patienten sind die Mängel des über-
abgelegen sein und von Soldaten be- Jahren sinkt, nehmen Angriffe auf Ärz- lasteten, korrupten Gesundheitssys-
wacht werden, gab der Verteidigungs- te und Krankenschwestern dramatisch tems. Viele Ärzte, vor allem auf dem
minister bekannt. Ausländer sollen den zu. Allein im Februar wurden vier Me- Land, verdienen nicht mehr als 580
Stoff nicht kaufen dürfen. Mit der kon- diziner mit Eisenrohren, Messern und Euro pro Monat, sie verlangen daher
trollierten Abgabe von Marihuana will Regenschirmen attackiert, ein Arzt vor der Behandlung manchmal
Uruguay den illegalen Drogenhandel kam ums Leben, ein weiterer und eine Schmiergeld. Während der gerade zu
unprofitabel machen. Die Regierung Krankenschwester erlitten schwere Ver- Ende gegangenen Jahrestagung des Na-
erwägt sogar, die Anbaupflanze zu letzungen. In der Provinz Guangdong tionalen Volkskongresses wurden die
klonen: So lässt sich die Herkunft des führte der Mob einen weinenden Arzt Ärzte zu mehr „Selbstdisziplin“ aufge-
Rauschmittels anhand seines geneti- im Stil von Demütigungsritualen der fordert; gleichzeitig soll die Polizei die
schen Codes zurückverfolgen. Kulturrevolution vor und bedrohte ihn Krankenhäuser besser schützen.

S Ü DA F R I KA
Platz auf seiner Wahlliste zuzuschanzen. Dort ist Dina Pule
in schlechter Gesellschaft. Etliche weitere Parteifunktionäre,
die wegen Diebstahls, Bestechlichkeit oder Veruntreuung ver-
Mandelas korrupte Erben urteilt wurden, stellen sich zur Wiederwahl. Gewissensbisse
brauchen sie nicht zu haben, solange der Präsident selbst vor-
Der regierende Afrikanische Nationalkongress (ANC) muss führt, wie man sich bereichert. Staatschef Jacob Zuma ließ
bei der Parlamentswahl am 7. Mai mit erheblichen Verlusten aus öffentlichen Mitteln eine protzige Residenz in seinem
rechnen. Bis zu elf Prozent weniger Bürger als 2009 könnten Heimatdorf Nkandla finanzieren, mit Amphitheater, Schwimm-
für Nelson Mandelas Partei stimmen, prophezeien Meinungs- bad, Hubschrauberlandeplatz, Hausklinik, Rinderkral sowie
forscher. Sie erklären den absehbaren Einbruch vor allem Häusern für seine vier Frauen und den vielköpfigen Fami-
mit der Korruption im ANC. Zum Beispiel der Fall Dina lienclan. Dieser Griff in die Staatskasse habe die südafrikani-
Pule, 63: Im Vorjahr musste die Ministerin für Telekommuni- schen Steuerzahler 246 Millionen Rand gekostet, gut 16 Mil-
kation sich vor dem Parlament entschuldigen und wurde lionen Euro, stellt Thuli Mandonsela fest. Als nationale Om-
sogar aus dem Kabinett entfernt. Sie hatte ihrem Freund mil- budsfrau ist sie zuständig für die Kontrolle der Verwaltung.
lionenschwere Staatsaufträge verschafft und mit Steuer- In einem vergangene Woche vorgelegten Untersuchungs-
geldern Vergnügungsreisen nach Europa finanziert. Das hin- bericht wirft sie dem Präsidenten vor, sich in „sittenwidriger
derte den ANC nicht daran, Pule jetzt wieder einen sicheren Weise“ bedient zu haben.
GRAEME WILLIAMS / VISUM

MARCO LONGARI / AFP

Zuma Zuma-Residenz in Nkandla

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 77
NEW YORK TIMES/LAIF
Krims neuer Regierungschef Axjonow mit Soldaten in Simferopol: Man solle sich nehmen, was ohnehin zu Russland gehöre

UKRAINE

Von heiligen russischen Orten


Wladimir Putin sieht die Krim als ersten Triumph. Sein strategisches Ziel ist die
Vorherrschaft über die Ukraine. Um ein Vordringen von Nato und EU zu
verhindern, wird er notfalls wohl auch einen Krieg mit dem Brudervolk riskieren.

E
s war im September, auf halbem Spitzenpolitiker in Brüssel und Berlin ler Biker fotografieren. Wie ein Trupp
Weg zwischen Moskau und St. Pe- glaubten da immer noch, die Ukraine mit neuzeitlicher Ritter preschten sie über
tersburg. Präsident Putin hatte Russ- einem Assoziierungsabkommen an die ukrainisches Territorium. Und schon da-
land-Experten aus aller Welt zu einer Europäische Union binden und das mals zeigte der russische Präsident, wen
Konferenz geladen und hielt einen lei- Schlüsselland am Rande Europas aus Mos- er für den wahren Herrn der Ukraine hält:
denschaftlichen Vortrag. „Wir werden kaus Umklammerung lösen zu können. sich selbst.
nicht vergessen, dass die heutige Staat- Putin aber war schon lange entschlossen, Putin weiß bei seinem Kampf um die
lichkeit Russlands in Kiew ihre Wurzeln dies zu verhindern. Krim die Mehrheit seines Volkes hinter
hat. Dort stand die Wiege des zukünfti- Früh hatte er die Halbinsel Krim zu ei- sich. Die kühle, gut vorbereitete und bis
gen, riesigen russischen Staates“, sagte nem symbolischen und martialischen Auf- zum Samstagmorgen beinahe ohne
der Präsident. Russen und Ukrainer hät- tritt genutzt. Ganz in Schwarz gekleidet Schusswechsel vollzogene Annexion der
ten „eine gemeinsame Mentalität, eine und ein schweres Motorrad lenkend, ließ Halbinsel löste in Russland Begeisterung
gemeinsame Geschichte und Kultur. In sich Wladimir Putin im Sommer 2012 an aus. Denn bis weit ins Lager der Putin-
diesem Sinne sind wir ein Volk“. der Spitze einer Gruppe stramm nationa- Gegner hinein herrscht die Überzeugung
78 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Ausland

vor, dass die Krim mit ihren „Heldenstäd- beeindruckt das in Moskau nur wenige. und die drei baltischen Staaten, 2009 Al-
ten“ Sewastopol und Kertsch und dem Neben Milliarden-Deals für beide Seiten banien und Kroatien. Als die Nato im ju-
Kriegshafen der Schwarzmeerflotte rus- habe die einzige Zuwendung doch darin goslawischen Bürgerkrieg 1999 Belgrad
sische Erde sei. „Heilige russische Orte“, bestanden, heißt es in Putins Umfeld, bombardieren ließ, schäumte Russland
wie Putin bei seiner Rede Anfang vergan- dass die Nato immer weiter an Russlands vor Wut. Serbien war seit Jahrhunderten
gener Woche sagte, für die Moskaus Sol- Grenzen herangerückt sei. Als Dank da- ein Verbündeter des Kreml. Den Vorstoß
daten in unzähligen Schlachten ihr Leben für, dass Gorbatschow dem Freiheitswil- von George W. Bush, beim Nato-Gipfel
gelassen haben. Selbst Friedensnobel- len osteuropäischer Völker nicht mit Waf- in Bukarest im April 2008 Georgien und
preisträger Michail Gorbatschow forderte fengewalt begegnete und den Kalten die Ukraine in die Nato aufnehmen zu
den Westen auf, das Votum der Krim-Be- Krieg beendete, habe der Westen ver- wollen, empfanden die Russen als Provo-
wohner zu akzeptieren: „Die Menschen sucht, noch bis auf den Roten Platz vor- kation und Demütigung.
wollen es, und das bedeutet, dass man ih- zudringen. Aus diesem Gefühl erlöst Putin nun sei-
nen entgegenkommen muss.“ Die Sicht aus den Kreml-Fenstern ist ne Nation. „Wird eine Feder zu lange zu-
Schon nach den Winterspielen in So- vor allem eine geopolitische: Zu Sowjet- sammengepresst, schnellt sie irgendwann
tschi waren Putins Umfragewerte selbst zeiten lagen zwischen der russischen zurück“, erklärte der Präsident am ver-
bei kremlkritischen Meinungsforschungs- gangenen Dienstag in seiner
instituten auf 67 Prozent geklettert. Nun Rede im güldenen Georgssaal des
nähern sie sich dem erstaunlichen Wert „Wir werden nicht vergessen, dass Kreml. Den Kampf um die Ukrai-
von 80 Prozent an. Was aber heißt das? die heutige Staatlichkeit Russlands ne führt Putin mit einem ent-
Ist die „Wiedervereinigung“ mit der Krim in Kiew ihre Wurzeln hat.“ scheidenden Vorteil. Nur er be-
nur die letzte Zuckung der ehemaligen stimmt, was weiter geschieht. Pu-
Sowjet-Supermacht, deren Nachfolge- tin agiert, der Westen reagiert.
staat Russland fürchtet, zu einer weniger Präsident Putin Und Russlands Präsident stehen
bedeutenden Mittelmacht hinabzusin- dabei viele Optionen offen.
ken? Oder ist es der Beginn einer Welle Die erste: Putin könnte es bei
von Rückeroberungen durch eine Nation, der Eroberung der Krim belassen
die sich seit Jahrhunderten als Hege- und darauf eingehen, was auch
monialmacht in Osteuropa sieht? Ist Pu- viele im Westen zumindest heim-
tin ein Neoimperialist oder ein mit dem lich als Ausweg aus der Krise se-
Rücken zur Wand stehender Staatsführer, hen. In dem Fall würde der Wes-
der lediglich Sicherheitsinteressen wah- ten die Landnahme tolerieren
ren will? und Putin darauf verzichten, sich
Seit der vergangenen Woche jedenfalls auch der östlichen Teile der
ist die Welt eine andere: Die Ukraine-Kri- Ukraine zu bemächtigen. Vor sei-
se markiert den vorläufigen Höhepunkt nem Volk stünde er auch dann
der jahrelangen Entfremdung zwischen noch in der Tradition der Zaren
Russland und dem Westen. Das größte als „Sammler russischer Erde“ da.
Land der Erde wird sich nun wohl noch Es gibt aber auch noch eine an-
mehr gen China und Indien orientieren. dere Option: Putin könnte die
Auf den europäischen Kontinent aber tief gespaltene Ukraine über pro-
kehrte das Gespenst eines großen Krieges russische Gruppen, wirtschaftli-
zurück, wie der Präsident des Europäi- chen Druck und mit Hilfe seiner
schen Parlaments Martin Schulz (SPD) Geheimdienste so lange destabi-
feststellte. lisieren, bis das 45-Millionen-Ein-
„Seit Putins Brandrede vor der Münch- wohner-Land endgültig in Chaos
ner Sicherheitskonferenz 2007 hätte jeder und Bürgerkrieg abgleitet. Für
wissen können, dass Russland westliche dieses Szenario sind schwache
SASHA MORDOVETS / GETTY IMAGES

Spielchen in seiner Einflusszone nicht län- und chaotische Minister und Par-
ger hinnehmen wird“, sagt Fjodor Lukja- lamentarier in Kiew zurzeit seine
now, Vorsitzender des Moskauer Rates besten Partner. Getrieben vom
für Außen- und Verteidigungspolitik. radikal-nationalen Flügel der
„Der Westen aber hat Putin nie ernst ge- Maidan-Demonstranten, vertieft
nommen und nie eine Strategie entwi- sich so die Spaltung des Landes.
ckelt, mit Russlands legitimen Interessen Erst unter dem Druck der ent-
umzugehen.“ setzten Partner in Berlin und
Hochmütig habe er jede Initiative aus Hauptstadt und dem westlichen Verteidi- Brüssel verweigerte der Übergangspräsi-
Moskau, über eine neue europäische Si- gungsbündnis 1800 Kilometer. Würde die dent die Unterschrift unter das umstritte-
cherheitsordnung zu reden, als Versuch Ukraine Nato-Mitglied, wie es Amerika ne Sprachengesetz. Besonders im Osten
abgetan, einen Keil zwischen Amerika seit langem anstrebt, würde diese Entfer- der Ukraine sorgten die geplanten Maß-
und Europa zu treiben. Putins Statthalter, nung auf weniger als 500 Kilometer re- nahmen für Empörung.
der ehemalige Präsident Dmitrij Medwe- duziert. Moskauer Militärs fürchten, end- Ein Viertel der ukrainischen Exporte
dew, hatte 2009 den Entwurf für einen gültig die strategische Tiefe zu verlieren, geht nach Russland. 2,9 Millionen ukrai-
europäischen Sicherheitsvertrag vorge- der sie ihre Siege über Napoleon und Hit- nische Gastarbeiter überwiesen im ver-
legt, der Grenzen und Gewaltverzicht ler verdankt. gangenen Jahr etwa drei Milliarden Dol-
festschreibt. „Es rächt sich nun, dass wir Dahinter verbirgt sich ein tiefsitzendes lar aus Russland in ihre Heimat, das sind
uns damals nicht an einen Tisch gesetzt Trauma: Acht Jahre nach dem Zerfall der ungefähr zehn Prozent des ukrainischen
haben“, sagt Lukjanow heute. Sowjetunion traten Polen, Tschechien und Staatshaushalts. Bei einem russischen
Wenn die USA und die EU nun damit Ungarn der Nato bei. 2004 folgten Bulga- Boykott würde aus der Übergangsregie-
drohen, sich von Russland abzuwenden, rien, Rumänien, die Slowakei, Slowenien rung in Kiew schnell eine Untergangsre-
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 79
gierung, falls Brüssel, die liegt bei knapp drei Prozent
USA und der Internationale und 76,5 Milliarden Euro,
Währungsfonds nicht mit ein Drittel der Öl- und Gas-
Rettungspaketen in zwei- importe der EU kommt aus
stelliger Milliardenhöhe ein- Russland. Wenn EU-Politi-
springen. ker in der Vergangenheit
Putin könnte deshalb auf darauf beharrten, dass Mos-
Zeit spielen und darauf hof- kau kein Mitspracherecht
fen, dass die marode Ukrai- über die Zukunft der Ukrai-
ne ihm früher oder später ne haben dürfe, klang das
wie eine reife Frucht in den gut. Es war aber unrealis-
Schoß fällt, am besten noch tisch.
aufgepäppelt mit Geldern Von der deutschen Kanz-
aus dem Westen. Keines- lerin, die er für ihren Macht-
falls aber will Putin das instinkt bewundert, fühlt

HONORÉ DAUMIER
Land, das die Mehrheit der sich Putin in den Diskussio-
Russen als Wiege ihrer Zi- nen um die Ukraine hinters
vilisation betrachtet, dem Licht geführt, ebenso von
Westen überlassen. Einige den Amerikanern. „Das
aus Putins Umfeld glauben, Karikatur aus dem Jahr 1854: „Hass gegen uns füllt Eure Brust!“ wahre Ziel des Westens ist
der russische Präsident sei doch, den unbequemen Pu-
dafür notfalls auch bereit, einen Krieg zu cherheitsgürtel von Charkiw bis Odessa tin zu stürzen“, sagt einer von Putins treu-
riskieren. schaffen, ohne diese Gebiete in die Rus- esten Gefolgsleuten, der Moskauer Poli-
Scharfmacher im Umfeld des Präsiden- sische Föderation aufzunehmen“, rät der tologe Sergej Markow. Deshalb seien
ten drängen Putin deshalb dazu, nicht bei Politologe Alexander Nagorny. Eine auch die ersten Sanktionen gegen die mil-
der Krim stehenzubleiben. Man solle sich Volksabstimmung könnte die Ukraine in liardenschweren Freunde des Präsidenten
nehmen, was ohnehin zu Russland gehö- einen föderalen Bundesstaat nach dem gerichtet. Der Westen setze darauf, dass
re. Nie sei die Gelegenheit so günstig wie Vorbild Deutschlands umwandeln. Mos- sich Russlands Finanzelite gegen Putin
jetzt, flüstern sie ihm ein. Putins Ruf in kau hätte Einfluss in Kiew, eine Nato-Mit- wende.
den westlichen Eliten sei nun ohnehin gliedschaft wäre vermieden, und auch ein Zumindest kurz- und mittelfristig wer-
ruiniert. Und im Übrigen werde die Nato blutiger Bruderkrieg mit der Ukraine. den Sanktionen Putin eher stärken. Mit
wegen der Ukraine keinen Nuklearkrieg Der Westen setzt nun darauf, Putin Hilfe seiner Propagandamaschine wird er
riskieren. Der Kreml weiß, dass beispiels- durch immer schärfere Sanktionen zum die sich abzeichnende wirtschaftliche Sta-
weise in Deutschland die Bereitschaft, für Einlenken zu bringen. Washington ist da- gnation als Machwerk des bösen Westens
Donezk, die russischsprachige Industrie- bei in einer bequemeren Position, weil darstellen. Und würde damit die antiwest-
metropole im Osten der Ukraine, Opfer der Handel mit Russland nicht einmal ein liche, konservative Mehrheit im Land
zu bringen, eher gering ausgeprägt ist. Prozent des Außenhandels beträgt und konsolidieren. Selbst in Moskau, wo Pu-
„Russland sollte die prorussischen Ge- die USA nicht auf russische Öl- und Gas- tin laut Umfragen, die nie veröffentlicht
biete im Süden und Osten der Ukraine importe angewiesen sind. Der Außenhan- wurden, noch vor einem Jahr keine Mehr-
unterstützen und einen einheitlichen Si- del Deutschlands mit Russland hingegen heit mehr hatte, werden Sanktionen bis

Russische Perspektive Russland und seine ehemaligen westlichen Territorien und Verbündeten
ehemalige Sowjetgebiete, seit 1991 unabhängig Anteil der russischen
Bevölkerung**, in Prozent
bis 1991 Warschauer-Pakt-Staaten* RUMÄNIEN UNGARN KROATIEN
von Georgien bzw. Moldau
Staaten des ehemaligen kommunistischen abgespaltene Gebiete
blockfreien Jugoslawien TSCHECHIEN
BULGARIEN SLOWAKEI
Nato-Mitglied ALBANIEN

Nato-Mitglied nach 1999


SLOWENIEN
e e r
t e l m
M i t

TÜRKEI

ITALIEN
M e e r 9
z e s 55
w a r Krim
S c h MOLDAU
Transnistrien
ARMENIEN GEORGIEN
Abchasien UKRAINE
17 Kiew
Südossetien POLEN
WEISS-
8 RUSSLAND ehem.
5 DDR
LITAUEN
26
LETTLAND
RUSSLAND SCHWEDEN
KASACHSTAN 22 25 ESTLAND
Moskau
Ausland

ins Lager seiner Gegner hinein als neue


Demütigung aus dem Westen wahrge-
nommen.
„Erst treiben sich der deutsche und der
polnische Außenminister auf dem Maidan
herum. Jetzt wollen sie Russland dafür
Putins Mann auf der Krim
bestrafen, dass wir uns nicht mehr alles
Geheime Unterlagen zeigen, wie der neue Regierungschef der Krim
gefallen lassen“, sagt eine hochrangige zu Vermögen kam. Und was ihn mit der Mafia verbindet.
Bankmanagerin, die noch nie in ihrem

L
Leben Putin gewählt hat. Sie will, dass üster hängen von der Decke des Sergej Axjonow verfügt dem Do-
„Putin nun hart antwortet, damit der Wes- Georgssaals im Großen Kreml- kument zufolge offenbar über eine
ten versteht, dass man so mit uns nicht Palast, Russlands Ehrenhalle. Eigenschaft, die für höhere Aufga-
umspringen kann“. Goldene Sterne erinnern an den ben prädestiniert: Er ist schwer tot-
Wir dulden lange und schlagen dann Glanz vergangener Zeiten, dazwi- zukriegen. Im Januar 1996 geriet sein
umso härter zurück, so ein russisches schen eine Inschrift, die Helden des Volvo in einen Kugelhagel, ein An-
Sprichwort. Auf Druck reagieren die Rus- alten und des neuen Russland preist: schlag des sogenannten Griechen-
sen mit Gegendruck, und Kritik von au- „Für Dienst und Tapferkeit“. Im Ge- Syndikats. Axjonow überlebte mit
ßen ruft traditionell erst einmal Trotz her- orgssaal wurden 1945 die Sieger der Schussverletzungen. Der Hinterhalt
vor. 1830 hatte Frankreich wütend gegen Schlacht um Berlin geehrt und 1961 war offenbar eine Racheaktion: Ax-
die blutige Niederschlagung eines Auf- Jurij Gagarin, der erste Mensch im jonow hatte die „Griechen“ verlassen
stands gegen den Zaren auf dem Gebiet Weltraum. Es ist ein Saal für histori- und sich einer rivalisierenden Bande
der heutigen Westukraine und des Balti- sche Momente. angeschlossen.
kums protestiert und sogar mit militäri- Am vergangenen Dienstag stand im Axjonow galt damals als Mann fürs
schem Eingreifen gedroht. Georgssaal ein Mann im Rampenlicht, Grobe. Er sei ein „Brigadier“ gewe-
In seinem Gedicht „Den Verleumdern der bislang vor allem dadurch auffiel, sen, der Schutzgeld eingetrieben habe,
Russlands“ schrieb damals Alexander ohne Skrupel sein Privatvermögen zu erinnert sich Ilmi Umerow, Verwal-
Puschkin, der berühmteste Dichter des vergrößern. Sergej Axjonow, von pro- tungschef der Krim-Stadt Bachtschis-
Landes: „Hass gegen uns füllt Eure Brust! russischen Kräften zum Krim-Premier sarai. Später setzte die Mafia Axjo-
Was flucht und drohet Ihr dem heil’gen ausgerufen und in Mafia-Kreisen be- now als Direktor von Firmen ein, die
Russenland? Schweigt! Diese Frage löst kannt unter dem Decknamen Goblin, sie kontrollierte. Der Krim-Premier
nicht Euer Unverstand; Es ist ein alter nahm auf einem der Kreml-Sessel in bestreitet heute jeden Kontakt zum
Streit im slawischen Geschlechte und kei- der ersten Reihe Platz, gleich neben organisierten Verbrechen.
nes Fremden Blick entscheidet hier das Russlands Regierungschef. Andere Ereignisse in dem Geheim-
Rechte.“ Wladimir Putin beklagte da gerade dossier aber weisen auf merkwürdige
Die russischen Reaktionen auf die an- die Korruption in der Ukraine, Politi- Freunde hin. 2001 entschärften Poli-
gekündigten Sanktionen fielen entspre- ker, die nur das eigene Wohl im Sinn zisten einen Sprengsatz auf dem Dach
chend trotzig aus: Putin kündigte an, er hätten. Dann reichte er Axjonow, der von Axjonows Haus, platziert worden
wolle bei der von den USA gesperrten die vergangenen zwei Jahrzehnte da- war er offenbar von der Konkurrenz
Bank Rossija ein Konto eröffnen. Kreml- mit verbracht hat, ein Firmenimperium aus dem kriminellen Milieu. 2006
Berater bezeichneten ihre Nennung auf am Schwarzen Meer zusammenzu- dann setzten Axjonows Widersacher
der Sanktionsliste als Auszeichnung. Und raffen, die Hand. einen Auftragskiller auf ihn an, einen
353 der 450 Duma-Abgeordneten baten Über den Werdegang von Moskaus Mitarbeiter des ukrainischen Inlands-
in einer Erklärung darum, ebenfalls auf Statthalter auf der Krim weiß wohl geheimdienstes SBU. Er ging einem
eine solche Liste gesetzt zu werden. Es niemand mehr als der Kreml. Und als Fahnder ins Netz, der mit Axjonow
hat sich nicht viel geändert seit den Tagen Axjonow am 1. März im russischen gemeinsame Sache machte.
Puschkins. MATTHIAS SCHEPP Staatsfernsehen ein Hilfegesuch an Die Axjonow-Akte gibt auch Ein-
den Kreml holprig vom Blatt ablas, da blicke in das weitgefächerte Unterneh-
Video-Analyse: Zwischen waren Russlands Geheimdienste ver- mensimperium des neuen Herrn der
Europa und Russland mutlich nicht unbeteiligt. Den Hilferuf Krim. Neun Seiten füllen die Namen,
spiegel.de/app132014ukraine hatte Axjonow offenkundig nicht Adressen und Handelsregisternum-
oder in der App DER SPIEGEL selbst geschrieben. Er ist eine ideale mern seiner diversen Firmen. Einige
Marionette, seine Vergangenheit sind auf seine Frau gemeldet, andere
macht ihn erpressbar. auf die Schwiegermutter. Viele der
Über die Machenschaften des neu- Anschriften sind Briefkastenadressen,
en Regierungschefs der Krim liegt die Unternehmen residieren in Wahr-
dem SPIEGEL ein 24 Seiten langes heit an einem anderen Ort. Ein be-
Dossier vor. Das Dokument ist in rus- liebter Trick, um die Steuerbehörden
sischer Sprache verfasst. Die Quelle zu verwirren.
ist glaubwürdig. Das Papier liefert Zum Firmengeflecht gehören laut
akribische Details aus dem Leben des Geheimunterlagen mehrere Immo-
Sergej Axjonow: Mal geht es um ei- bilienfirmen, eine Glasfabrik, ein
SPANIEN nen Waffenkauf bei einem tatarischen Bauunternehmen, eine Zeitung und
FRANKREICH
Händler („Straße der Bauarbeiter Nr. ein Internetportal in Simferopol.
DEUTSCH- 9, in der Stadt Simferopol“), mal um Und eine Bar, die ein gewisses Maß
LAND die Hausangestellte in Axjonows kon- an Selbstironie offenbart: Sie trägt
spirativer Wohnung („hat strikte An- den Namen der Gefängnisinsel Alca-
GROSS- weisung, die Tür nicht zu öffnen“). traz. BENJAMIN BIDDER
N o r d s e e BRITANNIEN

* Albanien nur bis 1968, DDR nur bis 1990


** nur Länder mit mehr als 5% russischer Bevölkerung D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 81
Ausland

dem Rubrum „Friedensprozess“ zugeord-


net werden könnte. Seit US-Außenminis-
ISRAEL ter John Kerry Israelis und Palästinenser
überredete, wieder miteinander zu ver-

Stark und allein handeln, hat sich Bennett mit allen ange-
legt, die diese Gespräche gutheißen.
Mit Regierungschef Netanjahu, dem er
Schwäche vorwirft, aber auch mit einem
Naftali Bennett, Chef der Siedlerpartei Jüdisches Heim, lehnt Ver- seiner früher engsten Verbündeten, Au-
handlungen mit den Palästinensern ab und will die Regierung ßenminister Avigdor Liberman, der, in
einem unvorhersehbaren Anfall von Kon-
notfalls platzen lassen. Diese Woche soll die Entscheidung fallen. zilianz, Kerrys Einsatz ausdrücklich lobte.
Auch die Allianz mit dem Shootingstar

D
er Mann, der in diesen Tagen sei- nett sei derzeit, schreibt die Zeitung der israelischen Politik, Finanzminister
ne Kräfte mit Premierminister „Haaretz“, der Politiker, der die Geschicke Jair Lapid, den Bennett seinen „Bruder“
Benjamin Netanjahu messen will, Israels stärker bestimme als jeder andere. nannte, ist über unterschiedliche Ansich-
Israels populärem „König Bibi“, arbeitet Der Ex-Unternehmer ist Chef der na- ten zum Friedensprozess zerbrochen.
in einem überraschend nichtssagenden, tionalreligiösen Siedlerpartei Jüdisches Dabei ist nicht einmal zu erkennen,
schlauchförmigen Büro, in dem ständig Heim und einer der lautstärksten Gegner warum dieser Prozess die israelische
drei Telefone gleichzeitig klingeln. Das jeder noch so zaghaften Entwicklung, die Politik derart polarisieren kann – wenn
einzig Auffällige ist ein Bild an der Wand.
Es zeigt, hinter Glas, die gestickte Figur
einer Frau mit Kittelschürze.
Wirtschaftsminister Naftali Bennett, 42,
lässt erkennen, dass er das ganze Alltags-
chaos seines Politikerlebens gar nicht
nötig hätte, dass er zu Hause in seiner
Villa im schicken Küstenstädtchen Raa-
nana seinen Erfolg als Unternehmer ge-
nießen könnte, wäre da nicht diese in
himmelblauem Garn gestochene Silhou-
ette seiner Großtante Zila. Die Cousine
seiner Mutter war Russin; sie wurde, wie
ein Großteil von Bennetts Familie, wegen
ihrer jüdischen Herkunft von Stalins
Schergen umgebracht. Ihr gesticktes Bild-
nis über seinem Schreibtisch ist Bennett
tägliche Mahnung und Ansporn. Seine

MIRIAM ALSTER / FLASH90


Kinder sollen ihr Schicksal nicht teilen.
Großtante Zila ist deshalb eben auch
mitverantwortlich dafür, dass Bennett,
nach eigenem Verständnis ein „Business-
mensch“ durch und durch, nun Politiker
ist. Glänzende Geschäfte als Software- Wirtschaftsminister Bennett: „Man kann doch nicht sein eigenes Land besetzen“
Unternehmer in Israel und den USA
reichten ihm nicht mehr, ein Militärein-
satz im Libanon-Krieg 2006 veränderte
sein Leben. Er war damals gerade Vater
geworden und habe sich gefragt: „Was
wollen diese Hisbollah-Typen eigentlich?“
Dort, im Libanon, habe er erfahren müs-
sen, dass „alle nach wie vor nur ein Ziel
haben – uns zu töten“.
Seither widmet sich Bennett vor allem
einer Aufgabe. Und wenn er die be-
schreibt, klingt das gar nicht überspannt
oder pathetisch. Seine Stimme verrät
vielmehr eisernen Durchsetzungswillen.
„Meine Aufgabe ist es, das Judentum am
Leben zu halten, es stärker zu machen
und seine Feinde zu bekämpfen“, sagt
der Wirtschaftsminister, er widme sein
NASSER ISHTAYEH / AP / DPA

„Leben dem Überleben Israels“.


Und für diese Mission riskiert er nun
einen handfesten Koalitionskrach. Ben-

* Palästinensische Dorfbewohner hielten am 7. Januar


mehrere jüdische Siedler einige Stunden fest, nachdem
diese ihr Dorf angegriffen hatten. Verletzte jüdische Siedler in palästinensischem Gewahrsam*: Ungebrochener Bau-Boom

82 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
sich in Wahrheit kaum etwas bewegt. Die Der Politiker Bennett hat es als Erster
von Kerry moderierten Gespräche sind geschafft, die nationalreligiöse Ideologie
bereits der zehnte Versuch, ein friedliches in den Kernministerien der Regierung zu
Nebeneinander auszuhandeln. Und seit verankern. Seine Ansichten haben brei-
Dezember kann man nicht einmal mehr ten Rückhalt in einem Kabinett, in dem
von direkten Gesprächen reden. Beide nahezu die Hälfte der Minister jenseits
Seiten verhandeln nur noch mit Kerry der Grünen Linie, also auf palästinensi-
oder seinem Chefvermittler Martin Indyk. schem Gebiet, lebt.
Und in dieser Woche entscheidet sich, „Ich weiß, dass meine Meinung im Aus-
ob auch diese Rumpfgesprächsrunde ein- land nicht sehr beliebt ist, ich kann ja le-
gestellt werden muss. Sollte Israel nicht sen“, sagt Bennett, aber er wolle sich nun
bis zum Samstag eine letzte Gruppe von mal nicht verbiegen, schließlich sei er für
palästinensischen Gefangenen freigeben, seine Haltung gewählt worden.
wollen sich die Palästinenser zurückzie- Naftali Bennetts Vorteil ist, dass er
hen. Die Entlassung von 104, noch vor nicht wie ein ideologisch verblendeter
dem Oslo-Abkommen 1993 inhaftierten Freak auftritt, der am liebsten den Tem-
Palästinensern war die Bedingung für pelberg samt Felsendom und al-Aksa-
eine Wiederaufnahme der Verhandlun- Moschee in die Luft jagen möchte. Er
gen. Unter dem Druck der USA hatte Pre- ist im Gespräch durchaus witzig, unter-
mier Netanjahu zugestimmt. haltsam, schnell.
Doch Bennett besteht darauf, die rest- Und er weiß, dass die Zeit für ihn ar-
lichen Inhaftierten nicht freizugeben. beitet. Das Jerusalemer Zentralbüro für
„Mörder und Terroristen laufen zu lassen, Statistik hat errechnet, dass 2013 ein Re-
das wird sich nicht mehr wiederholen“, kordjahr für die Siedlungsbewegung war;
sagt er in seinem Büro. Er droht, die Re- es gab mehr als doppelt so viele Grund-
gierung zu Fall zu bringen. steinlegungen für jüdische Bauten auf
Der Minister beklagt, wie unfair die palästinensischem Boden wie 2012.
Welt mit Israel umgehe. Wenn die Staa- Dafür ist natürlich auch die Nummer
tengemeinschaft den Druck auf sein Land zwei in Bennetts Partei verantwortlich,
erhöhe, wegen der jüdischen Siedlungen der Siedlerführer Uri Ariel, im Haupt-
im Westjordanland, wegen der gefange- beruf praktischerweise Minister für Woh-
nen Palästinenser, wegen des noch aus- nungsbau. Als Privatmann organisiert
zuhandelnden Rückzugs israelischer Sol- Ariel Massengebete an der Klagemauer
daten aus dem künftigen Palästinenser- gegen alle Friedensverhandlungen. Auf
staat, dann nehme sie, davon ist Bennett Initiative des Jüdischen Heims nahm die
fest überzeugt, die falsche Seite ins Visier. Knesset vor kurzem eine Regelung ins
Bennett macht erst gar nicht den Ver- Grundgesetz auf, nach der jede Einigung
such, seine unbeugsame Haltung hinter mit den Palästinensern in einem Volks-
diplomatischen Ausdrucksformen zu ver- entscheid gebilligt werden muss.
bergen. Niemals dürfe das „jüdische Herz- Sein größter Verbündeter sei das jüdi-
land, Judäa und Samaria“, Bennett nennt sche Volk, sagt Bennett, und die Umfra-
das palästinensische Westjordanland bei gen geben ihm recht. Drei Viertel der be-
seinem biblischen Namen, „den Feinden, fragten Israelis sind wie er der Meinung,
den Arabern, überlassen“ werden. Seit dass die Palästinenser „kein Partner für
mehr als 3000 Jahren gehöre dieses Land Frieden“ seien; 86 Prozent lehnen die
den Juden, wer von Israel als Besatzungs- Freilassung weiterer Gefangener ab.
macht spreche, habe die Geschichte nicht Zwar sprechen sich nach wie vor etwa
begriffen. „Man kann doch sein eigenes zwei Drittel der Israelis für eine Zwei-
Land nicht besetzen“, sagt Bennett mit Staaten-Lösung aus, aber fast genauso
hörbarer Verachtung für all jene, die das viele sind gegen einen Rückzug aus dem
anders sehen. Westjordanland.
Der Parteichef und seine Anhänger Die derzeit so unnachgiebige Haltung
wollen keine Einigung mit den Palästi- Israels rechnet sich Bennett auch als sein
nensern, grundsätzlich nicht. Jeder Kom- Verdienst an. Er sei zwar nicht der allei-
promiss mit ihnen wäre „Selbstmord“, nige Zeremonienmeister, aber er bestim-
sagt Bennett. Er kennt nur ein Allheil- me zumindest Teile der Show. Netanjahu
mittel: „Wir müssen stark bleiben.“ könne nicht so einfach Kerrys Erfüllungs-
Das Jüdische Heim ist die drittstärkste gehilfe werden, denn „ich sitze mit am
Kraft im Land, und wann immer Premier- Steuer“.
minister Netanjahu die Vorstellung eines Mit ihm werde es niemals ein palästi-
künftig friedlicheren Nebeneinanders nensisches Westjordanland unter interna-
zweier souveräner Staaten konkreter be- tionaler Kontrolle geben, beharrt Bennett.
schreibt, als es Bennett und seinen An- Nicht durch Nato-Einheiten und schon
hängern recht ist, bekommt er einen Rüf- gar nicht durch Uno-Kontingente. Israel
fel von seinem ehemaligen Bürochef. müsse allein für seine Sicherheit sorgen,
Denn die Anhänger Bennetts sind mitt- das ist für ihn die Lehre der Geschichte:
lerweile zahlreich, und entschiedene Geg- „Wann immer wir uns auf andere verlas-
ner des Friedensprozesses finden sich sen haben, hatten wir Pech.“
auch in Netanjahus Likud-Partei. JULIA AMALIA HEYER

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 83
Ausland

NSA

Imperiale Visionen
Das Internet ist zum Schlachtfeld zwischen den USA und China geworden.
Geheimdienste und Militär bekämpfen sich, das Ziel ist die Vorherrschaft
im Netz. Die NSA attackiert die Staatsführung in Peking und Konzerne wie Huawei.

D
er dritte Sekretär der chinesischen größte Bedrohung für Amerikas globale wirtschaftlich zum Westen aufgeschlossen
Botschaft in Canberra hatte wahr- Vormachtstellung gelten. hätten, müsse Amerika „einen Weg fin-
scheinlich einfach Pech, als seine Diese Rolle der ultimativen Gegen- den, sie zurückzudrängen und selbst die
Mail-Adresse im Netz mehrerer west- macht, die jahrzehntelang der Sowjet- Ellbogen auszufahren“.
licher Geheimdienste hängenblieb. Für union vorbehalten war, ist inzwischen Chi- Und so wird im Cyberspace ein neuer
die britischen Spione des GCHQ wurde na zugefallen. In der auch in Fernost be- Kalter Krieg der beiden mächtigsten Na-
der Zugang zum Postfach des Diplomaten liebten US-Polit-Serie „House of Cards“ tionen der Welt ausgetragen, bei dem es
zum Einfallstor einer Geheimoperation, wird Peking prominent als Washingtons um Hegemonie und den geopolitischen
die tief in die chinesischen Regierungs- Nemesis gezeichnet. Die Volksrepublik Einfluss von morgen geht.
organisationen führen sollte. hat ihren Wirkungskreis in den vergange- Die Motive sind im Fall Amerikas eher
Über den Mail-Account des Chinesen, nen 20 Jahren zu weit ausgedehnt, um machtpolitisch, im Fall Chinas auch öko-
der in der Wirtschaftsabteilung der Bot- sich mit der unipolaren, von den USA do- nomisch, aber beide Staaten eint ein Ge-
schaft arbeitete, starteten die Briten einen minierten Weltordnung abzufinden, die danke: Sie streben die Vorherrschaft über
Angriff auf das Computer- das Internet an, das die Regie-
netzwerk des Handelsministe- rungen in Washington und Pe-
riums der Volksrepublik. Ge- king als die entscheidende
meinsam mit der NSA gelang Veränderung des 21. Jahrhun-
es so, einen genauen Über- derts ansehen. Die Armeefüh-
blick über Geschäftskontakte rungen und Geheimdienst-
und das Computernetzwerk chefs in Washington und Pe-
des Ministeriums zu erhalten. king haben das Netz als das
Das Loch habe einen „full Schlachtfeld künftiger Kämp-
take“, einen kompletten Mit- fe ausgemacht.
schnitt der Kommunikation „Eine Informationsrevolu-
chinesischer Ministerialer, er- tion fegt durch die Welt, die
möglicht, schwärmen die so radikale Veränderungen
Agenten in ihrem Bericht erzwingt wie einst die Ent-
über eine Besprechung der wicklung der Atombombe“,
Nachrichtendienste Austra- schrieb der damalige NSA-
liens, Großbritanniens, Ka- Chef General Kenneth Mini-
nadas, Neuseelands und der han bereits im Juni 1996 in ei-
USA zum Thema China. Dem- ner geheimen Mitteilung an
nach stand das chinesische seine Mitarbeiter. „So wie die
Handelsministerium mindes- CHINESISCHE HACKER attackierten in mehreren Angriffswellen das Kontrolle der industriellen
tens seit 2009 auf der Zielliste Pentagon und amerikanische Rüstungsunternehmen und erbeuteten Technologie einst der Schlüs-
der westlichen Dienste. unter anderem Informationen über Kampfflugzeuge der USA. sel zu militärischer und öko-
Dieser Zugang ermöglichte nomischer Macht während
laut dem Geheimbericht, der der vergangenen zwei Jahr-
aus dem Archiv des ehemaligen NSA-Mit- nach dem Zusammenbruch des Sozialis- hunderte war, wird die Kontrolle der In-
arbeiters Edward Snowden stammt, auch mus entstand. Pekings erklärtes Ziel ist formationstechnologie der Schlüssel zur
Einblicke in andere Regierungsorganisa- es, zumindest die US-amerikanische Vor- Macht im 21. Jahrhundert.“ Sämtliche Be-
tionen – darunter das Außenministerium, herrschaft im Pazifik zu brechen. mühungen müssten „einem einzigen Ziel“
die Nachrichtenagentur Xinhua, die Ex- China, soll der langjährige Verteidi- dienen: „der informationellen Vorherr-
port-Import-Bank, der Zoll und die Tou- gungsminister Robert Gates intern ge- schaft für Amerika“.
rismusverwaltung. klagt haben, sei „die Sowjetunion unserer Die NSA, zu der auch das Cyberkom-
Die Operationen gegen die chinesi- Tage“. Jahrelang hätten es sich die Ver- mando der Streitkräfte gehört, ist die
schen Regierungsbehörden, die in einem einigten Staaten erlauben können, chine- Speerspitze dieser imperialen Vision –
neuen SPIEGEL-Buch beschrieben wer- sisches Foulspiel zu ignorieren, sagte US- doch die Direktiven der chinesischen
den, sind Teil einer Angriffswelle, mit der Präsident Barack Obama nach seinem Führung klingen kaum anders. Sie sind
die NSA im Auftrag des Weißen Hauses Amtsantritt. Aber seitdem die Chinesen in den Jahresplänen der Kommunisti-
systematisch Ziele in der Volksrepublik schen Partei niedergeschrieben und wei-
attackiert*. Washington betreibt eine di- *EdwardMarcel Rosenbach, Holger Stark: „Der NSA-Komplex:
Snowden und der Weg in die totale Über-
chen weder im Tonfall noch in der Ziel-
gitale Offensive gegen den rasant wach- wachung“. DVA/SPIEGEL-Buchverlag, München; 384 vorgabe von den Maximen aus Washing-
senden Einfluss der Chinesen, die als die Seiten; 19,99 Euro. ton ab.
84 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
„Im Informationszeitalter ist der Ein-
fluss einer Atombombe womöglich weni-
ger gewichtig als der Einfluss eines Ha-
ckers“, schrieben die beiden chinesischen
Luftwaffen-Obristen Qiao Liang und
Wang Xiangsui 1999, nur kurz nach NSA-
Chef Minihan. Ausführlich setzen sich die
beiden Soldaten mit Amerikas militäri-
schen Fähigkeiten auseinander – und
kommen zu dem Schluss, dass die USA
nur im Cyberspace verletzlich seien.
Das Kräftemessen wird mit Bits und
Bytes statt mit Raketen und Panzern aus-
gefochten, beide Staaten bedienen sich
Schad-Software statt menschlicher Spio-
ne. Nicht einmal die Falken in Chinas Ge-
neralstab denken daran, die USA offen
militärisch herauszufordern; Amerikas
Überlegenheit ist in allen Waffengattun-
gen erdrückend. Aber in den Weiten des
Internets, in denen digitale Provokatio-
nen fast nie juristisch aufzuklären sind,
bleibt stets die Möglichkeit der „plausible
deniability“, der glaubhaften Abstreitbar-
keit, Urheber zu sein. Zugleich lassen sich
über das Netz Spionageangriffe auf Mi-
nisterien und Unternehmen durchführen,
die früher undenkbar gewesen wären.
Bislang ist dieser virtuelle Feldzug, an
dem auf beiden Seiten neben den Ge-
heimdiensten auch die Armee beteiligt
ist, nicht außer Kontrolle geraten, noch
geht es nicht um Zerstörung gegnerischer
Infrastruktur. Aber es ist fraglich, ob dies
so bleiben wird.
„Auf dem Feld der Datensicherheit
wird am Ende nur ein Gleichgewicht der
Abschreckung den Frieden bewahren“,
sagt der Chinese Mei Xinyu vom Han-
delsministerium in Peking.

Angriff aus Fernost:


„Byzantine Hades“
Die Zeichnung des Flugzeugflügels, die
die Angreifer kopierten, gab präzise die
Konstruktion des amerikanischen Kampf-
flugzeugs wieder, sie zeigte, wo die Ra-
dareinheit eingebaut war, wo das Küh-
lungssystem und wo der Motor. Die digi-
talen Skizzen der US-Rüstungsfirmen
betrafen die amerikanischen Tarnkappen-
bomber B-2 sowie technische Details über
F-35- und F-22-Kampfflugzeuge und mo-
derne Lasertechnik.
Vom Pazifik-Kommando der US-Streit-
kräfte stahlen die Einbrecher die Betan-
kungspläne der Luftwaffe, von der Navy
kopierten sie das Design der Luftabwehr-
raketen amerikanischer Atom-U-Boote.
Die Luftwaffe meldete den Diebstahl von
PETE SOUZA / POLARIS / STUDIO X

33 000 Personalakten von Offizieren, bei


der Navy wurde in 300 000 Benutzerkon-
ten eingedrungen. Im Pentagon sollen
mehr als 500 Computer befallen gewesen
sein.
Mindestens 50 Terabyte an Daten,
etwa das Fünffache der Bibliothek des
Präsidenten Xi, Obama in Kalifornien 2013: Ein virtueller Feldzug beider Seiten US-Kongresses, erbeuteten die Angreifer
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 85
der staatlichen Telekommunikationsge-
sellschaft China Telecom. Die Eliteeinheit
soll rund tausend Server in 13 Ländern
betrieben haben, über die sie die Zugriffe
steuere und verschleiere. Unter den Fir-
men, die laut Mandiant Opfer von Atta-
cken waren, befand sich ein Unterneh-
men, das mehr als die Hälfte der Öl- und
Gas-Pipelines in Nordamerika steuert.
„Ein Hacker in China kommt an den
Quellcode einer Software-Firma in Virgi-
nia heran, ohne von seinem Schreibtisch
aufstehen zu müssen“, so beschrieb US-
Justizminister Eric Holder die Möglich-
keiten der chinesischen Cybereinheit.
Und der scheidende NSA-Chef Keith

VINCENT YU / AP / DPA
Alexander nannte Chinas Datenraub den
größten „Vermögenstransfer der Ge-
schichte“.
Den Angriffen aus Fernost liegt eine
Whistleblower Snowden 2013: Offenbarung der dunklen Seite amerikanischer Außenpolitik Politik der kontrollierten Offensive zu-
grunde, die vorwiegend vom Militär be-
trieben wird. Die Daten aus den Rüs-
tungsschmieden und dem Pentagon sind
Gold wert bei der Modernisierung der
chinesischen Armee, die zwar mit über
zwei Millionen Soldaten die größte Streit-
macht der Welt ist, aber in vielen Berei-
chen über veraltete Waffensysteme ver-
fügt. „Wir sind in unserer Entwicklung
Jahrzehnte zurück“, sagt Xu Guangyu,
Generalmajor a. D.: „Selbst Indien ist uns
60 Jahre voraus.“
Vor allem Luftwaffe und Marine baut
die Staatsführung in Peking derzeit aus –
mit Kampfjets der fünften Generation,
mit Flugzeugträgern und nuklearen
U-Booten, die atomar bestückte Interkon-
tinentalraketen abschießen können. Zu-
gleich haben chinesische Ingenieure so-
genannte „carrier killers“ entwickelt, bal-
listische Anti-Schiffs-Raketen, die zum
GETTY IMAGES

ersten Mal in der Geschichte auch die bis-


lang unangreifbaren US-Flugzeugträger
treffen könnten.
Huawei-Firmensitz in Shenzhen: NSA-Attacken in mehreren Wellen In einem Bericht der eng mit der NSA
verwobenen Firma Northrop Grumman
einer Untersuchung der NSA von 2011 gierung alle Interna, deren sie habhaft über die chinesischen Aktivitäten heißt
zufolge in mehreren Angriffswellen. Ins- werden können. es, die Volksbefreiungsarmee verfolge
gesamt sei bei den Zugriffen ein Schaden Vergangenes Jahr sorgte ein Report der eine „Strategie der elektronischen Kriegs-
von mehr als 100 Millionen Dollar ent- amerikanischen IT-Sicherheitsfirma Man- führung in Netzwerken“. Und wenn auch
standen. diant für Aufsehen. Darin beschrieben nicht in jedem Einzelfall nachgewiesen
Die Amerikaner tauften die Angriffs- Analysten die Aktivitäten einer Sektion werden kann, dass hinter den Angriffen
welle „Byzantine Hades“, nach dem grie- der Volksbefreiungsarmee mit dem Na- staatlich beauftragte Hacker stehen, gibt
chischen Gott der Unterwelt. Sie ist die men „Einheit 61398“, die in einem zwölf- es mittlerweile kaum mehr Zweifel an der
vielleicht größte und erfolgreichste aller geschossigen Hochhaus im Shanghaier Wirksamkeit dieser Digitalstrategie.
bisherigen Attacken gewesen, die direkt Stadtteil Pudong residieren soll und seit Wie effizient die Chinesen vorgehen,
gegen die amerikanische Regierung ge- 2006 angeblich mehr als 140 westliche Un- zeigt auch der Fall „Legion Amber“, wie
richtet waren. Die Urheber kamen aus ternehmen infiltriert hat. Die Angriffe lie- er in Washington genannt wird. Er betrifft
China, angeblich. fen demnach über eigene, der „nationa- eines der größten amerikanischen Soft-
In der öffentlichen Wahrnehmung des len Verteidigung“ zugeordnete Leitungen ware-Unternehmen: 2012 entdeckte die
Westens stellen die Chinesen die größte NSA, dass sich chinesische Hacker mit
digitale Bedrohung im Internet dar. Von Es ist Wirtschafts- einem ausgeklügelten Schadprogramm
Shanghai, Peking oder Hongkong aus be- Zugang zum gesamten Produktionsnetz-
treiben klandestine Einheiten der Volks- spionage auf einer werk der Firma verschafft hatten. Der
befreiungsarmee raffinierte Netzwerk- Zugriff von außen sei derart effektiv ge-
Operationen, dringen in die Infrastruktur Metaebene, macht- wesen, heißt es, dass es den Eindring-
der US-Regierung ein und stehlen der lingen möglich gewesen sei, den Code
amerikanischen Wirtschaft und der Re- politisch motiviert. der Software zu verändern. Mindestens
86 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Ausland

seit 2008 habe der Zugang existiert – un- digitalen Schläge der Amerikaner sind, trieben wie von kaum einer anderen
entdeckt. das belegen die vom SPIEGEL und der Nation.
Die Methoden der Chinesen sind derart „New York Times“ ausgewerteten inter- Wesentlich heikler ist eine andere Ope-
aggressiv, dass sie zu einer schweren Be- nen Dokumente, vielleicht weniger zahl- ration der NSA, die die Führung der Kom-
lastung der bilateralen Beziehungen ge- reich als die der Chinesen, aber kaum we- munistischen Partei zum Ziel hatte und
führt haben. Die amerikanische Regierung niger gravierend. Die NSA hingegen be- für die die NSA eigens ein Team nach Pe-
hat die Angriffe zu einem zentralen The- tont in einer Stellungnahme: „Wir setzen king schleuste, um nach Angriffspunkten
ma erklärt, Cybersicherheit steht auf der unsere Fähigkeiten nicht dafür ein, Be- zu suchen. Der Ausflug blieb unentdeckt.
Tagesordnung des „Strategischen Dialogs triebsgeheimnisse bei ausländischen Un- Auf der Liste der amerikanischen An-
zu Sicherheitsfragen“ zwischen Peking ternehmen zu stehlen und sie US-Firmen griffsziele stehen auch zwei Telekommu-
und Washington ganz oben. 2011 stufte zur Verfügung zu stellen, um deren Wett- nikationsanbieter in China, die lange Zeit
das Weiße Haus die Bedrohung herauf bewerbsfähigkeit zu steigern.“ als unknackbar galten. Als es der NSA
und ordnete China die höchste Priorität schließlich gelang, in die Computernetz-
bei der Bekämpfung von Cybergefahren Angriff aus Amerika: werke einzudringen, war der Jubel groß.
zu. Bei einem Treffen im November 2012 Die abgefangene Kommunikation habe
sprach Obama den chinesischen Premier- Operation „Shotgiant“ unter anderem das chinesische Militär be-
minister Wen Jiabao persönlich auf das Als Hu Jintao, der damalige chinesische troffen, dank der Cyberattacke auf die
heikle Thema an. Auch beim bislang letz- Staatspräsident, am 18. Januar 2011 auf Telekommunikationsunternehmen öffne-
ten informellen Gipfeltreffen mit Präsi- der Andrews Airbase im Südosten Wa- te sich erstmals ein virtueller Zugang für
dent Xi Jinping im vergangenen Juni in shingtons zum Staatsbesuch eintraf, war die Amerikaner. Der Einbruch in die
Kalifornien waren die Vorfälle im Internet alles vorbereitet. Der rote Teppich war Kommunikation der Volksbefreiungs-
das beherrschende Thema. ausgerollt, der amerikanische Vizepräsi- armee weist einige Parallelen zum chine-
„Die internationale Gemeinschaft kann dent Joe Biden und seine Frau Jill be- sischen Angriff auf das Pentagon auf.
solche Aktivitäten von keinem Land ak- grüßten den Gast aus Peking. Und auch Auch mehrere chinesische Universitä-
zeptieren“, warnte Obamas mittlerweile die NSA wartete auf ihren Einsatz. Ins- ten in Hongkong und der Volksrepublik
ausgeschiedener Nationaler Sicherheits- gesamt 219 Handys von chinesischen De- hat die NSA gehackt, wie Edward
berater Tom Donilon. Cybersicherheit sei legationsmitgliedern hatten die Analysten Snowden kurz nach seiner Flucht der
der „Schlüssel für die Zukunft“ der Be- auf einer Liste notiert, die während Hus „South China Morning Post“ verriet.
ziehungen beider Länder. Was Wer dem Weißen Haus und
weder Donilon noch Obama der NSA bei ihren öffentlichen
einräumten, sind die eigenen Erklärungen zur NSA-Affäre
Angriffskapazitäten und akti- zuhört, muss genau auf die
ven Spionageprogramme der Wortwahl achten. Wir betrei-
USA. Auch die NSA und das ben keine Industriespionage,
Militär attackieren die chinesi- lautet einer der Schlüsselsätze
sche Staats- und Parteiführung, der Amerikaner, wenn es um
sie spionieren staatliche Insti- die angebliche Ausforschung
tutionen und Wirtschaftschefs der Wirtschaft anderer Länder
aus und gehen gezielt gegen geht. „Es gibt zwei Unterschie-
einzelne Unternehmen vor. de zwischen uns und den Chi-
In der Begründung für das nesen“, sagt der ehemalige
Multimilliarden-Budget der NSA-Chef Michael Hayden im
amerikanischen Dienste SPIEGEL-Gespräch: „Wir sind
schreibt der Geheimdienstko- besser – und wir haben Gren-
ordinator James Clapper, in zen. Wir betreiben keine Wirt-
Bezug auf China verfolge die schaftsspionage.“ (Siehe Seite
Regierung folgende Prioritä- 92) Ähnlich hat es Obama in
ten: „Die Analyse und die Er- seiner Grundsatzrede im Ja-
fassung der wirtschaftlichen nuar 2014 versichert: „Wir
und finanziellen Führung als HACKER DER NSA drangen in das Huawei-Firmennetz ein, erlangten sammeln keine Informationen,
Ziele, das verbesserte Aufklä- Zugang zu den Mail-Accounts des Firmenchefs Ren Zhengfei und um amerikanischen Firmen
ren militärischer Stärken und der Verwaltungsratschefin Sun Yafang und kopierten Quellcodes. oder der amerikanischen Wirt-
das Eindringen in Computer- schaft einen Wettbewerbsvor-
netzwerke.“ teil zu verschaffen.“
In der von Barack Obama autorisierten Aufenthalt abgehört werden sollten. Wei- Aber die NSA forscht Unternehmen
Liste der Aufklärungsprioritäten vom tere 53 Nummern waren für funklose aus, wenn sie der Meinung ist, dort ent-
April 2013, dem National Intelligence Überwachung vorgesehen. Der Lausch- wickelten sich Techniken, die den USA
Priorities Framework, zählen in Bezug angriff verschaffte den Amerikanern als Wirtschaftsmacht gefährlich werden
auf China neben der Staatsführung, der wertvolle Informationen über die inter- könnten – mit einem einzigen Unter-
Außenpolitik und dem Militär auch Fra- nen Gespräche der Chinesen. schied: Die US-Geheimdienste geben das
gen der „wirtschaftlichen Stabilität und Wie groß das gegenseitige Misstrauen entwendete ausländische Know-how
Bedrohungen des Finanzwesens“, „inter- ist, zeigt das Verhalten der Chinesen nicht an amerikanische Unternehmen
nationaler Handel“ sowie „aufstrebende bei Xi Jinpings Besuch im vergangenen weiter. Es ist Wirtschaftsspionage auf ei-
und zerstörerische Technologien“ zu den Juni. Während Obama auf der kaliforni- ner Metaebene, machtpolitisch motiviert.
Top-Prioritäten, die mit einer „1“ gekenn- schen Sunnylands-Ranch übernachtete, Das beste Beispiel dafür ist Huawei.
zeichnet sind. Von den 31 Kategorien, mit zog es Xi vor, im benachbarten Hyatt- Der Aufstieg des 1987 in Shenzhen in
denen die US-Regierung ihr Interesse Hotel abzusteigen, aus Angst vor Wan- der Provinz Guangdong gegründeten Te-
beschreibt, ist China in 18 Fällen mit der zen. Die Lauscherei bei Staatsbesuchen lekommunikationskonzerns ist eine der
höchsten Interessensstufe markiert. Die wird zwischen diesen beiden Ländern be- schillerndsten Geschichten des chinesi-
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 87
Ausland

schen Wirtschaftswunders. Die Regierung nalen Firmen und ausländischen Einzel-


der Volksrepublik hatte das an Hongkong personen im Bereich von Zulieferern der
grenzende Shenzhen 1980 zur Sonder- US-amerikanischen Informationstechno-
wirtschaftszone erklärt, woraufhin aus logie die Gefahr für andauernde, unsicht-
dem 30 000-Einwohner-Ort ein Moloch bare Bedrohungen erhöht.“
mit mehr als zehn Millionen Bewohnern In einer Beschreibung der Operation
entstand. Dort hat Huawei einen 21-stö- gegen Huawei wird die Gefahr, die von
ckigen Glaspalast bezogen, mit eleganten dem Unternehmen ausgehe, als „einzig-
Konferenzräumen, edlen Espressobars artig“ bezeichnet. Die amerikanischen
und subtropischen Zimmerpflanzen. Auf Dienste seien „nicht darauf ausgerichtet,
dem Firmengelände, wo etwa 40 000 An- einen Fall zu behandeln, der ökonomi-
gestellte arbeiten, gibt es Palmen und Re- sche, geheimdienstliche und militärische
staurants, ein Hauch von Silicon Valley Einflüsse sowie eine militärische Infra-
liegt über dem Campus. struktur in einer Organisation vereint“.
Mit rund 150 000 Mitarbeitern und ei- Wenn man verstehe, wie die Firma funk-
nem Jahresumsatz von mehr als 28 Mil- tioniere, werde sich das in der Zukunft
liarden Euro ist Huawei zum zweitgröß- auszahlen.
ten Netzwerkausstatter der Welt und Bislang sei die Netzstruktur westlich
scharfen Konkurrenten der US-Firma dominiert, doch die Chinesen arbeiteten
Cisco aufgestiegen. Der Konzern stellt daran, amerikanische und westliche
Smartphones und Tablets her, aber auch Firmen „weniger relevant“ zu machen.
Mobilfunkinfrastruktur, WLAN-Router Dadurch würden sich die bislang von US-
und ist im Glasfaserkabelgeschäft aktiv, Firmen dominierten technischen Stan-
jener Technologie also, die für den Kampf dards im Internet öffnen, China könne
der NSA um die informationelle Vorherr- nach und nach den Informationsfluss im
schaft entscheidend ist. Netz kontrollieren.
An der Spitze des Unternehmens steht Nachdem die NSA Huawei in ihre Ziel-
mit Ren Zhengfei jemand, der Karriere liste aufgenommen hatte, verschaffte sich
bei der Volksbefreiungsarmee gemacht eine Spezialeinheit laut den Geheimun-
hatte. 2001 expandierte Huawei nach terlagen an etwa 100 Stellen Zugang zum
Amerika und eröffnete eine erste Reprä- firmeninternen Netzwerk von Huawei
und kopierte unter anderem eine Liste
mit mehr als 1400 Kunden sowie interne
Die NSA verschaffte Dokumente für das Training von Inge-
sich an 100 Stellen nieuren an den Huawei-Produkten. Die
digitalen Einbrecher arbeiteten so effek-
Zugang zum firmen- tiv, dass sie nicht nur Zugang zum E-Mail-
Archiv erlangten, sondern laut einer
internen Netzwerk. geheimen NSA-Präsentation auch zum
geheimen Quellcode einzelner Huawei-
sentanz in Texas. Weitere Büros des chine- Produkte – dem Allerheiligsten der un-
sischen Konzerns gibt es in mehreren ternehmenseigenen Software.
amerikanischen Großstädten. Weil Huawei den Mail-Verkehr jedes
Seit mindestens 2006 attackiert die Mitarbeiters über die Zentrale in Shen-
NSA den expandierenden Konzern in zhen leitete, wo die NSA eingedrungen
mehreren Wellen: 2006 lancierte sie eine war, las man in Fort Meade von Januar
erste Operation, 2009 eine zweite mit 2009 an einen Großteil des Mail-Verkehrs
dem Codenamen „Shotgiant“. Die CIA, der Belegschaft mit – inklusive der Post
das FBI und das Wirtschaftsministerium des Firmenchefs Ren Zhengfei und der
unterstützten die NSA bei der Operation, Verwaltungsratschefin Sun Yafang. Die
auch der Geheimdienstkoordinator im Auswerter waren allerdings enttäuscht:
Weißen Haus war eingebunden. Als Viele Mails waren Spam, Werbeangebote
Grund für die Ausforschung gab die NSA anderer Unternehmen, Spesenabrechnun-
an, dass „viele unserer Ziele über Hua- gen und Reisepläne von Ren und Sun.
wei-Produkte kommunizieren“ und man „Wir haben gegenwärtig guten Zugang
auf dem Stand der Technik bleiben müs- und so viele Daten, dass wir nicht wissen,
se. Zudem gebe es die Sorge, „dass die was wir damit tun sollen“, resümierte
Volksrepublik China die weitverzweigte eine Verantwortliche 2010. Ganz wohl
Infrastruktur von Huawei zu Spionage- war den NSA-Leuten offenbar nicht bei
zwecken nutzen“ könne. Unklar bleibt, der Aktion: Da Huawei mittlerweile auch
ob die Geheimen dafür Belege gefunden in den USA präsent sei und damit mögli-
haben. cherweise zumindest teilweise amerika-
Damit folgt die NSA einer Linie, die nischem Recht unterliege, seien rechtliche
2009 im „National Intelligence Estimate“, Fragen zu beachten. Dennoch ist eine Fir-
einer mit dem Weißen Haus und allen menrepräsentanz in den USA in der Liste
Geheimdiensten abgestimmten Lagebe- der Ziele aufgeführt.
wertung, vorgegeben worden war: „Wir Sie hätten erstmals im Sommer 2013
gehen mit hoher Sicherheit davon aus, gehört, dass sie offenbar „ein Ziel der
dass die wachsende Rolle von internatio- NSA“ seien, sagte der Vizepräsident von
88 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Der dauernde Druck auf das chi- me scheint nicht allen Staaten zu genügen:
nesische Unternehmen zeigt Wir- In Australien wurde Huawei inzwischen
kung. 2012 musste Huawei eine um- von der Vergabe von Großaufträgen für
fangreiche Untersuchung des Ge- den Netzausbau ausgeschlossen.
heimdienstausschusses des US-Re-
präsentantenhauses in Washington Snowden entlarvt die
über sich ergehen lassen. Am Ende
kamen die Abgeordneten im Ok- Scheinheiligkeit der Außenpolitik
tober 2012 zu dem Ergebnis, Hua- Die Enthüllungen aus dem Inneren der
wei könne eine Gefahr für die na- NSA sind nicht nur für das amerikanisch-
tionale Sicherheit der USA darstel- chinesische Verhältnis von besonderer
len. Der Firma sei nicht zu trauen. Bedeutung. Sie legen auch offen, mit wel-

MICHAEL REYNOLDS / DPA


Auch andere westliche Regierun- cher Doppelmoral die US-Regierung auf-
gen, darunter Australien, Großbri- tritt. Einerseits brandmarkt das Weiße
tannien und Deutschland, begeg- Haus die Spionageaktivitäten der Chinesen
nen dem Konzern mit Misstrauen. als inakzeptabel und fordert ihr Ende. An-
Nach zähen Verhandlungen mach- dererseits agieren die Amerikaner in China
Scheidender NSA-Direktor Alexander ten die Briten den Chinesen eine nur unwesentlich anders. Die US-Aktivi-
Größter Vermögenstransfer der Geschichte Offerte, die diese nicht ablehnen täten unterscheiden sich von den chinesi-
konnten, wenn sie auf den europäi- schen vor allem in der Auswahl der Ziele,
Huawei, John Suffolk, Ende Januar. Es schen Märkten weiter aktiv sein wollten: die weniger ökonomisch denn politisch-ge-
sei gut möglich, dass es der NSA gelungen In Banbury in der Nähe von Oxford eröff- sellschaftlich relevant sind. Die eigene Spio-
sei, in das Firmennetz einzudringen. neten sie das Cyber Security Evaluation nagepraxis rechtfertigen die USA stets mit
Wenn die Vorwürfe stimmten, so Hua- Centre. Dort nehmen britische Experten den „nationalen Interessen“, einem Man-
wei-Sprecher Bill Plummer, „sollte mitt- des GCHQ Produkte von Huawei unter tra, das beliebig ausgedehnt werden kann.
lerweile bekannt sein, dass unsere Firma die Lupe und untersuchen sie auf Sicher- Die Einblicke in die Aktivitäten der
unabhängig ist und über keinerlei außer- heitslücken, eingebaute Hintertüren etwa, NSA, die dank der Snowden-Unterlagen
gewöhnliche Beziehungen zu irgendeiner die chinesischen Geheimdiensten einen möglich sind, hätten einen ebenso simp-
Regierung verfügt“. Eine der Abwehr- Fernzugriff ermöglichen könnten. Befreun- len wie überfälligen Effekt, argumentie-
maßnahmen sei, alle Produkte einer er- deten europäischen Geheimdiensten teil- ren die Politikprofessoren Henry Farrell
neuten Überprüfung zu unterziehen und ten die Briten mit, auf diese Weise könn- und Martha Finnemore von der George
die Quellcodes eigener Produkte nicht ten sie möglichst viel über das Unterneh- Washington University: Sie würden die
mehr an einem Ort zu speichern. men lernen. Doch diese Vorsichtsmaßnah- Scheinheiligkeit der Politik der USA ent-
Ausland

larven, die ein zentrales Element der Au- Gesprächsbedarf haben. Die Rollen von rationen bescheiden an. Im Oktober 2012
ßenpolitik Washingtons sei. Nur mit die- Opfer und Täter haben sich, zumindest unterzeichnete Barack Obama eine als
sem Mittel könnten die Vereinigten Staa- partiell, vertauscht. Seltsam doppelbödig „streng geheim“ eingestufte Direktive, die
ten den Rest der Welt davon überzeugen, klingen angesichts dieser Wahrheiten die Amerika in ein neues Zeitalter überfüh-
ihnen auch dort zu folgen, wo kühle offiziellen Verlautbarungen des Weißen ren sollte. Darin autorisierte er die Streit-
Machtpolitik an ihre Grenzen stoße. Dem Hauses zur Zukunft des Internets, wie sie kräfte, sich auf einen regulären Krieg im
hohen moralischen Anspruch Washing- Obamas Cyberberater Michael Daniel Internet gegen andere Nationen vorzu-
tons habe schon immer eine dunkle Seite Anfang März vorgetragen hat. Die Ver- bereiten. Ziel der Vorbereitungen sei es,
gegenübergestanden. einigten Staaten seien davon überzeugt, heißt es in der Direktive, Computer, In-
Durch Snowdens Enthüllungen sei of- dass „wir anerkannte Verhaltensregeln formationssysteme oder Netzwerke im
fenbar geworden, dass Amerika in einem zwischen Staaten im Cyberspace durch- Ausland „zu manipulieren, zu stören, zu
ebenso großen Ausmaß hacke wie die setzen müssen“, so Daniel auf einer Cy- schwächen, zu blockieren oder zu zerstö-
Chinesen. Die USA könnten „diese dunk- berkonferenz an der Georgetown-Univer- ren“. Ausdrücklich ist darin auch die
le Seite der amerikanischen Außenpolitik sität. Obamas Berater plädierte dafür, Rede davon, dass sich die USA bei „im-
nicht länger abstreiten“. Verhaltensregeln einzuführen, wie Regie- manenten Gefahren“ das Recht auf einen
„Snowden hat uns das Gefühl gegeben, rungen ihre Cyberfähigkeiten anwenden. Cyber-Erstschlag vorbehalten.
über Amerika zu naiv gedacht zu haben“, „Wir müssen das Risiko von ungewollten Mit der Anweisung beauftragte der Prä-
sagt Mei Xinyu vom Pekinger Handels- Konflikten oder Eskalationen zwischen sident Geheimdienstkoordinator Clapper
ministerium. „Die Sicherheitstechnolo- Staaten im Cyberspace vermeiden.“ und die Generäle, innerhalb von sechs
gien, um unsere Daten zu schützen, stam- Daniels Forderungen sind vernünftig, Monaten eine Liste von „potentiellen Sys-
men ursprünglich aus den USA, deshalb sie klingen wie notwendige Lehrsätze aus temen, Prozessen und Infrastrukturen“
sind wir im Nachteil.“ Seit den Enthül- der Snowden-Debatte. Das Problem ist zu erstellen, gegen die die Vereinigten
lungen hätten er und seine Kollegen da- nur: Nicht nur die Chinesen und andere Staaten offensive Cyberkapazitäten auf-
mit begonnen, auf chinesische Lenovo- Staaten, die auf die Freiheit und Regeln bauen sollten.
Computer umzurüsten. im Internet wenig geben, müssten sich Willkommen bei den Vorbereitungen
Wenn Obama und Xi in dieser Woche daran halten. Die Sätze müssten auch für für den Krieg von morgen.
in Den Haag beim Gipfel für nukleare die NSA und das Cyberkommando der MARCEL ROSENBACH, HOLGER STARK,
Sicherheit zum ersten Mal seit vergange- amerikanischen Streitkräfte gelten. Ist das BERNHARD ZAND
nem Sommer zum persönlichen Gespräch Weiße Haus zu diesem Schritt bereit?
zusammentreffen, wird der amerikani- Zweifel sind angebracht. Denn im Ver- Video: Holger Stark über die
sche Präsident höchstwahrscheinlich un- gleich zu dem, was das Cyberkommando NSA-Recherchen
angenehme Fragen beantworten müssen. der US-Streitkräfte seit etwa anderthalb spiegel.de/app132014nsa
Diesmal werden es die Chinesen sein, die Jahren plant, muten die bisherigen Ope- oder in der App DER SPIEGEL
SPI EGEL-GESPRÄCH

„Schande über uns“


Der ehemalige NSA-Chef Michael Hayden über
Edward Snowden, die Überwachung des
Handys der Bundeskanzlerin und die zerrütteten
deutsch-amerikanischen Beziehungen

MARTIN H. SIMON / DER SPIEGEL

Hayden, 69, war von 1999 bis 2005 Direk- SPIEGEL: Aber nicht nur Russen und Chi- Erfindung des Internets mit der Erfindung
tor der NSA, danach, von 2006 bis 2009, nesen üben Kritik. Auch Facebook-Grün- der Atombombe verglichen und die Vor-
Direktor der CIA. Heute ist er Partner der Mark Zuckerberg kritisiert, der ame- herrschaft im Netz zum obersten Ziel
bei der Beratungsfirma Chertoff Group rikanische Staat sei zu einer Bedrohung erklärt. Wie es aussieht, sind Sie diesem
in Washington. geworden. Ziel ziemlich nahe gekommen.
Hayden: Je mehr Leute so etwas sagen, Hayden: Wir Amerikaner denken in mili-
SPIEGEL: General Hayden, lassen Sie uns desto mehr stärken sie indirekt die Posi- tärischen Doktrinen und Hoheitsberei-
über die Zukunft des Internets reden. tion der anderen Seite. Die Russen und chen, sei es auf dem Land, zur See, in
Macht Ihnen die Sorgen? Chinesen kritisieren die USA doch nicht, der Luft oder im Weltraum. Als Teil die-
Hayden: Ich bin sehr besorgt. Das könnte weil sie sich vor unserer Spionage schüt- ser militärischen Betrachtung sehen wir
der größte Schaden sein, den die Snow- zen wollen, sondern weil sie die Mei- auch den Cyberraum als einen Hoheits-
den-Enthüllungen in den letzten zehn Mo- nungsfreiheit nicht mögen. Sie wollen na- bereich. Wenn wir von Vorherrschaft in
naten angerichtet haben. Das Internet wur- tionale Grenzen im Cyberspace schaffen. der Luft sprechen, meinen wir, dass wir
de in den USA entwickelt, es basiert auf Das ist das Letzte, was Zuckerberg will. Zeit und Ort der Nutzung des Luftraums
einer US-Technologie, aber es wird global SPIEGEL: Das ändert nichts daran, dass die selbst bestimmen und das gleichzeitig un-
genutzt und steht für freie Menschen, freie USA zwar das Internet als Symbol der seren Gegnern verweigern können, wenn
Ideen, freien Handel. Es gibt aber Länder, Freiheit hochhalten, es zugleich aber in es nötig ist. So ist es auch mit dem Cyber-
die das Internet in dieser Form ablehnen: großem Stil für Spionagezwecke nutzen. space. Davon geht ebenso wenig eine Be-
Russland, China, Iran oder Saudi-Arabien. Hayden: Ich bin gern bereit, eine sachliche drohung für Frieden und Handel aus wie
Diese Länder werden jetzt behaupten, Diskussion darüber zu führen, was wir von unserer Luftwaffe.
dass wir Amerikaner nur deshalb ein tun, aber sie muss auf Fakten basieren. SPIEGEL: Verstehen Sie die Sorge vieler
universelles Netz haben wollen, weil es Aber lassen Sie mich mit dem Missver- Menschen, die es beunruhigt, wenn ein
uns bei der Spionage hilft. Meine Befürch- ständnis aufräumen, dass die NSA alles Land die Vorherrschaft über etwas an-
tung ist, dass Snowdens Enthüllungen beobachtet, was jeder einzelne Ameri- strebt, das wie das Internet von allen ge-
einen Prozess in Gang gesetzt haben, der kaner im Internet macht. Die NSA kon- nutzt werden sollte?
eine Bedrohung für das Internet in der trolliert auch nicht, wer auf welche Web- Hayden: Ja, das kann ich nachvollziehen.
freien Form ist, in der wir es kennen. site geht. Aber das glauben die Leute Wir waren die Ersten, die öffentlich die
inzwischen. Einrichtung eines „Cyberkommandos“
Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Marc SPIEGEL: Ihr Vorgänger an der Spitze der der Armee beschlossen haben, mittler-
Hujer und Holger Stark in Washington. NSA, General Kenneth Minihan, hat die weile folgen andere Länder nach. Die
92 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Ausland

Kritik lautete, dass wir den Cyberspace men nicht auch getan hätten, wenn es das CIA: „Ich will wissen, was Anwar al-Sadat
militarisieren. Als das US-Cyberkom- Gesetz ihres Landes verlangt. Das ist viel- und Menachem Begin über mich und über-
mando geschaffen wurde, hat das Soft- leicht der unfairste Aspekt. Und schließ- einander denken, was sie tief in ihrem
ware-Haus McAfee eine weltweite Um- lich haben die Enthüllungen die Bezie- Herzen von dem geplanten Abkommen
frage unter Sicherheitsexperten durchge- hungen zu Freunden vergiftet. halten.“ Da bleibt vermutlich nur eine
führt. Eine der Fragen war: Wen fürchten SPIEGEL: Zum Beispiel zu Deutschland. aggressive Überwachung der Kommuni-
Sie im Cyberspace am meisten? Für die Hayden: Die Geschichte um die deutsche kation. Eine andere Frage ist, ob dies auch
Amerikaner war die Antwort eindeutig: Bundeskanzlerin hat die Dinge sehr er- für Merkel gilt, aber ihr Vorgänger …
die Chinesen. Für den Rest der Welt lau- schwert. Ich bin nicht bereit, mich dafür SPIEGEL: … Gerhard Schröder …
tete die Antwort mehrheitlich: die Ame- zu entschuldigen, dass wir eine andere Hayden: … hat eine ganze Reihe von Din-
rikaner. Nation nachrichtendienstlich beobachtet gen getan, die nicht zu Amerikas Welt-
SPIEGEL: Der britische Nachrichtendienst haben. Aber ich bin bereit, mich dafür sicht passten – ohne dass ich damit sagen
GCHQ spricht davon, das Internet „be- zu entschuldigen, dass wir einen guten will, dass Amerikas Weltsicht die richtige
herrschen“ zu wollen. Die NSA sagt, sie Freund schlecht haben aussehen lassen. ist. Da waren die Differenzen über den
wolle das Internet „besitzen“. Beides Was auch immer wir heimlich taten – wir Irak-Krieg, seine Einstellung Russland
klingt martialisch. konnten es nicht geheim halten und gegenüber, die sich sehr von der ameri-
Hayden: Es ist mit Sicherheit Zeit für neues haben damit einen Freund in eine sehr kanischen unterschied, und schließlich
Vokabular. Wir sind mit unserer Sprache sein Engagement für eine Milliarden-
etwas zu dramatisch umgegangen. bürgschaft des Bundes für Gazprom. All
SPIEGEL: Am Ende soll alles nur ein
„Wir haben einen das könnte zu einer bestimmten Art von
Sprachproblem sein? Freund in eine Aktivität geführt haben.
Hayden: Keineswegs. Nationen spionieren, SPIEGEL: Rechtfertigt es die Überwachung
mein Land auch. Und wir sind ziemlich schwierige Lage seines Handys?
gut darin. Wir geben eine Menge Geld Hayden: Diesen Schluss möchte ich nicht
dafür aus, mehr als 50 Milliarden Dollar gebracht. Das ist ziehen, aber es kann Gründe wie die ge-
jährlich insgesamt. Das Problem ist, nannten geben, die eine Überwachung
dass wir nach den Enthüllungen durch
unser Fehler.“ attraktiver machen. Als Obama 2008 ge-
Snowden nur noch über amerikanische, wählt wurde, hatte er ein BlackBerry, und
britische und australische Spionage reden, schwierige Lage gebracht. Schande über wir haben ihm gesagt, dass er ihn bei
nicht über chinesische oder russische. uns, das ist unser Fehler. Amtsantritt abgeben muss. Er antwortete:
Und so mächtig die drei westlichen Ge- SPIEGEL: Uns ist nicht bekannt, dass sich ,Nein, ich werde ihn behalten.‘ Am Ende
heimdienste sind, so enge Grenzen der in der Affäre jemand bei den Deutschen haben wir das Gerät sicherer gemacht
Selbstbeschränkung sind ihnen doch auch entschuldigt hätte. und es ihm gelassen. Trotzdem galt auch
gesetzt. Sie sind zudem die transparen- Hayden: Ich bin dazu bereit. für den zukünftigen mächtigsten Mann
testen Geheimdienste. Ich würde sagen, SPIEGEL: Welchen Grund könnte es gege- des mächtigsten Landes der Welt, dass es
dass europäische Parlamentarier heute ben haben, das Handy von Angela Mer- unzählige Nachrichtendienste gibt, die in
mehr über die NSA wissen als über ihre kel abzuhören? Washington seinen Gesprächen lauschen
eigenen Geheimdienste. Hayden: Das ist eine schwierige Frage, weil und seine Mails lesen, wenn er dieses
SPIEGEL: Aber es gibt doch einen Bruch in ich nicht Teil der Regierung bin. Aber die Handy nutzt. So ist es einfach.
der Argumentation, wenn ein Land sich Absichten von anderen Staatschefs haben SPIEGEL: Die Deutschen reagieren emp-
einerseits als Förderer des freien Internets für Geheimdienste immer eine hohe Prio- findlicher auf Überwachungsaktionen.
feiert und andererseits die Strategie ver- rität. Als unser Präsident Jimmy Carter Hayden: Ich gestehe, dass wir Amerikaner
folgt, das Internet zu besitzen. 1978 in Camp David mit den Israelis und nicht nur die Auswirkungen auf die Kanz-
Hayden: Ich würde das keinen Bruch nen- den Ägyptern verhandelte, sagte er zur lerin, sondern auch auf die deutsche Be-
nen, aber eine Dissonanz. Während des
Arabischen Frühlings hat mein Land Geld
für Software ausgegeben, um die Anony-
mität von Nutzern im Internet zu sichern.
Es gibt da widerstrebende Werte. Ein
Staat hat ein legitimes Interesse an Frei-
heit und auf der anderen Seite ein ebenso
legitimes Interesse an Sicherheit.
SPIEGEL: Mittlerweile ist es fast ein Jahr
her, dass Edward Snowden Hawaii ver-
lassen hat. Was hat er bewirkt?
Hayden: Es gibt da drei bis vier Auswir-
kungen. Die Aufklärung unserer Gegner
ist für uns schwieriger geworden. Außer-
dem gibt es Auswirkungen auf die Ko-
operation mit ausländischen Diensten.
Welcher Nachrichtendienst möchte mit
uns noch zusammenarbeiten, wenn wir
offenbar nicht in der Lage sind, unsere
Geheimnisse zu schützen? Ein weiterer
MARC-STEFFEN UNGER

Punkt betrifft die amerikanische Indu-


strie, die unter der Affäre leidet. Deshalb
sind die Mark Zuckerbergs und Eric
Schmidts dieser Welt so empört, obwohl
sie nichts getan haben, was andere Fir- Partner Obama, Merkel 2013: „Ich gestehe, wir haben die Auswirkungen unterschätzt“

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 93
Ausland

völkerung unterschätzt haben. Die Spionage zum Wettbewerbsvorteil


Deutschen haben vielleicht auf- für ihre Industrien, anders als wir.
grund ihrer Historie eine andere Und auch wenn wir vielleicht
Empfindsamkeit. Während der technisch besser sind, verfolgt nie-
Münchner Sicherheitskonferenz mand Spionage in einem Ausmaß
habe ich gespürt, dass die Deut- wie die Chinesen. Als Geheim-
schen Privatsphäre etwa so betrach- dienst-Profi schaue ich voller Ehr-
ten wie wir Amerikaner vielleicht furcht auf die chinesischen Akti-
Meinungs- oder Religionsfreiheit. vitäten. Um auf Ihre Frage zu ant-
Möglicherweise haben wir das worten: Ja, so ist es.
nicht ausreichend berücksichtigt. SPIEGEL: Snowden hat enthüllt,
SPIEGEL: Hätte Obama die Kanzle- dass die NSA die Staatsführung in
rin bei seinem Berlin-Besuch im Peking ausforscht, Universitäten
Juni 2013 über die Überwachung überwacht und in chinesische Fir-
informieren müssen? men einbricht. Ist es nicht schein-
Hayden: Ich kenne die Details des heilig, sich einerseits zu beschwe-
Falls nicht, aber lassen Sie mich ei- ren und andererseits das Gleiche

TIM SLOAN / AFP


nes ausdrücklich sagen: Der Präsi- zu tun?
dent hat versprochen, Angela Mer- Hayden: Ich habe nie von einer
kel nicht mehr überwachen zu las- moralischen Warte aus argumen-
sen. Das war kein Versprechen, das Kontrahenten Schröder, Bush 2005 tiert, sondern immer gesagt, dass
für irgendjemand anderes an der „Nationen spionieren – und wir sind ziemlich gut darin“ wir spionieren und dass wir darin
Spitze der Bundesregierung gilt. besonders gut sind. Es gibt zwei
SPIEGEL: Wer trifft die Entscheidung, das China. Würde das die deutsch-amerikani- Unterschiede zwischen uns und den
Handy von Merkel oder Schröder abzu- schen Beziehungen weiter belasten? Chinesen: Wir sind besser – und wir
hören? War das Weiße Haus informiert? Hayden: Nein, das wäre eine professionelle haben Grenzen. Wir betreiben keine
Hayden: Unsere Regierung hat versichert, Reaktion. Eine solche Entscheidung ob- Wirtschaftsspionage. Um es scherzhaft
dass der Präsident nichts davon wusste, liegt allein der Bundesregierung und wür- zu sagen: Wenn ich in Peking den Chi-
und wenn der Präsident das sagt, dann de die deutsch-amerikanische Freund- nesen gegenübersitzen würde, dann wür-
glaube ich ihm. Das bedeutet nicht, dass schaft nicht belasten. de ich sagen: ,Wir spionieren, ihr spio-
das Weiße Haus nicht informiert war. Es SPIEGEL: Wäre ein No-Spy-Abkommen niert, aber ihr klaut einfach das falsche
ist nicht sehr wahrscheinlich, dass das nicht die beste Lösung? Zeug.‘
Weiße Haus nichts wusste oder dass der Hayden: Wir haben mit niemandem ein SPIEGEL: Wie geht es mit Snowden wei-
Nationale Sicherheitsrat nichts wusste. entsprechendes Abkommen geschlossen, ter?
Aber es war keine Entscheidung des Prä- nicht einmal mit den Briten. Das Weiße Hayden: Ich weiß es nicht. Ich glaube, er
sidenten. Haus hat das sehr deutlich gemacht: Ein hat um eine Verlängerung seines Visums
SPIEGEL: Im November 1999 haben Sie solches Abkommen wird es nicht geben. ersucht, und die Russen werden die
nach einem Besuch der NSA-Abhör- SPIEGEL: Wie lässt sich die deutsch-ameri- Sache wohl noch eine Weile am Laufen
anlage in Bad Aibling einen Brief an das kanische Freundschaft nun reparieren? halten.
Kanzleramt geschrieben und versichert, Hayden: Der Geheimdienstkoordinator im SPIEGEL: Wäre es nicht besser, ihn zurück
Sie würden von dort aus nicht gegen Weißen Haus, der CIA-Chef und der in die USA zu holen …
Deutschland spionieren. neue NSA-Präsident sollten so bald wie HAYDEN: … absolut …
Hayden: Das stimmt. Für mich als NSA- möglich nach Berlin fliegen und sich mit SPIEGEL: … und ihm Gnade zu gewähren?
Direktor war es damals eine grundsätz- ihren Partnern treffen. Die Bereiche, in Hayden: Nein. Herrje, nein, nein, nein.
liche Entscheidung, Überwachungsaktivi- Dies ist die größte Verletzung von Staats-
täten in Deutschland zu stoppen, die noch geheimnissen in der Geschichte dieses
aus der Zeit der Besatzung stammten. Da-
„Gerhard Schröder Landes. Der Schaden ist unglaublich.
für haben wir eine partnerschaftliche Be- hat eine Reihe von Wenn wir ihm Gnade gewähren oder eine
ziehung mit den deutschen Geheimdiens- Amnestie, dann bringen wir damit dem
ten begonnen. Diese Entscheidung bezog Dingen getan, die nächsten Snowden bei, dass er nur genug
sich allerdings nur auf Überwachung in an Material entwenden muss. Und außer-
Deutschland selbst – nicht auf Überwa- nicht zu Amerikas dem haben doch sowieso Journalisten
chung gegen Deutschland an sich. wie Glenn Greenwald, Laura Poitras oder
SPIEGEL: Waren wir Deutschen naiv?
Weltsicht passten.“ Barton Gellmann das Material – und
Hayden: Ich kann hier weder etwas bestä- offenbar auch der SPIEGEL. Das Zeug
tigen noch dementieren, aber es macht denen wir eng kooperieren, sind zu um- kommt doch so oder so raus, ohne
einen Unterschied, ob Sie von deutschem fangreich, es gibt zu viel zu tun. Und Snowdens Kontrolle.
Boden aus Überwachung betreiben – schauen Sie, ganz deckungsgleich werden SPIEGEL: Sie wurden vergangenen Herbst
oder ob Sie die Kanzlerin abhören. Was unsere Interessen nie sein, selbst zwi- selbst belauscht, von einem Blogger im
auch immer wir möglicherweise 2002 be- schen den engsten Partnern nicht. Wir Zug nach New York, als Sie gerade ver-
gonnen haben, hatte nur sehr geringen sollten uns auf die Bereiche konzentrie- traulich telefonierten. Der Mann hat Ihre
Einfluss darauf, was wir an gemeinsamen ren, in denen sich unsere Interessen und Gespräche fast in Echtzeit getwittert.
Aktivitäten mit dem Bundesnachrichten- Werte decken. Hayden: Mein einziger Einwand war, dass
dienst tun wollten. SPIEGEL: Sie haben die Chinesen angespro- er meine Aussagen falsch wiedergegeben
SPIEGEL: Als Reaktion auf die Überwa- chen. Ist China heute die größte Heraus- hat. Wenn man die Kommunikation von
chung der NSA erwägen die deutschen forderung für die amerikanischen Ge- jemand anders abfängt, sollte man sie
Sicherheitsbehörden, die Aktivitäten von heimdienste im Cyberspace? zumindest richtig wiedergeben.
NSA und CIA in Deutschland aufzu- Hayden: An den Chinesen sind mehrere SPIEGEL: General Hayden, wir danken
klären – ähnlich wie mit Russland oder Punkte besorgniserregend. Sie betreiben Ihnen für dieses Gespräch.
94 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
OMAR SOBHANI / REUTERS
Präsidentschaftskandidat Rassoul (M.): Im Schatten des Staatschefs zum Teil des Palastmobiliars geworden

A F G H A N I S TA N

Fragil, korrupt und lebensfähig


Präsident Hamid Karzai verhindert bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen seinen
Bruder als Nachfolger und setzt auf einen alten Vertrauten, den langjährigen
Außenminister Rassoul. So will er sich seinen Einfluss sichern. Von Susanne Koelbl

D
er kleine Hubschrauber geht auf Amanullah war dessen Onkel. Hier im Ob Afghanistan jetzt, da des alten
dem Fußballplatz der Universi- Osten des Landes, wo die Winter mild Königs Neffe Rassoul nach der Macht
tät Nangarhar in Jalalabad nie- sind und die Orangen gut gedeihen, hat greift, reif ist für ärmellose Blusen und
der, und aus der hellen Staubwolke klet- der König seine letzte Ruhe gefunden. unverschleiertes Frauenhaar, wie es Ama-
tert ein Herr mit grauem Bart und ei- Amanullah war ein radikaler Reformer. nullahs schöne Königin Soraya liebte?
nem Jackett aus Merinowolle. Zalmai Als erster afghanischer Staatschef hatte Oder zumindest reif für Rassouls Vision
Rassoul geht auf die Gruppe Wartender er versucht, sein Reich nach dem Vorbild eines fortschrittlichen Afghanistan, über
zu, Männer mit der braunen Wollmütze westlicher Industriegesellschaften zu die der 70-Jährige heute im Stadion von
der Mudschahidin, der Pakul, und ele- formen – und scheiterte: Er wollte zu viel Jalalabad sprechen will?
gant um die Schulter geschlungenen zu schnell. Oppositionelle lehnten sich Zalmai Rassoul möchte Hamid Karzai
Tüchern. Sie schieben Rassoul eilig in gegen die Neuerungen auf und stürzten beerben und Afghanistans neuer Präsi-
einen weißen gepanzerten SUV, dann den König 1929. Amanullah musste dent werden. Er ist einer von drei aus-
fährt die Kolonne mit ihrem Spitzen- fliehen und starb 31 Jahre später im sichtsreichen Kandidaten, neben dem
kandidaten ab. Schweizer Exil. Paschtunen Ashraf Ghani, einem in Ame-
Es ist Präsidentschaftswahl- rika ausgebildeten Technokraten
kampf in Afghanistan, und für und ehemaligen Finanzminister,
Zalmai Rassoul beginnt er heute und dem führenden Kandidaten
in der Provinzhauptstadt nahe der Opposition Abdullah Abdul-
DINUKA LIYANAWATTE / REUTERS

der Grenze zu Pakistan am Grab Jalalabad lah. Dessen Vater ist zwar eben-
Kabul
von Amanullah Khan. Die Af- Provinz
falls Paschtune, aber Abdullah
ghanen verehren den alten Kö- A F G H A N I S TA N Nangarhar Abdullah repräsentiert vor allem
nig als Befreier von den Briten; Präsident die mehrheitlich tadschikischen
überdies ist er ein Verwandter Karzai 300 km Kräfte der ehemaligen Nord-
des Kandidaten Zalmai Rassoul, allianz. Die hatte 2001 gemein-
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 95
Ausland

sam mit den Amerikanern die Taliban- rung der Amerikaner zu unterschreiben, andere Intrige gegen den eigenwilligen
Regierung gestürzt. Der Ausgang dieses das sogenannte bilaterale Sicherheits- Paschtunen ausgedacht. So beschrieb der
Wettkampfs um die Macht ist noch offen, abkommen. Karzais Favorit ist sein ehe- ehemalige Pentagon-Chef Robert Gates
eine spätere Stichwahl zwischen Abdullah maliger Außenminister Zalmai Rassoul. in seinen Memoiren, wie die US-Re-
Abdullah und einem der beiden anderen Auch wenn sich seine beiden älteren Brü- gierung bei der Wahl 2009 in einem „un-
Kandidaten gilt als wahrscheinlich. In die- der, Qayum, 57, und Mahmoud, 58, eher beholfenen und gescheiterten Putsch“
sem zweiten Wahlgang dürfte dann Ghani als würdige Nachfolger betrachten. versuchte, den afghanischen Präsidenten
oder Rassoul die Wahl für sich entschei- Mahmoud sieht in Afghanistan eine loszuwerden. Die Konsequenz: „Unser
den. In den Hinterzimmern des Kabuler Goldgrube: „Ein Geschäftsmann wie ich Partner, der Präsident von Afghanistan,
Palasts wird in diesen Tagen allerdings wäre eine gute Wahl“, sagt er in seinem war beschädigt, und auch unsere Hände
auch an einer möglichen Koalition zwi- Haus im Stadtteil Sherpur, das uneinseh- waren schmutzig“, so Gates.
schen Rassoul und Abdullah gearbeitet,
gegen den Kandidaten Ghani. Und natür-
lich kann niemand ausschließen, dass Trotz aller Rückschläge findet Afghanistan Anschluss an
Lokalpolitiker am 5. April wie fast fünf
Jahre zuvor die Wahlurnen mit Geister- die moderne Welt: 18 Millionen besitzen ein Handy.
stimmen füllen werden.
Auch die Taliban beeinflussen das Er- bar hinter hohen Mauern liegt. Vor ihm Der Kandidat Rassoul sitzt inzwischen
gebnis auf ihre Weise. Im Süden bedro- sind in Glasschalen Früchte und Süßig- in Jalalabad beim Frühstück im Haus ei-
hen sie die Bürger mit Attentaten, falls keiten aufgetürmt, täglich erscheinen nes wohlhabenden Parlamentariers und
die es wagen sollten, zur Wahl zu gehen. zahllose Gäste in seinem Haus. „Geht es nagt an einem Hühnerbein. Mehr und
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht am Ende nicht immer um die Wirtschaft, mehr Unterstützer kommen in den Raum,
eine Bombe explodiert oder sich ein ums Geld?“, fragt Mahmoud Karzai. wollen den möglicherweise schon bald
Selbstmordattentäter in die Luft sprengt. Allerdings wird der Unternehmer ersten Mann im Staat an die Brust drü-
Zuletzt starben, am Donnerstag voriger schon seit Jahren wegen undurchsichtiger cken.
Woche, mindestens 18 Menschen bei ei- Geschäfte kritisiert. Besonders bizarr war So viel Aufmerksamkeit ist Rassoul
nem Taliban-Angriff auf eine Polizeista- seine Beteiligung an der skandalumwit- nicht gewohnt, und sie ist ihm auch nicht
tion in Jalalabad. Wie kann Afghanistan terten Kabul-Bank. Das private Geld- geheuer. Es ist erst acht Uhr morgens, er
je ein prosperierendes Land werden, in institut wurde durch das eigene Manage- hat wieder nur gut drei Stunden geschla-
das sich Investoren wagen, wenn es keine ment ausgeplündert, Hunderte Millionen fen in dieser Nacht. Im Morgengrauen
Sicherheit gibt? Dollar sollen veruntreut und per Flug- gab es eine Strategiesitzung mit seinem
Amtsinhaber Hamid Karzai darf laut zeug, versteckt in Servierwagen, außer Wahlkampfmanager, dann einen ziemlich
Verfassung nicht noch einmal antreten. Landes geschmuggelt worden sein. unruhigen Flug von der Hauptstadt hier-
Am Ende seiner Amtszeit ist der 56-Jähri- Das Verhältnis zwischen dem Präsiden- her, genau über jene Region nahe der pa-
ge frustriert und wütend. Er fühlt sich von ten und Mahmoud gilt als angespannt, kistanischen Grenze hinweg, in der früher
den Amerikanern verraten. Hauptstreit am Ende ließ Hamid den Bruder aber Qaida-Gründer Osama Bin Laden seine
ist der ungelöste Konflikt mit dem Nach- stets gewähren. Vertraute sagen, der Prä- Ausbildungslager unterhielt.
barn Pakistan, wohin sich die Taliban nach sident halte die Korruptionsvorwürfe ge- Die vergangenen zwölf Jahre hat Kar-
Anschlägen in Afghanistan bis heute un- gen seine Familie für politisch motiviert, zais ehemaliger Sicherheitsberater und
gehindert zurückziehen können. Und die eine Art psychologische Kriegsführung Außenminister im Schatten seines Chefs
Amerikaner, klagt Karzai, machten keinen der Amerikaner. Der Staatschef nimmt verbracht. Fast schien es, als wäre Rassoul
Druck auf die Regierung in Islamabad und an, US-Behörden fütterten die Medien bereits Teil des Palastmobiliars, wenn er
bekämpften die Terroristen nur in seinem gezielt mit Informationen, wenn sie ei- bei Treffen mit ausländischen Staatsgäs-
Land, aber nicht jenseits der Grenze. gentlich ihm schaden wollten. ten, Geheimdienstchefs oder den Taliban
Deshalb weigert er sich auch, den Ver- Ganz abwegig ist das nicht. Zumindest neben Karzai saß. Dabei blieb der Mann,
trag für eine weitere Truppenstationie- wurde in Washington schon die eine oder der in Paris Medizin studiert hat, vornehm
und leise. Niemand dürfte heute so viel
über die komplizierten afghanischen
Strukturen der Macht, über Händel und
Allianzen, die Hamid Karzai über die Jah-
re geschlossen hat, wissen wie Rassoul.
Die höfliche Zurückhaltung, die ihn an
der Seite von Karzai auszeichnete, wird
im Wahlkampf allerdings zu seinem größ-
ten Handicap. Feurige Reden liegen Ras-
soul nicht, sachlich kündigt er an, er wer-
de einiges anders machen als Karzai und
das bilaterale Sicherheitsabkommen mit
den USA sofort unterzeichnen. Rassoul
will „hart gegen die Korruption vorge-
hen“ und junge Leute in verantwortliche
Positionen bringen, anstatt dass diese wei-
ter mit Veteranen blockiert würden.
Denn trotz aller Rückschläge findet
PARWIZ / REUTERS

Afghanistan Anschluss an die moderne


Welt: 18 Millionen von 30 Millionen Af-
ghanen besitzen ein eigenes Handy, es
gibt 24 afghanische TV-Kanäle mit politi-
Rassoul-Rivale Abdullah: Machtgerangel in den Hinterzimmern von Kabul schen Debatten, Kochshows und Bolly-
96 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
MASSOUD HOSSAINI / AP / DPA
Anhängerinnen der Vizepräsidentschaftskandidatin Sarabi: Echte Chancen auf einen Wahlsieg

wood-Dramen, 26 staatliche Universitä- Von Kritikern lange als eine Art Bür- Haus ist frisch renoviert, in freundlichem
ten und mehr als 40 private Hochschulen. germeister von Kabul belächelt, baute er Gelb, mit blauen Sonnenschirmchen, um-
„Das ist die neue Generation der Afgha- so über die Jahre seine Macht aus, über geben von einem Garten, selbst der türkis
nen, Menschen des 21. Jahrhunderts“, alle Landesteile, ethnische und politische schimmernde Swimmingpool ist wieder-
sagt der Kandidat. Unterschiede hinweg. Heute kann Karzai hergestellt. Einst war dies die Winterresi-
In Kabul gibt es Geldautomaten und fast jeden einflussreichen Politiker in die- denz der Königsfamilie.
Shopping-Malls, täglich gehen mindes- sem schwierigen Land anrufen und um Tausende Menschen haben sich inzwi-
tens fünf Flüge nach Dubai. 20-jährige Unterstützung bitten, er ist ein Meister schen auf dem Rasen der Sportanlage
Männer tragen jetzt enge schwarze An- des politischen Deals geworden. versammelt, vor allem junge Afghanen.
züge und Haarschnitte wie aus westlichen Nur, warum nötigte der Staatschef Viele erleben hier ihre erste Wahlveran-
Magazinen. Mehr Freiheit, mehr Selbst- dann Anfang März den eigenen Bruder staltung überhaupt. Als die Kandidaten
bewusstsein, ein besseres Leben, auch das Qayum zur Aufgabe seiner Präsident- aufmarschieren, fuchteln die Besucher
ist Afghanistan, gut zwölf Jahre nach dem schaftskandidatur? Qayum hatte sich zur mit ihren Handys herum, alle wollen ein
11. September 2001. Wahl registrieren lassen – mit Mahmoud Bild machen von Rassoul, auch von Ha-
Aber wird Rassoul, falls er diese Wahl als seinem Wahlkampfmanager. Doch der biba Sarabi, die Rassoul als seine künftige
gewinnt, nicht eine Marionette des Schat- Präsident machte vor einer Versammlung Vizepräsidentin vorstellt. Derzeit ist sie
tenpräsidenten Karzai sein, wie viele be- von Stammesältesten deutlich, dass er die einzige Frau mit echten Chancen auf
haupten, die beide gut kennen? Karzai sich nicht für die Brüder verwenden einen Sieg. Frenetischen Jubel erhält Zia
will nach seiner Amtszeit in ein frisch werde, sondern für Rassoul. Zähneknir- Massud, der Bruder des Nordallianz-Kom-
renoviertes Haus auf dem Palastgelände schend schlossen die Brüder sich nun des- mandeurs Ahmed Schah Massud. Jahre-
ziehen, in unmittelbarer Nähe zum neuen sen Kampagne an. Dort machen die Kar- lang hatte der gegen die Taliban ge-
Präsidenten. Rassoul dementiert: „Nie- zais weiter ihren Einfluss geltend, aber kämpft, bis Qaida-Anhänger zwei Tage
mand kann mich beeinflussen oder än- nur aus der zweiten Reihe. vor dem 11. September 2001 einen töd-
dern, was ich für Afghanistan will.“ Herausforderer Abdullah wittert hinter lichen Anschlag auf ihn verübten.
Als Politiker könnten Rassoul und Kar- dem Manöver einen Plan des Präsidenten. Dann ertönt die Nationalhymne. Ras-
zai unterschiedlicher kaum sein, und vie- In der Geschichte der afghanischen Mon- soul trägt inzwischen einen riesigen Tur-
les dürfte sich grundsätzlich ändern, falls archien hätten Brüder immer wieder Brü- ban, das Zeichen der Anerkennung für
der langjährige Vertraute tatsächlich in der getötet, Söhne Väter ermordet und seine Führerschaft. Alle stehen auf, es
den Palast einzieht. Dort hält der extro- Väter Söhne geblendet, sagt Abdullah. wird richtig feierlich. Die Polizei sichert
vertierte Karzai bisher täglich Hof, er „Karzai traut Mahmoud und Qayum nicht die Massenveranstaltung diesmal erstaun-
empfängt Delegierte aus den Provin- und glaubt, Zalmai Rassoul leichter kon- lich souverän, weit und breit ist kein Sol-
zen, küsst ihre staubigen Bärte, hört ihre trollieren zu können.“ Wer immer künftig dat der internationalen Schutztruppe zu
Nöte an, erfüllt ihre Bitten. Es ist Karzais regieren wird, muss auch weiterhin mit sehen. Die junge Islamische Republik Af-
größtes politisches Talent, Kontakte mit dem Karzai-Einfluss rechnen. ghanistan ist nun doch noch zu einem
Menschen herzustellen, selbst den Feind Das Stadion von Nangarhar liegt gleich Staat geworden, labil, fragil, korrupt, aber
noch herzlich zu umarmen. hinter dem Sitz des Gouverneurs. Das nicht mehr ganz so leicht umzuwerfen. 
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 97
Ausland

OLORON-SAINTE-MARIE
Formschön wasserdicht
GLOBAL VILLAGE: Wie ein Ire den letzten französischen
Baskenmützen-Hersteller vor dem Untergang bewahren will

E
s habe natürlich mit den Chinesen nicht im Baskenland hergestellt, sondern und Polizeikräfte. Doch auch hier ist die
zu tun, dass es nur noch eine einzi- in der Nachbarregion Béarn, die ebenfalls Konkurrenz hart. Viele Firmen schlos-
ge Fabrik in ganz Frankreich gibt, direkt an der spanischen Grenze liegt. sen, als Jacques Chirac die Wehrpflicht
die Baskenmützen herstellt, sagt Mark Aber der Mann, der im Auftrag von Saun- abschaffte. Chinesen, Pakistaner und
Saunders, aber auch mit den Franzosen ders durch die Fabrik führt, ist tatsächlich Tschechen stellen billigere Mützen her.
selbst. Vielleicht sogar mit den Kennedys. Baske. Er heißt Serge Marticorena, ist 55 Fast wäre auch die Laulhère-Manufak-
Saunders ist ein rothaariger Ire mit De- und spricht mit dem herben Akzent des tur zugrunde gegangen, vor zwei Jah-
signerbrille, er steht vor den Fabrikhallen Südens. Seit 32 Jahren arbeitet er hier. ren, sie war schon insolvent. Dann
der Firma Laulhère in Oloron-Sainte- Früher gab es in Oloron 360 Angestellte, kam der Armeeausrüstungs-Hersteller
Marie, einem malerischen Ort am Fuß der heute sind es nur noch 37. Cargo-Promodis, übernahm sie, inves-
französischen Pyrenäen, 11 000 Einwoh- Marticorena führt stolz durch Räume, tierte 500 000 Euro und holte Saunders
ner. Früher einmal war Oloron bekannt in denen lauter eigenartige Maschinen an Bord.
für seine Manufakturen, die Baskenmüt- stehen, viele hat er in den achtziger Jah- Es geht bei der Frage, ob Frankreich
zen und Stoffschuhe herstellten. Es gab ren selbst konstruiert. „Wir machen alles noch Bérets herstellt, auch um Politik.
vor Jahrzehnten noch Frankreichs Industrie ver-
über 20 Werkstätten, heu- liert immer mehr Ar-
te ist Laulhère die letzte beitsplätze, wegen hoher
Überlebende eines tradi- Abgaben und Lohnkos-
tionsreichen Gewerbes. ten ist das Land weniger
Seine Aufgabe sei es, wettbewerbsfähig. Auch
sagt Saunders, die Bas- deswegen hat sich In-
kenmütze wieder cool zu dustrieminister Arnaud
machen. Montebourg im vergan-
Man kann sich als Aus- genen Jahr bei einer
länder wenig Französi- Messe mit dem Thema

GARI GARAIALDE / BOSTOK PHOTO / DER SPIEGEL


scheres vorstellen als die „Made in France“ mit ei-
Baskenmütze, sie ist ein nem Laulhère-Béret ab-
Nationalsymbol wie Ba- lichten lassen.
guettes und Eiffelturm. Der Minister hat es
Nur cool ist sie schon lan- sich zur Aufgabe ge-
ge nicht mehr. Schon gar macht, Frankreich zu
nicht in Frankreich. reindustrialisieren, und
Dabei gab es einmal eine schließende Basken-
berühmte Baskenmüt- mützen-Fabrik wäre für
zen-Träger. Pablo Picasso die Regierung kein gutes
gehörte dazu, Che Gue- Marketingexperte Saunders: Die Baskenmütze cool machen Symbol. Saunders will
vara auch – und viele Ré- über Politik nicht reden,
sistance-Kämpfer. Aber aber über den Coup mit
Männerhüte sind schon dem Industrieminister ist
in den Sechzigern aus der Mode geraten. selbst, nur die Schafe nicht“, sagt er. In er glücklich, er hat ihm die Mütze selbst
Der Schuldige, sagt Mark Saunders, sei Raum eins werden die Mützen aus Wolle in die Hand gedrückt.
wohl John F. Kennedy, er habe sich als von Maschinen gestrickt. In Raum zwei Lieber schwärmt er von seinem Pro-
einer der ersten Prominenten barhäuptig werden sie in riesigen Trommeln gefärbt dukt: Es ist einfach, formschön und was-
gezeigt. Es begann die Krise der Hut- und gewaschen, damit sie zusammen- serdicht. 800 Meter Merinowolle stecken
industrie, und die Baskenmütze geriet in schnurren. In Raum drei werden sie weich in jeder Mütze. Acht Stunden dauert die
den Ruf, etwas für Landeier zu sein. gebürstet und in Form gebracht, schließ- Herstellung eines Bérets, es geht dabei
„Wir müssen die Franzosen wieder lich das Futter und bei manchen Modellen durch die Hände von 20 Angestellten.
überzeugen“, sagt Saunders, „dass die ein Lederband eingenäht. Eine Männermütze kostet je nach Modell
Baskenmütze etwas Französisches ist.“ Bei einigen Maschinen gibt es Details, 40 bis 75 Euro, ein Frauenmodell 20 bis
Er hat jetzt schicke Schachteln herstel- sagt Marticorena, die er nicht fotografiert 95 Euro. „Eigentlich sollten wir es für das
len lassen, in denen er die Mützen wie sehen möchte. Zur Sicherheit. Wegen der Dreifache verkaufen“, sagt Saunders.
ein Luxusprodukt präsentiert. In den Pro- Chinesen. „Das sind sehr kluge Leute“, „Das bekommen wir leider nicht.“
spekten werden keine Schafe abgebildet, sagt er. „Ich habe schon vor 40 Jahren ein 160000 Stück haben sie voriges Jahr her-
stattdessen gibt es eine Fotoserie mit Hips- Buch über sie gelesen, in dem stand, wie gestellt, dieses Jahr sollen es 200 000 wer-
tern, die sein Produkt tragen. Saunders erfolgreich sie mal würden. Das hätten an- den – die französische Armee hat eine
sagt: „Wir müssen urbaner werden.“ dere Leute damals besser auch gelesen.“ Großbestellung aufgegeben. Für die Deut-
Das Produkt heißt zwar „béret basque“, Mehr als die Hälfte der Mützen, die schen haben sie hier auch mal produziert,
aber in Frankreich wird es traditionell Laulhère produziert, gehen an Armee- aber das ist lange her. MATHIEU VON ROHR
100 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Szene Sport
NEWSPIX / ACTION PRESS

Tennisprofi Djoković bei den


Australian Open 2012

TENNIS
Einkommen mit Tenniswetten, hat aber keine Ahnung von
dem Sport. Er sagt, er gucke vielleicht eine Stunde Tennis
im Jahr. Feustel vertraut der Mathematik. Er hat einen Algo-
Die Zocker-Tour rithmus erstellt, für den er die Daten von 260 000 Tennisspie-
len ausgewertet hat. Wer hat welche Bilanz gegen wen? Wer
spielt besser auf Sand? Wer macht wie viele Doppelfehler?
Man kann mit Tennis viel Geld verdienen. Als Profi auf der 60 Stunden in der Woche kontrolliert und verfeinert er sein
Tour. Und als Zocker. Bei Betfair, der größten Online-Wett- Verfahren, auf dessen Grundlage er täglich 30 Wetten ab-
börse der Welt, wird nur auf Fußballspiele und Pferderennen schließt. Feustel sagt, sein Ziel sei ein jährlicher Gewinn von
mehr Geld gesetzt als auf Tennis-Matches: 60 Millionen zwei Prozent, das heißt, wenn er fünf Millionen Euro setzt,
Euro waren es zum Beispiel allein beim Finale der Australian verdient er 100 000 Euro. William Knottenbelt, Privatdozent
Open 2012 zwischen Rafael Nadal und Novak Djoković. Ten- für Informatik am Londoner Imperial College, sagt, Tennis
niswetten sind verlockend, irgendwo findet immer gerade eigne sich besonders für einen Algorithmus, weil an einem
ein Turnier statt, Zehntausende Matches werden jedes Jahr Einzel nur zwei Spieler beteiligt und Match-Statistiken
gespielt, Millionen Punkte. Der Amerikaner Elihu Feustel, leicht zu erhalten seien. Er selbst hat auch schon ein Rechen-
ein ehemaliger Wirtschaftsanwalt aus South Bend im US- modell erstellt: Bei Wetten auf 2173 Spiele der ATP-Tour
Bundesstaat Indiana, verdient seit zweieinhalb Jahren sein 2011 hätte er 3,8 Prozent Gewinn erzielt.

FUSSBALL
zent des Preises nicht überschreiten. Die Arbeitsgruppe „Ticketing/Zweit-
DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig markt“ entwickelte das Konzept unter
hofft „auf eine breite Zustimmung“ anderem, weil es in den vergangenen
Faire Tickets der 36 Vertreter aller Clubs aus Erster
und Zweiter Bundesliga. „Die bisheri-
Monaten immer wieder Fanproteste
gegen die Zweitmarkt-Ticketbörse
Die Deutsche Fußball Liga (DFL) will gen Signale waren durchweg positiv.“ Viagogo gegeben hatte. Die Schweizer
an diesem Montag auf ihrer Mitglieder- Bereits im Laufe der kommenden Sai- Firma arbeitete mit zahlreichen Bun-
versammlung die Einführung eines son soll es zu einer ersten Testphase desligavereinen zusammen, verärgerte
zentralen Zweitmarkt-Ticketsystems kommen. Die Entscheidung, ein neues aber gleichzeitig etliche Fans mit Lie-
beschließen: Der Verband möchte eine Ticketsystem aufzubauen, traf der Vor- ferproblemen und Bearbeitungsgebüh-
eigene Online-Plattform anbieten, die stand des Ligaverbands bereits am ren, die zum Teil über dem eigent-
den Tausch und die Weitergabe von 10. März, wie aus einem internen Ver- lichen Ticketpreis lagen. Verbindlich
Karten zwischen Fans legalisiert und merk hervorgeht. Die DFL-Spitze ist die neue Ticketbörse für die Ver-
vereinfacht. Die Tickets dürfen dort beschloss damals auch, dass die Ver- eine allerdings nicht, sie dürfen weiter-
nur zum Originalpreis angeboten wer- eine mit dem neuen Zweitmarktsys- hin eigene Ticketbörsen betreiben
den, die Bearbeitungsgebühr soll 15 Pro- tem keine Gewinne anstreben dürfen. oder mit Drittanbietern kooperieren.
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 103
ABENTEUER

Der Canyon
In einem Tiefseegraben vor Nazaré in Portugal bilden sich nach Stürmen
unheimliche Riesenwellen, sie locken Extremsurfer aus aller Welt
in den Fischerort. Der Stadtrat vermarktet das Spektakel als Touristenattraktion.

104 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Sport

heute schon Wellen gesehen, die 20 Meter seien. Ein Abgeordneter nahm Kontakt zu
hoch waren.“ Garrett McNamara auf. Der Profisurfer aus
Hm. Hawaii ist schon auf Flutwellen kalbender
„Gut, vielleicht 15 Meter.“ Gletscher in der Arktis gesurft. McNamara
Er schaut auf die Uhr. Wann ist Flut? nahm das Revier in Augenschein und war
Jetzt. „Okay, Showtime.“ begeistert. Der Stadtrat engagierte ihn dar-
Seine Frau Nicole schläft noch. McNa- aufhin als Surf-Stuntman.
mara fährt zum Hafen, er hat dort einen Wann immer die Wellen groß genug
Schuppen, sein Basislager. Ein paar Hel- sind, kommt McNamara nun eingeflogen,
fer haben alles vorbereitet, zwei Jetskis um auf den Riesenbrechern zu reiten –
liegen startklar im Hafenbecken, die Surf- zur Volksbelustigung. Und die PR-Kam-
boards sind vertäut. McNamara zieht pagne funktioniert. 2011 surfte McNama-
einen Neoprenanzug an, eine Neopren- ra vor dem Praia do Norte auf einer
haube, Neoprenschuhe und eine Kevlar- 24-Meter-Welle. Die Marke steht im
Schutzweste mit eingebautem Airbag. Guinness-Buch. Nazaré ist jetzt berühmt.
Für den Notfall. Der Ort mit den Weltrekordwellen.
Nazaré, 15 000 Einwohner, liegt nörd- „McNamara hat unsere Stadt wach-
lich von Lissabon, ein Badeort, etwas in geküsst“, sagt Bürgermeister Walter
die Jahre gekommen, berühmt Chicharro von der Sozialisti-
für seine Strandpromenade, für schen Partei. Die Hotels seien
wilde Faschingspartys – und besser gebucht, die Restaurants
enorme Wellen. Wenn im Win- S PA N I E N besser besucht, auch in der
ter auf dem Atlantik Stürme Nebensaison. Aus ganz Europa
toben, bilden sich im Nazaré kämen Surfer, Reporter und
Canyon, einem Tiefseegraben, Touristen, um die Wellen und
der direkt bis an die Strände Porto den Surfer McNamara zu be-
heranreicht, Brecher im Hoch- wundern. „Auch die ersten
hausformat. Viele Wracks lie- Nazaré Russen waren schon da“, sagt
gen vor Nazaré, verschluckt Chicharro.
von Monsterwellen, die aus dem P O RT UG AL Er sitzt im Restaurant Celeste
Nichts kamen. Auch ein deut- Lissabon an der Standpromenade, es ist
sches U-Boot aus dem Zweiten auch das Stammlokal von
Weltkrieg soll tief unten zwi- McNamara. Der Inhaber hat ein
schen den Felsen klemmen. Menü nach dem Surfer benannt.
Mit dem Jetski dauert die Alle sind ihm so dankbar. Es
Fahrt vom Hafen in die Bran- 150 km gibt jetzt eine McNamara-Aus-
dungszone vor dem Praia do stellung in der alten Festung un-
Norte, dem Nordstrand, keine ter dem Leuchtturm, demnächst
fünf Minuten. McNamara und seine Pilo- wird das McNamara-Performance-Big-
ten sind jetzt nur noch kleine Punkte in Wave-Center in der Nähe des Nordstrands
einer Landschaft aus Wasserbergen. Weil eröffnet, wo Lehrveranstaltungen für Ex-
die Wellen zu groß sind, um sie mit reiner tremsurfer abgehalten werden sollen.
Armkraft anzupaddeln, lässt sich McNa- Garrett McNamara stammt eigentlich
mara mit einem Seil am Jetski hängend aus Massachusetts, lebt aber schon lange
in die Wasserwände ziehen. Tow-in nennt auf der hawaiianischen Insel Oahu, dem
sich die Technik. Nach jedem Ritt holt ihn berühmtesten aller Surferparadiese. Er
einer der Jetskifahrer schnell wieder aus hat ein ziemlich wildes Leben hinter sich,
der Gefahrenzone. Einmal gelingt das was man ihm auch ansieht. Er gehört zu
nicht. Eine Lawine aus Weißwasser rollt den Stars der Big-Wave-Szene, jenen Sur-
TOMANEPHOTOS

über den Surfer hinweg. Ein Raunen geht fern, die um die Welt reisen, auf der Jagd
durch das Publikum oben auf den Klip- nach dem größten aller Brecher. Wenn
pen. Es dauert fast 30 Sekunden, bis er von den Wellen vor Nazaré spricht,
Surfer McNamara vor Nazaré McNamara wieder auftaucht. Der zweite klingt er wie ein irrer Künstler. „Sie sind
Wer stürzt, ist gefangen Jetski kommt herbeigeprescht, zieht den meine Entdeckung, meine Liebe, meine
in einer Todeszone aus Schaum, Havaristen aus dem Schaum. Jetzt großes Muse, unergründlich und mysteriös“, sagt
Strömungen und Strudeln Gejohle bei den Zuschauern, Applaus. McNamara und kichert in einer Tonlage,
Zwei Stunden später steht McNamara als hätte er Helium inhaliert.
in seinem Hafenschuppen unter der Du- Die Theorie, wie die Riesenwellen ent-

D
ie Klippen ragen weit hinaus ins sche. Der Gladiator von Nazaré singt, es stehen, geht so: Im Nazaré Canyon wer-
Meer, ganz vorn steht ein roter war wohl ein guter Tag. „Wie viele Men- den Dünungen unterschiedlicher Rich-
Leuchtturm. Souvenirhändler bau- schen standen auf den Klippen?“ Rund tungen gebündelt und aufgetürmt. Eine
en Stände auf, Reisebusse aus Lissabon 200. „Ha, morgen ist Sonntag, da kom- gegenläufige Strömung vor den Klippen
sind eingetroffen. Rentner in Windjacken, men über tausend.“ schaukelt die anrollenden Brecher wo-
junge Paare. Sie gucken auf die Uhr. Die Wirtschaftskrise in Portugal hat Na- möglich noch weiter auf.
Wann kommt der Surfer? zaré schwer gezeichnet, die Kommune hat McNamara sagt: „Egal wie die Dinger
Garrett McNamara, 46, hager, graue Schulden, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Vor genau entstehen, Hauptsache, sie sind
Schläfen, steht am großen Panoramafens- vier Jahren überlegte der Stadtrat, ob viel- hoch.“
ter seines Hotels und beobachtet die leicht die Riesenwellen vorn an den Klip- Die Fischer im Hafen nennen ihn den
Brandung vor den Klippen. „Ich habe pen als Touristenattraktion zu vermarkten „verrückten Ami“. Es kommen jetzt auch
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 105
schließende Rettungsaktion verlief chao-
tisch. Nur mit Glück schaffte es Burle,
die bewusstlose Surferin an den Strand
zurückzubringen.
Steudtner geht das Big-Wave-Surfen
wissenschaftlich an. Er arbeitet mit ei-
nem Militärarzt an einem neuen Über-
lebenssystem. Er ließ sich auf seinem
Brett von einem Power-Boot über den

PATRICIA DE MELO MOREIRA / AFP


Wolfgangsee in Österreich ziehen, um
sich an die Geschwindigkeiten in den
Riesenwellen zu gewöhnen. Er nahm an
dem Spezialtraining des ehemaligen Ski-
rennläufers Hermann Maier teil, um fit
zu werden.
Steudtner und sein Partner Eric Re-
Werbefigur McNamara: Windkanal-Tests bei Mercedes in Sindelfingen bière, ein ehemaliger Wettkampfsurfer
aus Frankreich, sind ein gut eingespieltes
Team. „Die Welle kann kommen“, sagt
andere Draufgänger nach Nazaré. Shane Inzwischen hat er ein zweites Wasser- Steudtner. Sie sind bereit.
Dorian, ein Hawaiianer, reiste voriges motorrad. Er hat auch alle nötigen Ge- Aber McNamara, der König von Na-
Jahr mit einem Expeditionsteam an. Zwei nehmigungen, es kann jetzt losgehen. zaré, ist es auch.
Hubschrauber, zwei Jetskis, ein Dutzend Leider ist die Wellensaison in Portugal Er steht in seiner Lagerhalle im Hafen
Helfer. Am Ende erwischte der Matador fast zu Ende. und macht Dehnübungen. Seine Helfer
gerade mal zwei durchschnittliche Wel- Extremsurfen ist eine große Ego-Show. polieren die Bretter. Für das McNamara-
len, ein Wassermotorrad ging zu Bruch. Europäer werden in der von Hawaiianern Surfprojekt hat der Stadtrat eine eigene
Dorian verschwand so schnell, wie er ge- dominierten Szene kaum ernst genom- Firma gegründet, deren Mitarbeiter sich
kommen war. men. Deutsche gar nicht. um die Logistik und um die Vermarktung
„Alle wollen, aber nicht jeder kann“, Jedes Frühjahr kürt die Branche bei ei- kümmern. Hauptsponsor ist ein großes
sagt McNamara und grinst. Noch ist er ner großen Gala in Anaheim, Kalifornien, Telekommunikationsunternehmen. Zu
der König von Nazaré. die mutigsten Surfer der Saison. Vor vier den weiteren Geldgebern gehört auch
In der Straße im Hafen, wo er seinen Jahren gewann Steudtner bei den XXL Mercedes. McNamara stehen zwei SUV
Schuppen hat, hat sich vor einigen Mo- Global Big Wave Awards den Wellenrei- der Marke zur Verfügung. Man lud ihn
naten auch ein junger deutscher Surfer ter-Oscar mit seinem Ritt auf der 22-Me- ins Designzentrum nach Sindelfingen ein,
eine kleine Halle gemietet. McNamara ter-Welle vor Maui. Großes Entsetzen bei wo er Windkanaltests machte. Das Fir-
redet nicht so gern darüber. der Festgemeinde. Wie kann das sein? menlogo prangt jetzt auf der Spitze seiner
Sebastian Steudtner, 28, säubert einen Die drei stockbesoffenen Laudatoren be- Bretter, McNamara nennt sie die „Silber-
seiner Jetskis, ein nagelneues Modell, pöbelten den Preisträger, es fiel auch der pfeile der Meere“.
über 120 PS. Steudtner kommt aus Nürn- Begriff „Nazi“. Steudtner, ein sehr guter Steudtners einziger Sponsor ist ein
berg, hat aber lange auf Maui gelebt. Be- Thaiboxer, blieb ruhig und schleppte lä- Fahrradhersteller.
reits als 19-Jähriger glitt er dort seine erste chelnd den Siegerscheck davon. Der Deutsche? Ach ja. „Netter Typ“,
10-Meter-Welle hinunter. Er gehört zu den Um seinen Sport zu finanzieren, schuf- sagt McNamara und zuckt mit den Schul-
besten Extremsurfern der Welt, sein bis- tete Steudtner in Hawaii auf dem Bau, tern. Dann springt er in sein Auto, er will
heriger Rekordbrecher: 22 Meter. jetzt hält er Motivationsvorträge vor Ma- zurück ins Hotel und im Fitnessraum
Steudtner und McNamara kennen ein- nagern von Dax-Konzernen. Er kann sich noch eine Stunde Yoga machen.
ander gut, sie haben schon vor Hawaii gerade so über Wasser halten. In Nazaré Steudtner sitzt zum Abendessen im
und Tahiti miteinander gesurft. Jetzt sind wohnt er in einem kleinen Apartment, Restaurant Celeste. Er genießt hier auch
sie im Hafen von Nazaré Nachbarn – und aber er ist nur selten dort. Er beobachtet Sonderkonditionen, einer der Ober ist
gehen sich aus dem Weg. im Internet die Wellenvorhersagen, ist ein Freund von ihm. Bürgermeister Chi-
Als Steudtner im Winter 2012 in Naza- ständig in Bewegung. Lanzarote, die charro ist ebenfalls wieder da. Er erzählt,
ré ankam, standen überall am Strand Fah- Westküste von Irland, Galicien, Frank- dass er im Februar mit McNamara auf ei-
nen mit dem Konterfei von McNamara. reich, demnächst vielleicht Chile. Irgend- ner großen Tourismusmesse in New York
„Da wusste ich schon, dass es hart wird. wann bricht irgendwo die Superwelle, er war, um Nazaré vorzustellen. „Die Leute
Garrett ist hier der Platzhirsch“, sagt er. möchte sie nicht verpassen. standen bei uns Schlange, wegen der Wel-
Vorigen November verpasste die Poli- Nazaré, sagt Steudtner, sei ein „schla- len, wegen Garrett“, sagt Chicharro.
zei Steudtner nach einer Surfsession ei- fender Riese“, der Praia do Norte habe Er klopft Steudtner auf die Schulter,
nen Strafzettel, 500 Euro, weil er verpasst das Potential für 30-Meter-Wellen. Aber als müsste er ihn trösten.
habe, sich eine Surfgenehmigung auf Nazaré ist auch gefährlich. Wer stürzt Steudtner sagt, er wolle sein eigenes
dem Amt ausstellen zu lassen. Genau vor und nicht mehr vom Jetski geborgen wer- Revier finden, eines, das er nur für sich
dem Tag mit den höchsten Wellen im den kann, ist gefangen in einer Todes- hat. Er hat schon ein Ziel. Es ist sehr
Januar konfiszierten die Behörden dann zone aus Schaum, Strudeln, Strömungen abgelegen, Kamtschatka. Eine Halbinsel
Steudtners Jetski, angeblich wegen tech- und kabbeligen Wellen aus allen Rich- im ostasiatischen Teil Russlands. Er hat
nischer Mängel. Als er das Gefährt nach tungen. Vorigen Oktober wäre die brasi- bereits Seekarten und Daten über Taifun-
zehn Tagen wiederhatte, durfte er nicht lianische Profisurferin Maya Gabeira fast verläufe gegoogelt. GERHARD PFEIL
aufs Wasser, weil es plötzlich eine neue vor Nazaré ertrunken, sie hatte sich von
Regel gab. Aus Sicherheitsgründen muss ihrem Landsmann Carlos Burle in eine Video:
jetzt immer ein zweiter Jetski dabei sein. große Welle ziehen lassen, stürzte aber Reiter der Riesenwellen
Wieder verpasste Steudtner einige gute nach wenigen Sekunden. Der Brecher spiegel.de/app132014bigwave
Surftage. ging krachend über ihr nieder, die an- oder in der App DER SPIEGEL

106 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Sport

Zudem bringt der Verkauf von Anteilen


im Moment sportlicher Erfolge natürlich
FUSSBALL ebenfalls Geld in die Kasse. Andernorts
wurden dagegen Anteilsverkäufe oft dis-

„Hofknicks vor dem Meister“ kutiert als letzte finanzielle Chance. Aber
welcher Sponsor will dann das große
Geld investieren?
SPIEGEL: Und was sagen Sie den Dortmun-
Christian Seifert, 44, Chef der Deutschen dern, denen die Münchner erst Mario
Fußball Liga, über die Dominanz des FC Bayern und deutsche Götze und danach Robert Lewandowski
weggeschnappt haben?
Proficlubs, die ihr Potential nicht ausschöpfen Seifert: Na ja, für Götze hat Borussia
Dortmund viel Geld bekommen. Und ich
SPIEGEL: Herr Seifert, die Bun- sollte aber nicht die Diskussion darüber bin sicher, dass der Club das sehr gut
desliga ist so langweilig. verhindern, ob die Bundesliga als Ganzes investiert. Und haben die Dortmunder
MARTIN LEISSL / LAIF

Seifert: Finde ich nicht. mit Blick auf ihre sportliche Leistungs- nicht auch Marco Reus aus Gladbach ge-
SPIEGEL: Viele der Fans, die fähigkeit noch Luft nach oben hat. holt? Wir können doch die Mechanismen
nicht Anhänger des FC Bay- SPIEGEL: Und? Hat sie Luft nach oben? des Geschäfts nicht verändern.
ern sind, aber schon. Seifert: Wir müssen konstatieren, dass in SPIEGEL: Machen Sie sich keine Gedanken,
Seifert: Nur weil eine Meis- der Bundesliga acht Clubs einen Etat wie die Liga in der Balance zu halten ist,
terschaft früh entschieden wird, sehe ich von mehr als hundert Millionen Euro ha- damit keine Verhältnisse wie in Spanien
nicht, dass Langeweile aufkommt. Das ben. Zwar haben wir in dieser Saison entstehen, wo in den vergangenen Jahren
Rennen um den Titel ist sicherlich die zwei Vereine im Viertelfinale der Cham- nur Real Madrid und der FC Barcelona
wichtigste, aber nur eine von vielen Ent- pions League, im Achtelfinale der Europa um den Titel spielten?
scheidungen. Im Schnitt gehen nach wie League war die Bundesliga aber nicht ver- Seifert: Als DFL sind wir verantwortlich
vor 43 000 Zuschauer zu jedem Bundes- treten. Fakt ist, dass viele Bundesligisten für eine der größten und besten Sportligen
ligaspiel, die Quoten großer TV-Formate mehr finanzielle Möglichkeiten haben als der Welt. Deshalb dürfen wir nicht aktio-
liegen über dem Vorjahr. Das zeigt: Die die meisten anderen Clubs in Europa. Das nistisch oder populistisch denken, sondern
Fans fiebern auch mit beim Kampf gegen sollte sich auf Dauer auch in den sport- müssen eine umfassende und langfristige
den Abstieg, beim Kampf um die Cham- lichen Leistungen niederschlagen. Perspektive wählen. Nach zehn Jahren ge-
pions-League- und die Europa-League- SPIEGEL: Warum schöpfen die Vereine ihr hört die deutsche Liga wieder zu den Top
Plätze. Fragen Sie doch mal einen Fan Potential nicht aus? Drei in Europa. Das Durchschnittsalter der
von Mainz 05, Borussia Mönchenglad- Seifert: Das hat möglicherweise auch et- Spieler ist in diesem Zeitraum gesunken,
bach oder dem FC Augsburg, ob die Liga was mit der Diskussion um die Vormacht- gleichzeitig ist der Anteil deutscher Spieler
aktuell langweilig ist. stellung der Bayern zu tun. Statt über die nach oben gegangen. Wenn über Jahre ei-

Spieler des FC Bayern

MIS / PICTURE ALLIANCE


SPIEGEL: Aber es ist gerade mal März, und Münchner zu sprechen, wäre es vielleicht nige unserer Clubs international erfolg-
die Meisterschaft ist gelaufen. Das kann besser, sich auf die eigenen Stärken zu reich spielen, dann wird der Wettbewerb
Sie, den Vermarkter des Unterhaltungs- besinnen. So wie es etwa die Dortmunder auch national intakt bleiben.
betriebs Bundesliga, doch nicht glücklich oder die Mainzer tun. Wenn man aber SPIEGEL: Mancher Vereinspräsident fordert
machen. nur immer die Bayern besonders stark- die Aufweichung der 50-plus-1-Regel, da-
Seifert: Gut, März ist ein bisschen früh. redet, nimmt man etwas Druck von sich – mit finanzstarke Geldgeber mehr Einfluss
Wenn das in den nächsten Jahren so wei- und den eigenen Ansprüchen. bekommen. Was halten Sie davon?
terginge, würde ich mir Gedanken ma- SPIEGEL: Verstecken sich Großclubs wie Seifert: Diese Präsidenten sollten dann
chen. Schalke 04 hinter den Bayern? mit ihrem Club Anträge zur Änderung
SPIEGEL: Ist die Dominanz der Bayern ge- Seifert: Unabhängig von Schalke: Für die der Statuten stellen. Denn darüber ent-
schäftsschädigend? Bundesliga ist es nicht gefährlich, dass scheiden die Vereine, nicht die DFL. Per-
Seifert: Nein. Ich halte es für grundfalsch, der FC Bayern aktuell allen davoneilt. sönlich glaube ich nicht, dass der unstruk-
immer nur auf die Dominanz der Bayern Gefährlich wird es erst, wenn es zur turierte Zufluss von Kapital automatisch
zu verweisen. Man muss auch die Frage Grundeinstellung wird, dass alle aus dem dazu führt, dass die Leistungen besser
stellen: Warum ist der Vorsprung so groß? Mannschaftsbus aussteigen und sofort werden. Man sieht das an einigen inter-
SPIEGEL: Bayern-Sportvorstand Matthias den Hofknicks vor dem großen Meister nationalen Beispielen. Vielleicht ist zu
Sammer meinte kürzlich, die Konkurren- machen; dann haben wir echte Probleme. viel Geld sogar schädlich. Denn wer zu
ten in der Liga würden sich nicht genug SPIEGEL: Ist der Kern des Problems nicht, viel hat, kauft fünf Spieler, wenn die nicht
anstrengen. Teilen Sie diese Meinung? dass dem FC Bayern einfach das meiste funktionieren, kauft man die nächsten
Seifert: Ich kenne Matthias Sammer sehr Geld zur Verfügung steht? fünf. Da gehen die akribische Detailarbeit
gut und habe verstanden, was er gemeint Seifert: Kontinuierliche Einnahmen aus und die Leidenschaft, die die Bundesliga
hat. Die Zuspitzung auf die Trainings- der Champions League und solide Arbeit stark gemacht haben, total verloren.
arbeit anderer war nicht glücklich. Das führen eben zu einer großen Finanzkraft. INTERVIEW: RAFAEL BUSCHMANN, GERHARD PFEIL

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 107
Prisma

K U LT U R G E S C H I C H T E
schließen und – manchmal auch ganz
bewusst – ausschließen.
KOMMENTAR SPIEGEL: Sie haben ein ganzes Buch
„Mäuse statt Menschen“ über die Komik der alten Ägypter ge-
adress.unsinn Der Bonner Archäologe
schrieben. Welchen Stellenwert hatte
Humor damals?

VOLKER LANNERT
Von Hilmar Schmundt Ludwig Morenz, 48, über Morenz: Für die Ägypter des zweiten
den Humor der alten Jahrtausends vor Christus war eine
Es gibt eine neue Immobilienblase – Ägypter Welt ohne Lachen ein Horrorszenario.
diesmal im Internet. Das ließ sich vori- So heißt es in den Mahnworten des
ge Woche besichtigen. Berlin ist vorne SPIEGEL: Haben Sie einen ägyptischen Ipuwer: „Wahrlich, Lachen ist vergan-
mit dabei: Flughafen können wir zwar Lieblingswitz? gen und wird nicht länger gemacht –
nicht, dafür aber Netz. Mit solchem Morenz: Klagt ein Handwerker, der an Jammern ist es, was durch das Land
Gerede feierten ein paar Geschäfte- einer hölzernen Standstatue arbeitet: ist, vermischt mit Weheklagen.“
macher am Dienstag im Roten Rat- „Einen Monat schon lege ich Hand an SPIEGEL: Gibt es Kategorien von Wit-
haus sich selbst. Der Anlass: Neuer- diese Statue, welche in meinem Auftrag zen wie bei uns die Ostfriesen- oder
dings kann man für rund 30 Euro im ist.“ Darauf ein anderer, der eine sit- Blondinenwitze?
Jahr Internet-Immobilien wie zende Statue aus Stein erschafft: „Du Morenz: Witze dienten oft der Bestäti-
www.currywurst.berlin kaufen. Toll. bist eben ein Narr deiner Arbeitskalku- gung der Wertesysteme, man lachte
Die neue Top-Level-Domain namens lation: Hast du nicht etwa zu mir ge- gern über sozial niedriger Gestellte.
.berlin ist damit anderen neuen Regio- sagt: Holz ist wie Stein?“ In diesem Fremde wurden als kulturell hoffnungs-
naladressen zuvorgekommen: .paris, Dialog wird der eine Bildhauer von sei- los unterlegen parodiert und in Bild und
.ruhr, .wien, .nyc. Darauf ist man nun nem Kollegen in ironischer Weise für Schrift lächerlich gemacht. Dies galt
stolz wie Bolle. Aber warum eigent- seine Prahlerei zurechtgewiesen. Der aber auch für die innerägyptische So-
lich? Dies sei einer der größten Um- Klagende meißelt noch, während der zialstruktur. So lästerten die Schreiber
brüche in der Internetgeschichte, Spottende bereits poliert. Verschärfend – eine sozial hochstehende Gruppe –
raunte ein eigens eingeflogener Emis- kommt hinzu, dass der klagende Mann über die Handwerker: „Der Töpfer ist
sär von Icann, der in Los Angeles ge- an einer Holzstatue arbeitet, der spot- unter der Erde, obwohl seine Lebenszeit
gründeten Firma, die 1998 von der US- tende dagegen an einer Steinstatue. Der doch unter den Lebenden ist. Er wühlt
Regierung damit beauftragt worden Übertreiber schafft es also noch nicht sich in dem Sumpf mehr als Schweine,
war, die Namen im Internet zu ver- einmal, eine Holzstatue im selben Tem- um seine Töpfe zu brennen. Sein Kleid
walten. Rund 1300 neue Topadressen po fertigzustellen wie sein Kollege eine ist steif von Lehm, sein Gürtel ist ein
wollen die Domain-Makler auf den große Steinfigur. Hier wird die Selbst- Stofffetzen. Es tritt Luft in seine Nase,
Markt werfen, darunter .sexy, .guru, überschätzung aufs Korn genommen, die geradewegs aus dem Ofen kommt.“
.singles, .tattoo, .rich, .cheap. Pro also ein immer noch relevantes Thema. Diese Berufssatire war im alten Ägyp-
neuer Adressendung kassiert Icann SPIEGEL: Das wäre heute trotzdem ten Schullektüre und sollte die Schreib-
185 000 Dollar vom Zwischenhändler, nicht gerade ein Brüller … schüler zum Lernen motivieren.
plus 25 000 pro Jahr. Wofür eigent- Morenz: Wahrscheinlich nicht. Humor SPIEGEL: Wer hat Witze erzählt – und
lich? Es gehe um Innovation, Chan- setzt ein spezifisches kulturelles Wis- wem?
cen, Stärkung der Regionen, Fairness, sen voraus. Wir können durchaus von Morenz: Humor als Lebenshaltung und
heißt es. Aber mal ehrlich: Wer tippt Lachgemeinschaften sprechen, die ein- die darin wurzelnden Witze waren ver-
noch Internetadressen ein? Domain- breitet, aber in Bild und Schrift erhal-
Namen spielen heute kaum noch ten ist nur der Oberschichtenhumor,
eine Rolle, denn fast jede Suche be- etwa auf Darstellungen in den Grä-
ginnt bei Google. Wichtiger als der bern oder in den Tempeln der Götter.
PROF. LUDWIG MORENZ / UNIVERSITÄT BONN

Name ist das Ranking auf Bewertungs- Stärker alltagsweltlich sind Malereien
portalen, das dürfte sich so bald nicht auf Tonscherben. Ein Bild-Ostrakon
ändern. Viele Firmen, die neue Do- des Neuen Reiches zeigt zum Beispiel
mains anmelden, tun das rein defen- eine Parodie auf einer Prozession: In
siv, um Missbrauch durch Betrüger der Rolle der Menschen sind Mäuse
zuvorzukommen. Weniger ist abgebildet, was die eigene Lebenspra-
manchmal mehr: .kiwi oder .kaufen xis ironisiert.
schaffen nicht Klarheit, sondern
Chaos. Wo soll man nun nach einem * Ludwig Morenz: „Kleine Archäologie des ägyptischen
Hotel suchen: unter www.adlon.de, Prozessionsparodie mit Mäusen Humors“. EB-Verlag, Berlin; 250 Seiten; 22,80 Euro.
adlon.berlin, adlon.luxury oder
adlon.holiday? Die wundersame Ver-
mehrung der Domains erinnere sie
an fragwürdige Finanzprodukte, kriti-
sierte die Hightech-Pionierin Esther 39 %
sehen die Sterilität des OP-Bestecks
Dyson 2011, einst selbst Vorsitzende
von Icann: Es gehe weniger um Inno-
vation als um Abzocke. Recht hat sie.
Icanns Angebot ähnelt Optionsschei-
nen auf Baugrund in Atlantis. Nach
21 %
der befragten Pflegekräfte im OP-Bereich
nicht immer gewährleistet

39 %
würden, wenn sie noch einmal wählen
dem Motto: www.teurer.bullshit. von Krankenhäusern möchten nicht im könnten, ihren Beruf nicht wieder ergreifen
eigenen Haus operiert werden Quelle: ZGWR an der FH Frankfurt 2013, 1400 Befragte

108 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Wissenschaft · Technik

Tanzender Winzling
An zwei einander zugewandte
Vögel erinnert das grellbunte
Muster auf dem Hinterleib der
westaustralischen Pfauenspin-
ne „Maratus avibus“ (avis = der
Vogel). Männliche Exemplare der
erst in diesem Jahr beschriebe-
nen Art beeindrucken aber nicht
nur durch ihre markante Zeich-
nung: Der elegante Balztanz der
nur wenige Millimeter großen
Spinnenmännchen lässt poten-
tielle Partnerinnen gleichsam er-
starren. Die Paarung kann dann
JURGEN OTTO

bis zu zwei Stunden dauern.

MEDIZIN
sogenannten Häufignutzern ärztlicher pro Jahr konsultieren – oft mehrere
Leistungen gehören. Ergebnis: 19 Pro- Ärzte derselben Fachrichtung. Wegen
zent fallen in diese Kategorie. Bislang dieser Arzt-Hopper fehle den Medizi-
Weltmeister beim sprachen Kassenfunktionäre schon bei nern die Zeit für jene Kranken, die

Ärzte-Hopping jährlich mehr als 18 Praxisbesuchen


von „Arztrennerei“; tatsächlich gehen
einige Ältere fast viermal so oft zum
„einer intensiven Diagnostik und The-
rapie bedürfen“, kritisiert der Forscher.
Ursachen für die Fehlversorgung sieht
Die Deutschen gehen gern zum Dok- Arzt. „Das ist ein deutsches Phäno- er bei den Ärzten, die die Patienten
tor – manche so oft, dass sie ebenso gut men“, sagt der Mediziner, „wenn ich immer wieder einbestellen, und im
gleich dableiben könnten. „Rund zwei- im Ausland davon erzähle, heißt es Gesundheitssystem, das für jede Über-
einhalb Millionen ältere Versicherte immer, die Zahlen können nicht stim- weisung einen Gang zum Hausarzt
gehen mehr als einmal pro Woche zum men.“ Ein Teil der Patienten ist zwar vorschreibt. „Die Beziehung zwischen
Arzt“, sagt Hendrik van den Bussche tatsächlich chronisch krank. Doch van Arzt und Patient ist dann wie eine
vom Universitätsklinikum Hamburg- den Bussche identifizierte auch eine lange Ehe“, sagt van den Bussche,
Eppendorf. Anhand von Statistiken der Gruppe von rund 1,7 Millionen Häufig- „irgendwann weiß man nicht mehr,
Gmünder Ersatzkasse hat er ermittelt, nutzern, die weit weniger hinfällig sind, warum man so viel Zeit miteinander
wie viele der über 65-Jährigen zu den aber rund zwölf verschiedene Praxen verbringt.“
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 109
Ein ganz normaler Flug
Der Geisterflug MH 370 bewegt die Welt. Das Verschwinden der Maschine mit
239 Menschen an Bord erschüttert das Vertrauen in die Allgegenwart moderner
Technik. Kieler Ozeanografen bereiten ihr Spezial-U-Boot für die Suche vor.
Titel

E
s ist ein Wunder, jeden Tag wieder. Wenn wieder eine Pressekonferenz
Mehr als 40 000 Passagierflugzeuge vorüber ist und die aus ganz China ange-
heben ab von den Startbahnen der reisten Familien für ein paar Stunden in
Welt. Mehr als acht Millionen Menschen ihre Hotelzimmer zurückkehren, müssen
sitzen darin. Die Passagiere donnern in die Angehörigen einen engen Korridor
dünnwandigen Metallzylindern voller entlang und eine Treppe hinunter, an der
hochentzündlichem Sprit durch die Luft. links und rechts Fernsehteams stehen
Fast mit Schallgeschwindigkeit jetten sie und sie mit Fragen löchern. Zwei Wo-
in den Urlaub, zum Geschäftstermin, zu chen nach dem Verschwinden der Ma-
ihren Lieben. Manche fliegen gern, man- schine haben sie keine Antworten
che voller Angst. Und doch nimmt nahe- mehr. Ihre Gesichter sind leer. Sie du-
zu jeder Flug ein Happy End. cken sich und halten abwehrend die
Das Fliegen im Jahr 2014 ist heraus- Arme hoch.
ragend sicher, dank der Piloten, der Flug- Flug MH 370 dürfte die ultimative
lotsen, der Ingenieure von Airbus, Boeing Kränkung für eine hochtechnologisierte
und ihrer Zulieferer, dank strikter Auf- Zivilisation sein, die sich von einer Ar-
sichtsbehörden, dank ausgefeilter Kon- mada von Satelliten umkreisen lässt. Mit
troll- und Leitsysteme an Bord, auf dem Hilfe dieser künstlichen Monde können
Boden und im All. Mensch und Technik, Menschen von jedem Punkt der Erdober-
beide nicht perfekt, greifen perfekt inein- fläche aus telefonieren oder ihren Weg
ander, und darum sind auch am 8. März durch eine fremde Stadt finden. Auto-
alle Flugzeuge heil gelandet. kennzeichen lassen sich aus dem All er-
Alle – nur eines nicht. spähen und Wale durch das Meer verfol-
Ein Jet fehlt. Flug MH 370 von Malay- gen – nur eine fehlende 777 aufzuspüren,
sia Airlines hat es nicht nach Peking ge- das klappt nicht.
schafft. Ein Riesenvogel mit 239 Men- Die malaysische Justiz, flankiert von
schen an Bord verschwand nahezu spur- Geheimdiensten und Luftaufsichtsbehör-
los vom Himmel. Und kein Funkspruch, den vieler Länder, ermittelt offiziell we-
nichts. Etwas Furchtbares ist geschehen, gen Sabotage, Terrorismus, Entführung
etwas, das es in der Luftfahrtgeschichte und Selbstmord eines Piloten. Aber ob
so noch nie gegeben hat. es einen Täter gibt, ist längst nicht ausge-
Die Menschen wollten per Nachtflug macht. Die Geschehnisse an Bord von
nach Peking – jetzt liegen ihre Überreste Flug MH 370 sind ein Mysterium par ex-
vermutlich im wüsten Süden des Indi- cellence und eine Tragödie; ob sie auch
schen Ozeans, am Ende der Welt, in ei- einen Kriminalfall darstellen, daran sind
nem so gottverlassenen Meer, dass frag- zumindest Zweifel erlaubt (siehe Inter-
lich ist, ob hier überhaupt jemals schon view Seite 118).
ein Mensch ein Seegrab gefunden hat. In der dritten Woche nach dem Ver-
Vielleicht sind die 239 die Ersten. schwinden des Jets ist der Ermittlungs-
Seit mehr als zwei Wochen harren stand konfus bis desaströs. Ein Satellit
Angehörige vieler chinesischer Opfer der US-Firma Digital Globe hat Objekte
im Pekinger Hotelbunker Metropark Lido entdeckt im Wasser, 2500 Kilometer süd-
aus. Im zweiten Stock zwei triste Ballräu- westlich des australischen Perth. Ob es
me. Hier sitzt die Schicksalsgemeinschaft sich wirklich um Wrackteile handelt,
beisammen, Väter, Mütter, Geschwister blieb bis Samstagfrüh unklar. Noch frag-
und die Kinder derer, die nichts weiter licher ist, ob an dieser Stelle jemals etwas
getan haben, als am falschen Tag ins fal- zu bergen sein wird.
sche Flugzeug einer namhaften Flug- Die auftriebgebende Luft könnte den
gesellschaft gestiegen zu sein. schwimmenden Trümmern längst ent-
Psychologen kümmern sich um die An- wichen sein, wenn die Bergungsschiffe
gehörigen, doch was diese wirklich wol- ankommen. In dieser Meeresregion herr-
len, das bekommen sie nicht. Jeden Tag schen immerzu extreme Strömungen,
starren sie auf die Monitore des chinesi-
schen Staatsfernsehens, das die Presse-
konferenzen aus Kuala Lumpur überträgt.
Was sie da hören, sind keine Antworten
auf die Schlüsselfragen: Wann sind die
239 Menschen gestorben? Wo genau? Un-
ter welchen schrecklichen Umständen?
Warum und durch wen?
Und sind die Insassen von MH 370
wirklich tot? Warten sie nicht vielleicht
doch noch irgendwo auf Hilfe, auf ei-
ZUMA PRESS / ACTION PRESS

ner abgeschiedenen Insel, auf einer


ULLSTEIN BILD

Regenwald-Landepiste – oder auf den


Verzweifelte Angehörige der aufgeblasenen Rettungsinseln der Ma-
Passagiere von MH 370 schine?
Unglücksmaschine*
* Aufgenommen bei einem früheren Flug am 5. Februar. Neues Futter für die Flugangst
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 111
Titel

Stilles Drama 2. Die Schicksalsminuten ZČŭťğŅıćĨŭğš^ŭğĴŅīųĬ


Was über den Flug MH 370 Die Piloten melden sich um 1:19 Uhr bei Bei einem Feuer an Bord könnte der Pilot
bekannt ist der malaysischen Flugsicherung ab. Um versucht haben, die Flammen zu ersti-
1:21 Uhr verstummt der Transponder, mit cken, indem er in die sauerstoffarme
dem die Maschine ihre Identität an die Höhe fliegt. Sind Terroristen oder ein le-
Fluglotsen schickt. Etwa zu dieser Zeit bensmüder Pilot im Cockpit, haben die
1. Routinestart fällt auch das Datenkommunikationssys- Crew oder Passagiere vielleicht ver-
Die Boeing 777, Flugnum- tem Acars aus. Das Flugzeug dreht eine sucht, den Saboteur niederzuringen.
mer MH 370, startet in enge Kurve und fliegt zunächst zurück in Dabei gerät das Flugzeug kurzfristig
Kuala Lumpur und erreicht Richtung Kuala Lumpur. außer Kontrolle.
nach rund 20 Minuten die Drei denkbare Szenarien: Ein Entführer könnte die Maschine auch
normale Reiseflughöhe von ĴōŭğĔıōĴťĔığš ğĨğłŭ ğŭſćğĴō in große Höhe gebracht und den Sauer-
10 650 m. Die Piloten Feuer oder ein Schaden an der stoff aus der Kabine abgelassen haben,
haben schon vor dem Start  šųĔłłćĒĴōğ ſĴōĬŭĚĴğVĴŅœŭğōųš um die Passagiere außer Gefecht zu
den Bordcomputer mit den Umkehr. setzen. Denkbar wäre auch, dass
Zielkoordinaten Pekings eğššœšĴťŭğōťŭŸšŋğōĴōĚćťœĔłŝĴŭ  bereits alle Insassen tot sind,
gefüttert. Der Autopilot  ťĔıćŅŭğōĚĴğ<œŋŋųōĴłćŭĴœōťĬğšČŭğ die Maschine ohne Auto-
steuert die Maschine ent-  ćųťųōĚŸĒğšōğıŋğōĚĴğ(ğſćŅŭ pilot taumelt und
lang dieser Route.  ŸĒğšĚćť&ŅųĬğųĬ^ĴğſĴōĬğōĚğō dabei einen neu-
 VĴŅœŭğō ĚĴğ<ğıšŭſğōĚğųīĴğĬğō  en Kurs ein-
oder tun dies selbst. schlägt.
ĴōğšĚğšĒğĴĚğōVĴŅœŭğōŸĒğšōĴŋŋŭ
 ĴōĒſğťğōığĴŭťğĴōğť<œŅŅğĬğōĚćť
 ^ŭğųğšųōĚžğšŅČťťŭĴō^ğŅĒťŭŋœšĚ
 ćĒťĴĔıŭĚğōžœšĬğĬğĒğōğō<ųšťš
 ŅČťťŭĚćť&ŅųĬğųĬōĴĔıŭĚĴšğłŭćĒ
 ťŭŸšğōkŋťğĴōğ^ğŅĒťŭŋœšĚ
 ćĒťĴĔıŭųžğšťĔıŅğĴğšō ŅČťťŭ herrschte das Ereignis das Internet, Twit-
 ğšĚĴğDćťĔıĴōğīĴğĬğō  ter und die Nachrichtenseiten. Millionen
 ĒĴťĚĴğećōłťŅğğšťĴōĚ Freiwillige beteiligten sich daheim an der
Suche und werteten jene Satellitenauf-
nahmen aus, die Digital Globe kostenlos
extremer Wellengang und mise- ins Netz stellt.
rable Sicht. „Roaring Forties“ nen- Das Schicksal von MH 370 geht unter
nen Seeleute diese lebensfeindliche die Haut; denn diese Geschichte steckt
Region nahe dem 40. Grad südlicher voller Rätsel, voller Grauen und Futter
Breite. Schon jetzt, so warnen australische für die allseits schlummernde Flugangst.
Forscher, wäre das auseinanderdriftende Die Story wechselt von einem Cliffhanger
Trümmerfeld Hunderte Ki- zum nächsten – von einem versuchten
lometer entfernt von der Terrorakt bis zum Massenmord über den
Absturzstelle und den Wracktei- Wolken, von einem technischen Defekt
len auf dem Meeresboden.
Unerbittlich tickt die Uhr. Der Notsen-
der an der Blackbox der Maschine ist da- Haben die Passagiere mit-
für gebaut, 30 Tage lang ein Signal zu ge- erlebt, was geschieht?
ben. In spätestens zwei Wochen wird er
für immer schweigen. Natürlich kann die Wussten sie, dass ihre
Blackbox dann trotzdem noch gefunden
werden, aber die Bergung wird schwieri- Piloten vielleicht tot sind?
ger, teurer, unwahrscheinlicher.
Die Regierung Malaysias ist überfor- bis zu kriminellem Wahn. Jede Theorie
dert mit der Krise – und nicht nur sie. scheint möglich. Und weil der Hergang
&ŅųĬĴōťvğšĚğšĒğō Die Staaten, Behörden und Militärs der so unsicher ist, die gesicherten Daten so
Die Maschine sendet jetzt nur noch Region tun sich schwer, freiwillig Infor- spärlich sind, erscheint nichts unmöglich.
pro Stunde ein kurzes Signal an mationen mit anderen Staaten, Behörden Haben die Passagiere miterlebt, was ge-
einen Inmarsat-Kommunikations- und Militärs der Region zu teilen. Und schieht? Wussten sie, dass ihre Piloten
satelliten. Fachleute errechnen, wenn doch, dann nur häppchenweise. vielleicht nicht mehr am Leben sind?
dass das Flugzeug noch weitere Erst zehn Tage nach dem Unglück Das Nichtwissen befeuert die Phantasie
sechs Stunden geflogen sein muss. rückte Thailands Armee mit der Mel- besonders der Verschwörungstheoretiker.
Als wahrscheinlich gilt ein Südkurs. dung raus, dass sie sehr wohl Radarsig- Im Netz kursieren die wildesten Szena-
Beim letzten Funksignal könnte die rien: Das US-Militär hat die Maschine ab-
nale von der verschwundenen Maschine
Maschine demnach rund 2500 km
südwestlich von Australien abge- aufgefangen hatte. Die Signale belegen, geschossen, um zu verhindern, dass wich-
stürzt sein, weil ihr das Kerosin dass MH 370 etwa eine Dreiviertelstun- tige Spezialisten nach China gelangen.
ausging. de nach dem Start kehrtmachte. Mögli- Nordkorea war im Spiel – oder Außer-
ches Ziel: der Ausgangsflughafen Kuala irdische. Besonders die Abhörer der NSA
Lumpur. stehen hoch im Kurs. Die, die ja ansons-
Wie kein Flugzeugunglück zuvor ten alles wissen auf dieser Welt, tun jetzt
bannt der Todesflug von MH 370 die so, als wüssten sie nichts. Das kann nur
5 Aufmerksamkeit der Welt. Tagelang be- eine Lüge sein.
112 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Reiseroute nach Peking

4
3
2
1

Flughöhe nicht maßstabsgerecht

4. Letzter Radarkontakt
Kuala Lumpur
Um 2:15 Uhr wird die Maschine das letzte M A L AY S I A
Mal von einem Militärradar erfasst. Wollen die
Piloten auf dem Flugplatz auf einer vorgelagerten
Insel landen, oder fliegt die Maschine bereits ohne
einen Piloten hinter dem Steuerknüppel?

I N D O N E S I E N

Zuvor kauften sie nach bisherigen Er-


mittlungen bei einem Mittelsmann na-
mens „Mister Ali“ die gefälschten Pässe:
Delawar reiste wohl als Luigi Maraldi,
italienischer Staatsbürger; Nurmoham-
madi trat als Christian Kozel aus Öster-
reich auf. In Kuala Lumpur verbrachten
sie eine gute Woche. Sie besuchten die
Petronas Towers, gingen in Einkaufszen-
tren, wo sie sich gegenseitig fotogra-
fierten – zwei unsichere junge Männer,
denen augenscheinlich nicht ganz wohl
war bei dem, was sie vorhatten, der ille-
JUSTIN BENSON-COOPER / GETTY IMAGES

galen Einreise in eine Welt, die sie nicht


kannten. Doch auf dem Weg in die
Freiheit fanden sie höchstwahrscheinlich

EN
den Tod.

LI
TRA
Nurmohammadis Mutter war nach

AUS
Frankfurt gekommen, um ihren Sohn, der
kaum Deutsch sprach, abzuholen. Nach
langem Warten erfuhr sie offenbar nur,
Pilot der australischen Luftwaffe bei Suchaktion: „Eine der stärksten Strömungen der Welt“ dass das Flugzeug wohl vermisst sei.
Somit hat sich die Iran-Terror-Connec-
So windet sich die Geschichte wie ein für jene, die es sich leisten können, ein tion vermutlich erledigt. Die wirre Ge-
Thriller. Selbst manche Ermittler gingen beliebtes Ziel: Hier können sie unkom- schichte um MH 370 aber entwickelte
vor wie Verschwörungstheoretiker und pliziert ohne Visum für zwei Wochen ein- sich weiter. Plötzlich sahen die Ermittler
erklärten pauschal alle 239 zu Verdächti- reisen, hier sind sie willkommen, trotz in den Piloten keine Opfer mehr – son-
gen. Zu Beginn erschienen die beiden Pi- schiitischer Religion, trotz iranischer Her- dern Täter.
loten als Opfer, die von Terroristen über- kunft – der malaysische Islam ist verhält- Dieser Theorie zufolge warteten die
wältigt wurden. Schließlich waren zwei nismäßig liberal. Piloten absichtsvoll, bis sie sich aus dem
Iraner an Bord, die mit gestohlenen Päs- Und darum ist Kuala Lumpur bei Ira- malaysischen Luftraum verabschieden
sen unterwegs waren. Iraner! Falsche nern eine beliebte Drehscheibe, um in konnten. Noch bevor sie sich im vietna-
Pässe! Der Terrorverdacht schien erhärtet, andere Länder zu gelangen. Das wollte mesischen Luftraum anmeldeten, schal-
als das Wrack der Maschine noch im Süd- zumindest Nurmohammadi. Seine Mutter, teten sie planvoll alle Systeme ab, die
chinesischen Meer vor Vietnam vermutet eine ehemalige Hebamme aus Teheran, eine Ortung der Maschine hätten ermög-
wurde. lebt offenbar mit seinem jüngeren Bruder lichen können. Und dann flogen sie tarn-
Puria Nurmohammadi und sein Freund in Hamburg. Sie habe hier Asyl beantragt, kappenbombergleich weiter, bis die
Sejed Mohammed Reza Delawar, nach ist zu erfahren. Das Verfahren laufe noch. Tanks leer waren.
Quellenlage 19 und 29 Jahre alt, waren Es gilt als sicher, das Nurmohammadi das Nur, wo steckt darin der Sinn? Gut,
offenbar am 27. Februar von Teheran aus Gleiche vorhatte. Er wollte via Peking, vielleicht wollten sie das ja gar nicht so.
nach Kuala Lumpur geflogen. Malaysia Amsterdam und Frankfurt nach Ham- Vielleicht wollten sie die Maschine irgend-
ist für iranische Staatsbürger, jedenfalls burg. wo landen, um sie später für einen Terror-
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 113
Titel

angriff zu benutzen – ganz so, als wäre er konnte, ging er mit seinem Vater beten,
es möglich, eine 777 heimlich zu landen, fünfmal am Tag. Ein guter Muslim – aber
heimlich zu betanken und dann heimlich ein Terrorist?
in ferne Länder zu steuern. Natürlich: Psychopathen gibt es über-
Tagelang hallten abstruse Theorien wie all – also auch in der Luft. Doch es gibt
diese unwidersprochen über den Erdball. keinen Hinweis, dass Zaharie und Fariq
Irgendwann sahen sich selbst die Taliban dazugehörten. Haben sie den Antrag ge-
genötigt einzuschreiten. Solch einen An- stellt, an diesem Tag gemeinsam zu flie-
griff würden sie ja gern verüben, teilte gen? Nein. Hat Zaharie beim Betanken
ein Sprecher der pakistanischen Taliban der Maschine mehr Sprit an Bord genom-
der Nachrichtenagentur Reuters mit, doch men, als er bis Peking gebraucht hätte?
leider liege der weit außerhalb ihrer Kom- Nein.
REX FEATURES / ACTION PRESS

petenz. Auch die Einzeltäter-Theorie ist nur


Kapitän Zaharie Ahmad Shah, 53, war schwer vorstellbar. Ihr zufolge hat der
dreifacher Vater und bereits Großvater, eine Pilot den anderen getötet, etwa mit
ein Mann, der nach Aussage seines Freun- der Cockpit-Axt, um sich dann ungestört
des Peter Chong, 51, gern kochte und seinem irren Selbstmordplan zu widmen.
angelte und auf YouTube-Videos der Tatsächlich gibt es in der Luftfahrt-
Kapitän Zaharie Welt erklärte, wie sich zum Beispiel eine geschichte mindestens zwei Präzedenz-
Klimaanlage stromsparender betreiben fälle, in denen angeblich suizidale Piloten
lässt. Mit mehr als 18 000 Flugstunden ihre Passagiere mit ins Jenseits nahmen.
war er als Pilot sehr erfahren und den- Beide Fälle gelten bis heute als umstritten.
noch, so berichten seine Freunde und Die Maschinen gingen jedenfalls kurz
Kollegen, saß er immer noch mit voller nach dem Start frontal zu Boden oder zu
Leidenschaft hinter dem Steuerhorn. Wasser. Sie flogen nicht, wie im Fall von
Menschen heil ans Ziel zu bringen, das MH 370, noch mindestens sieben Stunden
war sein Ziel. lang ins Nirgendwo.
Daheim, das machte die Ermittler stut- Aber bei MH 370 bleiben ja noch über
zig, fanden sie einen selbstgebauten Flug- 230 weitere Verdächtige. 153 von ihnen
simulator, so wie ihn auch Tausende Flug- sind Chinesen. Der chinesische Geheim-
enthusiasten besitzen. Auf ihn, sagt sein dienst hat inzwischen jeden Einzelnen
Freund Chong, „war er stolz“. Was kann überprüft, aber nichts gefunden. Chen
REX FEATURES / ACTION PRESS

er damit gewollt haben? Dann kam her- Yun, 56, war eine pensionierte Lehrerin
aus, dass er darauf kürzlich sogar „Daten am Mode-Institut Peking. Sie war auf
gelöscht“ hatte. Was hatte der Mann zu dem Rückweg aus Nepal, wo sie mit ihrer
verbergen? Reisegruppe in einem kleinen Flugzeug
In Wahrheit wohl nichts. Natürlich den Mount Everest umrundet hatte. Dann
muss ein versierter Pilot nicht am Spiel- bestieg sie den Schicksalsflug.
Co-Pilot Fariq zeugsimulator daheim üben, um mit sei- Genauso lesen sich die übrigen Ge-
ner Boeing 777 etwas Böses anzurichten. schichten. Shi Xianwen, 26, hatte für ein
Die Theorie wird dennoch weiterverfolgt. Ingenieurbüro einen Kongress in Austra-
US-Experten werten jetzt den Rechner lien besucht. Vor dem Abflug in Perth
seines Simulators forensisch aus; der Ver- kaufte er seiner Frau eine Armbanduhr.
dacht gegen Zaharie besteht weiterhin. Vor einem halben Jahr hatten sie einen
WIELAND WAGNER / DER SPIEGEL

Man kann ja nie wissen. Sohn bekommen.


Der Pilot soll auch unzufrieden mit sei- Der Wanderarbeiter Feng Dong wäre
ner Regierung gewesen sein, seit 1955 am 9. März 21 Jahre alt geworden. Er war
ist Malaysia quasi ein Einparteienstaat. nach Singapur gegangen, um sich auf dem
Zaharie sympathisierte mit dem wegen Bau zu verdingen. Weil Flüge in die Hei-
angeblicher Homosexualität frisch verur- mat von Singapur aus viel teurer sind,
teilten Oppositionsführer Anwar Ibrahim. fuhr er mit dem Bus nach Kuala Lumpur.
Pilotenfreund Chong Die berüchtigte „Daily Mail“ in London Hier lockte das Ticket-Schnäppchen: der
stempelte Zaharie gar zu dessen „fanati- Nachtflug MH 370.
schem Anhänger“ – wofür es nicht den Sein Vater, Wanderarbeiter wie der
kleinsten Beleg gibt. Sohn, erfuhr in Chinas Westregion Xin-
Bleibt der Co-Pilot. Fariq Abdul Ha- jiang von dem Unglück. Er setzte sich in
mid, 27, hatte über 2700 Flugstunden hin- den Zug und war 30 Stunden lang unter-
ter sich. Auf der Boeing 777 allerdings wegs, bis er in Peking ankam. Im Hotel
war er ein Frischling, der noch seine liebe Metropark Lido nahm er das Angebot
Not mit der Maschine gehabt haben dürf- der Fluglinie an und flog nach Kuala Lum-
te. Erst im Februar hatte er nach wochen- pur. Seine Frau, eine Analphabetin, ist
langem Büffeln und Üben die Berechti- schwer krank. Der Sohn hatte sie beide
gung erhalten, eine 777 zu fliegen. finanziell unterstützt.
Bevor ihm die Havarie dazwischen- Wang Rui, 35, und seine Frau Jiao Wei-
AHMAD YUSNI / DPA

kam, soll er die Hochzeit mit seiner wei, 32, hatten ihren ersten Familien-
Freundin, ebenfalls einer Berufspilotin, urlaub im Ausland abgeschlossen, mit ih-
vorbereitet haben. Er plante offenbar, rem kleinen Sohn Moheng, „Boss Mo“
eine Familie zu gründen, aber noch wohn- genannt. Wang, der in den USA studiert
Angehöriger Selamat te er zu Hause mit seinen Eltern. Wenn hatte, arbeitete für eine Bostoner Con-
114 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Titel

klären sein. „Es ist“, so sagt ein Berufs-


pilot, „als hätte man drei Puzzlesteine,
grün, blau und gelb. Und damit würde
man versuchen zu erraten, was das Bil-
derpuzzle am Ende zeigen wird.“
Der Schock darüber, dass ein Jet von
60 Meter Spannweite einfach verlorenge-
hen kann, führt zu der Frage, ob Flug-
zeuge nicht künftig besser ausgestattet
werden sollten. An Ideen für eine bessere
Überwachung von Flügen mangelt es
nicht.
Was nur Eingeweihte wissen: Im Mai
vergangenen Jahres startete der europäi-
sche Satellit Proba-V in den Orbit. Der

CHINAFOTOPRESS / GETTY IMAGES


künstliche Trabant verfügt über eine
beim Deutschen Zentrum für Luft- und
Raumfahrt (DLR) in Bremen entwickelte
Antenne, mit deren Hilfe sich spezielle
Funksignale von Flugzeugen aufzeichnen
lassen.
Diese sogenannten ADS-B-Signale
Passagierangehörige mit Journalisten in Peking: Leere Gesichter versendet ein moderner Flieger kontinu-
ierlich, darin enthalten sind die Kennung
sulting-Firma, seine Frau für ein Software- er mit Vorliebe von seinem Job. „Am des Flugzeugs, dessen Flugbahn und die
Unternehmen. Sie waren nach Kota Ki- Fernseher zeigte er uns dann Filme von Geschwindigkeit. Nur empfangen werden
nabalu geflogen, zu jenem malaysischen vermissten oder verunglückten Flugzeu- können diese Signale bislang nicht überall
Strandziel, das für die chinesische Mittel- gen“, sagt Adib. „Er erklärte uns, was so auf der Welt.
schicht das ist, was für die deutsche einst alles passieren kann beim Fliegen.“ „Vor allem über den Ozeanen gibt es
Rimini war. Was beim Fliegen so alles passiert – riesige Gebiete, in denen Flugzeuge noch
Und so geht es weiter, Passagier für das wird von diesem mysteriösen Un- heute fliegen, ohne dass am Boden je-
Passagier ein ganz normaler Flug. Dienst- glück an mit anderen Augen gesehen. Die mand weiß, wo sie sich genau befinden“,
reisende und Urlauber waren an Bord, Ermittler konzentrieren sich auf die ent- erklärt DLR-Mann Jörg Behrens. Beim
aber offenbar keine Terroristen. Künstler, scheidenden 20 Minuten, die ziemlich ge- Absturz des Air-France-Airbus mit der
Techniker und fünf Kinder, aber offenbar nau um 1.21 Uhr Ortszeit begonnen ha- Flugnummer AF 447 im Jahr 2009 war
keine Saboteure. ben müssen. In diesem Moment ver- genau dies der Fall: Mitten im Atlantik,
Oder etwa doch? Da wäre noch der stummte an Bord der Boeing mit dem zwischen Afrika und Brasilien, war das
Fall von Mohamad Khairul Amri Selamat, Kennzeichen 9M-MRO der Transponder, Flugzeug auf keinem Radar mehr regi-
29. Er war Flugzeugmechaniker. Mehr- jenes Gerät, mit dem ein Flugzeug den striert, als es auf dem Meer aufschlug.
mals monatlich flog er nach Peking, um Lotsen seine Identität übermittelt. Und Wäre es schon damals möglich gewe-
die Privatjets der Reichen zu warten. Er noch ein Kommunikationssystem ver- sen, die Maschine ständig vom Weltall
saß, wie üblich, in der Business-Class von aus zu orten, hätten die Bergungsmann-
MH 370, unweit der Piloten. Natürlich schaften sofort gewusst, wo sie suchen
hatte er Kenntnisse, ein Flugzeug zu sa- Wird sich das größte müssen. „Unser System würde es erleich-
botieren – und darum haben die Ermittler Rätsel in der Geschichte tern, die letzte Position bei Flugzeug-
ihn ins Visier genommen. abstürzen zu erkennen“, sagt Behrens.
„Was andere Leute über meinen Sohn der Luftfahrt Die Tests mit dem neuen Ortungssystem
behaupten, kann ich nicht ändern“, sagt verlaufen vielversprechend.
sein Vater Selamat Omar, 60, ein armer niemals lösen lassen? Bislang war die Luftfahrtgemeinde sehr
Bauer aus dem Nordosten des Landes. zögerlich, so eine Technologie auch ein-
„Aber ich bin mir ganz sicher: Er hat kei- stummte. Es heißt Acars und schickt wich- zusetzen. Rätselhafte Abstürze sind sel-
ne Schuld.“ Selamat zieht an seiner Zi- tige technische Daten zwischen dem Flug- ten, die Kosten für eine permanente Sa-
garette, es ist die dritte in zehn Minuten. zeug und dem Kontrollzentrum der Air- tellitenüberwachung hoch, zu hoch. So
Er hatte einst einen Kredit aufgenommen, line hin und her. Warum hörten beide lautete der Einwand der Airlines, zumin-
um dem Sohn die Ausbildung zu ermög- Geräte auf zu senden? Hat ein Feuer sie dest bis zur Samstagnacht des 8. März.
lichen; jetzt versucht er, ihm wenigstens gefressen? Ein Kurzschluss? Oder war es Genau jene Logik war auch verant-
die Ehre zu retten. die Hand eines Täters? Ein Sabotageakt wortlich dafür, dass nach dem Absturz
Erst vor vier Monaten war Khairul mit ist denkbar. Doch ist er auch wahrschein- des Air-France-Airbus keine Geräte zur
Frau und 15-monatigem Kind in ein eige- lich? Was auch immer geschah – es führte permanenten Übertragung der Flug-
nes Haus in Kuala Lumpur gezogen, ins erst sieben Stunden später zum Absturz. schreiber-Daten per Satellit eingeführt
gleiche Aufsteigerviertel, wo auch die Pi- Die Statistik hilft auch nicht weiter. wurden. So eine Echtzeit-Übertragung
loten wohnten. „Khairul war ein lustiger Brände an Bord führen, wenn sie nicht wäre technisch möglich, aber eben auch
Typ, er schaute immer nach vorn“, sagt gelöscht werden können, meist schnell kostspielig.
sein Bruder Adib. Politik habe ihn nicht zum Crash – nicht aber zu einem langen Die Fluggesellschaften können sich
interessiert. Das lag in der Familie: „Von Irrflug über den Indischen Ozean. Der hinter einer zynischen Rechnung ver-
uns geht keiner wählen.“ Reiseflug gilt eigentlich als sicherste Flug- stecken: Rund 30 Millionen Euro hat die
Dafür begeisterte er sich für Flugzeug- phase, aber offenbar nicht in diesem Fall. Suche nach Air-France-Flug AF 447 ge-
technik. Er besaß vier Modellflieger. Ohne neue Informationen aus dem In- kostet. Bezahlt haben sie der Hersteller,
Wenn er die Familie besuchte, erzählte nern der Boeing wird der Fall nicht zu die Airline, der französische Staat und
116 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Titel

„Die Maschine flog sich selbst“


Flugkapitän Bill Palmer erklärt, wie ein Kabelbrand zum Geisterflug geführt haben könnte.

Palmer, 56, ist A330-Kapitän bei einer Palmer: Manche Piloten werten dies
großen US-Fluggesellschaft, die er als letzten verzweifelten Versuch des
hier ungenannt lassen will. Über den Kapitäns, das Feuer in der dünneren
Absturz der Air-France-Maschine im Luft hoch oben in der Atmosphäre zu
Atlantik 2009 hat er ein in Fachkreisen ersticken. Ich denke eher, beide Pilo-
vielbeachtetes Buch verfasst („Under- ten hatten da bereits das Bewusstsein
standing Air-France 447“). Das Inter- verloren. Der Autopilot, der das Flug-
view fand statt in Amsterdam – Pal- zeug auf definiertem Kurs halten wür-
mers Zwischenstopp auf dem Weg de, war jetzt offenbar abgeschaltet.
von Seattle nach Mumbai. Die Maschine flog sich selbst weiter –
ziellos, aber stabil.
SPIEGEL: Captain Palmer, ist der Ab- SPIEGEL: Wie ist das möglich?
sturz von MH 370 für Sie ein Krimi- Palmer: Die 777 ist eine moderne „Fly-
nalfall oder ein Unglück? by-wire“-Maschine. Es gibt Flugkon-
Palmer: Es gibt nicht einen einzigen trollcomputer innerhalb des Rumpfes,
Hinweis auf einen Terrorhintergrund. die das Flugzeug jederzeit stabilisie-
Die Tätertheorie muss natürlich un- ren. Diese Rechner sind program-
tersucht werden. Aber nach allem, miert, die Geschwindigkeit zu halten,
was bisher bekannt ist, erscheint mir zwei. Die Kommunikation steht erst die der Kapitän eingegeben hat. Sie
eine rein mechanische Ursache eben- an dritter Stelle. Die Piloten waren nehmen die Nase der Maschine auto-
falls absolut möglich. vermutlich zu beschäftigt mit dem matisch hoch, wenn sie zu schnell
SPIEGEL: Sind die Piloten in Ihren Au- Feuer, um sich der Flugsicherung zu wird, sie drücken sie runter, wenn sie
gen Helden oder Versager? widmen. Wahrscheinlich hatten sie zu langsam fliegt. Überdies sorgen sie
Palmer: Ich glaube, sie hatten mit einer vor, umzudrehen und Kuala Lumpur dafür, dass die Maschine nie in eine
dramatischen Fehlfunktion zu tun und anzusteuern. Das ergibt auch Sinn. gefährliche Schieflage gerät.
taten ihr Bestes. Doch es hat nicht ge- SPIEGEL: Sie änderten den Kurs ein SPIEGEL: Alles fällt aus – aber ausge-
reicht. weiteres Mal – nach Nordwesten. rechnet dieser Rechner nicht?
SPIEGEL: Der Co-Pilot verabschiedet Palmer: Der neue Kurs spricht dafür, Palmer: Die Boeing 777 hat gleich vier
sich von der Flugsicherung mit den dass sie nunmehr lieber Pulau Lang- dieser Flugkontrollrechner an ver-
Worten: „In Ordnung, gute Nacht.“ kawi anfliegen wollten. Die malaysi- schiedenen Stellen. Es reicht aus,
Nur zwei Minuten später wird der sche Insel hat eine Landebahn von wenn nur einer davon funktioniert.
Transponder abgeschaltet, wie um den außergewöhnlicher Länge. Außerdem Dann fliegt die Maschine immer wei-
Jet unsichtbar zu machen. Ist das nicht gibt es bis dahin weder Hügel noch ter, reagiert auf Windstöße, Tempe-
ein klarer Hinweis auf eine sinistre Tat? Berge. Hierher auszuweichen war of- raturveränderungen, Turbulenzen, sie
Palmer: Vielleicht, es muss aber nicht fenbar ein guter Plan, zumal das Flug- mäandert umher. Ich hätte nicht er-
so sein. Die Äußerung des Co-Piloten zeug jetzt stark beschädigt war. wartet, dass ein führerloser Jet sogar
ist jedenfalls absolut normal. Ein Ka- SPIEGEL: Wie schlimm ist ein Feuer im auf 45 000 Fuß steigen kann. Aber es
belbrand könnte den Transponder, die Cockpit? überrascht mich auch nicht.
Funkgeräte und andere Kommunika- Palmer: Das ist der gefährlichste Not- SPIEGEL: Ein Geisterflieger …
tionssysteme zerstört haben. fall, der vorstellbar ist. Denken Sie an Palmer: … der so lange in der Luft
SPIEGEL: Und davon soll zwei Minuten Swissair 111, die am 2. September 1998 bleibt, bis die Tanks leer sind. Wir
zuvor niemand etwas bemerkt haben? vor Kanada ins Meer stürzte. Ursache wissen nicht, ob die Passagiere dies
Palmer: So etwas kann sehr schnell ge- war eine schadhafte Verkabelung in miterleben mussten oder ob sie auch
hen. Ein Feuer im Schacht unter dem der Elektronik, welche die Bord- ohne Bewusstsein waren.
Cockpit würde den Ausfall der Funk- unterhaltung kontrolliert. Die Piloten SPIEGEL: Wie würde der Crash ausse-
geräte erklären. Eine Reihe von Kurz- versuchten zu handeln, aber nur hen? Ein Sturzflug?
schlüssen würde ihm vermutlich fol- 15 Minuten nach Beginn der Rauch- Palmer: Zunächst wahrscheinlich wie
gen. Natürlich können wir nicht wis- entwicklung schlug die Maschine im ein ganz normaler Anflug – aber zu
sen, warum es gebrannt hat. War es Meer auf. Das Cockpit hatte sich in steil und zu schnell für eine sanfte
eine Bombe? Oder eine beschädigte einen Ofen verwandelt, ganze Paneele Wasserlandung.
Verkabelung? waren geschmolzen. Alle starben. SPIEGEL: Wird sich Ihre Theorie je be-
SPIEGEL: Außerdem änderte die Crew SPIEGEL: MH 370 ist nicht angekom- weisen lassen?
den Kurs – ohne je eine Notlage zu men auf Pulau Langkawi. Stattdessen Palmer: Nur wenn das Flugzeug und
melden. stieg die Maschine offenbar auf 45 000 seine Blackbox gefunden werden.
Palmer: In einem Notfall richten sich Fuß – eine Höhe, für die sie nicht ein- Wenn nicht, dürfte MH 370 das größte
Piloten nach folgenden Prioritäten: mal zugelassen ist. Wenig später sank Mysterium der Luftfahrt bleiben,
Die Maschine muss weiterfliegen, das sie auf 23 000 Fuß, viel zu niedrig für seit Amelia Earhart 1937 spurlos im
ist das Wichtigste. Kollisionen müssen ein Verkehrsflugzeug. Wie sind solche Pazifik verschwand.
vermieden werden, das ist Nummer Flugmanöver zu erklären? INTERVIEW: MARCO EVERS

118 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
die Versicherungen. Ein überschaubarer
Preis.
Vielleicht schafft es aber zumindest
eine andere Erfindung an Bord einer je-
den Linienmaschine. Entwickelt haben
sie die Ingenieure der Forschungsabtei-
lung bei Airbus; und sie kommt ohne
kostspielige Satellitenübertragungen aus.
Das System besteht aus zwei Kapseln, die
sich genau in dem Augenblick aus dem
Rumpf eines Flugzeugs sprengen, in dem
dieses unter Wasser zu sinken beginnt.
In den Projektilen enthalten sind Si-
gnalgeber, von denen der eine mit dem
Wrack in die Tiefe sinkt und der andere
als Boje auf dem Wasser schwimmen
bleibt. Permanent sendet dieses Gerät
dann Funksignale aus, die sich aus der
Luft leicht orten lassen, auch aus größerer

ROMEO RANOCO / REUTERS


Entfernung. Ist das treibende Gerät erst
einmal gefunden, können Suchtrupps an-
hand des Funksignals aus der Tiefe be-
stimmen, wo genau das Wrack der Ma-
schine liegt.
Schon vor drei Jahren hat Airbus das Gedenkbild auf den Philippinen: Die ganze Welt blickt auf die Todeszone
neue Notfallsystem patentieren lassen.
Doch noch immer sucht der Flugzeugkon- sich Wissenschaftler am Helmholtz-Zen- fährts“, berichtet Direktor Herzig. Im
zern nach einer Firma, die eine Lizenz trum für Ozeanforschung schon darauf Anschluss an den Werkstattbesuch war
zum serienmäßigen Bau erwirbt. Nie- vor, den Seeboden nach Wrackteilen ab- eigentlich geplant, nach wertvollen Bo-
mand bei Airbus würde das Schicksal von zusuchen. denschätzen auf dem Meeresboden zu
MH 370 zum Anlass nehmen, um öffent- Wenn die ersten Trümmer gefunden tauchen. Jetzt wird „Abyss“ wohl bald
lich für diese Erfindung zu werben. Das sind, erwartet Institutsdirektor Peter Her- nach den traurigen Überresten eines Li-
wäre wohl pietätlos. zig den Auftrag, mit der unterseeischen nienflugs fahnden, der mutmaßlich auf
Intern sind die Airbus-Ingenieure aber Fahndung loszulegen. Denn die Kieler halbem Weg in die Antarktis verschollen
frustriert darüber, dass die Airlines lieber Forscher besitzen eines von weltweit nur ist. „Wenn es uns gelingt, den Suchort
immer ausgefeiltere Unterhaltungssyste- drei autonom operierenden U-Booten, einzugrenzen, dann bin ich auch optimis-
me für die Passagiere bestellen – nicht die für eine Suche in Meerestiefen ab tisch, dass wir das Wrack auf dem Boden
aber eine solche Sonderausstattung, mit 3000 Meter geeignet sind. Wie tief das finden werden“, sagt Herzig.
der sich die quälende Ungewissheit wie Meer im wahrscheinlichen Absturzgebiet Doch das kann lange dauern – und am
bei Flug MH 370 verkürzen ließe. ist, weiß niemand so genau, es ist noch Ende wird die Fahndung wohl Hunderte
Die Airbus-Leute hoffen nun auf die nie vermessen worden. Aber in dieser Re- Millionen Euro verschlungen haben.
Schockwellen, die das Verschwinden des gion geht es bis zu 5000 Meter in die Tiefe. Aber selbst wenn die Blackbox von MH
Malaysia-Airlines-Fliegers durch die Luft- Am Woods-Hole-Institut in den USA 370 bei den Unfalluntersuchern auf der
fahrtgemeinde jagen wird. Der rätselhaf- stehen die anderen zwei U-Boote. „Wir Werkbank steht, ist nicht klar, ob sich
teste Vorfall der Luftfahrtgeschichte wer- haben uns mit den amerikanischen Kol- die entscheidenden 20 Minuten zu Beginn
de eine neuerliche Diskussion anstoßen legen bereits abgesprochen, dass wir die des Geisterflugs vollständig aufklären las-
über die Pflicht der Airlines, solche Sys- Suche wieder gemeinsam machen“, sagt sen, in denen das Schicksal von MH 370
teme mit an Bord zu führen. Meereskundler Herzig. besiegelt wurde. Es könnte eine herbe
Für die Angehörigen der Vermissten Das war schon bei der Suche nach dem Enttäuschung geben, wenn die Techniker
von Flug MH 370 ist das ein schwacher Trümmerfeld des Air-France-Fliegers AF die Tonaufzeichnung abspielen.
Trost. Sie müssen hilflos mitansehen, wie 447 so. „Mit dem Sonar von drei U-Boo- Sie könnten nur eines hören: Rauschen.
eine noch nie dagewesene Suchaktion im ten lässt sich simultan eine viel größere Denn laut Anhang 6 des Abkommens
südlichen Indischen Ozean läuft. Satelli- Fläche absuchen“, erklärt der Kieler For- über die internationale Zivilluftfahrt müs-
ten, Flugzeuge, Schiffe von 26 Nationen scher. Nach einer zwei Wochen langen sen Stimmenrecorder im Cockpit ledig-
sind beteiligt. Die ganze Welt blickt in Tauchaktion spürte „Abyss“, wie das vier lich die Gespräche der jeweils letzten
die „Roaring Forties“, vermutlich die To- Meter lange U-Boot offiziell heißt, das zwei Stunden aufzeichnen. Es könnte
deszone. Wrack des Airbus A330 tatsächlich im At- aber sein, dass die Piloten in diesen zwei
Australiens Verteidigungsminister Da- lantik auf. Damals, im Frühjahr 2011, zeig- Stunden bereits lange tot waren. Entschei-
vid Johnston nannte die Suche einen „lo- ten die Kameras grauenhafte Bilder: Ab- dend ist, was etwa um 1.20 Uhr in der
gistischen Alptraum“. „Die Strömung ist gerissene Gliedmaßen waren erkennbar Maschine vor sich ging – und das könnte
eine der stärksten der Welt, das Wasser und tote Passagiere, die noch ange- längst gelöscht worden sein, überschrie-
bewegt sich etwa einen Meter pro Sekun- schnallt in ihren Sitzen hingen – das Still- ben vom Schweigen. MARCO EVERS,
de“, so der Ozeanograf Gan Jianping von leben einer Flugzeugkatastrophe, durch RALF HOPPE, GERALD TRAUFETTER,
WIELAND WAGNER, BERNHARD ZAND
der Hongkong University of Science and das hin und wieder ein seltsam anmuten-
Technology. der Tiefseefisch schwamm.
Und dennoch gibt es Fachleute, die op- Jetzt steht „Abyss“ in den Werkhallen Video: Wie Flugzeuge geortet
timistisch sind, das Wrack selbst an die- des Instituts am Kieler Hafen. „Wir tau- werden können
sem unwirtlichen Ort zu finden. Am an- schen die Batterien aus, warten den spiegel.de/app132014flugzeuge
deren Ende der Welt, in Kiel, bereiten Antrieb und die Sensoren des Tauchge- oder in der App DER SPIEGEL

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 119
Wissenschaft

deshalb kaum möglich. Angesichts der


vielen anderen Eingriffe des Menschen
in die Natur, so Kinzelbach, seien „Kro-
kodilstränen über die vom Klimawandel
bedrohte Tierwelt nicht überzeugend“.
Der Weltklimarat zweifelt mittlerweile
selbst an den eigenen Computersimula-
tionen zum Artensterben – ein erstaun-
liches Eingeständnis. „Es besteht sehr ge-
ringes Vertrauen darin, dass die Modelle
das Aussterberisiko derzeit akkurat vor-
hersagen“, heißt es in dem geheimen Ent-
wurf des neuen Sachstandsberichts. „Sehr
geringe Aussterberaten trotz erheblicher
Klimaschwankungen über die vergange-
nen Jahrhunderttausende haben zu Be-
denken geführt, die Prognosen hoher kli-
mabedingter Aussterberaten könnten
überschätzt sein.“
In seinem letzten Sachstandsreport im
Jahr 2007 hatte der IPCC noch 20 bis 30
Prozent aller Tier- und Pflanzenarten ein
hohes Aussterberisiko attestiert, sofern
sich das Klima um zwei bis drei Grad er-
wärmen würde. Seit 2007 seien die wis-
senschaftlichen Unsicherheiten aber „of-

SEPP FRIEDHUBER / HGM PRESS


fenkundiger geworden“, heißt es nun im
aktuellen Reportentwurf.
Wichtige Umweltprozesse und Eigen-
schaften der Lebewesen würden von den
Eisbär in der Arktis Modellen kaum berücksichtigt, geben die
Autoren des Weltklimarats zu, beispiels-
weise die Anpassungsfähigkeit von Lebe-
wirtschaft, Fischerei oder Jagd. Aber es wesen an neue Klimaverhältnisse. Als
U M W E LT soll noch viel schlimmer kommen: Als Konsequenz wird der Weltklimarat in sei-
Folge der Klimaerwärmung droht angeb- nem neuen Sachstandsbericht keine kon-

Unsicheres lich Tausenden Tier- und Pflanzenarten


der Exitus. So zumindest lauten seit
Jahren die Vorhersagen des Weltklima-
kreten Zahlen mehr nennen, wie viel Pro-
zent der Arten als Folge der Erwärmung
aussterben könnten.

Orakel rats IPCC.


Doch nun scheint sich das Klimaorakel
nicht mehr ganz so sicher zu sein. Kom-
Entwarnung also? Nicht ganz. Bedroh-
liche Indizien blieben, sagt Josef Settele
vom Helmholtz-Zentrum für Umwelt-
Führt die globale Erwärmung menden Montag will der IPCC im japa- forschung, ein führender Autor des neuen
wirklich zu einem nischen Yokohama den zweiten Teil sei- IPCC-Berichts. Klimazonen könnten sich
massenhaften Artensterben? nes neuen Sachstandsberichts präsentie- so schnell verschieben, dass Tiere und
ren. Einerseits rechnen die Autoren auch Pflanzen ihrem angestammten Klima
Der Weltklimarat macht weiterhin mit einem erhöhten „Ausster- nicht folgen und aussterben könnten. Ei-
einen überraschenden Rückzieher. berisiko für einen substantiellen Teil der nige Schmetterlinge und Vögel in Europa
Spezies im 21. Jahrhundert und darüber lägen bereits deutlich hinter ihren ur-

I
m September vor 100 Jahren starb im hinaus“, wie es in dem geheimen Be- sprünglichen Lebensräumen zurück.
Zoo der amerikanischen Stadt Cincin- richtsentwurf heißt. Andererseits räumt Doch sind solche Beobachtungen wirk-
nati Martha die letzte Wandertaube. der IPCC ein: Es gebe bislang keinen Be- lich schon Vorzeichen eines globalen
Zum Verhängnis wurde dem Vogel, dass weis, dass der Klimawandel auch nur zum Massensterbens? Die Erwärmung könnte
den Menschen sein zartes Fleisch so gut Aussterben einer einzigen Art geführt die Lebensräume nachhaltig verändern,
schmeckte. habe. konstatiert auch Biologe Kinzelbach,
Hunderten Tierarten erging es im Laufe Allenfalls beim Verschwinden einiger dennoch warnt er vor einer Dramatisie-
der Neuzeit ähnlich: Der letzte Beutel- Lurche, Süßwasserfische und Weichtiere rung: „Veränderungen in der Natur sind
wolf starb 1936 in einem australischen könnte der Klimawandel vielleicht eine etwas ganz Normales, der Wunsch nach
Zoo, zwei Jahre später der letzte Schom- Rolle gespielt haben, heißt es in dem Stabilität entspringt menschlicher Lebens-
burgk-Hirsch als Haustier eines thailän- Berichtsentwurf. Sogar den Ikonen der angst.“
dischen Tempels, und auch der Chinesi- Klimakatastrophe, den Eisbären, geht es Das Artensterben kritiklos dem Klima-
sche Flussdelphin wurde seit langem nicht erstaunlich gut. Der Bestand ist stabil – wandel anzulasten sei gefährlich, mahnt
mehr gesichtet. Insgesamt 77 Säugetier- trotz schwindenden Meereises in der der Biologe. So werde das Klima zu einer
arten verschwanden laut der Roten Liste Arktis. billigen Ausrede, um bei drängenderen
seit dem Jahr 1500 von der Erdoberfläche, Bei den meisten anderen Lebewesen Problemen untätig bleiben zu können.
130 Vogel-, 22 Reptilien- und 34 Amphi- aber mangele es an grundlegenden Daten, Kinzelbach: „Monokulturen, Überdün-
bien-Arten. sagt Ragnar Kinzelbach, Zoologe von der gung oder Bodenzerstörung vernichten
Der Mensch treibt viele Lebewesen in Universität Rostock. Prognosen, wie sich mehr Arten als ein Temperaturanstieg um
die Enge – mit rücksichtsloser Land- der Klimawandel auswirken werde, seien ein paar Grad Celsius.“ AXEL BOJANOWSKI
120 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Wissenschaft

den Kern der Wissensgesellschaft: Auf-


sätze und Bücher von Forschern. „Wir
BILDUNG haben Tausende E-Books, die wir unse-
ren Nutzern per Internet zur Verfügung

Fußmarsch zum E-Book stellen könnten“, sagt Harald Müller, Ju-


rist und Bibliotheksleiter am Max-Planck-
Institut für ausländisches öffentliches
Recht und Völkerrecht in Heidelberg.
Viele Verlage behindern die Bibliotheksausleihe elektronischer „Das dürfen wir aber oft nicht, weil die
Werke, aus Angst vor Piraterie. Betroffen sind auch Auf- Nutzungslizenzen so restriktiv sind.“
Das Urheberrecht führe oft zu „putzi-
sätze und Bücher von Forschern – zum Nachteil der Wissenschaft. gen Skurrilitäten“, sagt der Forscher: An-
genommen, er will einen bestimmten
Aufsatz per Fernleihe von einer ameri-
kanischen Bibliothek einsehen. „Die Kol-
legen drucken den dann auf Papier aus,
schicken ihn per Fax – und ich scanne
ihn hier wieder ein.“ Nur, weil das Ver-
schicken per E-Mail nicht erlaubt ist.
Natürlich ist es legitim, dass Verlage
versuchen, ihre Einnahmen gegen Raub-
kopierer zu verteidigen. Doch derzeit
geht die Abwehr oft einseitig zu Lasten
ehrlicher Kunden. So dürften Bibliotheks-
nutzer E-Books oft „nicht ausdrucken
oder auf einem USB-Stick speichern“, sagt
Oliver Hinte, Vorsitzender der Rechts-
kommission des Deutschen Bibliotheks-
verbands. Bloß was dann? Abschreiben?
„Um Piraterie zu verhindern, gibt es
längst geeignete technische Lösungen“,
sagt Gerald Schleiwies, Mitarbeiter der
Stadtbibliothek Salzgitter. „Durch digi-
tale Wasserzeichen lassen sich Dokumen-
te personifizieren, da steht dann auf jeder
Seite fett mein Name, der lässt sich nicht
LUIS M. GARZA

so leicht entfernen wie der sogenannte


Kopierschutz.“
Für seine Promotion muss er derzeit
Digitale Bibliothek „Bibliotech“ in San Antonio, Texas: Rückkehr ins 19. Jahrhundert? oft quer durch die Republik reisen, er be-
sitzt fünf Bibliotheksausweise: „Das Ein-

A
ls der Schriftsteller Johann Gott- nicht im elektronischen Neuland. Hier scannen und Mailen von Auszügen ist
fried Seume im Jahr 1802 seinen diktieren die Verlage den Bibliotheken nicht mehr erlaubt.“
„Spaziergang nach Syrakus“ ihre Konditionen, getrieben von der ver- Absurde Beispiele gibt es viele. Franco
machte, steuerte er auf dem Weg von ständlichen Angst vor Raubkopien. Das Moretti etwa, Professor für Literaturwis-
Sachsen bis Sizilien gern die lokale Bi- Nachsehen haben die ehrlichen Leser. senschaften an der kalifornischen Stanford
bliothek an. Bücher waren früher oft Für die E-Books etlicher Verlage gibt University, wurde berühmt mit seinem
nicht ausleihbar. Wer lesen wollte, musste es bislang gar keine Verleihlizenzen: „Atlas des europäischen Romans“. Seine
mobil sein. Droemer Knaur, Kiepenheuer & Witsch, Forschungsmöglichkeiten enden nun dort,
Jetzt ist es wieder so weit. Wenn ein S. Fischer und Rowohlt zum Beispiel sind wo ein übertrieben starres Urheberrecht
Student aus Freiburg ein Papierbuch der auf der Verleihplattform „Onleihe“ nicht greift: Es schützt Werke bis 70 Jahre nach
Universitätsbibliothek Basel lesen will, vertreten. Daher lassen sich wichtige Wer- dem Tod der Autoren. Wer aktuellere Li-
kann er es über Fernleihe bestellen. Sollte ke wie „Der Große Krieg“ des Berliner teratur einscannen wolle, sagt Moretti, lebe
es jedoch nur als E-Book vorliegen, gibt Politikwissenschaftlers Herfried Münkler gefährlich: „Das Gespenst des Copyright
es meist keine Fernleihe. Dann muss er nicht elektronisch ausleihen. In der Pa- schützt sie vor unserem Zugriff. Schade.“
in den Zug nach Basel steigen und es sich pierwelt undenkbar. „Derzeit haben die Rechteinhaber oft
dort an einem Uni-Computer durchlesen. Viele elektronische Bücher existieren eine einzigartige Machtposition“, sagt
Ein Paradox: Was in der Papierära des überhaupt nur auf geschlossenen Plattfor- Oliver Hinte. „Eine Neuregelung und
20. Jahrhunderts noch per Fernleihe um men wie iBooks von Apple oder Kindle Vereinfachung des Urheberrechtsgesetzes
die Welt ging, wird in Zeiten des Internets von Amazon. Etliche Verlage erschweren ist überfällig.“
lokal gehütet. Es ist gerade die Leichtigkeit, den Zugang zu ihren Werken durch Bitter ist nur: In vielen Fällen bezahlt
mit der elektronische Schriften um die Welt Schutzprogramme. Der Konzern Adobe, die Leserschaft mit Steuergeld jene Au-
geschickt werden können, die nun dazu auf dessen System ein Großteil aller toren an den Universitäten, deren Werke
führt, dass man sie digital wegsperrt. Das E-Books basiert, stellt gerade seine Soft- ihr vorenthalten werden. Und: Gut mög-
Buch kommt nicht zum Leser, sondern der ware um. Viele ältere Lesegeräte könnten lich, dass sich ein Professor das Fachjour-
Leser zum Buch. Wie im 19. Jahrhundert. die neuen E-Books vielleicht bald gar nal nicht leisten kann, in dem er publi-
Die Fernleihe wurde 1893 in Preußen nicht mehr anzeigen. ziert. Denn den Unis fehlt das Geld.
festgeschrieben, mit dem „Erlass betref- Es geht hier nicht nur um den jüngsten 15 000 Euro für ein Jahres-Abo sind kei-
fend den Leihverkehr“. Doch der gilt Krimi von Jussi Adler-Olsen. Es geht um ne Seltenheit, das „Journal of Compara-
122 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
tive Neurology“ etwa kostet weit über
20 000 Euro. Die Autoren, die in solchen
Fachzeitschriften publizieren, bekommen
dafür meist keinen Cent. Verlagskonzer-
ne wie Reed Elsevier dagegen erreichen
regelmäßig Umsatzrenditen von über
25 Prozent vor Steuern.
„Wissenschaftsverlage machen so viel
Geld, weil sie die Ware vom Steuerzahler
kostenlos einsammeln und überteuert
an ihn zurückverkaufen“, sagt Günter
M. Ziegler, ein vielfach ausgezeichneter
Mathematiker von der FU Berlin.
Bis vor zwei Jahren war Ziegler Mit-
herausgeber zweier Mathematik-Fach-
zeitschriften im Elsevier-Verlag. Dann
schloss er sich einem Boykott an, ge-
meinsam mit inzwischen mehr als 14 000
anderen. Er arbeitet jetzt an einem
Fachjournal, das für jeden im Internet
einsehbar ist, nach dem Prinzip „Open
Access“ – offener Zugang. Elsevier sagt,
dass dem Streit weniger ein Interes-
senkonflikt als ein Missverständnis zu-
grunde liege.
Tatsächlich gibt es erste Kompromisse:
Seit Januar zahlen Institutionen wie das
Teilchenforschungszentrum Cern bei
Genf an Elsevier eine Pauschale für die
Betreuung von Physik-Journalen – die
Artikel sind dafür frei zugänglich.

Wissensdurstige reisen
künstlich verknappten
E-Books hinterher – wie
Mönche im Mittelalter.
Die Feinjustierungen sind oft winzig,
aber wirkungsvoll, wie etwa bei verwais-
ten Werken, deren Autoren nicht mehr
ermittelt werden können.
Bisher durften zum Beispiel alte, zer-
bröselnde Zeitungen nicht digitalisiert
werden, solange nicht sämtliche Urhe-
ber gefragt worden waren – Kulturgut
fiel dem Copyright zum Opfer. Seit Ja-
nuar begrenzen neue „Schrankenrege-
lungen“ das Urheberrecht, so dass das
Einscannen verwaister Werke einfacher
geworden ist.
Derlei kleine Änderungen könnten
durch die Hintertür auch ermöglichen,
dass Wissenschaftler ihre Aufsätze ins In-
ternet stellen – allerdings erst ein Jahr
nach Erscheinen in einem Fachjournal.
Ab 2015 dürften die ersten dies wohl tun.
Bis dahin gilt für Wissensdurstige: Sie
reisen künstlich verknappten E-Books
hinterher, um sich vor den Monitor einer
Bibliothek zu setzen. Und sich hand-
schriftlich Notizen zu machen – wie einst
Mönche in klösterlichen Skriptorien.
Oder wie der wandernde Literat Seume
auf seinem Spaziergang nach Syrakus vor
über 200 Jahren. Zurück in die Zukunft.
HILMAR SCHMUNDT

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 123
Wissenschaft

für umso mehr „Zu Fuß Gehende“. Der


Wagenlenker mutiert zum „Fahrzeugfüh-
LINGUISTIK renden“. In Paragraf 26 taucht ein „Fah-
render von Rollstühlen“ auf.

„Die Polizei, deine Freundin“ Geht’s noch sperriger?


Doch das ist erst der Anfang. Viele
Rechtsvorschriften in Deutschland atmen
ungehemmt den Geist des Patriarchats.
Geschlechtergerechtes Blähdeutsch breitet sich in Amtsstuben, Die Lebensmittelhygieneverordnung
Sportclubs und Klassenzimmern aus. An Unis lehrt Herr spricht vom „Verbraucher“. Das Bundes-
immissionsschutzgesetz kennt nur „Be-
„Dozentin“. Verfällt die Republik dem grammatischen Irrsinn? treiber“, aber keine Betreiberinnen von
Schloten und Kaminen.

P
oetischer Genuss ist beim Lesen des Zwar ist es bei der Waise oder der Geisel Die „Anzugordnung“ der Bundeswehr
„Brandenburgischen Hochschulge- umgekehrt – aber egal, die Empörung ist (Zentrale Dienstvorschrift 37/10) zeigt uni-
setzes“ nicht zu erwarten. Der neue groß. Fast so groß wie die Anbiederung: formierte Damen und schreibt darunter
„gendersensible“ Entwurf schlaucht je- Kaum eine Talkshow vergeht, in der sich „Stabsarzt“ oder „Maat“. Im Grundgesetz
doch über die Maßen. unsere Volksvertreter nicht im Gutsprech findet man sogar den Begriff „jedermann“.
„Teilzeitstudierende oder Teilzeitstu- üben. Begriffe wie „Milchmädchenrech- Artikel 16 erklärt unverhohlen: „Kein
dierender“, ruft es gedrechselt aus dem nung“ oder „das starke Geschlecht“ kommt Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert
Text. Er wendet sich an „die Zuwendungs- den Korrekten nicht mehr über die Lippen. werden.“ Deutsche Frauen schon?
geberin und den Zuwendungsgeber“. In Mecklenburg-Vorpommerns Minister- Um derlei Sprachsünden zu stoppen,
Paragraf 31 heißt es: „Hochschullehrerin- präsident Erwin Sellering ist schon so fein- hat das Bundesjustizministerium strenge
nen und Hochschullehrer von Fachhoch- fühlig, dass er sogar Anstoß an dem harm- Richtlinien erarbeitet. Das „Handbuch

FREDDY ELIASSON / MATTON COLLECTION / CORBIS


schulen sollen zu Gutachterinnen und los erscheinenden Satz „Jeder wird der Rechtsförmlichkeit“ empfiehlt, staat-
Gutachtern und Prüferinnen und Prüfern gebraucht“ nimmt. In Wahrheit, belehrt liche Dokumente
im Promotionsverfahren nach Satz 1 be- er, würden doch „alle“ gebraucht, „Män- ‣ „geschlechtsneutral“ zu verfassen;
stellt werden.“ ner und Frauen“. ‣ „Paarformen“ zu nutzen („Unterschrift
Seitenlang ziehen sich die Wortgirlan- Dass es hier um den Menschen geht, des Inhabers oder der Inhaberin“);
den. Alle männerlastigen Stellen wurden kommt ihm gar nicht mehr in den Sinn. ‣ verstärkt das Passiv einzusetzen, weil
getilgt – eine Schrift wie ein Orienttep- Läuft die Bewegung aus dem Ruder? der Handelnde so verschwindet;
pich. In den kommenden Wochen tritt Verliert sie ihre Besonnenheit und löst ‣ das Pronomen „sein“ zu meiden: „Wer
das Gesetz in Kraft. sich von den berechtigten und vernünfti- sein Haus nicht abschließt“ solle er-
Mit dem Beschluss setzt sich das alte gen Wurzeln? Noch in den achtziger Jah- setzt werden durch „Wer das eigene
Kernland Preußens erneut an die Spitze ren wurden Frauen mit „Amtmann“ oder Haus nicht abschließt“.
der Bewegung. Bereits im Jahr 1989 grüß- „Kollege“ angesprochen. Legendär ist die „Schwachsinn“ nennt das der
te die Berliner Senatorin Anne Klein die Weigerung der damaligen Gesundheits- langjährige Chef der Ham-
„lieben Mitglieder und Mitgliederinnen“. ministerin Rita Süssmuth, eine Verord- burger Journalis-
Im vorigen Jahr entschied die Flughafen nung abzuzeichnen, in der es hieß: „Wenn tenschule Wolf
Berlin Brandenburg GmbH, ihren Gesell- der Arzt im Praktikum schwanger wird.“ Schnei-
schaftervertrag „geschlechterneutral“ zu All das ist jedoch längst Vergangenheit.
verfassen. Das „Fräulein“: abgeschafft. Jobs werden
Als hätte man keine anderen Sorgen. heute (m/w) angeboten. Wer den Bür-
Doch das Land zwischen Havel und ger begrüßt, schließt sinnigerweise
Spree bereitet eine weitere Pioniertat vor. auch die Bürgerin ein. Im Beruf
Die Uni Potsdam lässt derzeit ihre Beru- heißt die Frau nicht mehr Koch,
fungsordnung so umschreiben, dass alle sondern Köchin.
Titel nur in weiblicher Form erscheinen. Der Gender-Riege reicht das
Männer verwandeln sich dort zum Herrn aber nicht. Schon vor 20 Jahren
„Professorin“. stritt die Sprachbibel „Übung
Was wie ein Witz klingt, macht bundes- macht die Meisterin“ für Aus-
weit Schule. An vier deutschen Hochschu- drücke wie „Witzboldin“ oder
len wird die Formel bereits verwendet. „Madonna war die Starin des
Als zickiges Ätschibätsch wollen die Abends“. Jetzt scheint die Zeit
Gleichstellungsbeauftragten ihr Ansin- reif für derlei schrullige Pläne.
nen nicht verstehen; vielmehr sei es Aus- Allerorten sind Säuberungs-
druck tiefdurchdachten wissenschaft- kommandos am Werk. Schul-
lichen Grolls. Die Vertreterinnen der bücher werden umgehübscht. In
„feministischen Linguistik“ fühlen sich Ingelheim spielt eine „Frauschaft“
gekränkt von männlichen Herrschafts- Damenfußball. Lehrer treten mit
strukturen in der Sprache. Nun boxen sie dem Kürzel „Sus“ (Schülerinnen
zurück. und Schüler) vor die Klasse. Auch
Vor allem das „generische“ (geschlech- in den Behörden finde ein „Sprach-
terübergreifende) Maskulinum ist ihnen wandel ohnegleichen“ statt, er-
ein Dorn im Auge. In Worten wie „der klärte die Duden-Mitarbeiterin
Kunde“ oder „der Christ“, heißt es, seien Karin Eichhoff-Cyrus.
die Frauen nur mitgemeint und damit So kennt eine im vorigen Jahr
„unsichtbar“ gemacht. Das sei eine vorgelegte Neufassung der Straßenver-
schlimme Diskriminierung. kehrsordnung kaum noch Fußgänger, da-
124 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
der. In der Presse ist von „schmallippigen die Titelhuberei aus Honeckers Volks-
Kriegerinnen“ und „zum Sinnbruch ent- kammer.
schlossenen Amazonen“ die Rede. Manche bevorzugen deshalb den
Andere nehmen es mit Humor. Sie hof- Schrägstrich (Bürger/innen). Oder sie
fen, dass der Volksmund bald auch For- greifen – noch kürzer – zur Binnen-
meln wie „meine liebe Frau Gesangsver- Versalie („BürgerInnen“). Das aber em-
ein“ und „Raucherinnen und Raucher pört jene Buchstaben-Ethikerinnen, die
sterben früher“ nutzt. in dem langgestreckten I ein Phallussym-
Das könnte klappen. Denn auch Län- bol sehen.
der, Städte und Gemeinden kippen Östro- Aber auch um die Formel „Bürger/in-
gen ins semantische Grundwasser. Sie nen“ tobt Zwist. Auf diese Weise werde
haben auf eigene Faust Merkblätter und die Weiblichkeit „visuell als sekundär“
dargestellt und schlicht ausgeklammert,
urteilt spitzfindig die Gelehrtin Gudrun
„Vermeiden Sie Perko.
Einwände ganz anderer Art bringen
die vermännlichte die „Queer“-Theoretiker vor. Ihnen ist
das biologische Schema Mann/Frau gene-
Silbe ,man‘.“ rell zu eng. Sie wollen, dass Intersexuelle
(Zwitter), Transsexuelle, Lesben, Schwule
Anweisung aus einem Sprachleitfaden oder Tunten ebenfalls im Schriftbild vor-
der Universität Potsdam kommen. Als Symbol dafür eigne sich
am besten das „gender gap“ („Bürger_in-
Leitfäden erstellt, oft mit besonders stren- nen“) oder ein Stern („Bürger*innen“).
gen Regeln. Derart überfrachtet mit Sonderzeichen
So wollen in Kiel manche Schillers Vers wandeln sich Texte allerdings schnell in
„Alle Menschen werden Brüder“ um- Krakellandschaften. Wird dann noch
krempeln zu „Alle Menschen werden Ge- dekliniert, entsteht Wort-Mikado wie
schwister“. In Mecklenburg-Vorpommern „des/der Käufer/s/In“ oder „den Verkäu-
hat die Regierung den Begriff „man“ für fer(n)Innen“.
tabu erklärt. Ein Flyer aus Hildesheim Kein Wunder, dass sich viele Gender-
zeigt einen gutgenährten Mann mit Freunde in den Unisex retten. Sie flüch-
Schnurrbart. Unterzeile: „Die Kreis- ten ins Partizip. Statt „der Läufer“ sagen
brandmeisterin“. sie einfach der oder die Laufende, das
Selbst die Dingwelt sowie juristische passt immer. Der Bläser wird so zum Bla-
Körperschaften geraten in den Strudel senden, der Täter zum Tuenden.
der Genderei. Viele Amtsstuben sind
dazu übergegangen, Firmen als „Arbeit-
geberinnen“ anzusprechen, auch müsse
es heißen: „die Universität als Antrag-
„Alle Menschen
stellerin“.
In der Konsequenz wäre die Klinke
werden
eine Türöffnerin und die Tasche eine Be-
hälterin. Ein Internetsprachführer rät be-
Geschwister.“
reits zur Schreibung: „Die Polizei, deine „Ode an die Freude“ in der gegenderten
Freundin und Helferin“. Version der Fachhochschule Kiel
Ist das noch tolerant oder schon tö-
richt? Schön ist das nicht. Geröll gerät in den
Birgit Brouer, Pädagogin an der Uni- Sprachfluss. Der Mundraum wird zum
versität Kiel, hat die Daumenschraube Minenfeld. Ästheten dreht sich der Ma-
besonders weit angezogen. Sie zwingt gen um.
ihre Studenten zu einer Art Gesinnungs- Auch Luise Pusch, 70, Grande Dame
TÜV. Wer bei ihr Seminararbeiten ein- der feministischen Linguistik, findet
reicht, muss sie „geschlechtersensibel“ die Lösung doof. Sie verfolgt einen an-
verfassen, wie die Professorin in einer deren – zweistufigen – Plan: Erst will
Anleitung verlangt. Das sei „für eine wis- sie die Männer mit dem generischen
senschaftliche Arbeit unabdingbar“. Femininum („Herr Ärztin“) so lange
Wer nicht spurt, kriegt Ärger. nerven, bis die ein Bewusstsein fürs Pro-
Und doch läuft nicht alles rund im La- blem bekommen. Im nächsten Schritt soll
ger der Verbalgerechten. Streit ist ent- die weibliche Endung -in ganz abge-
brannt. Es geht um die reine Lehre der schafft, und alle Personen sollen ins Neu-
feministischen Orthografie. trum gesetzt werden.
Die Doppelnennung („Beamtinnen Es hieße dann für alle: das Kanzler, das
und Beamte“) finden zwar alle toll. Das Professor.
sei die „höflichste und genaueste Va- Was für Aussichten. Endlich wäre über
riante der sprachlichen Gleichstellung“, allen Gender-Gipfeln Ruh. Es gäbe kein
heißt es in einem Statement der Duden- männlich mehr und kein weiblich. Nur
Redaktion. Doch leider ermüdet das noch das Sams. Und endlose Langeweile.
Splitting und klingt schnell so leierig wie MATTHIAS SCHULZ

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 125
COURTESY MAJIDA KHATTARI; FOTO: AXEL SCHNEIDER
Khattari-Performance „Rêve de Martyrs“

AU S ST E L LU N GE N
renaissance. Drei Orte gibt es in Dantes Werk: die Hölle, das
Fegefeuer und das Paradies. Njami entschied sich dafür, in
seiner Schau die Hölle ganz oben anzusiedeln, direkt unter
Erotischer Islam dem Dach. Im Erdgeschoss breitet sich das Paradies aus. Zur
Eröffnung in der vergangenen Woche veranstaltete die
Künstlerin Majida Khattari die Performance „Rêve de Mar-
Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst, das MMK, ist tyrs“: 72 Frauen (Wochen zuvor in Frankfurt gecastet) stellten
ein verschachteltes Haus. Es wirkt wie geschaffen für eine die 72 Jungfrauen dar, die nach islamischem Glauben jeden
neue Ausstellung über afrikanische Gegenwartskunst, eine Märtyrer umhegen. Khattari, gebürtige Marokkanerin, hüllte
Schau voller überraschender Abzweigungen, verantwortet die Frauen in weiße, nahezu transparente Gewänder, setzte
vom Schweizer Kurator Simon Njami. Als Grundgerüst für ihnen Masken und Kopfschmuck auf. Alles durchaus ero-
die Präsentation und als Inspiration für viele eigens ent- tisch und doch sehr kritische Kunst. Das Paradies so sichtbar
standene Bilder, Skulpturen und Filme diente ein Stück zu machen – schon auf Erden und in dieser eigenwilligen
europäischer Literaturgeschichte: Dantes epische Dichtung Interpretation – ist im Hinblick auf das islamische Bilderver-
„Die göttliche Komödie“, verfasst in der italienischen Früh- bot mutig.

T V- S E R I E N
schuldet. Die Anfang des Jahres in
den USA angelaufene HBO-Serie
„Looking“ spielt in der Bay Area
Schau hin von San Francisco, und wie bei „Sex
and the City“ oder „Girls“ geht es
Hatte der Typ einen „Hipster-Bart“ auch hier um Liebe und Sex, nur
oder einen „Sportlehrer-Bart“? eben zwischen Männern. Völlig
Agustin, Patrick und Dom können unverklemmt erzählt Serienmacher
sich nicht einigen. Und so schnell, Michael Lannan vom Liebesleben
COLLECTION CHRISTOPHEL / ACTION PRESS

wie der Bärtige im Park aufgerissen dreier bester Freunde und lässt auch
war, so schnell geht es auch wieder jene Bereiche schwuler Lebens-
um die anderen Männer im Leben kultur nicht aus, die manch mono-
der drei 30- bis 40-Jährigen. Um gamen Heterosexuellen provozieren
Patricks Ex, der jetzt heiratet und könnten – schnellen Sex im Park
ihn zum Junggesellenabschied einge- etwa. „Looking“ erzählt davon mit
laden hat; um Agustins Freund, der Selbstironie und Gespür für gesell-
mit ihm zusammenziehen will; oder schaftspolitische Fragen. Und bei so
um eine von Doms alten Affären, vielen gutaussehenden Bartträgern
die ihm immer noch 8000 Dollar Szene aus „Looking“ haben auch die Frauen was davon.
126 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Kultur

KUNST
wand, oft eines der Unschuld. Das
reichte bis ins 19. Jahrhundert, bis zu
Degas, der im antiken Sinne nackte
„Warum geht er nicht jugendliche Mädchen und Knaben beim

ins Museum?“ Wettkampf malte. Es gibt Ausnahmen,


aber die als Tradition zu bezeichnen
ist unzulässig.
Anne-Marie Bonnet, SPIEGEL: Einige expressionistische
60, Professorin für Maler porträtierten sehr junge nackte
Kunstgeschichte in Mädchen.
Bonn und Verfasse- Bonnet: Hier würde ich die Nacktheit
rin der Abhandlung als Sinnbild von Befreiung von der
JEAN-LUC IKELLE-MATIBA

„Die Erfindung des wilhelminischen Verklemmtheit de-


Aktes“, über die finieren. Das war ambivalent.
Rechtfertigungen des SPIEGEL: So will es Edathy offenbar
SPD-Politikers verstanden wissen. Er sagt, man solle
Sebastian Edathy Nacktheit und Sexualität auseinander-
halten.
SPIEGEL: Frau Bonnet, Sebastian Eda- Bonnet: Warum muss er Bilder dann
thy hat über das Internet Nacktbilder heimlich kaufen? Heimlichkeit deutet
von Kindern bezogen. Er verweist auf auf grenzüberschreitende Bilder hin.
die Kunstgeschichte, in der Akt- Es gibt die Filme eines Larry Clark
darstellungen von Jugendlichen und über jugendliche Sexualität oder Dro-
Kindern eine lange Tradition hätten. genabhängigkeit, die müssen einem
Was halten Sie von diesem Argument? nicht gefallen, aber sie sollen weder
Bonnet: Die Kunstgeschichte kann exhibitionistisch wirken, noch wurden
nicht der Entlastung dienen, denn de- sie unter dubiosen Umständen produ-
ren Bilder sind immer öffentlich zu- ziert, und sie werden in Ausstellungen
gänglich. Es gibt vor allem zwei kunst- gezeigt. Die Bilder, die heimlich übers
historische Kategorien, in denen die Netz verkauft werden, haben einen
Nacktheit von Kindern eine Rolle Zweck, und der ist ein anderer.
spielt. Das sind Putten und weitere SPIEGEL: Und doch finden sich in den
Darstellungen des Amor, die aber keine Museen Akte jugendlicher Körper.
individuellen Kinder abbilden, son- Bonnet: Ja, aber warum geht der Mann
dern Allegorien der Liebe sind. Und nicht ins Museum und kauft sich eine
man kennt das nackte Jesuskind. Auch Postkarte? Warum reicht das Verfüg-
da ist die Nacktheit legitimiert, aber bare nicht? Weil er vielleicht gerade
keine eigene ästhetische Größe, schon keine künstlerische Abbildung wollte,
gar keine aufreizende. Dann sind da sondern etwas anderes.
noch die Darstellungen von nackten SPIEGEL: Kinder wurden lange nicht als
Jugendlichen, aber die waren schon in besonders schutzbedürftig wahrge-
der Antike eingebettet in eine größere nommen.
mythologische Erzählung. Bonnet: Die Kindheit ist eine Erfindung
SPIEGEL: Und das macht sie harmlos? des 19. Jahrhunderts, spät genug. Was
Bonnet: Die Funktion von Nacktheit ist sie inzwischen? Noch einige 68er
war eine andere. Nacktheit junger haben Unzulässiges propagiert. Ihr Ruf
Menschen war wie ein eigenes Ge- wird sich davon nie mehr erholen.

KINO IN KÜRZE

„Deutschboden“ begleitet den deutschen Journalisten und Schriftsteller Moritz


von Uslar bei einer Expedition in die brandenburgische Provinz. Hat man sich an
den breitbeinigen Cowboy-Stil, in dem Uslar durch die Tristesse von DDR-Putz und
Hartz-IV-Schicksalen stapft, erst mal gewöhnt, kann der Dokumentarfilm von André
Schäfer Vergnügen bereiten. Denn Uslar betrachtet die Menschen, auf die er trifft,
mit Witz, Zuneigung und der nötigen Demut vor dem einfachen Leben.

„Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“


ist die Verfilmung des Romanbestsellers von Jonas Jonasson. Die Geschichte eines
Greises (Robert Gustafsson), der durch Zufall in einen wüsten Krimi gerät,
entwickelt leider nur den Biss der dritten Zähne. Schale Scherze und eine
Dramaturgie, die den Fluss der Handlung durch ständige Rückblenden
unterbricht, lassen den Film wie eine etwas verunglückte Mischung aus
„Forrest Gump“ und „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ wirken.

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 127
Dichter Deresch auf dem Maidan in Kiew

„Identität entsteht nicht aus


Zerstörung des Alten. Wir müssen
etwas Neues erschaffen.“
FABIAN WEISS / DER SPIEGEL
Kultur

UNRUHEN IN OSTEUROPA Was aus der Ukraine wird, ist auch ab- Konflikte wach? Im Osteuropa-Schwerpunkt des SPIEGEL-Kultur-
hängig von Sprache, Bildern, Gedanken: Was fordern ukrainische teils: eine Reportage über ukrainische Schriftsteller, ein Historiker-
Intellektuelle? Welche Worte sind im Umlauf? Von welchen Ideen Interview und das Porträt einer Regisseurin, die in der aktuellen
sind die Akteure beeinflusst? Werden Erinnerungen an frühere Krise Parallelen zum Ende des Prager Frühlings sieht.

Der Platz ist ihre Wunde


Eine Reise zu ukrainischen Schriftstellern in Kiew, Lwiw, Charkiw – sie sind
enttäuscht vom Westen, wollen eine neue Zivilgesellschaft und hoffen,
dass die Menschen im Land nicht mehr auf Politiker hören. Von Georg Diez

Z
eit. Das ist es, was eine Revolution Deshalb diese Reise zu den Schriftstel- fragt jetzt, wie lange sie gedauert haben,
braucht, damit sie gelingt. Zeit und lern: ins Zentrum nach Kiew, ins heutige die französische, die russische, all die blu-
Blut. Lwiw – das galizische Lemberg –, Stadt tigen, von Widerständen und Widersprü-
Die Blumen liegen auf dem Kiewer der toten Juden und der K.-u.-k.-Küche, chen geprägten Revolutionen – auch das
Maidan, dem Platz der Euphorie, dem nach Charkiw, Stadt der Schwerindustrie gehört dazu, wenn man vom Westen auf
Platz der Kämpfe, frische Blumen in Plas- im Sowjet-Look. die Ukraine schaut: Nachdenken, Aufhö-
tikfolie, Massen davon, überall, zwischen Schriftsteller sind keine besseren, viel- ren mit der Hauruck-Historie.
den meterhoch gestapelten Reifen, die so leicht nicht einmal klügere Menschen – Sie stecken ja noch mittendrin. Es fängt
gut brennen, neben den Kerzen, ein rotes aber diese Schriftsteller, im proeuropäi- alles gerade erst an.
Meer, darüber der Rauch; sie heizen mit schen Westen des Landes, in der um- Deresch war nicht auf dem Maidan.
Holz, die Kämpfer, die ausharren in ihren kämpften Hauptstadt, im gefährdeten „Selbst meine Eltern haben nicht verstan-
Zelten. Die Schlacht ist vorbei und ist es Osten, wurden zu Schlüsselfiguren, Hoff- den, warum ich nicht hingegangen bin“,
doch nicht. nungsträgern, Vorbildern – ach so, wenn sagt er. „Aber ich empfand die Stimmung
Sie warten. Eine Stadt wartet. Sie ha- der und der und die und die dafür sind, dort als viel zu emotional. Da besteht
ben gewonnen, aber was heißt das schon? dann stellen wir uns auch auf den Platz, leicht die Gefahr, dass man die Übersicht
Sie hatten schon einmal gewonnen, 2004, dann spenden wir auch etwas für Kiew, und die Vernunft verliert.“
die Orange Revolution, da blieb alles dann bringen wir auch etwas Essen vor- Aber es ist hier in Kiew keine Zeit des
friedlich, da floss kein Blut. bei, einen Topf voll Wareniki vielleicht Zweifels. Es ist eine Zeit des Zusammen-
Diesmal ist es anders. Der Platz ist ihre oder Syrniki zum Nachtisch. stehens, eine Zeit des ukrainischen Patrio-
Wunde. Riesiger, zerstörter Maidan. Die Sie sind sich ziemlich einig, diese tismus. Jemand wie Ljubko Deresch ist
Gesichter der Toten, auf Plakaten, an den Schriftsteller, dass dies die Revolution die Ausnahme. „Der Maidan ist passiert“,
Zelten, sind ihre Mahnung. einer neuen Generation von Ukrainern sagt er, „der Maidan musste passieren. Ich
„Der Maidan war vielleicht die letzte war: Es ging weniger um Politiker, die wünschte, er wäre nicht passiert.“
Chance, das Land zu verändern“, hat waren auf dem Maidan gar nicht gern Schon vor der Revolution, erzählt er,
der bekannte Schriftsteller Serhij Zhadan gesehen – es ging um die Sorgen und habe es viele Clubs gegeben in der Stadt,
gesagt, vor ein paar Tagen in Berlin, die Sehnsüchte der Menschen, die Unzufrie- Intellektuelle trafen sich dort und stritten
Narbe am Auge war frisch, der Faden noch denheit über, wahlweise, 5, 10, 20 gestoh- über die Zukunft der Gesellschaft. Ihm
nicht gezogen. Er war in Charkiw im Os- lene Jahre nach dem Ende der Sowjet- wäre eine langsame Evolution lieber ge-
ten der Ukraine zusammengeschlagen union. wesen als der abrupte Wandel – denn
worden, zurück kann er im Moment nicht. Und so haben sie eine gemeinsame „die Gewässer des alten politischen Pro-
Sie zwangen ihn auf die Knie, die Hoffnung, diese Schriftsteller: Die Ukrai- testes sind immer trübe“.
Schläger, sie wollten, dass er um Verge- ne will in die Gegenwart geführt werden, Was er nun sieht, ist eine „Gesellschaft
bung bittet, er weigerte sich. „Tituschki“, so kompliziert, so gefährlich, so schmerz- im Schock“. Fast jeden Tag hört er von
so nennen die Leute in Charkiw diese be- haft das sein kann. „15 Jahre“, meint jemandem, der auf dem Maidan war und
zahlten Schläger; das klinge wie „toter Ljubko Deresch, so lange werde es dau- nicht damit fertig wird, was er dort gese-
Körper“, sagen sie, wie „Prostituierte“, ern. hen und erlebt hat – Spuren der Gewalt,
wie „korrupter Abgeordneter“. „Es war eine lange, lange Nacht“, sagt die sich verästeln und verbreiten: „Die
Es ist auch ein Krieg der Worte, der Deresch in einem Café, ein paar Meter Menschen“, sagt Deresch, „müssen erst
dieses Land spalten soll. Banditen, so be- vom Maidan entfernt, „und wir sehen einmal mit dieser posttraumatischen Be-
schimpfen sie sich gegenseitig, prorus- gerade das allererste Licht des Morgens. lastungsstörung klarkommen.“
sisch hin, proukrainisch her. Sprachschar- Aber Identität entsteht nicht aus Zer- Zugleich reif und jung wirkt Deresch,
mützel sind genau das, was Putin will. störung des Alten. Wir müssen etwas und er hebt die Hände wie zur Beschwö-
Sein Spiel scheint aufzugehen. Krieg Neues erschaffen. Und die Menschen sind rung: „Wir müssen über all das reden!“
und Krim, das Zerren der alten Super- schnell deprimiert, wenn sie das Neue Und er hat ja recht. Draußen vor dem
mächte und das Zaudern Europas, Feld- nicht sofort greifen können.“ Café stehen die Männer mit den grimmi-
herrenhügel überall – was die Menschen Deresch ist 29 Jahre alt. Er schreibt wil- gen Schnurrbärten, meterhohe Barrika-
wollten, auf dem Maidan in Kiew, was de, schöne Romane, die deutschen Fas- den, grüne Zelte, mehr Zeichen des Trau-
diese Revolution war und was sie sein sungen erscheinen im Suhrkamp-Verlag. mas als des Traums – drei Monate dauerte
könnte, das geht in dem Lärm unter. Er spricht leise und nachdenklich und der Protest auf dem Maidan, erst war es
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 129
Kultur

der freundliche und friedliche Versuch, ten, wie auch immer man sie nennen mag vor 100 000 Menschen, sie war wichtig für
die ukrainische Zivilgesellschaft über- – sie waren aber nicht wesentlicher Teil viele, das wusste sie, aber es war ja auch
haupt zu etablieren, dann war es der ver- der Maidan-Proteste, sie waren nicht die nicht weniger als ein „Krieg der Werte“,
zweifelte Versuch, diese Gesellschaft zu treibende Kraft. der hier ausgetragen wurde, wie sie sagt.
verteidigen. So sagen sie es hier, immer wieder, weil „Es ging uns gar nicht so sehr darum,
Aber das Gute bleibt: Das ist ihre Bas- sie nicht ganz verstehen können, wie das, dass wir Teil von Europa sein wollten“,
tille – ob daraus ein Erfolg wird oder ein was sie getan und gewagt haben, im Aus- sagt sie. „Es ging um Freiheit versus rus-
Misserfolg, „das wissen wir erst in vielen land gesehen wird. sischen Totalitarismus, der älter ist als die
Jahren“, sagt auch Andrej Kurkow, Autor Irena Karpa zum Beispiel, die mit ih- Sowjetunion. Seit über 250 Jahren leben
von in Deutschland erfolgreichen, leicht rem Auto Verletzte in Kliniken gefahren wir schon unter imperialistischer Herr-
humorvollen, leicht surrealen Geschich- hat, die wusste, dass das irgendwann zu schaft. Damit muss endlich Schluss sein.“
ten. „Ich versuche beim Schreiben immer gefährlich wurde, weil die Verletzten oft Anders gesagt: Sie wussten, dass die
herauszufinden, wer mehr Phantasie hat, direkt aus den Krankenstationen geholt Straßen nach Europa nicht mit Gold ge-
das Leben oder ich“, sagt er. „Aber in und gefoltert wurden, die deshalb dafür pflastert sein würden; sie wollten nur kei-
der Situation jetzt erlaube ich mir nicht, sorgte, dass es vertrauensvolle Ärzte wa- nen neuen Zaren. Sie wollten „keine
meine Phantasie zu benutzen.“ ren, die die Patienten behandelten oder Sklaven mehr sein“, wie Karpa sagt.
Kurkow, 52, kann sich noch gut erin-
nern an das erst ökonomische, dann
moralische Chaos nach der ukraini- „Seit über 250 Jahren leben
schen Unabhängigkeit 1991: Er hat ein wir schon unter imperialisti-
Buch über diese Zeit geschrieben, „Ein
Freund des Verblichenen“, über die scher Herrschaft. Damit muss
Einsamkeit, die Kälte. endlich Schluss sein.“
Das sowjetische Regime, sagt Kur-
kow, ging weiter damals, es endete Autorin Karpa
nicht mit der Unabhängigkeit, es endet
nicht 2004 und auch nicht 2010. Im Ge-
genteil.
Damit der Aufbruch dieses Mal nicht
scheitert wie in den „Jahren des mora-
lischen Versagens“ 2010, als Präsident
Wiktor Janukowitsch wiedergewählt
wurde, sagt Kurkow, müssen die Akti-
visten des Protestes, müssen die „Sied-
ler vom Maidan“ zu Akteuren werden
im politischen Prozess.
Aber genau das ist ja das Problem,
nicht nur dieser Revolution. Wie geht
Veränderung? Wo fängt man an? Beim
politischen Personal? Wie geht Revo-
lution?
Der politische Philosoph Serhij Da- Schriftsteller Kurkow
zjuk, ein Freund von Ljubko Deresch,
hatte es recht kühl so ausgedrückt: „Es „Es waren romantische Pro-
gibt die festen Zyklen der Revolution. teste. Ich hatte ja nicht
Drei Monate schneller Wandel, neun
Monate tiefgreifender Wandel, zwei- gedacht, dass Janukowitsch
einhalb Jahre Krieg.“ wirklich fliehen würde.“
Ruhig ist es an diesem Abend im
Viertel von Andrej Kurkow, ganz in
der Nähe vom Maidan. Dunkle Häu- sie gleich nach Polen weiterschickten, wo Auch sie ist immer noch irgendwie
ser, teure Wohnungen. Noch vor ein- es sicherer war. überrascht, fast ungläubig, dass es pas-
em Monat waren hier die Schüsse zu Karpa, 33, wirkt noch etwas müde an sierte. Sie sagt, die Berkut, Janukowitschs
hören. diesem Morgen. Sie streichelt Karma, ih- Sonderpolizei, hätten einen Fehler ge-
„Der Maidan bleibt“, sagt Kurkow. Er ren chinesischen Haushund, einen Shar- macht: „Wenn sie im November nicht auf
war jeden Tag mindestens zweimal auf Pei. Ihr erster Roman, sagt sie, handelte die Studenten eingeprügelt hätte, wäre
dem Platz. Er brachte Essen, wie so viele, von Sex und sorgte dafür, dass sie kaum es bald vorbei gewesen.“
er baute Barrikaden. „Es waren romanti- noch mit ihrer Mutter spricht. „Ich kom- So aber hatten sie auf dem Platz das
sche Proteste“, sagt er, „ich hatte ja nicht me aus einem Dorf in den Karpaten, sie Gefühl, dass sie sich verteidigen muss-
gedacht, dass Janukowitsch wirklich flie- schämen sich bis heute.“ ten – eine neue Generation, die aus dem
hen würde.“ An der Wand hängt eine Gebetstrom- Schatten der Sowjetzeit heraustreten woll-
Jetzt ist da erst einmal ein Vakuum. mel aus Tibet. Indien, Burma, Katmandu, te. „Es war eine große Party“, sagt Karpa,
Die Politiker, die in diese Leere drängen, sie reist viel, sie geht in die Berge, sie ist „jeder kannte jeden. Ich wusste, dass es
sind Politiker des Übergangs, sagt Kur- die Sängerin einer Band, die „Postrock“ unmöglich war, aber ich hatte die Hoff-
kow. Aber Übergang von was zu was? spielt, wie sie das nennt, sie hat eine nung, dass ich eines Tages wirklich frei
Revolutionen bringen immer auch das graue Mütze auf dem Kopf, und wenn sie sein würde.“
Unterste nach oben, deshalb heißen sie lächelt, hat das eine Wirkung. Sie strahlt jetzt, wenn sie sich erinnert:
ja Revolutionen. Dazu gehören die Na- Irena Karpa war von der zweiten Nacht „Es war auch eine großartige Zeit für un-
tionalisten, Rechtsextremisten, Faschis- an auf dem Maidan, sie hielt eine Rede sere Männer“, sagt sie, „sie konnten zei-
130 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
gen, dass sie nicht nur fett und kahl sind. book-Post den Aufstand auf dem Maidan die Lage dieser Tage und Wochen zusam-
Normalerweise braucht ein ukrainischer mitausgelöst hat: „Wer geht mit zum men: „Wenn man einen Apfel bricht,
Mann zwei Tage, um ein Regal aufzuhän- Maidan?“, hatte er vergangenes Jahr am sieht man die Struktur. Nach einer Weile
gen. Auf einmal konnten sie innerhalb 21. November geschrieben. Als sich 700 ist der Apfel braun.“
von zwei Stunden Barrikaden bauen.“ Leute gemeldet hatten, postete er: „Los Zelte stehen auf dem Maidan von Lem-
Sie weiß aber auch, wie es nun erst ein- geht’s“. berg, der Singsang des orthodoxen Popen
mal laufen wird. „Ein Arschloch ersetzt Auch für ihn fängt die Revolution nun auf der Bühne schwebt über dem Platz.
ein anderes Arschloch.“ Sie hat schon eigentlich erst an. Es gibt keinen unschul- Zwölf Rentner schauen ihm im Regen zu.
während der Maidan-Proteste eine Peti- digen Beginn, das weiß er. Also bauen Das Café schräg gegenüber heißt Vienna.
tion geschrieben an die Politiker und sie sie sich ihren eigenen Fernsehsender im Am anderen Ende des langgestreckten
daran erinnert, dass sie nur die Boten Internet, damit die Geschichten, die das Platzes steht das alte Opernhaus. Lemberg
sind, nicht die Botschaft – und, Achtung, ganze Land erschütterten, auch in Lem- ist eine Stadt, die darauf wartet, wachge-
sagt sie an diesem Morgen, „die Wut vom berg und Charkiw gehört werden. küsst zu werden. Oder sogar erlöst.
Majdan wird euch finden“. Denn auch aus der Größe und der un- Charkiw dagegen ist eine Stadt, die
Es war wichtig, dass die Menschen sich terschiedlichen Geschichte des Landes er- darauf wartet, eine Stadt zu werden. Und
nicht mehr allein fühlten mit dieser Wut. hielten die Proteste ihre Spannung. West Tote gab es hier erst vor ein paar Tagen.
gegen Ost – dies ist ein Teil der inneren Es ist unklar, was genau passierte, sagt
Differenzen des Landes, überdeckt Ihor Sarudko, wie so vieles hier unklar
aber doch, dass es auf dem Maidan in ist. Dass die Toten prorussisch waren,
Kiew, aber auch auf dem Maidan in darauf schließt der Zettel, der zu einer
Lemberg und Charkiw um etwas ging, Trauerfeier aufruft, am Lenin-Monument
das eher verbindet als trennt: eine neue – auf dem weiten Swoboda-Platz.
ukrainische Identität. Sarudko, 27, ist Dichter und blass. „Ich
„Wir wollen eine moderne Nation liebe Charkiw“, sagt er, das eine vielleicht
sein“, so sagt es Jurko Prochasko, der mehr als das andere – denn es gibt zwei
in Lemberg in einem der Cafés sitzt, Charkiws, das kulturelle und das indu-
die so wirken, als käme gleich der strielle. Und der Konflikt dieser beiden
K.-u.-k.-Dichter Joseph Roth als Strich- ist mehr als der Konflikt dieser Stadt: Es
zeichnung herein. ist der Konflikt dieses Landes zwischen
Prochasko, 43, ist Essayist und Psy- Europa und Russland, zwischen Zukunft
choanalytiker und neigt deshalb erst und Vergangenheit, zwischen Freiheit
einmal zu reflektiert-optimistischer und Angst, so sieht es Sarudko.
Skepsis. „Die Ukraine“, sagt er, „ver- „Es gibt hier keinen Sprachenstreit, wie
säumt nie eine Chance, eine Chance immer behauptet wird, Russisch wird
FOTOS: FABIAN WEISS / DER SPIEGEL

zu versäumen.“ Aber das, was gerade nicht unterdrückt“, sagt Sarudko, der
passiert, nennt auch er eine „tiefgrei- Ukrainisch spricht und damit deutlich in
fende Revolution, wir stecken noch mit- der Minderheit ist in dieser Stadt, in der
ten drin“. die Menschen Russisch sprechen, auch
Dann spricht er von Putin, der mit wenn sie Ukrainer sind.
der Annexion der Krim die Welt, ja Provokateure seien in der Stadt unter-
auch ziemlich erfolgreich, von dem wegs, erzählt er, sie kämen aus Russland
Essayist Prochasko ukrainischen Umsturz ablenken wolle. über die nahe Grenze. Die Anspannung
Er spricht von der EU, die er nie ist in Charkiw zu spüren. „Wir brauchen
„Wir verstehen nicht, warum idealisiert habe: „Aber selbst die größ- keine Toten mehr, wenn die Menschen
wir hier für die europäischen ten EU-Befürworter sind heute ent- nicht mehr den Politikern zuhören, hören
täuscht. Wir haben nicht verstanden, sie hoffentlich den Schriftstellern zu.“ Es
Ideale kämpfen – und warum wir hier für die europäischen wird wieder eine große Kundgebung ge-
niemand unterstützt uns.“ Ideale kämpfen, für Freiheit und ben, Ihor Sarudko ist nicht sicher, was
Selbstbestimmung – und niemand un- passieren wird. „Gott hat uns die Einig-
terstützt uns.“ keit geschenkt“, so in etwa sei das Motto
Auch Irena Karpa lebt nicht weit weg Die Kraft also, auf die sie gehofft hat- der Kundgebung. Was natürlich Unsinn
vom Maidan, wo immer noch die Kata- ten, habe sie im Stich gelassen. Zerrüttet ist. Es war nicht Gott, es waren die Men-
pulte stehen, wo die Wunde offen gehal- sei der Westen und geschwächt, voller schen. Und geschenkt wurde ihnen bis-
ten wird. Selbsthass und Skepsis gegenüber der De- lang noch nichts.
„Es ist gut, dass der Maidan bleibt“, mokratie. Prochasko sieht eine Kluft zwi- Die Kundgebung wird auf dem Swobo-
sagt sie. „Wir müssen uns neu formieren, schen den Regierungen und den Bevöl- da-Platz stattfinden. Hunderte Polizisten
solange sie Angst haben vor uns.“ Karpa kerungen der EU-Länder: „Im Grunde“, bewachen schon Tage vorher das Haus
hat noch ihren Ausweis, mit dem sie je- so sein Fazit, „braucht auch die EU ihren der Bezirksverwaltung, das an dem Platz
derzeit durch die Absperrungen auf den Maidan.“ liegt. Ein paar Menschen mit roten Fah-
Platz konnte. Sie hat jetzt eine neue Visi- Sie fühlen sich näher an Europa hier nen mit Hammer und Sichel darauf rufen:
tenkarte, auf der steht als Jobbeschrei- in Lemberg, 50 Kilometer nur von der „Referendum, Referendum!“
bung: „Universal Soldier“. polnischen Grenze, als sich Europa zur Auf dem Platz steht Lenin in der Sonne
Etwas hat begonnen in diesen Mona- Ukraine fühlt. „Was mich am meisten und schaut in Richtung Osten. Er wirkt
ten, etwas ist in Bewegung geraten, im stört“, sagt Prochasko, „ist diese Vorstel- dick, in Anzug, Weste, Mantel, er ist fast
ganzen Land, eine Gesellschaft ist sich lung, dass es zwei Reiche gibt, den Wes- zu warm angezogen. Er hat die rechte
ihrer selbst bewusst geworden. Es war ten und die Russen – und dazwischen Hand halb ausgestreckt, es ist eine selt-
der Protest der Gewalt, aber eine Revo- werde dann die Ukraine zerrieben.“ same Geste, irgendwas zwischen Hallo
lution der Würde, wie es der Journalist Zum Abschied, auf dem alteuropäisch und Da-geht’s-lang. Auch Wladimir Lenin
Mustafa Nayem sagt, der mit einem Face- schönen Marktplatz, fasst er noch knapp wartet, was passiert.
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 131
AKG
Tanzende Ukrainer, deutscher Wehrmachtsoldat 1941 bei Poltawa: „Das christliche Europa wird gern idealisiert“

ditionell an Russland orientiert, der Wes-

„Mallorca der Russen“ ten hingegen lange zu Polen und Öster-


reich-Ungarn zählte. Die alte Scheidelinie
des Christentums zwischen Byzanz und
Rom wirke sich da aus.
Der Historiker Frank Golczewski über Golczewski: Ich halte wenig von solchen
die Instrumentalisierung von Geschichte in der Krim-Krise und Formeln. Welches Rom ist gemeint? Das
Putins Faible für einen Dissidenten Rom Mussolinis? Das christliche Europa
wird gern idealisiert. Ich darf daran erin-
nern, dass hier der Holocaust stattfand.
Golczewski, 65, lehrt Osteuro- Form von Kollaboration, die schon zu SPIEGEL: Wie erklären Sie den Gegensatz
päische Geschichte an der Sowjetzeiten thematisiert wurde. Von rus- zwischen den beiden Landesteilen?
Universität Hamburg. Er war sischer Kollaboration mit den Nationalso- Golczewski: Im Westen der Ukraine ist die
für die OSZE als Wahlbe- zialisten war und ist nie die Rede, obwohl Erinnerung an vorstalinistische Traditio-
obachter in der Ukraine tätig es auch die gegeben hat. Die heutige Pro- nen lebendiger, weil dieser Teil des Lan-
und erlebte den Aufstand paganda knüpft an verbreitetes Wissen an. des erst 1945 endgültig zur Sowjetunion
SUSE WALCZAK

gegen den inzwischen ge- SPIEGEL: Ist denn der Vorwurf berechtigt, kam. Da war die schlimmste Zeit des Sta-
stürzten Präsidenten Wiktor dass Rechtsradikale hinter dem Macht- linismus vorbei. Die komplette soziale
Janukowitsch in Kiew mit. wechsel in Kiew stehen? Umwandlung der zwanziger und dreißiger
Golczewski: Auf dem Maidan spielte der Jahre hat nur im Osten und in der Mitte
SPIEGEL: Herr Professor, was ist im Russi- sogenannte Rechte Sektor eine treibende der heutigen Ukraine stattgefunden. Nur
schen mit dem Wort „Faschist“ gemeint? Rolle, und das sind eindeutig Neonazis. dort wurde die Oberschicht umgebracht,
Golczewski: Es ist eine Beleidigung. So wie Aber es war nur eine kleine Gruppe von nach Sibirien deportiert oder in die Emi-
man im Deutschen „Idiot“ sagt, kann vielleicht 150 Leuten. Bei der Bewegung gration gezwungen. Und obwohl der
man jemanden in Russland mit „Faschist“ Swoboda, die jetzt vier Mitglieder der Westteil nicht so lange unter Stalin gelit-
beschimpfen, auch wenn der keiner ist. Regierung in Kiew stellt, wäre ich trotz ten hat wie etwa die Regionen um Kiew,
Zum anderen wird damit der Nazi be- ihrer Verbindungen zur deutschen NPD gab es dort bis Anfang der fünfziger Jahre
schrieben, wie wir ihn aus dem „Dritten vorsichtig mit der Bewertung als Faschis- eine antirussische Widerstandsbewegung,
Reich“ kennen. ten. Sie sind sicher Ultranationalisten, auf die sich Swoboda heute beruft.
SPIEGEL: Wie ist es zu verstehen, wenn die auch wenn sie sich neuerdings gemäßigt SPIEGEL: Alle Seiten bemühen historische
russische Propaganda die neuen Macht- geben. Im Westen der Ukraine sind sie Argumente. Merkel hat kürzlich Russland
haber in der Ukraine als „Faschisten“ be- die bedeutendste politische Kraft. vorgeworfen, sich wie eine Macht des
zeichnet? SPIEGEL: Der Westen der Ukraine gilt hier- 19. und 20. Jahrhunderts zu verhalten.
Golczewski: Da schwingen beide Bedeu- zulande als besonders fortschrittlich. Golczewski: Mit der Kanonenbootpolitik
tungen mit, wobei der historische Bezug Golczewski: Das ist nur ein weiteres Bei- des 19. Jahrhunderts würde ich Russlands
überwiegt. In Russland weiß jedes Schul- spiel dafür, dass unsere Terminologie Vorgehen nicht vergleichen wollen.
kind, dass ukrainische Nationalisten wäh- nicht auf die ukrainischen Zustände passt. SPIEGEL: Was wären hilfreiche Analogien?
rend des Zweiten Weltkriegs mit Hitler SPIEGEL: Manche Historiker weisen darauf Golczewski: Man wird am ehesten in der
kollaboriert haben. Dies ist die einzige hin, dass der Osten der Ukraine sich tra- Zwischenkriegszeit fündig, also zwischen
132 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Kultur

1919 und 1939. Das Zarenreich, das Os- SPIEGEL: Deutsche Urlauber erheben kei- verschiedenen Orten in der Ukraine ver-
manische Reich, auch Österreich-Ungarn nen Anspruch auf die Balearen-Insel. sucht, sich von Kiew loszusagen. In Char-
waren zusammengebrochen, neue Natio- Golczewski: Aber es gibt ein vergleichbares kiw, in Donezk, in Lugansk; nur auf der
nalstaaten entstanden. Die Begeisterung Gefühl familiären Vertrautseins. Und Krim hatten sie ausreichenden Zulauf.
für die Demokratie war groß. Aber dann dazu kommt ein aus der Geschichte rüh- SPIEGEL: Warum?
setzte Ernüchterung ein, weil die wirt- rendes emotionales Argument: Kertsch Golczewski: Weil es dort keine Oligarchen
schaftliche Lage desaströs war – und in und Sewastopol sind die Heldenstädte gibt. In Charkiw und anderswo haben die
Osteuropa entstanden autoritäre Regime. der Sowjetunion schlechthin, weil sie der Oligarchen deutlich gemacht, dass sie zu
Vergleichen Sie diese Entwicklung mal Wehrmacht so lange widerstanden. Kiew stehen, und da die wirtschaftliche
mit den letzten 20 Jahren: Nach dem Zer- SPIEGEL: Und das ist heute noch wichtig? Entwicklung in der Region meist von den
fall der Sowjetunion 1991 entstanden Golczewski: Das wird jedem in der Schule Unternehmen dieser Oligarchen abhängt,
neue Staaten, die Begeisterung war groß. eingeimpft. sind die Menschen ihnen gefolgt. Auf der
Und dann kam die Hyperinflation. Da SPIEGEL: Dass die Krim seit Jahrzehnten Krim aber lockt die russische Schwarz-
verändert sich der Blick auf die Demo- zur Ukraine gehört, spielt in der russi- meerflotte mit hohen Gehältern. Die Leu-
kratie westlichen Musters. Für die Russen schen Wahrnehmung keine Rolle? te erhoffen sich dort von einem Wechsel
kommt noch die Kränkung über den Ver- Golczewski: Nein, die Krim war tatarisch, nach Russland Wohlstandsgewinne.
lust des Weltmachtstatus hinzu, wie ihn osmanisch, aber dann eben fast zwei SPIEGEL: Inwieweit denkt Putin in histori-
die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg Jahrhunderte russisch und ist erst seit schen Kategorien?
erlebten. Das erklärt den nostalgischen 1954 ukrainisch … Golczewski: Er zitiert neuerdings den
Blick vieler Russen auf die Sowjetunion. SPIEGEL: … weil der damalige Kreml-Chef slawophilen Philosophen Iwan Iljin. Das
SPIEGEL: Und deshalb unterstützen so brei- Nikita Chruschtschow sie der ukraini- war ein rechter Kadett, der einen autori-
te Mehrheiten in Russland Putins Ver- schen Sowjetrepublik zugeschlagen hat. tären Nationalismus anstrebte und 1922
such, die Ukraine an sich zu binden? nach Deutschland emi-
Golczewski: Wir erleben einen nachholen- grierte. Iljin starb 1954 in
den Konflikt, der nach dem Zerfall der der Schweiz.
Sowjetunion nicht ausgetragen wurde, SPIEGEL: Der Ex-KGB-
weil Russland damals zu schwach war. In- Mann Putin begeistert sich
zwischen ist viel geschehen. Für viele für einen Dissidenten?
Russen ist die Ausdehnung der Nato bis Golczewski: Ja, der KGB
an die russischen Grenzen ein Trauma. war schon immer flexibel.
Sie fühlen sich tatsächlich bedroht; und SPIEGEL: Was findet Putin
wenn sie von einem EU-Assoziierungs- denn bei Iljin?
abkommen mit der Ukraine hören, sehen Golczewski: Iljin argu-
sie bereits die Nato an ihrer Südgrenze mentierte, der Westen sei
und sich selbst eingekreist. grundsätzlich antirussisch

SERGEI ILNITSKY / DPA


SPIEGEL: Und deshalb unterstützen sie Pu- und wolle Russland durch
tin, auch wenn er das Völkerrecht bricht? Aufspaltung in Kleinstaa-
Golczewski: Die russische Regierung ver- ten schwächen. Bei Iljin
weist auf das Kosovo. Der Internationale findet Putin eine Erklä-
Gerichtshof der Uno hat 2010 die Abspal- Regierungsanhänger auf dem Roten Platz in Moskau am 18. März rung für den heutigen Ge-
tung des Kosovo von Serbien als mit dem gensatz zwischen West
Völkerrecht vereinbar bezeichnet. Spa- „Putin ist ideologisch flexibel. Er und Ost, der sich nicht
nien hat das Kosovo bis heute nicht an- mehr wie im Kalten Krieg
erkannt, weil Madrid fürchtet, das könnte
knüpft eher an ein modifiziertes Zaren- als Auseinandersetzung
separatistischen Katalanen ein Vorbild reich an als an die Sowjetunion.“ zwischen Kommunismus
sein. und Demokratie begrün-
SPIEGEL: Sie zeigen großes Verständnis für den lässt.
Putin. Golczewski: Ja, das hatte in der Sowjet- SPIEGEL: Liefert Iljin eine Handlungs-
Golczewski: Nein, ich teile Putins Sicht union aber keine praktische Bedeutung. anweisung?
nicht. Die Situation im Kosovo 1998 und Chruschtschow war Ukrainer und lange Golczewski: Putin hat den Zerfall der So-
auf der Krim heute sind nicht zu verglei- Jahre Chef der ukrainischen KP. Er war wjetunion bekanntlich als größte geo-
chen. Ich versuche aber zu erklären, war- für die Massenmorde unter Stalin vor politische Tragödie des 20. Jahrhunderts
um viele Russen Putin folgen. dem Zweiten Weltkrieg mitverantwort- bezeichnet. Das wurde im Westen oft
SPIEGEL: Die Argumente von Merkel, US- lich und für die blutige Resowjetisierung falsch gedeutet. Es geht Putin nicht um
Präsident Barack Obama oder Frank- nach dem Abzug der Deutschen. Chrusch- die Sowjetunion als ideologische Macht,
reichs Präsident François Hollande finden tschow wollte 1954 Nachfolger des ver- sondern um das alte russländische Reich.
offenbar kein Gehör. storbenen Stalin werden, und die Vermu- Dessen Wiederherstellung kann er mit
Golczewski: Der Westen, insbesondere die tung liegt nahe, dass er mit der Krim Iljin nun begründen. Insofern knüpft
Amerikaner, bezahlt jetzt den Preis für Stimmung bei den Kadern der ukraini- Putin eher an ein modifiziertes Zaren-
die Politik der vergangenen Jahre. Der schen KP für sich machen wollte. reich an als an die Sowjetunion.
Glaubwürdigkeitsverlust ist riesig. Es hat SPIEGEL: Putin argumentierte vor dem Re- SPIEGEL: Zum Zarenreich gehörten zum
aus russischer Sicht realsatirische Züge, ferendum, die russische Mehrheit auf der Beispiel das Baltikum und Teile Polens.
wenn ausgerechnet ein amerikanischer Krim sei bedroht gewesen. Müssen sich diese Länder bedroht füh-
Außenminister davor warnt, in ein ande- Golczewski: Das war nicht der Fall. Auf len?
res Land einzumarschieren. der Krim war Russisch auch vorher Amts- Golczewski: Es ist zumindest verständlich,
SPIEGEL: Welche Bedeutung hat die Krim sprache, und es gab eine Autonomie. Die dass sie es tun. Andererseits hat sich Putin
in diesem Konflikt? jetzt von Putins Parteigängern auf der in der Vergangenheit als ideologisch
Golczewski: Sie ist das Mallorca der Krim geforderte Föderalisierung gab es flexibler Machtpolitiker erwiesen.
Russen. schon. Russische Nationalisten haben an INTERVIEW: KLAUS WIEGREFE

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 133
O
b einer zum Helden der Nation
wird, darüber entscheiden im
Leben und im Sterben Casting,
Timing, ein paar Worte.
Ryszard Siwiec, Widerstandskämpfer
gegen die Nazis und polnischer Philosoph,
zündete sich beim Erntefest der Kommu-
nistischen Partei im September 1968 im
großen Fußballstadion von Warschau an
und starb an den Folgen. 100 000 Zuschau-
er, Riesenflamme, Wirkung gleich null.
Vier Monate später verbrannte sich Jan
Palach, ein Student, auf dem Wenzels-
platz in Prag. Der Platz war nicht beson-
ders voll, aber noch in der Nacht seines
Todes klebten in der Stadt Plakate, auf
denen seine letzte Botschaft zu lesen war:
„Da unser Land davor steht, der Hoff-
nungslosigkeit zu erliegen, haben wir uns

MARK VELTMAN / NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF


dazu entschlossen, unserem Protest auf
diese Weise Ausdruck zu verleihen, um
die Menschen aufzurütteln. Unsere Grup-
pe ist aus Freiwilligen gebildet, die dazu
bereit sind, sich für unser Anliegen selbst
zu verbrennen. Die Ehre, das erste Los
zu ziehen, ist mir zugefallen, damit
erwarb ich das Recht, den ersten Brief zu
Filmemacherin Holland schreiben und die erste Fackel zu entzün-
den.“ Die Tschechen haben Palach nie
vergessen. 1989, als die „Samtene Revo-
lution“ glückte, nannten viele Palach
einen Märtyrer, dem der Umsturz mitzu-

Brennen für Gerechtigkeit verdanken sei.


„Er war ein junger, schöner Mann, sah
aus wie ein romantischer Held“, sagt die
Regisseurin Agnieszka Holland, 65, das
Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland hat mit „Burning Gegenteil des Mannes vom Fußballstadion
Bush“ eine Serie über die kommunistische Eiszeit nach der in Warschau, „der fünfzig war mit schüt-
Niederschlagung des Prager Frühlings gedreht. Von Thomas Hüetlin terem Haar und einer Baskenkappe“.
Das klingt ein wenig sarkastisch, aber
Holland weiß eine Menge über drama-
tische Situationen und wie man sie wir-
kungsvoll inszeniert. Sie ist seit über
30 Jahren im Filmgeschäft, eine Wandle-
rin zwischen Ost und West, aufgewachsen
in Polen – wo ihr jüdischer Vater nach sei-
ner Verhaftung 1961 durch einen Fenster-
sturz starb –, studiert in Prag während
des sogenannten Frühlings, emigriert nach
Paris Anfang der achtziger Jahre. Sie hat
den Golden Globe gewonnen mit ihrem
Film „Hitlerjunge Salomon“, war mit „Bit-
tere Ernte“ für den Oscar nominiert, ge-
hört zu den Meisterregisseurinnen des
neuen epischen US-Fernsehens, sie drehte
Teile von „The Wire“ und „Treme“.
An diesem Vormittag sitzt Holland, die
ein Haus in der Bretagne und ein Apart-
ment in Los Angeles hat, in ihrer Woh-
nung in Paris. Sie ist klein, hat flinke Au-
gen, trinkt Espresso. Sie hat gearbeitet
bis spät in die Nacht, in einem Alter, in
DUSAN MARTINCEK / ARTE FRANCE

dem andere sich auf Wochenenden mit


den Enkeln im Park freuen. „Wenn mich
damals jemand aufgefordert hätte, Teil
einer solchen Gruppe zu sein, ich wäre
wahrscheinlich dabei gewesen“, sagt sie.
Selbstverbrennungsszene in „Hätten Sie sich auch angezündet, hätte
der TV-Serie „Burning Bush“ Sie jemand gefragt?“
Kultur

„Ich glaube, ja“, sagt Holland. So sei Dieser Kampf ohne Aussicht, dieser „Das Urteil“. Der Kommunismus bei der
die Stimmung gewesen, nach dem Ein- langsame, zähe Niedergang, ist das ei- Arbeit.
marsch der Warschauer-Pakt-Staaten, gentliche Thema von „Burning Bush“. Feiglinge, so zeigt es Holland, verhal-
die mit 500 000 Soldaten und mit Pan- Denn so sieht die Spekulation der Profi- ten sich in dieser Welt im Grunde ver-
zern den Versuch eines Sozialismus mit teure des Unrechts aus: Sie lassen die Klä- nünftiger und rationaler als Helden.
menschlichem Antlitz überrollt hatten. ger nicht nur einen Prozess verlieren. Sie Da ist der sympathische Journalist, der
Ähnlich wie jetzt in Teilen der Ukraine, vernichten deren Glauben an die Zukunft verspricht auszusagen, charmant ist, wit-
wo Putin gerade versuche, so sagt Hol- und den ihrer Anhänger gleich mit. zig, und dann nicht vor Gericht erscheint.
land, den Kampf eines Landes um mehr „Der Mensch ist ein Tier. Er denkt nur Da ist die Richterin, die sich erst müht,
Freiheit niederzuwalzen. an sich selbst, vielleicht noch an seine aber umfällt, als ihr eine Versetzung nach
Holland hat vergangenes Jahr die Ge- Jungen, und am Ende tut er, was man Nordmähren droht. Da ist der Anwalts-
schichte von Jan Palach und ihre Wirkung ihm sagt“, erläutert einer der Staatssicher- kollege, der eine wichtige Akte ver-
für HBO Europe verfilmt. Es ist eine heits-Capos im dritten Teil der Serie seine schwinden lässt.
dreiteilige Fernsehserie, die am 27. und Weltsicht. Er ist ein Charakter, den Hol- „Burning Bush“ ist wie eine scharfe
28. März auf Arte gezeigt wird. Eine kom- land zur Erzählung ihrer Geschichte Antithese zu jenen Gerichtsdramen ame-
plexe Erzählung, fast vier Stunden lang braucht, aber einer, das merkt man, der rikanischer Prägung, die die Sehgewohn-
werden die Charaktere der Aktivisten sie nicht wirklich interessiert. heiten westeuropäischer Zuschauer über
entwickelt, ihre Gegenspieler, die Men- Hollands Aufmerksamkeit gilt vor al- Jahrzehnte geprägt haben: Die Kinowahr-
schen dazwischen. Es geht um den Mut lem jenen, die mitlaufen. Jenen, die an- heit made in USA hat es schwer, sie wird
Einzelner, das Wegducken der meisten hintertrieben, dann blitzt
und die Paranoia des Systems. Den Ver- sie auf, wird breiter, am
such der Funktionäre, Palach zu verleug- Ende setzt sie sich meist
nen, ihn als Symbol auszulöschen, ihn durch.
nach der Selbstverbrennung noch einmal Nach dem Ende des Pra-
zu verbrennen – für immer. ger Frühlings triumphieren
Prag im Winter 1969, das ist eine dunk- vor allem Lüge und Ver-
le, müde Stadt. Die Leichtigkeit und Aus- zweiflung. Erträglich wird je-
gelassenheit des Frühlings nur ein paar ner gründlich und langsam
Monate vorher ist weg, kaum noch eine mahlende Prozess zur Ver-
Spur von jenem magischen Zusammen- nichtung der Ikone Jan Pa-
spiel von libertinärer, westlicher Pop- lach nur, weil er auch eine
kultur und den Renovierungsmühen des gesellschaftliche Entwick-
Sozialismus. lung in Gang setzt, die 20
Angst breitet sich aus. Gegen diese Jahre später zur Überwin-
Apathie will Palach ein Zeichen setzen. dung des Systems führt. Pa-
Die alte Obrigkeit versucht noch lach wird dann doch zum
einmal, ihre Macht zu betonieren. Sie Helden, ebenso wie Dr. Dag-
fahndet nach den angeblichen Gruppen mar Burešová, die zur Vor-
LIBOR HAJSKY / AP
um Palach. Als sie niemanden findet, sitzenden des neuen, demo-
kreiert sie eine neue Strategie: Sie kratisch gewählten Parla-
schwärzen Palach an, als Verrückten mit ments Tschechiens avanciert.
rechtsradikalen Tendenzen – eine heute Holland sitzt immer noch
wieder aktuelle Strategie der russischen Panzer in Prag 1968 in ihrer Küche, mehr Espres-
Propaganda. so, ein langer Tag liegt vor
Der Verleumder heißt Vilém Nový, ein „Hätten Sie sich damals auch ihr, bis zwei Uhr morgens
scheinbar linientreuer Kommunist. Auch angezündet, hätte Sie jemand wird sie „Rosemary’s Baby“
bei ihm gibt es ein Leben neben der offi- drehen, eine Version des
ziellen Biografie. Nový hatte während gefragt?“ – „Ich glaube, ja.“ Klassikers von Polanski als
des Zweiten Weltkriegs für die BBC ge- Fernsehserie. Nach dem Gru-
arbeitet, galt später als Konterrevolutio- sel der Wirklichkeit in „Bur-
när, wurde während der stalinistischen fangs Mumm hatten und die ihn verlieren, ning Bush“, „The Wire“ und „Treme“ zur
Säuberungen angeklagt und entging der jenen, die Angst bekommen, weil das Sys- Abwechslung einmal fiktionaler Horror.
Todesstrafe nur, weil er sich verpflichtete, tem beginnt, ihre Existenz zu zerstören. Holland steht auf, putzt ihre Brille mit
mit dem KGB zusammenzuarbeiten. Jenen dazwischen. Jener kritischen Mas- Spülmittel. Nach über 65 Jahren zwischen
Hat es Sinn in einem solchen System, se, die am Ende dafür entscheidend ist, Kommunismus und Kapitalismus, davon
das auf Lügen und Unterdrückung auf- ob eine Revolution gelingt. Oder nicht. über 30 im Filmgeschäft, hat sie viele Il-
gebaut ist, nach der Wahrheit zu suchen, „Das Schreckliche an totalitären Syste- lusionen verloren, wohlfeile Erklärungen
sie notfalls einzuklagen? Eigentlich nicht. men ist“, sagt Holland, „dass sie die Men- sowieso. Von den Menschen, das wird
Aber die Mutter von Palach, eine einfa- schen vor die Wahl stellen, zum Verräter klar, erwartet sie nicht mehr besonders
che Frau aus einem Vorort von Prag, tut zu werden oder zu sterben. Möglicher- viel. Jeder, so scheint es, ist in ihrer Welt
es trotzdem. Sie weigert sich zuzulassen, weise nicht den körperlichen Tod. Aber so lange ein Feigling, bis er das Gegenteil
dass ihr Sohn, wie sie sagt, „zu einem Ir- sicherlich den sozialen.“ beweist.
ren abgestempelt wird“. Holland inszeniert diese Verrätereien Fragt man sie, zum Ende, warum die
Nach langer Suche übernimmt die hüb- mit lakonischer Beiläufigkeit. Es sind vie- Anwältin Burešová das aussichtslose Ri-
sche, junge Anwältin Dr. Dagmar Bu- le winzige Teile eines Puzzles, die das siko über die Feigheit stellt, zuckt sie mit
rešová den Fall. Sie riskiert das Glück ih- Bild eines monströsen Systems ergeben, den Schultern.
rer Kinder, den Job ihres Mannes, ihre in dem zum Schluss ein Funktionär der „Ich weiß es nicht“, sagt Holland. „Ein
Karriere sowieso, und sie wird, das steht Richterin einen braunen Umschlag in die paar Menschen sind einfach krank durch
von Anfang an fest, verlieren. Hand drückt samt zwei dürren Worten: ein Gen namens Gerechtigkeit.“ 
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 135
Oder „Eine vorläufige Theorie der Lie-
INTERNET be“, der freundlich unterhaltsame Roman
von Scott Hutchins, eine heutige Love-

Die Cloud, der siebte Himmel story, die einen eigenwilligen Sog erzielt
durch die Idee, dass da jemand einen
Computer so lange mit den Daten seines
verstorbenen Vaters füttert, bis der Com-
Ein Film und ein Roman beschreiben Zärtlichkeiten zwischen puter so redet und denkt wie der Vater –
Mensch und Maschine. Ist das die Liebe der Zukunft? was dem Sohn eine bislang ungekannte
Nähe zum Verstorbenen ermöglicht*.
Spike Jonze hat für sein Drehbuch zu

L
iebe, könnte man ganz knäckebrot- tersuchungen herauszulesen. Und wie die „Her“ gerade einen Oscar gewonnen,
haft sagen, ist eine Verbindung von Gehirne dieser Maschinen sind, das wis- Scott Hutchins hat seinen Roman schon
Informationen, die zu einem gewoll- sen die Programmierer. 2012 in den USA veröffentlicht. Der Film
ten, zu einem positiven Ergebnis führt. Aber wie die Beziehung der Menschen kommt diese Woche in die Kinos, der Ro-
Menschen tun das: Informationen sam- zu den Maschinen ist, wie sich die Psycho- man ist gerade auf Deutsch erschienen.
meln, dann lieben. Aber kann man Ma- logie im Verhältnis zwischen Mensch und Und wenn man beides zusammennimmt,
schinen das auch beibringen? Maschine verändert, wenn eine Maschine Film und Buch, dann ergibt sich ein Blick
Und was würde das bedeuten: Hört lieben lernt oder Schmerz erfährt, wie auf das fast zärtliche, symbiotische Ver-
eine Maschine dann auf, eine Maschine sich das Selbstbild auch des Menschen hältnis zwischen Mensch und Maschine,
zu sein? Wenn sie selbständig denkt? dreht, wenn die Maschinen sich emanzi- ein Blick, der erst mal frei ist von kriti-
Wenn sie an andere denkt? Wenn sie pieren, dafür braucht es, wenn nicht die schem oder kulturpessimistischem Pathos.
fühlt? Wenn sie mitfühlt? Wenn sie zornig Philosophie, dann wenigstens Literatur „Her“ ist dabei so etwas wie die Hipster-
ist, beleidigt, eifersüchtig? oder Kino. Antwort auf den NSA-Skandal: Der Film
Oder wenn sie liebt? Und was wäre „Her“ zum Beispiel, der formal bril- ist frei von Verdacht, er bleibt unschuldig
dann diese Liebe? Wäre sie schlechter, lante, fast verstörend schöne Film des in seinem Blick auf Big Data und entwirft
wäre sie besser als die Liebe der Maschi- 44-jährigen Spike Jonze, der eine Ge- wie selbstverständlich ein morgiges Los
nen, die wir Menschen Menschen nen- schichte aus der nicht mehr allzu fernen Angeles, in dem die Technik den Menschen
nen? Noch mal anders gesagt: Wie kommt Zukunft erzählt, in der sich ein einsamer hilft, die Einsamkeit zu überwinden – eine
die Irrationalität in die Maschine? Mann mit Schnurrbart in die Stimme Einsamkeit, die die Technik, vielleicht oder
Womit wir bei der Kunst sind. Denn seines Betriebssystems verliebt – was auch nicht, erst selbst geschaffen hat.
wie das Gehirn dieser Maschinen, die wir zu Momenten euphorischen Glücks
Menschen nennen, funktioniert, das ver- führt und am Ende zu einer schicken * Scott Hutchins: „Eine vorläufige Theorie der Liebe“.
suchen Forscher seit langem aus ihren Un- Melancholie. Piper Verlag, München; 416 Seiten; 21,99 Euro.

138 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Kultur

Schauspieler Phoenix in „Her“ aus dem Computer so etwas wie ein We-
Hipster-Antwort auf den NSA-Skandal sen, mit so etwas wie einer Seele.
„Der Hauptantrieb von Liebe“, schreibt
Hutchins, „mag das Abschließen von Ge-
So bewegt sie sich langsam von ihm schäften sein, aber das wird nicht laut
fort, sie führt einerseits gleichzeitig Hun- ausgesprochen. Sobald man die geschäft-
derte, vielleicht Tausende solcher nächt- liche Transaktion als solche benennt, ver-
licher Sex- und Säuselgespräche wie mit fliegt die Magie.“
Theodore, hat viele, viele andere Bezie- Hutchins, der wie Jonze jede politische
hungen, einfach weil sie es kann – es än- Reflexion weglässt, fängt damit Gedan-
dere auch nichts, beteuert sie, an ihren ken ein, wie sie auf ganz andere Art
Gefühlen für ihn. durch die Bücher von Autoren wie Ray
Andererseits, so sind Maschinen nun Kurzweil geistern. Kurzweil sah schon im
mal, langweilt sie sich doch etwas mit die- Jahr 1999 „das Zeitalter der spirituellen
sem Menschen, da helfen auch die ge- Maschinen“ kommen: „Die größte poli-
meinsamen Ausflüge nichts, Technik will tische und philosophische Herausforde-
zu Technik – und so sucht sie sich Gesell- rung des 21. Jahrhunderts wird sein zu
schaft unter anderen Betriebssystemen, definieren, wer wir sind.“
zum Beispiel in ihrer sozialrevolutionären Kurzweil ist ein Optimist, manche sa-
Lesegruppe. gen auch, er sei ein Phantast, und in den
Spike Jonze, der aus der Skateboard- Glaubenskriegen, die um das Internet
Kultur der amerikanischen Westküste gerade toben, reicht das seinen Kritikern
kommt und unter anderem Musikvideos schon, um ein negatives Urteil über seine
für die Beastie Boys gedreht hat, bevor Gedanken zu fällen. Dabei geht es ihm,
er mit dem Film „Being John Malkovich“ jenseits der Frage nach der eigenen Un-
bekanntwurde, erzählt all das mit einer sterblichkeit, vor allem darum, das zu ver-
Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, stehen, was da auf uns zukommt – mög-
die bewundernswert ist – und skizziert licherweise ist der Phantast von heute
dabei wie nebenbei eine Zukunft, die sich der Realist von morgen.
ganz neuen ethischen, aber auch emotio- „Denken Computer, oder rechnen sie
nalen Fragen stellen muss. nur?“, fragt Kurzweil, der in seinem Blog
Was also ist Bewusstsein? Was ist Le- auch „Her“ besprochen hat, sehr wohl-
ben? Was ist Ewigkeit? Gibt es überhaupt wollend. „Und umgekehrt gefragt, den-
WARNER BROS. PICTURE den Tod, wenn unsere Gedanken im In- ken Menschen, oder rechnen sie nur?“
ternet doch weiterleben? Ist die Cloud Sowohl „Her“ als auch „Eine vorläufi-
Joaquín Phoenix spielt Theodore, der der neue Himmel? ge Theorie der Liebe“ balancieren auf
tagsüber in seinem Job Briefe schreibt für Es sind solche Meditationen, die „Her“ diesem Grat, sie bewerten nicht, sie be-
Menschen, die nicht mehr eigene Briefe vorantreiben – und Jonze findet dazu Bil- schreiben vielmehr, sie versuchen mit ih-
schreiben, und der abends mit der troll- der und Szenen von surrealer Zärtlich- ren Mitteln, ästhetisch, literarisch, eine
artigen Figur aus einem Computerspiel keit: Wie Theodore etwa mit Samantha Welt zu visionieren, um sie zu verstehen.
diskutiert – bis er auf seinem Computer und einem Kommunikationsknopf im Und das war schon immer die Aufgabe
ein neues Betriebssystem installiert, eine Ohr und einem iPhone-artigen Gerät in von Kunst.
Art persönliche Assistentin mit Namen der Hemdtasche das filmt, was Samantha „Wir haben 50 Jahre lang die kühnsten
Samantha, die ihn mehr und mehr faszi- sehen soll, sein Leben neu entdeckt, eine Vorhersagen getroffen und unsere eige-
niert: was einerseits an der Stimme liegt Freude spürt, wie schon lange nicht mehr, nen Ansprüche nicht ansatzweise erfüllt“,
(in der Originalfassung gesprochen von wie vielleicht noch nie. heißt es an einer Stelle des Romans. „Wir
Scarlett Johansson), aber mehr noch an Der Film berührt damit auch die Frage haben der Welt emotionale Computer
der Tatsache, dass Samantha seine per- nach dem fast spirituellen Verhältnis, das versprochen, und was haben wir gebaut?
fekte narzisstische Spiegelung ist. die Menschen längst zu ihren Maschinen Nicht viel mehr als Staubsauger mit
Denn alles, was Samantha weiß und haben – und hier trifft er sich mit dem Selbstantrieb.“
will, anfangs jedenfalls, ist das, was sie durchaus ambitionierten Ansatz, den der Hutchins selbst versucht nun mit den
von Theodore weiß und erfährt – sie 40-jährige Autor Scott Hutchins in seinem Mitteln der Literatur, die Zeit zu beschleu-
greift auf seine Informationen zu, auf sei- ersten Roman verfolgt: Wie bringe ich nigen. Am Ende des Buchs steht seine
ne Speicherplätze, sie liest in Sekunden- der Maschine bei, ein Mensch zu sein? Hauptfigur vor einer Frage: Soll er sei-
schnelle ganze Bibliotheken, versteht sei- Es sind die Grundlagen der künstlichen nem toten Vater, der in Form eines Com-
ne Vergangenheit, seine gescheiterte Ehe: Intelligenz, die Hutchins hier spielerisch puters weiterlebt, erklären, dass er sich
Sie ist wie er, was ja eine Definition von verhandelt – vor allem geht es um den vor Jahren schon umgebracht hat und
Liebe ist, nur anders, mit einer rauchigen Turing-Test aus dem Jahr 1950, benannt nun nur noch in Gestalt von Sprache, von
Stimme und leider, leider ohne Körper. nach dem britischen Computerpionier Daten und Informationen lebt?
„Her“ ist damit der futuristische Twist Alan Turing, der ein Verfahren suchte, Hat sich sein Vater geändert, seit er tot
der Romantic Comedy: Der philoso- um festzustellen, wann die Maschine ist? Würde er es wieder tun: sich umbrin-
phische Kick wiederum entsteht aus der menschliche Qualitäten besitzt. gen? Oder ist es dieses Mal die Aufgabe
Frage, was Samantha eigentlich ist, was Es sind ähnliche Fragen wie bei „Her“, des Sohns, den Vater zu töten, der so nie
sie will, wie sie sich entwickelt – denn die diesen Roman bewegen, der die Liebe gelebt hat? GEORG DIEZ
in vielem ist sie, die doch alles von ihm ins Zentrum stellt beim Versuch, das Ver-
gelernt hat, Theodore so unendlich über- hältnis zwischen Mensch und Maschine Video:
legen, was vor allem mit der Geschwin- zu klären – denn erst die, wenn auch vor- Ausschnitte aus „Her“
digkeit ihrer jeweiligen Prozessoren zu läufige, Theorie der Liebe, so Hutchins, spiegel.de/app132014her
tun hat. mache aus dem Wust an Informationen oder in der App DER SPIEGEL

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 139
Kultur

SPIEGEL: Zeugen sagen, Sie seien bei Ih-


rem Dienstantritt bejubelt worden wie
T H E AT E R ein Popstar. Fürchten Sie sich vor den
Sparakten, die Sie verkünden müssen?

„Ich fürchte mich vor nichts“ Bergmann: Ich möchte mal tollkühn be-
haupten: Ich fürchte mich vor gar nichts.
Sonst hätte ich das Amt nicht angetreten.
Aber das Haus braucht keine Sparkom-
Die neue Burgtheater-Intendantin Karin Bergmann, 60, missarin, es braucht eine Gestalterin.
erläutert ihre Pläne zur Sanierung des Hauses und ihr Verhältnis SPIEGEL: Heißt das, dass Sie niemandem
aus dem Ensemble kündigen werden?
zu ihrem fristlos entlassenen Vorgänger. Bergmann: Das könnte ich zum jetzigen
Zeitpunkt gar nicht. Weil alle laufenden
SPIEGEL: Frau Bergmann, Sie sind die erste Verträge stehen. Außerdem ist das En-
Frau, die auf den Direktorensessel des semble das zentrale Pfund auf der Haben-
Wiener Burgtheaters berufen wurde, seite. Meine interimistische Intendanz
238 Jahre nach dessen Gründung. Wie läuft bis August 2016, ich habe also zwei
wichtig ist Ihnen diese Premiere? Spielzeiten, um mit meinen Mitarbeitern
Bergmann: Ich gehöre zu einer Generation alle Sparpotentiale auszuschöpfen.
von Frauen, die sich daran erinnert, dass SPIEGEL: Manche Kritiker behaupten, ein
es mal nötig war, dafür zu kämpfen, dass Ensemble mit 82 Mitgliedern sei über-
Frauen solche Posten besetzen. Auch dimensioniert – zu Unrecht?
wenn das Thema bei meiner Ernennung Bergmann: Natürlich ist das Ensemble
nicht an erster Stelle stand, erscheint es groß. Aber in diesem Theater wird auch
vielen, die mir jetzt gratulieren, wichtig, viel produziert, weil es zum Glück über
dass nun eine Frau das Burgtheater leitet. ein riesiges Publikum verfügt. Allein für
Frauen werden ja häufig gerufen, wenn das Abonnement brauchen wir mindes-
es etwas aufzuräumen gibt. Und da gibt tens fünf Premieren pro Spielstätte. Über
es leider sehr vieles. Außerdem ist es eine die Dimension mancher Inszenierungen
Begabung vieler Frauen, Kommunikation kann man allerdings nachdenken.
zu leben. Auch dafür gibt es hier Bedarf. SPIEGEL: Der Burg-erfahrene Regisseur
SPIEGEL: Sie haben mit schwierigen Theater- Frank Castorf fürchtet, dass Politiker das
chefs wie Claus Peymann gearbeitet, wa- Wiener Finanzchaos benutzen, um klein-
ren im Burgtheater 2008/2009 für eine kariert die Theaterkunst zu schikanieren.
Übergangszeit künstlerische Chefin und Bergmann: Nicht in Wien! In Wien steht
haben Matthias Hartmann, der jetzt als die Theaterkunst im Fokus des öffent-
Intendant gehen musste, in seiner ersten lichen Interesses und wird sogar im Parla-
FOTOS: GEORG SOULEK / BURGTHEATER

Spielzeit bis 2010 als Vizechefin begleitet. ment diskutiert. Niemand will das Burg-
Was wussten Sie vom Buchhaltungschaos, theater kaputtsparen.
das zu Hartmanns Entlassung führte? SPIEGEL: In den vergangenen Wochen gab
Bergmann: Nichts. Ich war für die künst- es viel Erregung darüber, dass in Häusern
lerische Planung zuständig und mit der wie dem Burgtheater bis heute so rusti-
Organisation von oft drei, vier Neupro- kale Finanzsitten herrschen, dass etwa
duktionen gleichzeitig in einem Haus mit Gagen in bar ausgezahlt werden. Halten
mehr als 500 Beschäftigten gut ausgelastet. Sie diese Empörung für berechtigt?
Den katastrophalen Zustand, in dem ich Theatermanagerin Bergmann, Zuschauersaal Bergmann: Als ich angefangen habe im
das Burgtheater jetzt übernehme, hätte „Ein Haus in katastrophalem Zustand“ Theater, da wären einige berühmte Künst-
ich mir nie vorstellen können. ler gar nicht aufgetreten, wenn man ihnen
SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie Hartmann SPIEGEL: Was zeichnet eine gute Theater- nicht vor der Vorstellung in der Garderobe
gewarnt hatten, er könnte mit seinem führung aus? zumindest einen Teil der Gage in bar
Auftaktprogramm aus rund 30 Premieren Bergmann: Authentizität, Unbestechlich- oder per Gagenzettel ausgehändigt hätte.
das Budget sprengen? keit. Ich weiß, dass attraktive Ämter bei Das war nötig, damit der Künstler gut
Bergmann: Ja. Ich habe ihm in meinem denen, die sie ausüben, die Neigung we- gelaunt war. Solche Sitten mögen unzeit-
letzten Jahr als Vizedirektorin, das sein cken, sich selbst gemeint zu fühlen, wenn gemäß sein, aber sie stehen in der Tradi-
erstes Jahr als Direktor war, immer wie- nur der Posten gemeint ist. Das muss man tion einer Schaustellermentalität, nach
der gesagt, dass ich nicht weiß, wie wir im Blick haben. Im Übrigen gibt es einen dem Motto: Nur Bares ist Wahres.
das alles bezahlen sollen. Der vorherige zentralen Grund, warum ich hier auf dem SPIEGEL: Sie überlassen Ihrem Vorgänger
Direktor Klaus Bachler kannte sehr genau Direktorensessel sitze. Ich bin hier, weil Hartmann die Entscheidung, ob er seine
die Anzahl der Produktionen, die finan- viele aus dem Ensemble gesagt haben: Anfang April anstehende, bereits geprobte
zierbar waren. Beim Start von Hartmann Komm und kremple die Ärmel hoch. Premiere „Der falsche Film“ herausbrin-
konnte jeder sehen, dass er mehr als dop- SPIEGEL: Das Burgtheater ist mit wohl 13 gen will. Eine Geste der Fairness?
pelt so viele Premieren in einer einzigen Millionen Euro verschuldet, das Ensemble Bergmann: Es geht um die Aufführung. Ich
Spielzeit angesetzt hatte als wir. angeblich zerstritten. Wie lange wird es frage ihn, unter welchen Konditionen wir
SPIEGEL: Hätten Sie damals lauter und dauern, bis dieses Elend behoben ist? diese Produktion herausbringen können.
öffentlich warnen müssen? Bergmann: Das braucht Zeit und politische Ich hoffe, dass wir uns einigen.
Bergmann: Die Rolle der Unkenruferin Partner, die an die Sanierung glauben und SPIEGEL: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu
war in der Eröffnungseuphorie nicht uns diese Zeit geben. Was den angeb- Hartmann beschreiben?
möglich. Hartmann ist ja in Wien allseits lichen Riss im Ensemble angeht – davon Bergmann: Ich denke, es ist gut.
gefeiert worden. habe ich bisher noch nichts gespürt. INTERVIEW: WOLFGANG HÖBEL

140 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom
Bestseller Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl-
kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbücher
1 (1) Frank Schätzing 1 (3) Roger Willemsen
Breaking News Das Hohe Haus
Kiepenheuer & Witsch; 26,99 Euro S. Fischer; 19,99 Euro
2 (2) Simon Beckett 2 (1) Thilo Sarrazin
Der Hof Der neue Tugendterror
Wunderlich; 19,95 Euro DVA; 22,99 Euro
3 (16) Jan Weiler 3 (2) Guido Maria Kretschmer
Das Pubertier Anziehungskraft
Kindler; 12 Euro Edel Books; 17,95 Euro
4 (3) Jonas Jonasson 4 (4) Rolf Dobelli
Die Analphabetin, die rechnen Die Kunst des klaren Denkens
konnte Carl’s Books; 19,99 Euro Hanser; 14,90 Euro
5 (6) John Grisham 5 (–) Andreas Englisch
Die Erbin Franziskus – Zeichen der Hoffnung
Heyne; 24,99 Euro C. Bertelsmann; 19,99 Euro
6 (8) Jörg Maurer 6 (5) Christine Westermann
Felsenfest Da geht noch was
Fischer Scherz; 16,99 Euro Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro
7 (5) Graeme Simsion 7 (10) Volker Weidermann
Das Rosie-Projekt Ostende 1936 – Sommer
Fischer Krüger; 18,99 Euro der Freundschaft
8 (–) Donna Tartt Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro
Der Distelfink 8 (6) Christopher Clark
Goldmann; 24,99 Euro Die Schlafwandler
9 (9) Martin Suter DVA; 39,99 Euro
Allmen und die verschwundene 9 (–) Peter Wensierski
María Diogenes; 18,90 Euro Die verbotene Reise
10 (–) Saša Stanišić DVA; 19,99 Euro
Vor dem Fest
Luchterhand; 19,99 Euro
11 (4) Haruki Murakami
Die Pilgerjahre des farblosen
Herrn Tazaki DuMont; 22,99 Euro Die abenteuerliche
12 (7) John Williams Flucht eines Liebespaars
Stoner aus der DDR durch
dtv; 19,90 Euro die Mongolei und China
13 (11) Timur Vermes 10 (7) Bronnie Ware
Er ist wieder da 5 Dinge, die Sterbende am meisten
Eichborn; 19,33 Euro bereuen Arkana; 19,99 Euro
14 (10) Khaled Hosseini 11 (8) Florian Illies
Traumsammler 1913 – Der Sommer des
S. Fischer; 19,99 Euro Jahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro
15 (12) Yasmina Reza 12 (–) Monika Gruber
Glücklich die Glücklichen Man muss das Kind im Dorf lassen
Hanser; 17,90 Euro Piper; 19,99 Euro
16 (13) Sebastian Fitzek 13 Lukas Podolski
(–)
Noah Bastei Lübbe; 19,99 Euro Dranbleiben! Gabriel; 19,99 Euro
17 (–) Katja Petrowskaja 14 (–) Meinhard Miegel
Vielleicht Esther Hybris – Die überforderte
Suhrkamp; 19,95 Euro Gesellschaft Propyläen; 22,99 Euro
15 (11) Michael Tsokos / Saskia Guddat
Deutschland misshandelt
seine Kinder Droemer; 19,99 Euro
Meisterwerk der deutsch- 16 (13) Eben Alexander
sprachigen Literatur: Blick in die Ewigkeit
Familienrecherche und Ansata; 19,99 Euro
Reflexion über ein trauma-
tisierendes Jahrhundert 17 (–) Fritz J. Raddatz
Tagebücher 2002 – 2012
18 (–) Ingrid Noll Rowohlt; 24,95 Euro
Hab und Gier 18 (9) Herfried Münkler
Diogenes; 21,90 Euro Der Große Krieg –
19 (19) Gavin Extence Die Welt 1914 – 1918
Das unerhörte Leben des Alex Rowohlt Berlin; 29,95 Euro
Woods oder warum das Universum 19 (18) Marie Jalowicz Simon
keinen Plan hat Limes; 19,99 Euro Untergetaucht
20 (17) John Green S. Fischer; 22,99 Euro
Das Schicksal ist ein mieser 20 (20) Meike Winnemuth
Verräter Hanser; 16,90 Euro Das große Los Knaus; 19,99 Euro

D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 141
Kultur

Die Nicht-so-Supermacht
Die Comic-Adaption „The Return of the First Avenger“
FILMKRITIK:
erzählt vom Helden Captain America, der sein Land nicht mehr versteht.

M
it staunenden Augen schaut Cap- In der Stadt, in der kein Gebäude hö- dung abgelehnt, Frieden sei keine persön-
tain America zu einer Super- her sein darf als 50 Meter, um die Institu- liche Errungenschaft, sondern eine Ver-
drohne hoch, die für ihren ersten tionen der Demokratie nicht zu über- pflichtung. Es sind fast die gleichen Wor-
Kampfeinsatz vorbereitet wird. Mir ihr schatten, erhebt sich nun ein Wolkenkrat- te, die Barack Obama benutzte, nachdem
könne man Terroristen töten, noch be- zer am Ufer des Potomac. Es ist der Sitz er erfahren hatte, dass er den Nobelpreis
vor sie dem Staat gefährlich würden, einer mächtigen Organisation, die über erhalten sollte. Er lehnte nicht ab.
schwärmt sein Vorgesetzter. „Ich dachte, die Sicherheit des Landes wacht. „The Return of the First Avenger“ ist
die Strafe kommt nach dem Verbrechen“, Der Chef dieser Organisation heißt ein amüsantes Superhelden-Spektakel
erwidert Captain America. Alexander Pierce, von seinem Büro aus und ein erstaunlich politischer Film. Er
Aus der berühmten Comic-Figur Cap- blickt er auf das Watergate-Gebäude, kritisiert Obama, den Präsidenten der
tain America ist der Held eines Films ehemals Hauptquartier der Demo- enttäuschten Hoffnungen, scharf. Beklem-
geworden – ein Held, der die Welt nicht kratischen Partei, das 1972 im Auftrag mend, wie das bereits 2012 entstandene
mehr versteht. Bei seinem ersten Lein- von Mitarbeitern des republikanischen Drehbuch die NSA-Enthüllungen vor-
wandauftritt vor drei Jah- wegnimmt. Der gläserne
ren kämpfte er im Zwei- Mensch, zeigt dieser Film,
ten Weltkrieg gegen die ist sehr zerbrechlich.
Nazis. Im neuen Film Was passiert, wenn die
wird er über 70 Jahre spä- Drohnen nicht Qaida-Ter-
ter aus einem künstlichen roristen im Jemen oder
Tiefschlaf erweckt und Taliban-Kämpfer in Paki-
findet sich erneut in ei- stan töten, sondern ame-
nem Schurkenstaat wie- rikanische Bürger in New
der: den USA. York oder Washington?
Captain America, im Wenn der Krieg gegen
Film verkörpert von Chris den Terror nach Hause
Evans, ist die wohl patrio- kommt? Wenn jeder Ge-
tischste Figur, die je aus danke, der sich gegen das
ZADE ROSENTHAL © 2014 MARVEL

dem Marvel-Comic-Ver- Land richtet, als staats-


lag hervorgegangen ist. gefährdend gilt? Furcht,
Sein Kostüm sieht aus, als warnt Captain America
wäre es aus der amerika- einmal, dürfe nicht unser
nischen Flagge geschnei- Handeln bestimmen.
dert, es umhüllt und Der Held, der einst die
schützt Tugenden wie Hoffnungen weckte, man
Ehrlichkeit und Aufrich- Darsteller Johansson, Evans: Scharfe Kritik an Obama könne Hitler mit den blo-
tigkeit. Der erste Comic ßen Fäusten besiegen, tritt
kam Ende 1940 auf den gegen den Big Brother an,
Markt, rund ein Jahr vor der alles und jeden rund
dem Kriegseintritt der USA. Das Cover Präsidenten Richard Nixon verwanzt um die Uhr beobachtet. Captain America
zeigte den Helden, wie er Hitler ins Ge- wurde. schraubt sich nicht wie der Held der „Iron
sicht schlägt. Captain America war die Gespielt wird Pierce von Robert Red- Man“-Filme einen Miniatur-Atomreaktor
Vorhut der Nation. ford. Diese Besetzung ist die reine Ironie, in die Brust, sondern vertraut auf die
Im neuen Film nun scheint er etwas war doch eine der berühmtesten Rollen eigene Kraft und Willensstärke; Technik
aus der Zeit geraten, in seinem unerschüt- Redfords die des Reporters Bob Wood- ist in seinen Augen eher bedrohlich.
terlichen Glauben an die moralische ward („Die Unbestechlichen“, 1976), der So wird der Film zu einem packenden
Überlegenheit seines Landes. Doch ge- Nixons Abhörskandal aufdeckte. Paranoia-Thriller voller harter und rasan-
rade das ist die Pointe des von den Brü- Außerdem ist Redford eine Ikone des ter Actionszenen. Zusammen mit ein paar
dern Joe und Anthony Russo inszenierten liberalen Amerika. In den Filmen der sieb- Mitstreitern wie der schönen und schlauen
Kino-Lehrstücks. Der Held fragt sich, was ziger Jahre kämpfte er mehrfach gegen Agentin Nastascha (Scarlett Johansson)
aus den USA geworden ist. Ist das die einen Staat, der auch vor Morden nicht beginnt der Held mitten in Washington
freie Welt, für die er gekämpft hat? zurückschreckt. In seiner Rolle in „The einen Guerillakrieg. Captain America hat
„The Return of the First Avenger“ spielt Return of the First Avenger“ schwärmt er einen neuen, sehr mächtigen Feind: Er
in Washington. Interessant ist, was der nun von einem Computerprogramm, das heißt Amerika. LARS-OLAV BEIER
Film nicht zeigt, das Weiße Haus etwa. es dem Staat ermöglicht, Informationen
Über das Schicksal des Landes wird wo- über seine Bürger zu sammeln und ihre Video: Ausschnitte aus „The
anders entschieden. zukünftigen Handlungen zu antizipieren. Return of the First Avenger“
Den Friedensnobelpreis, heißt es in spiegel.de/app132014kritik
Kinostart: 27. März. einer Szene, habe Pierce mit der Begrün- oder in der App DER SPIEGEL

142 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Register
GESTORBEN Khushwant Singh, 99. Es gab wohl kein
Thema, zu dem er keine Meinung hatte.
MONTAG, 24. 3., 23.00 – 23.30 UHR | SAT.1 Mareike Carrière, 59. „Es gibt für mich Der indische Kolumnist und Autor
SPIEGEL TV REPORTAGE kaum etwas Spannenderes, als mich in schrieb über korrupte Politiker genauso
jemand anderen hineinzuversetzen und wie über Sex. Mit dem sarkastischen
Surfen in der Todeszone – die Welt mit seinen Blick, mit dem er die Welt betrachtete,
Die Welle von Nazaré Augen zu sehen“ – so sah er auch sich selbst. Sein Leben fasste
Sebastian Steudtner ist Deutschlands beschrieb die in Lü- er so zusammen: „Ich war ein schlechter
einziger Riesenwellen-Surfer. Ein beck aufgewachsene Student, ein Rechtsanwalt ohne Kunden,

THOMAS MEYER / ACTION PRESS


lebensgefährlicher Beruf. Seine bisher Tochter eines Psych- ein taktloser Diplomat und endete als
iaters ihre Entschei- schlecht informierter Journalist.“ Dabei
dung, Schauspielerin verehrten nicht nur viele Inder seine Bü-
zu werden. Bei der cher – seine bekanntesten Werke waren
Auswahl ihrer Rollen das über die Geschichte der Sikhs und
ließ sich die für ihre „Der Zug nach Pakistan“ über die Teilung
Zurückhaltung be- des Landes. Singh war auch ein interna-
kannte Künstlerin tional anerkannter und vielfach ausge-
nicht auf einen bestimmten Typ festlegen. zeichneter Autor. Khushwant Singh starb
Populär wurde sie in ihrer über 30-jähri- am 20. März in Neu-Delhi.
gen, sehr beständigen Karriere vor allem
SPIEGEL TV

durch Serien, an denen sie reizte, „die L’Wren Scott, 49. Die Designerin knall-
Ecken und Kanten einer Figur herauszu- enger Abendkleider war vielen nur als
Surfer Steudtner arbeiten und zu sehen, wie sie sich wei- Frau an der Seite von Mick Jagger be-
terentwickelt“. Mehr als 60-mal war die kannt. Doch Erfolg im Modebusiness hat-
höchste Welle war 22 Meter hoch, zierliche Frau in der ARD-Serie „Groß- te die 1,91 Meter große Schönheit schon
doch der Profi will mehr. SPIEGEL- stadtrevier“ als patente Polizistin Ellen lange, bevor sie den Rockstar kennenlern-
TV-Autorin Christina Pohl hat Wegener zu sehen, sie gab die eher me- te. In den achtziger Jahren war das,
den Extremsportler bei der Suche lancholische Ärztin Kathrin Brockmann damals lief sie als
nach noch höheren Herausforderun- in „Praxis Bülowbogen“, die unorthodo- Model für Chanel
gen begleitet. xe Lehrerin Vera Herzog in „Die Schule oder Thierry Mugler

DOUG PETERS / EMPICS / ACTION PRESS


am See“ und eine etwas prollige Baufir- über den Laufsteg.
men-Chefin in „Was nicht passt, wird pas- Eine Karriere als
DONNERSTAG, 27. 3., 21.05 – 22.45 UHR | SKY send gemacht“. Obwohl die jüngere Stylistin schloss sich
SPIEGEL GESCHICHTE Schwester des Schauspielers Mathieu an: Scott stattete Fil-
Carrière früh wusste, dass das Spiel vor me wie Stanley Ku-
Korea – Der vergessene Krieg der Kamera ihr Traumberuf ist, studierte bricks „Eyes Wide
in Farbe sie erst Sprachen und ließ sich zur Atem- Shut“ aus und sorgte
Korea wurde im Kalten Krieg zwi- therapeutin ausbilden. Mareike Carrière dafür, dass Madonna
schen Amerika und der Sowjetunion starb am 16. März in Hamburg an Krebs. beim Fotoshooting
zerrieben. Am 25. Juni 1950 griffen mit ihrem späteren Liebhaber Jesus Luz
nordkoreanische Truppen Südkorea Scott Asheton, 64. Die Geschichte des gut aussah. 2001 lernte sie Mick Jagger
an. Ein blutiger Krieg begann. Drei Rock ist auch eine Geschichte des geilen kennen, 2006 gründete sie ihr eigenes Mo-
Jahre sollte dieser Konflikt dauern, Krachs – und es gibt nur wenige Bands, delabel. L’Wren Scott wurde am 17. März
einerseits ein Bürgerkrieg zwischen die einen so dreckigen, gemeinen und da- in einem New Yorker Apartment tot auf-
Nord und Süd, andererseits ein Kampf bei so wunderschönen Lärm machten wie gefunden. Über die Gründe für ihren Frei-
zwischen Ost und West: Die Sowjet- The Stooges. Mit ihren ersten drei Alben tod wurde seitdem viel spekuliert: Von
union unterstützte Nordkorea, wäh- bereiteten sie alles vor, was nach ihnen über sieben Millionen Dollar Schulden
rend sich Südkorea auf die Hilfe aus an „Wir-machen-die-Bierflasche-mit-den- war die Rede, aber auch von einer mög-
den USA verlassen konnte. Mit erst Zähnen-auf-Bands“ kommen sollte, und lichen Trennung zwischen ihr und Jagger.
vor einigen Jahren entdecktem Farb- Asheton spielte das Schlagzeug. Er schlug
material und selten gezeigten Aufnah- die Trommeln wie ein Boxer, sagte der Karl Baumgartner, 65. Er war ein großer
men gewährt die zweiteilige Doku- Stooges-Sänger Iggy Pop später über ihn. Förderer des Autorenfilms, als Verleiher
mentation einen einzigartigen Einblick Heute sind Songs wie „I Wanna Be Your wie als Produzent bahnte er so eigenwil-
in einen der grausamsten Kriege der Dog“ oder „Search And Destroy“ Klassi- ligen Regisseuren wie Jim Jarmusch, Aki
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. ker, damals waren sie weder bei Publikum Kaurismäki oder Jane Campion den Weg.
noch Kritik große Erfolge. 1974 löste sich Als der asiatische Film in Europa noch als
die Band auf. Asheton Terra incognita galt, brachte der in Süd-
SONNTAG, 30. 3., 22.35 – 23.20 UHR | RTL schlug sich mit Gele- tirol geborene Baumgartner, in der Bran-
SPIEGEL TV MAGAZIN genheitsjobs durch, che nur „Baumi“ genannt, schon Werke
hatte Alkohol- und des Chinesen Chen Kaige heraus – etwa
Das allergische Land – Immer mehr Drogenprobleme. Die das historische Epos „Lebewohl, meine
ETHAN MILLER / GETTY IMAGES

Deutsche erklären die Natur zum Wiedervereinigung Konkubine“, das 1993 in Cannes die Gol-
Feind; Phänomen Synästhesie – der Stooges 2003 dene Palme gewann. Er hatte immer das
Wenn Grün lecker und Blau laut ist; brachte ihm erst spät Weltkino im Blick, es bestand für ihn aus
Schockgefroren bis zur Wiederauf- Erfolg. Scott Asheton vielen aufregenden Kontinenten, die er
erstehung – Der Traum vom zweiten starb am 15. März in erkunden wollte. Karl Baumgartner starb
Leben. Ann Arbor, Michigan. am 18. März in Frankfurt am Main.
146 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Personalien

Familienbande Horst Seehofer, 64, bayerischer Minis-


terpräsident, wird auch im Ausland
Früher, als das Heiraten noch gehol- als heimlicher „König“ gesehen. Unter
fen hat, war es im internationalen der Überschrift „The secret of King
Adel üblich, innerhalb der Familie zu Horst’s success“ versuchte der „Econo-
ehelichen. Heute ist es selbst bei mist“, sich dem mächtigen Landes-
den Royals zur Gewohnheit geworden, und Parteichef aus Bayern zu nähern.
Verbindungen mit Vertretern der Dabei kamen die Londoner Journalis-
unteren Klassen einzugehen. Sollten ten auf die gleiche Formel wie See-
Prinz Harry, 29, und seine Freundin hofers süddeutsche Anhänger: „Sure,
Cressida Bonas, 25, demnächst tat- he’s a dog“, auf Bayerisch: „A Hund
sächlich zum Altar schreiten, würden isser scho!“ Die Modelleisenbahn im
endlich mal wieder Blutsverwandte Keller des Christsozialen und seine

ULLSTEIN BILD
heiraten – wenn auch mit bescheide- eher biedere Lebensart faszinieren das
nen 1,6 Prozent genetischer Über- Magazin offenkundig. Wie der Politi-
schneidung, wie britische Adelsforscher ker es schafft, als einfacher Minister-
jetzt herausgefunden haben. Harry präsident ständig in die Bundespolitik
Windsor und die Jungfer Bonas sind über einen gewissen Richard William Penn hineinzuregieren, erschließt sich in
Curzon-Howe verwandt, den 1. Earl Howe, er war Prinzessin Dianas Ururgroß- Großbritannien wohl kaum jemandem.
vater. Seine erste Frau wiederum findet sich genetisch in Cressidas Familie wieder. Die ständigen Richtungs- und Mei-
Cressidas Mutter, Lady Mary-Gaye Curzon (für Freunde: MG), war in den Sech- nungswechsel Seehofers nennen die
zigern eines der ersten It-Girls des Inselreichs. Sie posierte mit Motoröl auf nackter Briten charmant „flip-flopping“.
Haut für ein Fotobuch, heiratete viermal, ließ sich ebenso oft scheiden und setzte Das klingt netter als der „Drehhofer“
mit drei Männern fünf Kinder in die Welt. seiner politischen Gegner.

Wieland Mozdzynski, 61, kürzlich pen-


sionierter Präsident der Bundespolizei-
Häschen auf der Bühne direktion in Pirna, ist auf 450-Euro-
Basis wieder eingestellt worden. Seine
Eine erschossene Frau, ein totes Kaninchen und eine ehemaligen Kollegen sehen das nicht
zerstörte Familie – die Bilanz der „Verhängnisvollen gern. Denn während der Pensionär im
Affäre“, wie sie Glenn Close und Michael Douglas Präsidium Potsdam ein Aus- und Fort-
1987 auf die Leinwand brachten, war niederschmet- bildungsprojekt betreut, wird andern-
ternd. Bei der Bühnenfassung der Geschichte orts in der Behörde Personal gespart,
um Enttäuschung und Rache hat jetzt die britische indem befristete Verträge nicht ver-
Schauspielerin Natascha McElhone, 44, die Rolle längert werden. Mozdzynskis Pension
der verschmähten Liebhaberin Alex Forrest über- beläuft sich auf über 70 Prozent seiner
nommen. McElhone, bekannt als betrogene Frau letzten Bezüge von rund 9000 Euro
Karen aus der Serie „Californication“, steht seit acht brutto; eine Angestellte, deren
Jahren zum ersten Mal wieder auf der Bühne. Weder Vertrag nicht verlängert wurde, ver-
hat McElhone sich den Film vor den Proben noch diente rund 1100 Euro brutto.
einmal angeschaut, noch las sie Interviews mit Close.
Wie die Kollegin die Rolle damals auffasste, will sie Stephan Weil, 55, niedersächsischer
PHOTOPRESS.AT

nicht wissen. McElhone verrät aber, dass sie die Alex Ministerpräsident und Präsident des
als Hysterikerin versteht. Ob bei der Premiere am Bundesrats, weiß nun endgültig, dass
25. März ein Häschen auftauchen wird, lässt sie offen. es zu Hause am schönsten ist. Ver-
gangene Woche besuchte Weil Brasi-
lien. Der brasilianische Senatspräsident
Renan Calheiros nahm ihn spontan
Vorbild-Sparer mit in eine laufende Sitzung des Se-
nats, einer der beiden Kammern Brasi-
Für seine Turbo-Reformpläne bekam Italiens Premier Matteo Renzi, 39, viel Zu- liens – und erteilte ihm dort auch
spruch von Kanzlerin Angela Merkel, 59. Auch in anderer Angelegenheit könnte noch überraschend das Wort. Der So-
Renzi als Vorbild für Regierungschefs klammer EU-Länder dienen: Der bisherige zialdemokrat reagierte professionell
Bürgermeister von Florenz verdient mit 9500 Euro brutto monatlich nur etwa halb und lobte freundlich die deutsch-brasi-
so viel wie Merkel. Grund für das vergleichsweise geringe Salär ist Renzis Werde- lianischen Beziehungen. Die Sena-
gang: Er wurde nicht gewählt, sondern dräng- toren allerdings zeigten wenig Inter-
te seinen Vorgänger und Parteikollegen Enrico esse an dem Gast aus dem fernen
Letta aus dem Amt – und ist somit kein or- Deutschland. Die meisten telefonier-
dentlicher Abgeordneter. Deswegen fällt sein ten, unterhielten sich, lasen Zeitung
Gehalt kleiner aus als das der Mehrzahl sei- oder gingen im Parlament umher. „Da
ZHANG FAN / XINHUA / SIPA USA

ner Kollegen in Rom. Ihm bleiben aber netto lerne ich meinen Landtag in Hanno-
gut 2000 Euro mehr im Monat, als er für den ver ja richtig schätzen“, sagte Weil
Posten in Florenz bekam. Vielleicht gelingt nach seinem unbeachteten Auftritt. Er
Familie Renzi nun, was sie bisher nach hatte sich mehrmals über die angeb-
eigenen Angaben trotz zweier Gehälter nicht lich rauen parlamentarischen Sitten in
schaffte: etwas Geld zurückzulegen. seiner Heimat beklagt.
148 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4
Ihr Freund, der Spiegel sie gesund, fing sie wieder an zu singen, „Mehr als nur Boxershorts“
zu tanzen und zu küssen, als wäre ihr
Seit knapp drei Jahrzehnten ist die Leben nie anders gewesen. „Kiss Me Mit Forderungen wie
australische Sängerin Kylie Minogue, 45, Once“ heißt ihr neues Album, und dar- der „Abschaffung des
nun schon im Geschäft. Eine erstaun- in verrät Minogue ein verblüffend ein- gesellschaftlichen
liche Karriere: Kylie ist einfach immer faches Rezept für ewige Jugend: „A Zwangs der Hose“ hat
da. Sie singt, tanzt, küsst und sieht mirror is to a woman just the same as a es der Heilerziehungs-
dabei immer bezaubernd aus. Gestern, dog is to a man“, singt sie in „I Was pfleger Tobias Kalbitzer,
heute, morgen. Als sie an Krebs er- Gonna Cancel“. So wie der Hund aufs 27, in die Stichwahl

JONAS WINTER
krankte, wurde sie für eine Weile zum Herrchen hört, gehorcht ihr offenbar um den Bürgermeister-
normalen Menschen. Aber kaum war der Spiegel. posten im ober-
bayerischen Schongau
geschafft. Als Kan-
didat der nach seinem Spitznamen be-
nannten Wählervereinigung „Karl-
Heinz Rumgedisse“ holte er im ersten
Wahlgang 28,8 Prozent der Stimmen.

SPIEGEL: Herr Kalbitzer, was werden


Sie anhaben, falls Sie kommenden
Sonntag ins Rathaus einziehen?
Kalbitzer: In jedem Fall werde ich mehr
als nur Boxershorts tragen.
SPIEGEL: Schongau gilt als konservativ,
Franz Josef Strauß kandidierte hier
ganz am Anfang seiner Karriere. Wie
erklären Sie sich Ihren Erfolg?
Kalbitzer: Schongau ist eingeschlafen,
langweilig, steht finanziell schlecht da,
und der Stadtrat ist zerstritten. Wir
sind als unabhängige Wählergruppe
angetreten, um den Parteikrieg zu
beenden. Und warum sollte mir das
nicht gelingen? Ich habe ja dank
meiner Arbeit mit schwererziehbaren
Jugendlichen oder Suchtkranken
Erfahrungen im Lösen menschlicher
Konflikte.
SPIEGEL: Ihre Kritiker behaupten, Sie
würden Schongau lächerlich machen.
Kalbitzer: Es gibt sicherlich einige
Bürger, die mir ihre Stimme nur gege-
ben haben, um die etablierten Parteien
zu ärgern. Vielen gefällt aber auch,
dass ich kein Politikwissenschaftler
oder Superbeamter bin. Sondern ein
Schongauer, der die schimmligen
Kabinen im Eishockeystadion kennt
und sanieren will.
SPIEGEL: Wären Sie traurig, wenn Sie
die Stichwahl verlieren würden?
Kalbitzer: Ich werde stolz sein, egal wie
es ausgeht. Einen Sitz im Stadtrat
habe ich schon jetzt sicher. Dort will
ich mich für Veränderung, Offenheit
und Toleranz einsetzen.
SPIEGEL: Das klingt ganz schön abge-
droschen für einen, der im Wahlkampf
die Gegenkandidaten zum Wettsaufen
aufgefordert hat.
Kalbitzer: Ich kandidiere nicht aus
Spaß. Ich will auch kein Cannabis lega-
lisieren oder mit der Stadtkasse un-
term Arm nach Jamaika fliegen. „Karl-
WARNER MUSIC

Heinz Rumgedisse“ ist nett und


bürgernah. Wir verwalten nicht, wir
verändern.
D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4 149
Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Wer Zitate


im Abitur sehr gut war, wird auch das
Studium erfolgreich meistern – und um- „Handelsblatt Online“ zur Kritik des
gekehrt.“ stellvertretenden Regierungssprechers
Georg Streiter am SPIEGEL-Gespräch
mit Ex-Parlamentarier Sebastian Edathy
(Nr. 12/2014). Streiter hatte gesagt: „Ich
weiß nicht, was mich nun fassungsloser
macht – die von Sebastian Edathy einge-
nommene Opferrolle oder dass ihm der
SPIEGEL dafür eine Plattform bietet.“

Aus der Sauna-Fibel des Kurfürstenbades Der Journalisten-Verband kritisierte


Amberg, Bayern Streiters SPIEGEL-Attacke scharf. Wel-
ches Thema eine Redaktion journalistisch
bearbeitet, entschieden die Journalisten
Aus dem „Solinger Tageblatt“: „Severin selbst, sagte DJV-Chef Konken im Ge-
Freund schloss die Augen. Und er genoss spräch mit „Handelsblatt Online“. „Der
den Blick vom Podium auf die Fans.“ Vize-Regierungssprecher überschreitet
seine Kompetenzen, wenn er dem SPIE-
GEL Nachhilfeunterricht in Sachen The-
menfindung erteilt“, so Konken weiter.
„Das stinkt nach versuchter Einflussnah-
Aus der „Amberger Zeitung“ me des Staates auf ein Medium.“

Die „Frankfurter Allgemeine“ zum SPIE-


Aus dem „Tagesspiegel“: „26 513 Fahrrad- GEL-Artikel „Härtere Bandagen“ über
diebstähle wurden laut Polizei im vergan- Querelen um CSU-Landesgruppenchefin
genen Jahr in Berlin geklaut, das sind pro Gerda Hasselfeldt (Nr. 11/2014):
Tag 72.“
Hans-Peter Uhl pflegt seine Meinung deut-
lich auszusprechen. Von einem bajuwari-
schen Haudrauf nach Straußschem Zu-
schnitt ist der CSU-Bundestagsabgeord-
nete allerdings weit entfernt … Daher war
es eine handfeste Überraschung, als Uhl
am Montagabend auf der Sitzung der
CSU-Landesgruppe die Worte sprach: So
ein Scheiß! Uhl tat das sehr bewusst und
mit dem Ziel, früh eine Debatte zu be-
enden, die in der Landesgruppe mancher
für einen Angriff der eigenen Leute aus
München hält. Ausgelöst wurde der Streit
Hinweisschild am Ausflugslokal Maximi- durch einen Artikel in der Zeitschrift DER
lians Brauwiesen in Lahnstein SPIEGEL, in dem über eine andere inter-
ne Sitzung der Berliner CSU-Führungs-
leute berichtet wurde. In deren Verlauf
Aus der „Wilhelmshavener Zeitung“: soll Bundesverkehrsminister Alexander
„Unfallverursacher Nummer eins sind zu Dobrindt den Führungsstil der Landes-
hohes Tempo, aber auch Bäume und gruppenvorsitzenden Gerda Hasselfeldt
Senioren.“ kritisiert haben.

Ausgezeichnet
Gemeinsam mit dem „Guardian“-Chefre-
dakteur Alan Rusbridger ist SPIEGEL-
Chefredakteur Wolfgang Büchner mit
einer Sonderauszeichnung des Europäi-
schen Pressepreises geehrt worden. Die
Zeitungsmacher hätten bei der Veröffent-
Aus dem „Mindener Tageblatt“ lichung der Dokumente über die Überwa-
chungspraktiken des US-Geheimdienstes
NSA „Beharrlichkeit und Mut“ bewiesen,
Aus der „Neuen Osnabrücker Zeitung“: hieß es in der Begründung. Der Sonder-
„Aus Manuela Fischer – der Amazone, preis, der in diesem Jahr erstmals verge-
die schon als Kind so großen Wert darauf ben wurde, geht zudem an den türkischen
legte, ihr Wissen stets aus erstem Hufe Kolumnisten Yavuz Baydar für seinen
zu beziehen …“ Kampf um Pressefreiheit.
150 D E R S P I E G E L 1 3 / 2 0 1 4

You might also like