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Die

Auswirkungen
der
Globalisierung
Gewinner und Verlierer in Europa
und den USA

EINGEHENDE ANALYSE
EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments
Autor: Marie Lecerf
Wissenschaftlicher Dienst für die Mitglieder
DE
Juli 2016 — PE 586.601 (or. FR)
Wer zu den Gewinnern und Verlierern der Globalisierung zählt, ist nicht nur eine volkswirtschaftliche
Frage, sondern längst auch politisches Wahlkampfthema.
Die folgende Bestandsaufnahme zu bestimmten Auswirkungen der Globalisierung auf die US-
amerikanische und die europäische Wirtschaft und Gesellschaft soll bei der Beurteilung der
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Herausforderungen im Zusammenhang mit der
Globalisierung helfen.
Angesichts der vielzähligen unterschiedlichen und oft nur schwer vergleichbaren Quellen wurde eine
Auswahl aus den vorliegenden Daten und Berichten getroffen, um die Debatte beiderseits des
Atlantiks zwar nicht erschöpfend, aber doch repräsentativ darzustellen.

PE 586.601
ISBN 978-92-823-9484-7
doi:10.2861/063047
QA-04-16-522-DE-N
Redaktionsschluss des französischen Originalmanuskripts: Juni 2016.
Übersetzung abgeschlossen: August 2016.

HAFTUNGSAUSSCHLUSS UND URHEBERRECHT


Die Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich beim Verfasser dieses Dokuments;
eventuelle Meinungsäußerungen entsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt des
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ZUSAMMENFASSUNG
Die Globalisierung ist ein Prozess der schrittweisen Ausweitung der Wirtschaft auf die
ganze Welt. Es handelt sich um ein altes Phänomen, das sich mit der Zunahme des
Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs seit Beginn der 1980er Jahre beschleunigt
hat.
Seit dem 18. Jahrhundert diskutieren Befürworter und Gegner der Globalisierung über
ihre Vor-und Nachteile. In letzter Zeit hat sich der Ton jedoch verschärft – angesichts
der Beschleunigung der Globalisierung einerseits und ihrer ständigen Präsenz in der
politischen Diskussion in Amerika und Europa andererseits. Die klassische
wirtschaftliche Analyse auf der einen Seite hebt die Vorteile des Außenhandels hervor
und stützt die Ansicht der Befürworter, dass die Märkte immer stärker liberalisiert
werden sollten. Globalisierung wäre demnach ein Prozess, der technischen,
wirtschaftlichen und letztendlich gesellschaftlichen Fortschritt schafft. Auf der anderen
Seite bemängeln zahlreiche Kritiker die hohen Anpassungskosten und die finanzielle
Instabilität, die sie erzeugt.
Die Globalisierungsdebatte konzentriert sich nunmehr auf eine große wirtschaftliche
und soziale Herausforderung: die Ungleichheit und die Herausbildung einer Zweiteilung
in Gewinner und Verlierer der Globalisierung. Mit der Öffnung der Märkte ging eine
Änderung der Produktionsstrukturen in den Industrieländern und eine Neuverteilung
der damit verbundenen Positionen und Einkommen einher. In den Ländern des
Westens findet eine tief greifende Umverteilung der Einkünfte statt, die über das
Phänomen der Anpassungskosten hinausgeht. Das Einkommen der reichsten 10 % der
Haushalte ist viel stärker angestiegen als das Einkommen der ärmsten 10 % der
Haushalte. Besonders verstärkt haben sich die Ungleichheiten übrigens in den USA. Die
Reichsten werden immer reicher, die Mittelschicht verzeichnet sowohl in den USA als
auch in Europa einen relativen Einkommensrückgang, während die am geringsten
qualifizierten Arbeiter von Armut in einer neuen Form betroffen sind.
Liegt die Ursache für die Verschärfung der Ungleichheit in der Globalisierung? Zwar ist
in der Tat seit Beginn der 1980er Jahre eine erhebliche Veränderung der Verteilung des
Wohlstands in der Welt zu beobachten, allerdings ist Korrelation nicht zwangsläufig
gleichbedeutend mit Kausalität. Die politische Klasse in den USA und in Europa dagegen
hat in der Globalisierung ein neues Kampfthema erkannt.
Die unbestreitbaren Folgen der Globalisierung stellen die Politik daher vor eine
wesentliche Herausforderung: ihre möglichen Vorteile in echten Nutzen zu verwandeln
und gleichzeitig die gesellschaftlichen Kosten zu begrenzen. Hierzu könnte eine aktive
Beschäftigungs- und Bildungspolitik, eine Ad-hoc-Verwaltung neuer Migrationsströme,
eine koordinierte Verwaltung der finanziellen Risiken und eine verstärkte globale oder
regionale Steuerung einen Beitrag leisten.
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INHALT
1. Einleitung ....................................................................................................................... 4
2. Globalisierung heute ..................................................................................................... 4
2.1. Globalisierung als fortlaufender Prozess................................................................ 5
2.2. Vorherrschaft der Marktwirtschaft ........................................................................ 6
3. Positive und negative Auswirkungen der Globalisierung.............................................. 8
3.1. Positive Auswirkungen der Globalisierung............................................................. 8
3.1.1. Wirtschaftstheorie ....................................................................................................... 9
3.1.2. Empirische Analysen .................................................................................................. 10
3.2. Negative Auswirkungen der Globalisierung ......................................................... 10
3.2.1. Hohe Anpassungskosten ............................................................................................ 11
3.2.2. Starke finanzielle Instabilität...................................................................................... 12
4. Globalisierung als Ursache für Ungleichheiten? ......................................................... 13
4.1. Gewinner und Verlierer der Globalisierung ......................................................... 13
4.1.1. Umverteilung von Positionen und Einkommen ......................................................... 13
4.1.2. Begünstigung der höchsten Gehälter......................................................................... 14
4.1.3. Verarmt die Mittelschicht? ........................................................................................ 16
4.1.4. Gering qualifizierte Arbeitnehmer in Schwierigkeiten............................................... 18
4.1.5. Ungleichheiten zwischen Ländern ............................................................................. 18
4.2. Ist die Globalisierung ursächlich für die Zunahme der Ungleichheit? ................. 19
4.2.1. Globalisierung und Ungleichheiten: Korrelation ohne Kausalität?............................ 19
4.2.2. Die Globalisierung als neuer Sündenbock für alle Probleme? ................................... 20
5. Ausblick........................................................................................................................ 22
6. Wichtigste bibliografische Angaben ............................................................................ 24
7. Anhang – Messung von Ungleichheiten ...................................................................... 26
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1. Einleitung
Die Globalisierung befeuert leidenschaftliche Debatten. Manche stellen sie als
Wundermittel zur Ankurbelung des weltweiten Wachstums dar, andere sehen in ihr
eine Bedrohung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der einzelnen Länder. Für
die einen trägt die Globalisierung zum „Wohlstand der Nationen“ bei. Dank
Wettbewerb und Arbeitsteilung fördert sie die Effizienz. Außerdem erleichtert sie den
Zugang zu Kapital und technologischen Ressourcen, reduziert die Einfuhrkosten und
schafft neue Absatzmöglichkeiten für Exportgüter. Für die anderen führt die
Globalisierung zur Verarmung der Massen zugunsten einer privilegierten Elite. Sie wird
pauschal für die Deregulierung der Finanzmärkte, grenzenlos wachsende
Ungleichheiten, Standortverlagerungen, den Wegfall von Grenzkontrollen, eine
Verflachung der Kultur sowie das Ende der demokratischen Staaten verantwortlich
gemacht. Dem Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz1 zufolge steht die
Globalisierung, die Anfang der 1980er Jahre noch nach allgemeiner Auffassung zu
Wohlstand für alle führen würde, heute in den fortschrittlichsten Industrieländern wie
in Entwicklungsländern im Brennpunkt der Kritik.
Einiges steht im Zusammenhang mit der Globalisierung auf dem Spiel: die Gleichheit
zwischen Ländern, die Bewahrung ihrer staatlichen Souveränität, die Verteilung des
Wohlstands zwischen verschiedenen Ländern und innerhalb dieser Länder usw. Wo
etwas „auf dem Spiel steht“, kann man gewinnen oder verlieren. Die Zusammenhänge
zwischen der Globalisierung und den Gewinnen oder Verlusten, zu denen sie führen
kann, sind nichts Neues. Aber die Frage, wer als „Gewinner“ oder „Verlierer“ aus
diesem Wettstreit hervorgehen wird, wird heute in Europa und den USA mit neuer
Schärfe diskutiert. Der US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 hat die Debatte darüber,
ob das auf starkem, potenziell zu Ungleichheiten führendem Wachstum basierende
amerikanische Gesellschaftsmodell noch tragfähig ist, neu entfacht. Parallel dazu haben
rechte Parteien die wachsende Armut in Europa, von der insbesondere Kinder, Arbeiter
und Familien betroffen sind, als Wahlkampfthema für sich entdeckt – zu einem
Zeitpunkt, wo die Fähigkeit Europas, Gewinne für jedes seiner Länder und seine Bürger
zu erzeugen, infrage gestellt wird.
Die vorliegende Analyse soll zur Klärung dieser Debatte beitragen. Sie liefert zunächst
eine Definition der Globalisierung sowie ihrer gegenwärtigen Eigenschaften. Darauf
aufbauend werden die Vorteile und negativen Auswirkungen dieser neuen
Globalisierung dargestellt. Anschließend wird der Frage nachgegangen, ob die
Globalisierung als Ursache für Ungleichheiten herhalten kann, um herauszuarbeiten,
wer die heutigen Globalisierungsgewinner und -verlierer in der Europäischen Union
und in den USA sind. Schließlich werden die wirtschafts- und sozialpolitischen
Strategien identifiziert, die am besten geeignet sind, eine Art Konvergenz oder
Gleichgewicht zur Eindämmung der teilweise massiven Verzerrungseffekte der
Globalisierung zu schaffen.

2. Globalisierung heute
Der Begriff Globalisierung bezeichnet den Prozess der Verflechtung und gegenseitigen
Abhängigkeit nahezu aller Länder der Welt in einem gemeinsamen Markt über die

1
Stiglitz on globalization, why globalization fails?, J. Stiglitz, Video, Picovax, Januar 2013.
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Ausweitung und Vertiefung des weltweiten wirtschaftlichen, finanziellen und


kulturellen Austauschs.
2.1. Globalisierung als fortlaufender Prozess
Die Globalisierung ist ein Prozess der schrittweisen Ausweitung der Wirtschaft auf die
ganze Welt. Dieser Prozess begann mit den Eroberungen im 16. Jahrhundert und den
daraus resultierenden Beziehungen zwischen der Alten und der Neuen Welt. 2 Spanien
und Portugal errichteten große Imperien, und anstelle des Mittelmeers wurde der
Atlantik zum wichtigsten Handelsraum.3 Diese erste Globalisierung war die
Globalisierung des Warenkapitalismus: Wirtschaftlicher Austausch fand nun nicht mehr
regional, sondern in weltweitem Maßstab statt.
Anschließend begann im 19. Jahrhundert mit dem industriellen Kapitalismus die zweite
Phase der Globalisierung. London und Großbritannien wurden zum Zentrum einer
neuen Weltwirtschaft4. Das Handelsvolumen stieg. Es kam zu einer ersten
internationalen Arbeitsteilung zwischen den Kolonien als Rohstofflieferanten und den
Industrieländern, die diese Rohstoffe in Fertigerzeugnisse umwandelten und
anschließend weltweit vertrieben.
Nach 1945 begann eine dritte Phase: die Globalisierung des Finanzwesens. Das
Zentrum der Welt verlagerte sich in die USA5, die zur neuen Weltwirtschaftsmacht
wurden. In den 1980er Jahren nahm das Tempo der Finanz-Globalisierung in einer
mittlerweile digitalen Weltwirtschaft zu.6
Die Grundlage dieser drei Globalisierungsphasen war jeweils eine Revolution der
Verkehrs- und Kommunikationsmittel: die Einführung der Karavelle im 15. Jahrhundert,
der Dampfschifffahrt im 19. Jahrhundert sowie der Containerschiffe und des
Luftverkehrs im 20. Jahrhundert. Die Welt wuchs sozusagen zu einem großen Ganzen
zusammen, oder, wie es der französische Geografieprofessor Jacques Levy ausdrückte:
die ganze Erde wird zu einem Raum, einer Weltgesellschaft („l’étendue planétaire
devient un espace, une société-Monde“)7. Mit der Verbreitung des Telegrafen im
19. Jahrhundert, des Festnetztelefons im 20. Jahrhundert sowie von Internet und
Mobiltelefonie im 21. Jahrhundert demokratisiert sich der Zugang zu
Telekommunikation und die Welt wird in einer nahezu dauerhaften Gleichzeitigkeit
miteinander verbunden. Laut dem Pariser Politologen Bertrand Badie ist die
Globalisierung nunmehr mit einer starken technologischen Innovation verbunden, die
sich in der Revolution der Kommunikation kristallisiert8.

2
Die Wurzeln der Globalisierung reichen weit zurück. In seinem Buch La dynamique du capitalisme
(deutscher Titel: „Die Dynamik des Kapitalismus“) entwickelte der französische Historiker Fernand
Braudel das Konzept der Weltwirtschaft („économie-monde“), um das internationale
Wirtschaftssystem des spanischen und britischen Weltreichs und die Entwicklung des weltweiten
Handels zu definieren.
3
La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II (deutscher Titel: Das
Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.), F. Braudel, 1949.
4
„D’une mondialisation à l’autre“, J. Fayolle, Revue de l’OFCE, Nr. 69, April 1999, S. 164-177.
5
„D’une mondialisation à l’autre“, J. Fayolle, Revue de l’OFCE, Nr. 69, April 184, S. 184 ff.
6
Digital globalization: The new era of global flows, J. Manyika, S. Lund, J. Bughin, J. Woetzel,
K. Stamenov und D. Dhingra, Bericht – McKinsey Global Institute, Februar 2016.
7
„Quels espaces pour une société-monde“, J. Levy, Konferenz der l'Université de tous les savoirs, 2003.
8
Un monde de souffrances: Ambivalence de la mondialisation, B. Badie, 2015, S. 55.
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Gefördert wurde die Globalisierung auch durch die Verbreitung einer


wirtschaftsliberalen Politik, die den freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr
sowie die Mobilität der Menschen begünstigte. Ende der 1970er Jahre und während
der beiden darauffolgenden Jahrzehnte weiteten sich die Liberalisierung der
Binnenmärkte, die Öffnung für den internationalen Handel und der Abbau von
Devisenverkehrsbeschränkungen weltweit aus. Auch das von Deng Xiaoping
eingeführte Reformprogramm der „Vier Modernisierungen“9 hing mit dieser Dynamik
zusammen10, wie auch Margaret Thatchers Amtsantritt als britische Premierministerin
im Jahr 1979, die Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten im Jahr 1980, die
Einführung des „Binnenmarkts“ durch Jacques Delors im Jahr 198511, die multilateralen
Handelsverhandlungen in Uruguay12, das Ende des Kalten Krieges, der Zusammenbruch
der Sowjetunion in den Jahren 1989 bis 1991, der Beschluss über die Einführung der
Europäischen Währungsunion im Jahr 1992 und die Gründung der
13
Welthandelsorganisation (WTO) 1995. Starken Auftrieb erhielt die Globalisierung
durch internationale Verträge wie das GATT-Abkommen (General Agreement on Tariffs
and Trade14) und multilaterale Organisationen wie den Internationalen
Währungsfonds15 oder die Welthandelsorganisation (WTO) und die Finanzmärkte, die
sich nach bescheidenen Anfängen zu durchgängigen weltweiten Netzwerken entwickelt
haben.16
2.2. Vorherrschaft der Marktwirtschaft
Im Zuge der Globalisierung im 20. Jahrhundert vertieften sich die Beziehungen
zwischen dem Warenhandel und dem grenzüberschreitendem Finanzwesen und
wurden zunehmend komplexer. Wie das McKinsey Global Institute im Jahr 2016
ermittelte17, nahm der Warenverkehr seit Mitte der 1980er Jahre stark zu.
Zwischen 1985 und 2007 ist der weltweite Warenhandel rund zweimal so schnell
gewachsen wie das Welt-BIP, was der Expansion multinationaler Großkonzerne und
ihrer Errichtung von Standorten in Ländern mit deutlich geringeren Lohnkosten zu
verdanken ist. So stieg der weltweite Warenhandel von 13,8 % des Welt-BIP im Jahr
1985 auf 26,6 % des BIP kurz vor der Wirtschafts- und Finanzkrise an. Seither hat sich
das Wachstum des Warenhandels auf 24,6 % des Welt-BIP verlangsamt, hat also im
Vergleich zu 2007 um 2 Prozentpunkte abgenommen.
In den 25 Jahren vor der Finanzkrise 2007-2008 sind die Finanzströme schneller
angestiegen als das Welt-BIP: von 0,5 Billionen USD im Jahr 1980 auf 11,9 Billionen USD
im Jahr 2007. Seit der Krise hat sich die Dynamik der Finanzflüsse jedoch deutlich
abgeschwächt, von 21 % des Welt-BIP im Jahr 2007 auf nur 7 % im Jahr 2014.

9
„La construction de l'économie socialiste de marché“, S. Kuno, Le Monde, 21. Januar 2004.
10
Politics and trade: lessons from past globalisations, K. O'Rourke, 2009, S. 22.
11
„La mise en place progressive du marché intérieur“, Toutel'Europe.eu.
12
„The Uruguay Round“, Welthandelsorganisation.
13
„Who we are“, Welthandelsorganisation.
14
„GATT and the Goods Council“, Welthandelsorganisation.
15
„The IMF at a Glance“, Internationaler Währungsfonds, 23. März 2016.
16
La régulation financière et monétaire internationale, P. Marini, Informationsbericht des Senats
Nr. 284, 2000.
17
Digital globalization: The new era of global flows, McKinsey Global Institute 2016, S. 24 ff.
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Finanz- und Warenströme waren von der Finanz- und Wirtschaftskrise also besonders
betroffen, machen aber weiterhin einen bedeutenden Anteil der Weltwirtschaft aus.
Der weltweite Handel mit Dienstleistungen hingegen hat zwar eine deutlich geringere
Bedeutung als der Warenhandel, ist jedoch weiterhin langsam, aber stetig von 3,4 %
auf 6,3 % des Welt-BIP gestiegen.
In den kommenden Jahren könnte die Ausweitung der digitalen Technologien (Internet
und weltweite Online-Märkte für selbständige und freiberufliche Dienstleistungen) zu
einem starken Anstieg der ausgetauschten Dienstleistungen führen.
Messung der Globalisierung: ein schwieriges Unterfangen
Dass es die Globalisierung18 gibt, ist eine unbestreitbare Tatsache, aber sie lässt sich nur
schwierig fassen: Eine eindeutige Maßeinheit der Globalisierung gibt es nicht19.
Häufig wird der KOF-Globalisierungsindex herangezogen, der seit 2002 von der ETH Zürich
veröffentlicht wird. Er misst die wirtschaftliche, soziale und politische Dimension der
Globalisierung und ermöglicht es, die Entwicklung des Globalisierungsgrades ausgewählter
Länder über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Der KOF-Index berücksichtigt 207 Länder
im Zeitraum 1970-2013 und setzt sich aus 23 Variablen zusammen20.
Darüber hinaus hat die OECD, infolge einer stetig steigenden Nachfrage nach besseren
Messinstrumenten für die Analyse der Globalisierungstendenzen, einen konzeptuellen und
methodischen Rahmen für die Erhebung quantitativer Daten und die Erstellung von Indikatoren
ausgearbeitet. Die Ergebnisse dieser Arbeiten fließen in ein Handbuch21 über wirtschaftliche
Globalisierungsindikatoren ein (letzte Veröffentlichung: 2010).
Auch die Europäische Union hat Indikatoren definiert, die einen Überblick über die
Globalisierungstendenzen für die EU geben sollen22.

Der KOF-Index misst auf einer Skala von 1 bis 100 die wirtschaftliche, soziale und
politische Globalisierung (s. Kasten). Die wirtschaftliche Komponente des KOF-Index
misst tatsächliche Handels und Investitionsströme sowie Handelsschranken. Die soziale
Dimension der Globalisierung spiegelt den Grad der Verbreitung von Informationen
und Ideen wider (Messung anhand von Variablen wie dem Anteil der ausländischen
Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung oder der Zahl der Internetnutzer). Die
politische Dimension zielt darauf ab, wie intensiv die politische Zusammenarbeit
zwischen den Ländern ist (Anzahl der Botschaften in einem Land, Mitgliedschaft in
internationalen Organisationen). Diese drei Dimensionen haben seit den 1980er Jahren
einen raschen Anstieg verzeichnet.
Die wirtschaftliche Dimension bleibt überraschenderweise hinter den anderen
Dimensionen der Globalisierung zurück, wobei Handelsbeschränkungen eine wichtige
Rolle spielen. Bemerkenswert ist außerdem, dass die USA bei diesem Indikator weltweit
nicht an erster Stelle stehen.

18
„Mondialisation économique et financière : de quelques poncifs, idées fausses et vérités",
J. Le Cacheux, Revue de l'OFCE, Sonderausgabe, März 2002, S. 24.
19
„Ist Globalisierung messbar?“, A. Dreher und A. Fuchs, Die Volkswirtschaft, 2010.
20
KOF-Globalisierungsindex.
21
Measuring Globalisation: OECD Economic Globalisation Indicators 2010, OECD, September 2010.
22
Global Value Chains and Economic Globalization: Towards a new measurement framework,
T. J. Sturgeon, Report to Eurostat, Mai 2013.
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Tabelle 1 – Wirtschaftliche Dimension der Globalisierung


Deutschland Vereinigtes Frankreich Italien Schweden USA
Königreich

1980 47,10 63,28 47,93 42,85 51,40 52,30


1990 57,63 67,21 59,13 54,04 76,70 57,55
2000 70,80 76,12 70,70 75,85 88,65 64,59
2010 65,40 72,79 69,10 70,50 87,12 59,32
2013 61,08 67,62 66,53 67,02 80,56 59,40

Datenquelle:http://globalization.kof.ethz.ch/ KOF Index of Globalization.

Auf einer Skala von 1 bis 100 erreicht die soziale Dimension der Globalisierung sehr
hohe Werte. Auch hier stehen die USA hinter den Ländern der Europäischen Union
eher zurück.
Tabelle 2 – Soziale Dimension der Globalisierung
Deutschland Vereinigtes Frankreich Italien Schweden USA
Königreich

1980 68,90 60,19 55,55 35,14 75,43 56,65


1990 69,38 74,42 72,18 77,72 77,04 72,91
2000 83,94 86,74 83,57 78,04 85,21 78,56
2010 84,88 86,63 87,46 78,63 85,33 79,48
2013 84,53 86,03 87,14 78,40 84,63 79,15

Datenquelle: KOF Index of Globalization.http://globalization.kof.ethz.ch/

Die politische Dimension der Globalisierung schließlich ist besonders bemerkenswert.


Hier erreichen die USA ein ähnlich hohes Niveau wie die europäischen Länder.
Tabelle 3 – Politische Dimension der Globalisierung
Deutschlan Vereinigte Frankreic Italien Schweden USA
d s h
Königreich

1980 51,80 95,50 65,56 90,84 95,30 87,06


1990 47,11 88,18 96,20 84,63 85,94 83,14
2000 87,93 95,82 96,37 94,47 94,74 92,42
2010 91,90 94,68 97,74 97,92 94,63 91,70
2013 91,94 94,95 97,29 97,53 94,65 92,19
Datenquelle: KOF Index of Globalization.

3. Positive und negative Auswirkungen der Globalisierung


3.1. Positive Auswirkungen der Globalisierung
Die klassische wirtschaftliche Analyse unterstreicht die Vorteile des Handels und stützt
die Vorstellung der Befürworter, dass die Märkte immer stärker liberalisiert werden
sollten: Demnach wäre die Globalisierung ein Prozess, der a priori für alle Menschen
vorteilhafte technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritte schafft. In der
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 9 von 29

„perfekten, reinen Lehre“ entwickelt sich die Weltwirtschaft aus sich selbst heraus so,
dass sie Wohlstand für alle schafft.
3.1.1. Wirtschaftstheorie
Der grundlegende Gedanke, dass Globalisierung Vorteile bringt, beruht auf der
klassischen Außenhandelstheorie von David Ricardo, die der britische
Wirtschaftswissenschaftler in seinem Werk „Über die Grundsätze der politischen
Ökonomie und der Besteuerung“ (1817) beschrieben hat. Ricardo nahm an, dass ein
Land in einem Freihandelssystem seinen nationalen Wohlstand steigert, indem es sich
auf die Produktion der Güter spezialisiert, bei der seine Produktivität am höchsten
(bzw. am wenigsten schwach) ist. Bei der Herstellung dieser Güter hat das Land einen
sogenannten „komparativen Kostenvorteil“23. Als Konsequenz muss es anschließend
die Güter kaufen, die es selbst nicht mehr produziert. Jedes Land hat folglich ein
Interesse daran, sich auf die Sektoren zu spezialisieren, in denen es den höchsten
relativen Produktivitätsvorteil hat bzw. in denen sein Nachteil am geringsten
ausgeprägt ist.24
Auch die Verbraucher würden von den niedrigeren Preisen profitieren, die sich aus
verringerten Produktionskosten sowohl bei heimischen Industrieerzeugnissen als auch
bei importierten Produkten ergeben. Außerdem stünde ihnen eine größere Auswahl
von Waren und Dienstleistungen zur Verfügung.
In den theoretischen Arbeiten zur Außenwirtschaft werden deutlich ihre insgesamt
positiven Auswirkungen herausgestellt. Da die Liberalisierung des Handels die
internationale Spezialisierung in der Produktion begünstigt, führt sie normalerweise
weltweit zu einem Anstieg der Realeinkommen und einer verbesserten Lebensqualität.
Der Austausch führt außerdem über verschiedene Wege zu weiteren
Effizienzgewinnen, etwa durch die allgemein stärkere Konkurrenz auf den

23
Qu'est-ce qu'un avantage comparatif ?, Dessine-moi l'éco, 2014.
24
Ricardo erklärte seine Theorie anhand des berühmt gewordenen Beispiels vom Austausch britischen
Baumwolltuchs gegen portugiesischen Wein: „England kann in einer solchen Lage sein, dass die
Erzeugung des Tuches die Arbeit eines Jahres von 100 Leuten erfordert, und wenn es versucht, den
Wein herzustellen, so wird vielleicht die Arbeit gleicher Zeitdauer von 120 Leuten benötigt werden.
England wird daher finden, dass es seinen Interessen entspricht, Wein zu importieren, und ihn mit
Hilfe der Ausfuhr von Tuch zu kaufen. Um den Wein in Portugal herzustellen, ist vielleicht nur die
Arbeit von 80 Leuten während eines Jahres erforderlich, und um das Tuch in diesem Lande zu
produzieren, braucht es vielleicht die Arbeit von 90 Leuten während der gleichen Zeit. Es ist daher für
Portugal von Vorteil, Wein im Austausch für Tuch zu exportieren. Dieser Austausch kann sogar
stattfinden, obwohl die von Portugal importierte Ware dort selbst mit weniger Arbeit als in England
produziert werden kann. Wenngleich es das Tuch vermittels der Arbeit von 90 Leuten erzeugen kann,
wird Portugal dieses doch aus einem Lande einführen, wo man zu seiner Herstellung die Arbeit von
100 Leuten benötigt, da es für Portugal von größerem Vorteil ist, sein Kapital in der Produktion von
Wein anzulegen, wofür es von England mehr Tuch bekommt, als es durch Übertragung eines Teiles
seines Kapitals vom Weinbau zur Tuchfabrikation produzieren würde. England gibt damit das
Arbeitsprodukt von 100 Leuten für das von 80 hin. Ein solcher Austausch kann zwischen Personen des
gleichen Landes nicht stattfinden. Die Arbeit von 100 Engländern kann nicht für die von 80
hingegeben werden, aber das Produkt der Arbeit von 100 Engländern kann gegen das Arbeitsprodukt
von 80 Portugiesen, 60 Russen oder 120 Indern gegeben werden. Der diesbezügliche Unterschied
zwischen einem einzelnen und mehreren Ländern ist leicht zu begreifen, wenn man die Schwierigkeit
in Rechnung stellt, mit der Kapital von einem Lande in das andere wandert, um eine profitablere
Anlage zu suchen, und die Beweglichkeit berücksichtigt, mit der es sich fortwährend innerhalb eines
Landes von einer Provinz zur anderen bewegt.” Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und
der Besteuerung, 1817, von Otmar Kotheimer überarbeitete Übersetzung Gerhard Bondis, Kap. VII
„Über den auswärtigen Handel“, Marburg: Metropolis-Verlag, 2006, S. 115-116.
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Warenmärkten25, die Nutzung von Skaleneffekten und die größere Vielfalt des
Angebots26 sowie durch technologische Spillover-Effekte oder eine Intensivierung von
Forschung und Entwicklung27.
3.1.2. Empirische Analysen
Auch wenn es schwierig ist, die Vorteile aus dem internationalen Handel genau zu
messen28, deuten empirische Untersuchungen darauf hin, dass der Warenaustausch
tatsächlich tendenziell zu einem Anstieg von Produktivität und Lebensqualität führt.
Eine Korrelation zwischen wirtschaftlicher und finanzieller Öffnung einerseits und
Wachstum andererseits wird von zahlreichen Autoren bei langfristiger Betrachtung
nachgewiesen, wobei keine sicheren Aussagen über die Kausalitätsrichtung getroffen
werden können.29 Nach einer amerikanischen Studie zum Handel zwischen 63 Ländern
schlägt sich eine Erhöhung des Außenhandels um 1 % des BIP in
Einkommenssteigerungen zwischen 0,5 und 2 % pro Einwohner nieder30. In einer
weiteren Untersuchung auf Basis von Daten zu 21 Ländern stellte die OECD fest, dass
eine Öffnung des Außenhandels um 10 % (das entsprach etwa der Steigerung, die in
den untersuchten Ländern zwischen 1988 und 1998 zu beobachten war) zu einem
Produktivitätsanstieg pro erwerbstätiger Person von 4 % geführt hat31.
Es gibt jedoch auch Ausnahmen zu den Ergebnissen dieser Studien. Die Zeit des
Wirtschaftswunders, die sowohl in den USA als auch in Europa zu den Phasen mit dem
bedeutendsten Wachstum gehörte, fällt mit einer geringen Handelsöffnung zusammen.
Eine Korrelation zwischen wirtschaftlicher und finanzieller Öffnung einerseits und
Wachstum andererseits wird von zahlreichen Autoren bei langfristiger Betrachtung
nachgewiesen, wobei keine sicheren Aussagen über die Kausalitätsrichtung getroffen
werden können.32
3.2. Negative Auswirkungen der Globalisierung
Nicht alle teilen diese positive Sicht auf die weltweite wirtschaftliche Öffnung.
Globalisierungsgegner kritisieren zahlreiche negative Auswirkungen der Globalisierung,
wie etwa hohe Anpassungskosten oder stärkere finanzielle Instabilität.

25
„Expansion of trade at the extensive margin: A general gains-from-trade result and illustrative
examples“, J. R. Markusen, Journal of International Economics, 2012.
26
„Increasing Returns, Monopolistic Competition, and International Trade“, P. Krugman, Journal of
International Economics, 1979, S. 469-479.
27
„Economic Integration and Endogenous Growth“, L. A. Rivera-Batiz und P. Romer, The Quarterly
Journal of Economics, 1991, S. 531-555.
28
„L'avantage comparatif notion fondamentale et controversée“, B. Lassudrie-Duchêne und D. Ünal-
Kesenci, L'économie mondiale 2002, La découverte 2003, S. 90-104.
29
„Les échanges internationaux comme dynamisme de la croissance“, R. Barre, Revue économique,
1965, S. 105-126; International Trade: Free, Fair and Open?, P. Love und R. Lattimore, OECD Insights,
Juli 2009; The World Economy: A Millennial Perspective, A. Maddison, OECD Development Centre
Studies, 2001; Globalisierung als Quelle des Wirtschaftswachstums, C. Sax und R. Weder, Die
Volkswirtschaft, Das Magazin für Wirtschaftspolitik, 2012, S. 14-17.
30
„Does Trade Cause Growth?“, J. Frankel und D. Romer, American Economic Review, 1999, S. 379-399.
31
„The Driving Forces of Economic Growth: Panel Data Evidence for the OECD Countries“, A. Bassanini
und S. Scarpetta, OECD Economic Studies Nr. 33, 2001/II, S. 9-56.
32
„Les échanges internationaux comme dynamisme de la croissance“, Barre 1965; International Trade:
Free, Fair and Open?, Love et al 2009; The World Economy: A Millennial Perspective, Maddison 2001;
Globalisierung als Quelle des Wirtschaftswachstums, Sax/Weder 2012.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 11 von 29

3.2.1. Hohe Anpassungskosten


De facto führt die Globalisierung zur Umstrukturierung von Unternehmen – entweder
direkt durch die Verlagerung der Fertigung in Länder mit niedrigeren
Produktionskosten, oder indirekt aufgrund verstärkter Importe, durch die lokal
produzierte Produkte verdrängt werden. Die Unternehmensverlagerungen verursachen
(zumindest vorübergehend) Kosten, da die Umschulung des Humankapitals und/oder
die Umstellung des Produktionsapparats eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen.
Infolge der Beseitigung von Handelshemmnissen können die Reallöhne bestimmter
Gruppen von Arbeitnehmern sinken, insbesondere in wettbewerbsintensiven Branchen
sowie bei gering qualifizierten Arbeitnehmern. Natürlich müssten in einer „reinen und
perfekten“ Wirtschaft die Arbeitnehmer, die von der Handelsliberalisierung profitieren,
die benachteiligten Arbeitnehmer entschädigen, sodass sich ein Nettovorteil für die
gesamte Volkswirtschaft ergibt. In der Praxis gibt es aber so gut wie nie ein allgemeines
Entschädigungsprogramm auf Grundlage von Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzipien,
und die Arbeitsbedingungen haben sich eher verschlechtert (Entstehen atypischer
Beschäftigungsverhältnisse usw.).
Die Anpassungskosten konzentrieren sich häufig auf bestimmte Tätigkeiten, Regionen
und Kategorien von Arbeitnehmern. Sie sind deutlicher wahrnehmbar als die Vorteile
für die Verbraucher. Da es keine angemessene Entschädigung für die Verlierer gibt, die
aufgrund der ausländischen Konkurrenz zumindest kurzfristig ihre Arbeit oder ihre
Investitionen verlieren, sind diese Anpassungskosten gesellschaftlich nur schwer
akzeptabel. Um die Auswirkungen dieses sogenannten „Sozialdumpings“ abzumildern,
hat die Europäische Union den Europäischen Fonds für die Anpassung an die
Globalisierung eingerichtet (siehe Kasten unten).

Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung


Der 2007 eingerichtete Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) hilft
Arbeitnehmern, wenn sie infolge großer struktureller, durch die Globalisierung hervorgerufener
Änderungen im Außenhandel oder infolge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ihren
Arbeitsplatz verloren haben. Der EGF verfügt im Zeitraum 2014–2020 über ein maximales
Jahresbudget von 150 Millionen Euro. Aus diesem Fonds können bis zu 60 % der Kosten von
Projekten bestritten werden, die entlassenen Arbeitnehmern helfen können, einen neuen Job
zu finden oder ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Allgemein gilt, dass der EGF nur dort zum
Einsatz kommt, wo mehr als 500 Arbeitnehmer von einem einzigen Unternehmen
(einschließlich Lieferanten und nachgelagerten Unternehmen) entlassen werden oder wenn in
einer oder mehreren benachbarten Regionen zahlreiche Arbeitnehmer einer bestimmten
Branche ihre Arbeit verlieren. Die konkreten Fälle werden von nationalen oder regionalen
Behörden verwaltet. Jedes Projekt hat eine Laufzeit von zwei Jahren. Der EGF kann
Maßnahmen finanzieren wie Unterstützung bei der Arbeitssuche, Berufsberatung,
bedarfsgerechte Ausbildung und Umschulung, Betreuung und Coaching, Förderung von
Unternehmertum und Unternehmensgründungen. Überdies können einzelne Personen
finanziell unterstützt werden, wenn sie eine Ausbildung machen, umziehen oder anderweitig
mobil werden müssen, oder wenn ihre Einkünfte nicht für den Lebensunterhalt reichen.
Einzelne Arbeitnehmer, die ihre Arbeit verloren haben, können EGF-Unterstützung erhalten. Im
Zeitraum 2014–2020 kann es sich dabei um Selbständige, Zeitarbeiter oder unbefristet
Beschäftigte handeln. Bis Ende 2017 können junge Menschen, die weder in Arbeit noch in
Ausbildung sind, in Regionen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit EGF-Unterstützung in gleicher
Höhe wie die Arbeitnehmer in diesen Regionen erhalten. Die EGF-Mittel dürfen jedoch nicht
zur Deckung von Kosten für die Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit von Unternehmen,
deren Modernisierung oder Umstrukturierung eingesetzt werden
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 12 von 29

3.2.2. Starke finanzielle Instabilität


Die Instabilität des gegenwärtigen finanziellen Umfelds, für die Kritiker eine der
schlimmsten negativen Konsequenzen der finanziellen Globalisierung, wird häufig
einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum mit geringer Inflation und Vollbeschäftigung
gegenübergestellt, wie sie die Volkswirtschaften der USA und vieler europäischer
Länder in der Zeit des Wirtschaftswunders erlebt haben.33 Der Kontrast ist in der Tat
frappierend. Zwei Experten des Internationalen Währungsfonds 34 ermittelten im
Zeitraum von 1970 bis 2011 insgesamt 147 Bankenkrisen, einige davon (insbesondere
die Asienkrise der Jahre 1997 und 1998 und die Weltwirtschaftskrise 2008 sowie die
nachfolgende Eurokrise35) von weltweiter Tragweite. Dazu kommen
218 Währungskrisen und 66 Staatsschuldenkrisen.
Durch die Integration der Finanzmärkte und die Globalisierung der Produktion
entstehen enge Verknüpfungen zwischen den Entwicklungen in den verschiedenen
Ländern, und letztendlich gleichen sich die Schwankungen der Preise finanzieller
Vermögenswerte (Zinssätze und Börsenkurse) und die jeweilige Konjunktur einander
an, was wiederum die zyklischen Schwankungen der Weltwirtschaft verstärkt. So
wurden 2008 die europäischen Märkte vom Abwärtstrend an den US-Börsen erfasst
und die amerikanische Rezession weitete sich auf die ganze Welt einschließlich der
Europäischen Union aus.36 Die Öffnung der Volkswirtschaften für den Güter-,
Dienstleistungs- und Kapitalverkehr macht diese anfälliger gegenüber externen
Schocks.
Neben Übertragungseffekten und dem Verlust der Unabhängigkeit der nationalen
Volkswirtschaften haben diese Krisen auch sehr hohe wirtschaftliche und
haushaltsbezogene Kosten. So wurde in einer Studie des US-Rechnungshofs
(Government Accountability Office) geschätzt, dass sich die Kosten der Wirtschafts- und
Finanzkrise 2008 für die USA auf über 10 Billionen USD37 belaufen könnten, auch wenn
genaue Zahlenangaben schwierig sind. In Europa pumpten die Länder der Europäischen
Union – innerhalb wie außerhalb des Euro-Raums – zwischen 2008 und 2011 rund
1,6 Billionen EUR (bzw. knapp 13 % des EU-BIP) in Form von Garantien und direktes
Kapital in ihre Banken, um den Zusammenbruch des gesamten Bankensystems zu
verhindern. Als Folge daraus stiegen die bestehenden Schulden und Defizite an. Einige
der besonders geschwächten Volkswirtschaften des Euro-Währungsgebiets,
insbesondere Griechenland, Irland und Portugal, waren nicht mehr in der Lage, ihren
Schuldenstand zu kontrollieren und die Finanzkrise zu bewältigen. Dies führte zu einer
Staatsschuldenkrise.38

33
Die Gleichmäßigkeit und Dynamik des wirtschaftlichen Fortschritts in diesem Zeitraum lassen sich
freilich zum Teil durch die besonderen Eigenheiten des notwendigen Wiederaufbaus der
europäischen Volkswirtschaften und der Einholung der amerikanischen Wirtschaft erklären.
34
Systemic Banking Crises Database: An Update, L. Laeven und F. Valencia, 2012, IMF Working
Paper 12/163.
35
De la crise financière à la crise économique, Banque de France, Documents et Débats Nr. 3, 2010.
36
„Contagion et crise de la dette européenne“, V. Constancio, Revue de la stabilité financière, 2012,
S. 121-134.
37
Financial Crisis Losses and Potential Impacts of the Dodd-Frank Act, United States Government
Accountability Office, Januar 2013.
38
Reaktion der EU auf die Schuldenkrise, Europäische Kommission, letzte Aktualisierung 9. April 2014.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 13 von 29

4. Globalisierung als Ursache für Ungleichheiten?


Bietet die Globalisierung die Möglichkeit, die Lebensbedingungen weltweit
anzugleichen, oder verschärft sie bestehende Ungleichheiten? Die Frage, wie sich der
Freihandel auf die Herausbildung von Gewinnern und Verlierern auswirkt, beschäftigt
die Wirtschaftswissenschaft schon lange.
Die mit der Globalisierung einhergehende Öffnung der Märkte verschärft den
Wettbewerb und führt tendenziell zu einem Rückgang von Monopolsituationen und vor
Wettbewerbsdruck geschützten Marktstellungen. Für die Verbraucher wirken sich die
Öffnung der Märkte und der zunehmende Wettbewerb umgekehrt günstig aus (siehe
oben).
Bei diesem Prozess erleiden einige Menschen Verluste oder erzielen zumindest
niedrigere Nettogewinne als andere. Die wirtschaftlichen Ungleichheiten können sich
also verschärfen.
4.1. Gewinner und Verlierer der Globalisierung
4.1.1. Umverteilung von Positionen und Einkommen
In den am weitesten entwickelten Länder profitierten qualifizierte Arbeitnehmer und
Kapitaleigner am stärksten von den großen Gewinnen, die durch die Öffnung ihrer
Wirtschaft für den Handel mit Ländern mit geringerer Kapitalausstattung und weniger
qualifizierten Arbeitnehmern erzielt werden.
In den Ländern des Westens findet eine nachhaltige Umverteilung der Einkünfte statt,
die über das Phänomen der Anpassungskosten hinausgeht. Im Hinblick auf die jüngeren
Entwicklungen, die vermutlich mit der aktuellen Globalisierungswelle
zusammenhängen, zeigen die wichtigsten Studien und Forschungsarbeiten die gleichen
Hauptergebnisse:
 In den letzten beiden Jahrzehnten vor der Wirtschafts- und Finanzkrise stieg das
Realeinkommen der Haushalte in den OECD-Ländern um durchschnittlich 1,7 %
pro Jahr. Allerdings stieg in den allermeisten dieser Länder das Einkommen der
reichsten 10 % der Haushalte schneller als das Einkommen der ärmsten 10 %,
sodass sich die Einkommensunterschiede verschärft haben.39 Die Einschätzung,
dass die Vorteile des wirtschaftlichen Wachstums nicht gleichmäßig verteilt
waren und die Wirtschaftskrise die Kluft zwischen Reichen und Armen
vergrößert hat, gilt allgemein als Tatsache.40 Heute haben die reichsten 10 % in
den OECD-Ländern ein 9,6-mal höheres Einkommen als die ärmsten 10 %. In
den 1980er Jahren lag das Verhältnis bei 7 zu 1, in den 1990er Jahren dann bei 8
zu 1 und in den 00er Jahren bei 9 zu 141 (auch wenn Transfers nach wie vor eine
signifikante Korrektivfunktion für die Marktentwicklungen darstellen 42). In der
Europäischen Union stiegen die Einkommensunterschiede seit 2006 in zwei
Dritteln der Mitgliedstaaten an. Im Euro-Raum nahm in folgenden

39
„An Overview of Growing Income Inequalities in OECD Countries: Main Findings“, OECD, 2011.
40
„Record inequality between rich and poor, OECD, youtube, online gestellt am 5. Dezember 2011;
Global Inequality: A New Approach for the Age of Globalization, B. Milanovic, 2016; Europe’s Societal
Challenges: An analysis of global societal trends to 2030 and their impact on the EU, Rand Europe,
2013.
41
In It Together: Why Less Inequality Benefits All, OECD 2015.
42
Income inequality and growth: The role of taxes and transfers, OECD Economics Department Policy
Notes Nr. 9, Januar 2012.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 14 von 29

10 Mitgliedstaaten die Ungleichheit zu: Luxemburg, Slowenien, Griechenland,


Frankreich, Italien, Estland, Österreich, Slowakei, Zypern und Spanien (in
aufsteigender Reihenfolge). Nach einer Reduzierung der Ungleichheiten fiel die
Ungleichheit im Euro-Raum wieder auf den Stand des Jahres 2004 zurück.43
 Einkommensungleichheiten allein sind ein unzureichender Indikator. Weitere
Faktoren müssen berücksichtigt werden (beispielsweise ungleicher Zugang zum
Arbeitsmarkt, Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse, Rückgang der
sozialen Mobilität), um dem zunehmenden Gefühl eines grundlegend
ungerechten Anstiegs der Ungleichheiten, das sich in neueren Untersuchungen
und Debatten zeigt (siehe weiter unten), Rechnung zu tragen.

4.1.2. Begünstigung der höchsten Gehälter


In allen reichen Ländern resultiert der Anstieg der Ungleichheiten zum Großteil aus
dem schnellen Einkommenswachstum einer Minderheit der reichsten Einwohner.
Besonders eklatant sind die Unterschiede in den USA, wo die Einkommen der reichsten
10 % stark gestiegen sind, während die Einkommen der unteren 50 % stagnierten oder
sogar zurückgingen. Genauer gesagt konzentriert sich die neuere Ungleichheitsdebatte
auf die reichsten 1 % oder sogar 0,1 %, also auf die Bevölkerungsgruppen, die
übermäßig vom Einkommensanstieg der letzten Jahrzehnte profitiert haben (siehe
weiter unten) und deren extravaganter Lebensstil Aufsehen erregt.
Abbildung 1 – Einkommensungleichheiten in den OECD-Ländern – Gini-Koeffizienten (siehe
Kasten) der Einkommensungleichheiten (1985 und 2013)

Datenquelle: OECD. Eine „geringe Schwankung“ der Ungleichheiten bezeichnet eine Schwankung unterhalb 1,5 %.
Daten für das Jahr 2013 (oder das am kürzesten zurückliegende Jahr).

Einer Analyse der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty und Emmanuel Saez 44


zufolge blieb der Einkommensanteil des reichsten Prozents der US-Bürger – nach
starken Schwankungen und einem deutlichen Abfall in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts – fast drei Jahrzehnte lang erstaunlich stabil und stieg dann um das
Jahr 1980 erneut an. Laut der Studie Survey of Consumer Finances45 der US-Notenbank

43
Wage developments in the euro area: Increasingly unequal?, A. Stuchlik, EPRS, Europäisches
Parlament, Juli 2015.
44
„Income inequality in the United-States 1913-1998“, T. Piketty und E. Saez, The Quarterly Journal of
Economics, 2003.
45
2013 Survey of Consumer Finances, FED, Federal Reserve Bulletin, 2013.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 15 von 29

(FED) nehmen die Ungleichheiten weiter zu. Die Einkommen der reichsten 10 % stiegen
zwischen 2010 und 2013 um 10 % auf 397 500 USD pro Jahr. Besitzer von
Aktienportfolios oder Immobilien profitierten in den letzten Jahren von einem
erheblichen Vermögenseffekt. Der „Standard & Poor 500“-Index (basierend auf den
500 größten in den USA börsennotierten Unternehmen) stieg in diesem Zeitraum um
62,8 %46, der „Standard & Poor Case Shiller“-Index zur Bewertung der
Immobilienentwicklung um 9,9 %.47
Umgekehrt verzeichneten die unteren 20 % auf der Einkommensskala einen Rückgang
von 8 % auf 15 200 USD monatlich. Zwar ist das durchschnittliche Einkommen in den
vergangenen drei Jahren um 4 % gestiegen, das Medianeinkommen ist im gleichen
Zeitraum jedoch um 5 % gefallen. Diese Tendenz fällt laut der US-Notenbank „mit
einem Anstieg der Einkommenskonzentrationen in diesem Zeitraum zusammen“.
Thomas Piketty: „De l'inégalité en Amérique“
Das Thema Ungleichheit steht in Europa und den USA erneut im Zentrum der politischen und
wirtschaftlichen Debatten. Dies zeigt sich beispielsweise in der Begeisterung, mit der 48Capital
in the 21st century, die englische Übersetzung eines knapp 1 000 Seiten umfassenden Werks
des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty, in den USA aufgenommen
wurde. Ende April 2016, also einen Monat nach seinem Erscheinen in den Vereinigten Staaten,
führte das Buch über den weltweiten Anstieg der Ungleichheiten die US-amerikanischen
Bestseller-Listen an.
Piketty entwickelt seine These auf Grundlage einer historischen Statistik der
Einkommensentwicklung in den wichtigsten kapitalistischen Ländern seit mehr als 100 Jahren
(Frankreich und Vereinigtes Königreich: ab dem 18. Jahrhundert). Piketty zufolge war die
Akkumulation der Kapitalzinsen (r) (Einkünfte aus Investitionen und Eigentum) in den meisten
Ländern höher als das Wirtschaftswachstum insgesamt (g), mit Ausnahme einer langen
Zwischenphase von 1914 bis Mitte der 1970er Jahre. Seit 40 Jahren findet erneut eine
Akkumulation des Kapitals statt, und die Kapitalkonzentration erfolgt deutlich schneller als das
Wirtschaftswachstum (r>g). Diese Rückkehr zum totalen Kapitalismus beruht Piketty zufolge auf
dem Verschwinden der Inflation.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in den USA eine stärkere Ungleichheit bei der
Einkommensverteilung als in Europa. Während die einen betonen, dass es dank des rasanten
Anstiegs der Gehälter von Spitzenkräften möglich ist, reich zu werden ohne zu erben, kann sich
diese vermeintliche Hyper-Meritokratie für diejenigen, die weder zu den Spitzenkräften noch zu
den „Spitzen-Erben“ gehören, als besonders ungünstiges Modell herausstellen. Dies betrifft
arme Menschen, die oft als wenig verdienstvoll und unproduktiv beschrieben werden. Piketty
zufolge waren aber weder eigene Verdienste noch die Produktivität entscheidende Faktoren.
Eine wesentlich wichtigere Rolle spielten die stärkere Verhandlungsposition von
Führungskräften und die Reduzierung der oberen Steuersätze.
Pikettys Ausführungen wurden in allen Medien wiedergegeben, aber auch von vielen Seiten
kritisiert.49
Auch in Europa findet die Polemik um das reichste 1 % starke Verbreitung. Die
Problematik der hohen Einkommen ist in den angelsächsischen Ländern besonders
ausgeprägt, in denen der Einkommensanteil der Spitzengruppe am stärksten

46
Standard & Poor 500.
47
Standard & Poor Case Shiller.
48
„De l'inégalité en Amérique“, Blog von Thomas Piketty, 18. Februar 2016.
49
„Quand un étudiant de 26 ans ébranle Thomas Piketty“, M. Vignaud, Le Point, 26. März 2014 ;
„Summary of Piketty: Criticisms“, R. Kirkby, 2015.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 16 von 29

angestiegen ist.50 Die Zunahme der Ungleichheiten im Vereinigten Königreich, die


etwas anders verlief als in den USA, ist seit den 1970er Jahren sehr hoch (Gini-
Koeffizient + 10 Prozentpunkte ), wie Anthony Atkinson in seinem neuesten Buch51
demonstriert.
Auch auf dem Kontinent wird sie lebhaft diskutiert, wie der Slogan „Wir sind die 99 %“
(die Gier und Korruption des obersten Prozents nicht mehr tolerieren) zeigt, den die
Bewegung Occupy Wall Street 2011 einführte. Von New York aus weitete sich der
Protest auf Europa aus und fand insbesondere in Deutschland, Spanien und Frankreich
Anklang. Dank sozialer Transferleistungen zur Abmilderung der primären
Einkommensunterschiede war die Zunahme der Ungleichheit in den sozialdemokratisch
geprägten Ländern jedoch gemäßigter.
Wer sind die „1 %“ in Europa?
Anhand einer Analyse des Profils des am besten bezahlten 1 % der Arbeitnehmer in 18 Ländern
zeichnet die OECD ein Bild der Gruppe mit dem höchsten Einkommen im heutigen Europa. Die
dabei herausgestellten Eigenschaften ähneln sich in allen Ländern. Dem einkommensstärksten
einen Prozent gehören hauptsächlich Männer zwischen 40 und 60 Jahren mit abgeschlossenem
Hochschulstudium an, die eine hohe Führungsposition in der Finanzbranche oder in der Industrie
innehaben.52

4.1.3. Verarmt die Mittelschicht?


Im Zusammenhang mit den komplexen Änderungen der Einkommensverteilung
innerhalb der einzelnen Länder im Zuge der Globalisierung untersuchte der
Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanovic, wer seit dem Fall der Berliner Mauer
1989 weltweit zu den Globalisierungsgewinnern und -verlierern gehörte. Wie der
ehemalige Chefökonom der Weltbank aufzeigt, handelt es sich bei den Hauptverlierern
der Globalisierung um die ärmsten 5 % der Bevölkerung (deren Einkommen stagnieren)
und besonders um die Mittelschicht in den Industrieländern (deren Einkommen leicht
gesunken ist). Umgekehrt profitierten die Reichsten und die Mittelschicht der
aufstrebenden Volkswirtschaften (vor allem in Asien und Indien) am stärksten von der
weltweiten Zunahme des Wohlstands in diesem Zeitraum.
In der Abbildung unten wird dieses Phänomen veranschaulicht. Durch eine
Unterteilung des gesamten weltweiten Einkommens in Perzentile wird die Entwicklung
des Realeinkommens (y-Achse) für jede „Bevölkerungsgruppe“ (x-Achse) von der
Gruppe mit dem geringsten Einkommen (die ärmsten 5 %) bis zu der mit dem höchsten
Einkommen (die reichsten 5 %) dargestellt. Die ärmsten 5 % sind in der Abbildung ganz
links dargestellt, und die Hauptverlierer der Globalisierung sind die Personen, deren
Einkommen zwischen dem 75. und dem 90. Perzentil der globalen
Einkommensverteilung rangiert. Wie das Diagramm zeigt, waren die realen
Einkommensgewinne im Wesentlichen gleich null 53. Zu diesen Hauptverlierern gehört
vor allem die Mittelschicht in den USA und Europa.

50
Siehe beispielsweise „Economic inequality in the United Kingdom“.
51
Inequality: What Can Be Done?, A. Atkinson, Harvard University Press 2015, S. 19.
52
Who are the top 1% earners in Europe?, O. Denk, OECD Economics Department Working Papers
Nr. 1274, 2015.
53
Global Income Distribution: From the Fall of the Berlin Wall to the Great Recession, C. Lakner und
B. Milanovic, The World Bank, Policy Research Working Paper, Dezember 2013.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 17 von 29

Dagegen findet sich die höchste Einkommenszunahme pro Einwohner unter


denjenigen, die bei der weltweiten Einkommensverteilung ganz oben stehen (im
Diagramm ganz rechts), und den Angehörigen einer aufstrebenden neuen globalen
Mittelschicht (im Diagramm in der Mitte).
Abbildung 2 – Schwankung des Realeinkommens zwischen 1988 und 2008 für verschiedene
Perzentile der weltweiten Einkommensverteilung (Berechnungsgrundlage: Internationaler
Dollar 2005)

Datenquelle: Weltbank.

Eine neue vergleichende Studie zwischen Frankreich und den USA zeigt den
ausgeprägten Niedergang der Mittelschicht in den USA sowie ihre Erosion in Frankreich
(die allerdings erst später einsetzte)54. Heute gehören 67,4 % der französischen und
50,6 % der US-Haushalte der Mittelschicht an, wobei ihr Anteil an der
Gesamtgesellschaft tendenziell in stetigem Rückgang begriffen ist. In den USA
verzeichnete die Mittelschicht im Zeitraum 1996-2012 einen Rückgang von 3,6 %, der
vor allem den hohen Einkommen zugutekam (+ 2,2 Prozent). In Frankreich dagegen
verlief der Rückgang der Mittelschicht (-1,5 % im selben Zeitraum) eher durch eine
Zunahme der niedrigen Einkommen (+0,9 Prozent) – dies könnte im Übrigen das Gefühl
der „Deklassierung“ bei einigen Angehörigen der Mittelschicht erklären. In den USA
entspricht diese Situation der Studie zufolge einer raschen und seit langem
bestehenden Zunahme der monetären Ungleichheiten, während es sich in Europa um
eine neuere, gemäßigtere Entwicklung handelt.
Nach einer Studie des Economic Policy Institute55 belief sich das
Durchschnittseinkommen der US-Mittelschicht 2007 vor der Finanzkrise auf
76 443 USD. Wären die Ungleichheiten nicht seit 1979 so stark gestiegen, hätte es bei
94 310 USD gelegen (das sind etwa 20 % bzw. 18 000 USD mehr). Der relative Rückgang
der höchsten Einkommen infolge der Krise 2008 hat diese Ungleichheiten nur sehr
schwach abgemildert.

54
Classe moyenne : un Américain sur deux, deux Français sur trois, D. Marguerit, La Note d'Analyse,
Februar 2016, Nr. 41.
55
„Wage stagnation in nine charts“, L. Mishel, E. Gould und J. Bivens, Economic Policy Institute,
Januar 2016.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 18 von 29

4.1.4. Gering qualifizierte Arbeitnehmer in Schwierigkeiten


In zahlreichen Studien wird untersucht, wie sich die Entwicklung des Außenhandels
(insbesondere was den Handel mit Schwellenländern mit niedrigem Lohnniveau
betrifft) auf die Zunahme der Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt der meisten OECD-
Länder auswirkt.56 Eine der wichtigsten Ursachen dieser Zunahme war offenbar die
Verschlechterung der Lage gering qualifizierter Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt. So
führte die Ausweitung des Handels zwischen den OECD-Ländern und den
Schwellenländern in den Fällen, in denen letztere einen komparativen Kostenvorteil bei
der Herstellung von Gütern durch gering qualifizierte Arbeitskräfte hatten, zu einem
Rückgang der Gehälter und/oder des Beschäftigungsgrads von Arbeitnehmern mit
einem niedrigen Ausbildungsniveau in der OECD-Zone. Dabei erlitten die am geringsten
qualifizierten Arbeitnehmer in den Industrieländern Verluste oder erzielten zumindest
niedrigere Nettogewinne. Durch den Rückgang der Nachfrage nach unqualifizierten
Arbeitskräften in den am weitesten entwickelten Ländern sinkt auch deren relative
Vergütung. Infolgedessen kommt es, in unterschiedlicher Ausprägung je nach
Sozialsystem und dem Grad der Herausbildung prekärer Beschäftigungsverhältnisse 57,
zu Erwerbsarmut (die Betroffenen nennt man im Englischen working poor58). Ebenso
wie in den USA im Zeitraum von 1973 bis 2013 lag außerdem der Anstieg der Vergütung
der Arbeitnehmer (+9 %) unter dem Anstieg ihrer Produktivität (74 %), was zum
Absinken des relativen Lebensstandards beigetragen hat.59
4.1.5. Ungleichheiten zwischen Ländern
Wenn es innerhalb der verschiedenen Volkswirtschaften Gewinner und Verlierer gibt,
so liegt die Vermutung nahe, dass auf der Ebene der Weltwirtschaft ähnliche
Spaltungen vorhanden sind zwischen Ländern, die von der Globalisierung profitieren,
und Ländern, die Verluste erleiden.
Wie Angus Maddison60 in seinem Überblick über Wachstum und Weltbevölkerung seit
dem Jahr 1000 zeigt, lassen sich Ungleichheiten sehr langfristig nachweisen. Im
untersuchten Zeitraum ist die Weltbevölkerung um das 22-Fache gewachsen, das Pro-
Kopf-BIP um das 13-Fache und das Welt-BIP nahezu um das 300-Fache. Der stärkste
Anstieg ist in den Ländern zu verzeichnen, die heute zu den reichsten zählen
(Westeuropa, Nordamerika, Australasien und Japan). Der Lebensstandard ist in den
reichsten Ländern (Spitzenreiter: USA) heute 60-mal höher als in den am wenigsten
entwickelten Ländern, während dieser Abstand drei Jahrhunderte zuvor nur bei 1 zu 5
lag und vor 1 000 Jahren nahezu nicht vorhanden war.
Mit der fortlaufenden Zunahme der nicht gewichteten internationalen Ungleichheit
(s. Anhang) setzt sich eine Tendenz fort, die im frühen 19. Jahrhundert ihren Anfang
nahm61. Die Kluft zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern wird also weiterhin

56
OECD Employment Outlook, OECD 2007.
57
Im Bericht der OECD (2015) In It Together: Why Less Inequality Benefits All ist die Zunahme des
Anteils der Menschen, die in Teilzeit, in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis oder selbständig
arbeiten, ein wichtiger Faktor für die Verschärfung der Ungleichheiten. Insbesondere bei gering
qualifizierten Arbeitskräften mit befristetem Arbeitsvertrag ist das Erwerbseinkommen deutlich
niedriger und instabiler als bei fest angestellten Arbeitnehmern.
58
In-work poverty in the EU, V. Kern, EPRS, Europäisches Parlament, 2014.
59
„Wage stagnation in nine charts“, Mishel et al 2016
60
The World Economy: A Millennial Perspective, Maddison 2001;
61
„Inequality among world citizen: 1820-1992“, F. Bourguignon und C. Morisson, American Economic
Review, 2002, S. 727-244.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 19 von 29

immer größer. Nach den Angaben der Weltbank62 war im Jahr 1990 das Land mit dem
höchsten BIP pro Kopf (basierend auf der Kaufkraftparität in Dollar 2011) 210-mal
reicher als das ärmste Land (Vereinigte Arabische Emirate versus Malawi). 2014 lag
dieser Multiplikationskoeffizient bei 235 (Luxemburg versus Zentralafrikanische
Republik). Unter den Ländern, die 1990 bereits zu den reichsten Ländern gehörten,
stieg das BIP pro Kopf in 24 Jahren um jeweils 40,6 % an. Damit bleiben diese beiden
Regionen die reichsten Regionen der Welt. In Europa ist der größte BIP-Anstieg in den
ärmsten Ländern zu verzeichnen. So konnte das BIP pro Kopf beispielsweise von Polen
und Bulgarien zwischen 1990 und 2014 einen spektakulären Anstieg um 136 % bzw.
76 % verzeichnen.
Die nach Bevölkerungszahlen gewichtete internationale Ungleichheit (s. Anhang)
nimmt dagegen ab. Dies ist in erster Linie dem raschen Aufstieg der Volkswirtschaften
Chinas (1,33 Mrd. Einwohner) und Indiens (1,17 Mrd. Einwohner) zu verdanken.
Zu beachten ist, dass sich in Bezug auf internationale Ungleichheit nur schwer eine
allgemeine Zahl verwenden lässt, da diese sehr stark von den Berechnungsmethoden
(Wahl des Wechselkurses und der Gewichtung) abhängt. Je nach Fall ergeben sich
signifikant unterschiedliche Ergebnisse, auch wenn die Tendenzen weniger stark
abweichen. Mit Gewissheit lässt sich sagen, dass bestimmte Formen der
internationalen Ungleichheit zunehmen, während andere abnehmen.
4.2. Ist die Globalisierung ursächlich für die Zunahme der Ungleichheit?
Die Ungleichheit hat in vielen Ländern zugenommen, oft nach mehreren Jahrzehnten
der Stabilität, welche mit der Globalisierung zusammenzufallen scheinen. Zwar ist in
der Tat seit Beginn der 1980er Jahre eine erhebliche Veränderung der Verteilung von
Einkommen oder Wohlstand in der Welt zu beobachten, allerdings ist Korrelation nicht
zwangsläufig gleichbedeutend mit Kausalität. Die Politik in den USA und in Europa hat
dennoch in der Globalisierung ein neues Wahlkampfthema erkannt.
4.2.1. Globalisierung und Ungleichheiten: Korrelation ohne Kausalität?
1995 fragte sich der Ökonom Richard Freeman: „Werden unsere Gehälter in Peking
festgelegt?“63 Seine Antwort – „Nein“ – entsprach der Ende der 1980er Jahre
vorherrschenden Meinung. Ähnlich argumentierte der Nobelpreisträger Paul Krugman
in seinem 1999 in Deutschland erschienenen polemischen Werk über den „Mythos vom
globalen Wirtschaftskrieg“64. Die unbestreitbare Verschärfung der Ungleichheit in den
Industrieländern und insbesondere in den USA in den letzten Jahrzehnten sei eher auf
einen einseitigen technischen Fortschritt zugunsten der am besten qualifizierten
Arbeitnehmer zurückzuführen als auf die Globalisierung. Die Lösung für dieses Problem
liege auf der Hand: neue Qualifizierungen für Arbeitnehmer in den reichen Ländern.
Dennoch ist die Annahme, dass die Globalisierung einen großen Anteil an der Zunahme
der Ungleichheiten hat, in der Wissenschaft weit verbreitet. So beharren die
Wirtschaftswissenschaftler François Bourguignon und Joseph Stiglitz darauf, dass die
Globalisierung eine Schlüsselrolle für zunehmende Ungleichheit innerhalb der
einzelnen Länder spielt. Der Ökonom Pierre-Noël Giraud zeigt in seinem Werk

62
Weltbank, Data, GDP per capita, PPP (constant 2011 international $).
63
„Are Your Wages Set in Beijing?“, R.B. Freeman, Journal of Economic Perspectives, 1995.
64
Der Mythos vom globalen Wirtschaftskrieg. Eine Abrechnung mit den Pop-Ökonomen., P. Krugman,
2000.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 20 von 29

„L'inégalité du monde“65, wie die Globalisierung im Bereich des Handels, der Finanzen
und der Informationstechnik – ein Phänomen, dass über den bloßen Wettbewerb mit
Niedriglohnländern weit hinausgeht – einerseits die Aufholjagd von Schwellenländern
und damit die Reduzierung weltweiter Ungleichheit ermöglicht hat und andererseits zu
einer Zunahme der internen Ungleichheiten innerhalb der Industrie- und
Schwellenländer geführt hat.
Eine einfache Antwort gibt es jedoch nicht, und der Standpunkt zahlreicher
Wirtschaftswissenschaftler – darunter auch Nobelpreisträger Paul Krugman 66 – hat sich
weiterentwickelt. Angesichts der Machtzunahme von China und Indien erkennt
Krugman mittlerweile an, dass die Globalisierung eine Rolle bei der Verschärfung der
Ungleichheiten und der Arbeitsplatzverluste, vor allem in der Industrie, in den USA und
Europa spielt.67 Gleichzeitig kommen die meisten Forscher zu dem Schluss, dass der
Außenhandel einen eher überschaubaren Anteil an der Verschlechterung der Situation
gering qualifizierter Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt hatte. Eine größere Rolle
spielte ihrer Ansicht der technische Wandel, der bestimmte Qualifikationen
begünstigt.68
4.2.2. Die Globalisierung als neuer Sündenbock für alle Probleme?
Wenngleich sich die Rolle der Globalisierung für die Herausbildung von Gewinnern und
Verlieren nicht eindeutig bestimmen lässt, werden ihr in der öffentlichen Meinung viele
negative Seiten zugeschrieben und nur wenige positive Effekte. Die breite
Öffentlichkeit denkt bei Globalisierung an Arbeitsplatzabbau, Lohnsenkungen und eine
Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Diese Wahrnehmung beruht auf der Furcht,
dass die Konkurrenz aus Niedriglohnländern den Druck auf heimische Arbeitnehmer
und Produzenten verstärkt und zur Schließung nationaler Fabriken mit anschließender
Verlagerung ins Ausland führt. Diese Befürchtungen sind nicht neu, scheinen sich aber
mit dem raschen Aufschwung Chinas und Indiens im internationalen Handel verstärkt
zu haben.
Der Aufstieg des Populismus auf beiden Seiten des Atlantiks in letzter Zeit kann im
Zusammenhang mit einer Rebellion der „Globalisierungsverlierer“ gesehen werden. 69
Angesichts weiterer Zyklen der Handelsliberalisierung, des Rückgangs von
Arbeitsplätzen für gering Qualifizierte und der relativen Verarmung der Mittelschicht
würden sich demnach die Arbeitnehmer von den Parteien des „Establishments“
abwenden, da sie dieses „Projekt zugunsten der Elite“ befehligt hätten. Die Klagen
gegen die vermeintlichen wirtschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung haben
nicht nur eine wirtschaftliche Dimension. Die Globalisierung ist zu einem politischen
Argument geworden. So vertreten rechtspopulistische Parteien wie die FPÖ in
Österreich, die Wahren Finnen (Perussuomalaiset, PS), die AfD in Deutschland oder der
Front National in Frankreich70 eine Identitätspolitik, die mit Ängsten und Frustrationen

65
L'inégalité du monde, P.-N. Giraud, 1996.
66
„Trade and inequality revisited“, P. Krugman, 2007.
67
„It’s no longer safe to assert that trade’s impact on the income distribution in wealthy countries is
fairly minor. There’s a good case that it is big, and getting bigger. I’m not endorsing protectionism,
but free-traders need better answers to the anxieties of globalisation’s losers“, Trade and inequality
revisited“, P. Krugman, 2007.
68
OECD Employment Outlook, OECD 2005, S. 23-72.
69
Is globalisation really fuelling populism?, D. Gros, CEPS Commentary, CEPS, Mai 2016.
70
„La mondialisation, nouveau bouc émissaire de l’extrême droite française“, S. Madaule, Le Monde,
14. Januar 2011.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 21 von 29

spielt. Die Debatte wird mit Behauptungen geführt, wie etwa dass die Globalisierung
Arbeitsplatz- und Identitätsverluste erzeuge und zur Öffnung der Grenzen für eine
gefährliche Masseneinwanderung sowie zu einem Souveränitätsverlust der Staaten
bzw. der Europäischen Union führe.
Die populistischen Parteien in Europa stützen sich auf eine Identitätsstrategie, zu der
autoritäre Werte und die Notwendigkeit der Bewahrung einer kulturell homogenen
Gemeinschaft gehören. Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Zuwanderung
treffen hier auf eine Form der politischen Identität, die auf dem Ausschluss des
„Fremden“ beruht (vergleiche politische Strategien gegen Zuwanderung und gegen den
„kulturellen Liberalismus“). Auf der politischen Agenda dieser Parteien stehen
außerdem die Umkehrung der Zunahme bei den Einkommensungleichheiten und der
Erwerbsarmut (siehe oben), um die Geringqualifizierten zu mobilisieren, die sich durch
den Globalisierungsprozess bedroht fühlen.71
Der Brexit und die Frage der Globalisierung
Das Kofferwort „Brexit“ steht für „British Exit“, den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der
Europäischen Union. Nach monatelangen Verhandlungen fand der Europäische Rat schließlich
am 18./19. Februar 2016 einen Kompromiss zum „Sonderstatus“ des Vereinigten Königreichs.
Am darauffolgenden Tag kündigte Premierminister David Cameron an, dass die Frage des
Verbleibs des Vereinigten Königreichs in der EU am 23. Juni 2016 durch ein Referendum geklärt
werden solle und dass er sich dafür einsetzen werde, dass das Land zu den ausgehandelten
Bedingungen in der Union verbleibt. Nach dieser Ankündigung begann im Vereinigten
Königreich ein erbitterter Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern des Verbleibs in der
Europäischen Union. Die dabei ins Feld geführten Argumente gingen über die europäische
Frage deutlich hinaus: Zwar ging es natürlich um die Frage der Souveränität der britischen
Regierung gegenüber der Europäischen Union, aber ebenso wurden die Globalisierung, die
kulturelle Integration, ausländische Arbeitnehmer, Zuwanderungsbewegungen,
Grenzkontrollen, die britische Autonomie bei der Aushandlung von Handelsverträgen, die
Unabhängigkeit der Außenpolitik, die Verarmung der unteren Gesellschaftsschichten usw.
infrage gestellt. Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 % der britischen Wähler für den Austritt des
Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union.
Währenddessen schlug Donald Trump im US-Präsidentschaftswahlkampf72 in eine ganz
ähnliche argumentative Kerbe: so polemisierte er über den Bau einer Mauer gegen
Einwanderung, die Verteidigung der von der Globalisierung „überrollten“ Mittelschicht,
den Anstieg der Ungleichheiten und den Bau eines Schutzwalls gegen eine „globale“
Gefahr. Laut dem Wirtschaftswissenschaftler Dani Rodrik hat sich das nationale
Narrativ der USA durch die Globalisierung tief greifend verändert. 73 Die Globalisierung
habe den Mythos einer geeinten Nation, einer Gesellschaft für alle und einer
gemeinsamen Politik zerstört.74

71
Unis contre la mondialisation ? Une analyse de la convergence programmatique des partis populistes
de droite européens, S. Bornschier, Revue internationale de politique comparée, 2005, S. 415-432.
72
„Trump & Anti-Globalization“, I. Bagchi, The Statesman, Mai 2016.
73
The Globalization Paradox: Democracy and the Future of the World Economy, D. Rodrik, 2011.
74
„The economic losers are in revolt against the elites“, M. Wolf, Financial Times, Januar 2016; „Why
Trump and Sanders Were Inevitable“, M. Hirsh, Politico Magazine, Februar 2016.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 22 von 29

5. Ausblick
Die Suche nach einer adäquaten Reaktion auf die Auswirkungen der Globalisierung ist
Teil einer größeren Herausforderung für die Volkswirtschaften, nämlich der
Bewältigung der wirtschaftlichen Veränderungen.
Politisch muss es darum gehen, die möglichen Vorteile der Globalisierung in echten
Nutzen umzuwandeln und dabei die sozialen Kosten zu begrenzen und den
populistischen Debatten zum Thema Globalisierung etwas entgegenzusetzen. Die
Staaten müssen ausreichende, geeignete soziale Sicherheitsnetze einrichten, um
soziale Erschütterungen, hervorgerufen durch eine Globalisierung, die bisherige
Gewissheiten in Frage stellt, angemessen auffangen zu können. Parallel dazu sollten
Arbeitnehmer, die in Schwierigkeiten geraten sind, durch gezielte Initiativen wie den
Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung unterstützt werden. 75
Die Länder müssen wirksame Beschäftigungs- und Bildungsstrategien zur Förderung der
Beschäftigung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einrichten, wenn sie vollen Nutzen
aus der Globalisierung ziehen und eine Abwehrhaltung gegenüber der
Handelsliberalisierung verhindern wollen. Die OECD gab den Regierungen der OECD-
Länder schon 2005 die folgenden Empfehlungen: Bereitstellung einer angemessenen
Beschäftigungsgarantie bei Arbeitsplatzverlust, echte Unterstützung bei der
Wiedereingliederung, Angebot von Fortbildungs- und
Wiedereingliederungsmaßnahmen.
Der Anstieg der Zuwanderung in jüngerer Zeit macht außerdem eine Ad-hoc-
Integration erforderlich, damit die Neuankömmlinge in den USA und in Europa76 nicht
als mögliche Bedrohung, sondern als Arbeitskräftepool, als Beitrag zur Bewältigung des
demografischen Wandels und als Vorteil für die wirtschaftliche Entwicklung
wahrgenommen werden können.77 Die Frage ist von großer Bedeutung.78 Zu den
größten Herausforderungen, mit denen die Europäische Union in der Zukunft
konfrontiert ist, gehört für die EU-Bürger gleich nach dem Thema Beschäftigung (49 %)
die Frage der Zuwanderung (47%)79.
Außerdem ist eine verstärkte weltweite Regulierung erforderlich, um die mit der
Globalisierung verbundenen hohen finanziellen Risiken zu bewältigen. Die G20-
Erklärung nach der weltweiten Finanzkrise 2008 spiegelt das diesbezügliche
Engagement der Industrieländer wider: „We are determined to enhance our
cooperation and work together to restore global growth and achieve needed reforms in
the world’s financial systems.“80 (Wir sind entschlossen, unsere Zusammenarbeit zu
verbessern und gemeinsam auf die Wiederherstellung des weltweiten Wachstums und
die Durchführung der erforderlichen Reformen in den weltweiten Finanzsystemen
hinzuwirken.)

75
Siehe Kasten (Abschnitt 3.2: Negative Auswirkungen der Globalisierung).
76
Economic challenges and prospects of the refugee influx, C. Karakas, EPRS, Europäisches Parlament,
Dezember 2015.
77
Europe’s Societal Challenges: An analysis of global societal trends to 2030 and their impact on the EU,
Rand Europe, 2013.
78
EU demographic indicators. Situation, trends and potential challenges, A. Delivorias and G. Sabbati,
EPRS, Europäisches Parlament, März 2015.
79
Parlemeter 2015: Migrationsbewegungen, Europäisches Parlament, März 2016.
80
Erklärung der G20 zu den Finanzmärkten und der Weltwirtschaft (deutsche Übersetzung der
Übersetzerin), G20-Gipfel, Washington, 15. November 2008.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 23 von 29

Befürworter wie Gegner der Globalisierung sehen in der Stärkung einer bestimmten
Form der weltweiten oder regionalen Regierungsführung oft ein Mittel, um den Nutzen
der Globalisierung zu maximieren und ihre Nachteile zu minimieren. Die Erfahrung
Europas leistet einen wichtigen Beitrag zu den neuen Modalitäten der wirtschaftlichen
Regulierung.81
Abschließend lässt sich feststellen, dass die Globalisierung sicherlich für einige der
Missstände verantwortlich ist, die ihre Gegner ins Feld führen, insbesondere die
Verstärkung der Ungleichheiten. Im Hinblick auf Wachstum und technischen Fortschritt
bietet sie aber auch eine ganze Reihe von Vorteilen. Mit Institutionen und
Mechanismen für eine wirksame Regulierung der Weltwirtschaft und des weltweiten
Finanzwesens in Verbindung mit nationalen Eingriffs- und Korrekturmaßnahmen sollte
gewährleistet werden, dass die Frage nach den Gewinnern oder Verlieren der
Globalisierung künftig weniger Gewicht hat.

81
Wirtschaftspolitische Steuerung, Europäische Kommission.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 24 von 29

6. Wichtigste bibliografische Angaben


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7. Anhang – Messung von Ungleichheiten


Bei der Messung der wirtschaftlichen Ungleichheiten wird die von Max O. Lorenz (1876-
1959) entwickelte Lorenz-Kurve verwendet, um die Einkommensungleichheiten
grafisch darzustellen. Dabei handelt es sich um die grafische Darstellung der Funktion,
die dem Anteil x der Inhaber eines Anteils einer Größe den Anteil y der von ihnen
jeweils gehaltenen Größe zuordnet. Aus dieser Kurve lassen sich drei Arten von
Indikatoren ableiten:
 Anteil der Gesamteinkommen der reichsten 10 %,
 Verhältnis zwischen den reichsten 10 % und den ärmsten 10 % der Bevölkerung,
 Gini-Koeffizient der Einkommensverteilung, der die Verteilungsungleichheit
misst. In der Regel werden Gini-Koeffizienten berechnet, um die „internen
Ungleichheiten“ innerhalb der einzelnen Länder zu messen, aber auch, um die
Ungleichheit innerhalb der gesamten Weltbevölkerung zu bestimmen.
Lorenz-Kurve

Die gestrichelte Linie entspricht einer idealen Gleichverteilung. Der Gini-Koeffizient ist: A / (A+B).

Nach den Berechnungen der Weltbank82 reicht der Gini-Koeffizient der


Einkommensungleichheiten innerhalb der einzelnen Länder von 25 in den egalitärsten
Ländern (Ukraine, Slowenien, Norwegen) auf 50 - 60 oder sogar 65 in den am stärksten
ungleichen Ländern (Lateinamerika und Südafrika). Ein weiteres Maß ist das der
„internationalen Ungleichheit“ (zwischen Ländern). Dabei wird das Pro-Kopf-BIP des
Landes in Dollar basierend auf der Kaufkraftparität (KKP) berechnet. Anschließend
werden die Länder nach aufsteigendem BIP pro Kopf klassifiziert und der Gini-
Koeffizient dieser Verteilung wird berechnet. Dadurch lässt sich beispielsweise messen,
ob der Unterschied zwischen dem Pro-Kopf-BIP der 20 ärmsten Länder und dem Pro-
Kopf-BIP der 20 reichsten Länder der Erde zunimmt oder abnimmt – die
Bevölkerungszahl dieser Länder wird dabei nicht berücksichtigt.
Eine weitere Möglichkeit zur Messung der internationalen Ungleichheit besteht in der
Gewichtung der Länder nach Bevölkerungsgröße: Dadurch erhält man die „gewichtete
internationale Ungleichheit“. Diese ähnelt der „internationalen Ungleichheit“, einem Indikator,
bei dem die Weltbevölkerung insgesamt betrachtet wird. Sie wird mithilfe eines globalen Gini-
Koeffizienten gemessen, der schwierig zu berechnen ist, da die Einkommen von Einzelpersonen
und Haushalten verglichen werden, die in ganz unterschiedlichen Ländern leben. Die
„internationale Ungleichheit“ ist die Kombination aus der „gewichteten internationalen
Ungleichheit“ und den „internen Ungleichheiten“ innerhalb der einzelnen Länder.

82
Gini-Index, Weltbank, Data, Auszug vom 31. Mai 2016.
Die Auswirkungen der Globalisierung Seite 27 von 29

In einem Bericht aus dem Jahr 2015 beschrieb die Europäische Kommission die verschiedenen
bestehenden Methoden zur Messung der Ungleichheit.83

83
Towards a better measurement of welfare and inequalities, Europäische Kommission, Quarterly
review, September 2015.
QA-04-16-522-DE-N
Bietet die Globalisierung die Möglichkeit, die
Lebensbedingungen weltweit anzugleichen, oder
verschärft sie bestehende Ungleichheiten? Die Frage, wie
sich Freihandel auf die Herausbildung von Gewinnern und
Verlierern auswirkt, beschäftigt die Wirtschaftswissenschaft
schon lange.

Die mit der Globalisierung einhergehende Öffnung der


Märkte führt tendenziell zu einem Rückgang von
Monopolsituationen, während die Verbraucher von der
Öffnung der Märkte und dem zunehmenden Wettbewerb
profitieren. Im Rahmen des Globalisierungsprozesses
erleiden einige Menschen Verluste oder erzielen
zumindest niedrigere Nettogewinne als andere. Die
wirtschaftlichen Ungleichheiten können sich also
verschärfen.

Die in wirtschaftlicher wie sozialer Hinsicht relevante Frage


der Globalisierungsgewinner und -verlierer ist heute zu
einer wesentlichen politischen Herausforderung in den
USA und Europa geworden.

Veröffentlichung des
Wissenschaftlichen Dienstes für die Mitglieder
Generaldirektion Wissenschaftlicher Dienst, Europäisches Parlament

PE 586.601
ISBN 978-92-823-9484-7
doi:10.2861/063047

Die Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich beim Verfasser dieses Dokuments; eventuelle Meinungsäußerungen
entsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt des Europäischen Parlaments. Das Dokument richtet sich an die Mitglieder
und Mitarbeiter des Europäischen Parlaments und ist für deren parlamentarische Arbeit bestimmt.

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