You are on page 1of 6
GESPRACHE IN PARIS 1 DIE FLUCHT VOR DER WIRKLICHKEIT Ich werde jetzt eine Weile sprechen, und vielleicht wer- den Sie danach geneigt sein, Fragen zu stellen und das Gesprochene zu diskutieren. Ich verstehe ziemlich gut Franzisisch, so daB Sie auf franzisisch fragen kénnen; aber leider beherrsche ich das Franzisische nicht so gut, da8B ich in dieser Sprache antworten kénnte; darum werde ich englisch antworten - und Sie wollen dann bitte Ge- legenheit nehmen, Fragen zu stellen. Es scheint mir, daB wir im Laufe unseres Lebens stiindig Probleme schaffen, ohne sie jemals zu lésen; und da wir diese Probleme als so auBerordentlich schwierig, verwor- ren und manchmal als schwer durchschaubar’ empfinden, vermeiden wir sie und suchen ihnen auf jede nur migliche Art zu entrinnen: durch Religion, durch Trinken, durch Sexualitat und durch unzthlige andere Méglichkeiten,die der Mensch erfunden hat - es gibt ein ganzes Netzwerk von Fluchtméglichkeiten. Es scheint mir unausbleiblich, da®, wenn wir nicht alle unsere Probleme psychologisch lésen, unser Geist immer verworren sein wird, immer in einem Zustand des Elends, in bestandiger UngewiBheit und verzehrt von einem Verlangen nach Gewifheit, Stabili- tat und Sicherheit. Darum ist es so notwendig, da wir unsere menschlichen Probleme lésen, Wir haben Probleme: wirtschaftliche, soziale, emotio- nale, intellektuelle und religidse.Wir sind in verschiedene Teile aufgespalten, und jeder Teil, jeder Abschnitt, jedes Fragment hat sein eigenes Problem beziehungsweise seine eigenen Probleme, Diese Probleme in den verschiedenen Bereichen des Geistes stehen naturlich zueinander in Widerspruch. Man hat den Wunsch, intellektuell etwas zu leisten, als bedeutender Schriftsteller, als Kunstler be- ruhmt zu werden sich irgendwie im Leben zu erfillen,Und dieser Drang nach Erfullung widerspricht anderen Formen des Lebens. Wir sind unsicher, und wir suchen Gewifheit, suchen Besténdigkeit; wir wollen die Unsterblichkeit er- =e = fahren, doch das Alter schleicht heran, und wir schwin- den seelisch wie physisch dahin, So begleiten uns withrend unseres ganzen Lebens Pro- bleme, wie gut es uns auch finanziell gehen mag und wie relativ gut auch unsere Beziehungen zu anderen Menschen sein mdgen, Und wenn wir die Probleme nicht vollkommen auflésen - und es ist miglich, sie vollkommen aufzulé- sen -, hohlen sie langsam unseren Geist und unser Herz aus, so klug, so intellektuell, so. beféhigt wir auch sein mégen, so brillant wir auch argumentieren mégen. Wie steht es nun um ein menschliches Wesen, das in dieser Welt lebt und ihr nicht zu entrinnen trachtet, das nicht in irgendein Kloster entflieht, in irgendeine unrealistische, mythische Abgeschiedenheit, auch nicht in irgendeinen Glauben, ein Dogma, Ritual, in irgendwelche phanta- stischen, unsinnigen Halluzinationen - wie ist es fUr solch ein menschliches Wesen miglich,den Geist von allen Pro- blemen zu befreien, so da er frisch, jung und unschuldig ist? Nun, um zu verstehen, worUber wir sprechen, mu8 man zuhéren, und das ist eines der schwierigsten Dinge: zuzu- héren. Es ist eine Kunst; denn wir héren niemals zu. Sie héren dem, was gesagt wird, nicht tatsichlich zu. Sie sind in Wirklichkeit mit Ihren Meinungen, Urteilen, Be- wertungen, gedanklichen Folgerungen beschiftigt; sie ha- ben bestimmte Vorstellungen von dem Ruf des Sprechers. Sie hoffen, Sie warten darauf, da® sich etwas ereignet, und das verhindert Sie offensichtlich am wirklichen Zu- héren. Natirlich wirkt das wie ein Schleier und hindert Sie daran, tatstichlich und mit aller Intensittt zuzuhren. Und nur,wenn Sie ohne jede Anspannung oder Anstrengung zuhéren, wenn Sie weder zustimmen noch ablehnen, son- dern einfach die Tatsache sehen und betrachten und nicht Ihre Meinung Uber die Tatsache hineinbringen, lhre SehluBfolgerungen, Ihre intellektuellen Begriffe und For- meln = nur dann, so scheint es mir, kénnen Sie wirklich thig, unbesehwert guhtren und das, was gesagt wird, durohdeingen und fUr seh herausfinden, eb es rlehtig oder falvel Inty Und meh dnl, das eu tun Ist etnies der wile (lean Dinge, wenn wir une nies verstindigan wale Jan, Dunn wit alr dah waht hier, Ale wle ave Tah, um une eu vertindlgany vin milelnanday Th Remmunlan au sein, Sie sind nicht hierher gekommen, um nur meiner Rede zuzuhdren und dann entweder zustimmend oder ableh- nend wieder davonzugehen, oder um Ihre Meinungen und Widerspriche vorzubringen. Sie und ich sind hier, damit wir gemeinsam das ungewdhnliche Problem des Lebens kléren, Und um uns miteinander zu verstindigen, werden wir nicht nur Worte gebrauchen durfen, sondern mUssen auch die Bedeutung der Worte verstehen, Wir mUssen wis- sen, dafi das Wort nicht das Ding ist - das Wort ist niemals das Ding selbst. Wenn Sie zuhdren, mUssen Sie auch Ihre Vorurteile, Ihre Skepsis, lhre Geschiftemacherei, Ihre Un- redlichkeiten, Ihre ganze psychologische Struktur, aus der Sie zuhéren, kennen oder ihrer gewahr sein. So ist es denn wirklich eine Kunst und wahrscheinlich eine der schwierigsten Kinste, nicht nur zu beobachten, zuzuhdren, sondern auch zu lernen. Lernen ist etwas ganz anderes als Wissen. Es ist sehr leicht, Wissen anzu~ hdufen, Informationen zu sammeln, sie durch Erfahrung, durch Lesen, durch Stellungnahme aufzuspeichern und aus diesem Wissen zu handeln; das tun die meisten Menschen. Aber zu lernen ist etwas giénzlich anderes. Denn in dem Augenblick, da Sie gelernt haben, gehdrt das Gelernte bereits der Vergangenheit an, ist es bereits zum Wissen geworden. Wirkliches Lernen ist ein unaufhor- licher ProzeB, eine Bewegung, in der es uberhaupt keine Anhiiufung gibt. Die meisten Menschen schauen auf jedes Problem von dem bereits GewuBten aus ~ ihrem angehduf- ten Wissen, ihren Erinnerungen, ihren Erfahrungen, ihren Vorbehalten -, und so hindern sie sich selbst daran, von dem Problem zu lernen. Lernen ist Handlung - eine Handlung der aktiven Ge- genwart. Es ist das Verb: lernen, es ist eine Bewegung. Aber das, was man gelernt hat, ist bereits zu einer stati- sehen Sache geworden. Wenn wir in diesem Sinne lernend suhiren kUnnten, nicht nur dem, was der Sprecher sagt, sondern jagliehem Ding im Leben = all den Andeutungen, die aus unveren BedUiniien und Noten kommen, den Hin= je Ih unmeren Reglerden und gehelmen Sehnelel= emotionalen Meinungen und Vorurteilen -, dann kénnen wir vielleicht dazu gelangen, das duferst komplexe Pro~ blem zu verstehen, das das Leben in sich birgt. Wir leben in Fragmenten.Da ist das Fragment des soge- nannten spirituellen Lebens, das Fragment des Intellekts, das Fragment der Gefuhle, das Fragment der physischen Sinne, So ist der Geist auseinandergebrochen in verschie~ denartige Teile, jeder davon in undurchlissiger Abge- schlossenheit mit nur geringer Beziehung zu den anderen Teilen, und so besteht zwischen ihnen einstindiger Kon- flikt, Und diesem Konflikt weichen wir stets durch die Flucht aus, Um aber irgendetwas zu verstehen, mu8 man auf die Tatsache schauen, mu8 man unmittelbar und direkt mit der Tatsache in BerUhrung kommen. Aber wir kommen mit der Tatsache nicht in Kontakt, weil wir entweder ver- suchen, sie zu analysieren oder ihr auszuweichen oder ihre Ursache zu finden, Vielleicht tun wir auch nichts von all diesen Dingen, sondern entschllpfen dem Problem ganz und gar und fUhren ein sehr, sehr oberflachliches Leben, zu- frieden mit den kleinen Dingen, mit dem burgerlichen Leben, das die meisten von uns wohl fUhren. Es handelt sich also darum, ob es méglich ist, mit einem Problem direkt in Berthrung zu kommen. Wenn Sie mit einer Sache in direktem Kontakt sind - in direktem Kontakt -, werden Sie vielleicht die volle Bedeutung dieser Tatsache erkennen. Aber wir kommen niemals mit irgend etwas in unmittelbare Berthrung, ausgenommen vielleicht kérperlich, durch die Sinne.Ich habe das Mikro- fon hier berthrt, und das ist ein direkter Kontakt. Da gibt es nichts, keine begriffliche Folgerung, die mich daran hindert, unmittelbar mit ihm in Beruhrung zu kommen. Aber mit mir selbst und mit all den Problemen, die ein mensch- liches Wesen hat, in Kontakt zu kommen oder in Kommu- nion zu sein, ist sicherlich sehr schwer - und so verviel- fultigen und vergréGern sich die Probleme nicht nur, son- dern sie sehlagen auch Wurzel im Menschen; und der Geist wird zu dem Nuhrboden, in dem sich die Probleme von der Kindhelt an bis jetzt am Dasein erhalten. Bitte, Sle héren nleht nur einer FUlle von Worten zu = wolut nutelos sein, Sle hiren sicherlich Wor= ten eu, dle ale unmittelbarer Kontakt mit thren eigenen Problemen Bedeutung haben) das helt, dali Sle dle Werte =10« wie einen Spiegel benutzen, in dem Sie Ihrer selbst und threr Probleme gewahr werden, Wenn eine solche BewuBt- heit, ein unmittelbarer Kontakt mit Ihrem eigenen Problem oder Ihren Problemen vorhanden ist, dann wird diese Rede fr Sie einen Sinn haben, Wenn Sie die Rede aber nur intellektuell oder verbal aufnehmen, dann gehen Sie mit leeren Hainden und einem Héufchen Asche davon, und das Zuhren hiitte Uberhaupt keine Bedeutung. So hoffe ich, da Sie nicht nur zuhéren, um einige Informationen zu sammeln, sondern um tatstchlich in einen unmittelbaren Kontakt mit Ihren eigenen Problemen zu kommen, die Sie als menschliches Wesen haben. Um in Kontakt mit einem Problem zu kommen, so wie Sie ihn mit einem kérperlichen Gegenstand haben, den Sie berthren - sei das Problem intellektuell, emotional, psychologisch, physisch oder ein sogenanntes spirituelles -, muB man sicherlich zundchst den Sinn und die Bedeutung der Worte verstehen; denn Worte verhindern den Kontakt mit dem Problem. Wenn man dngstlich ist - beladen mit dem Gefthl der Schuld, der Furcht, der Verzweiflung; denn das alles ist Angst - und mit dieser Angst in Kontakt kommen will, mu8 man die Bedeutung des Wortes Angst verstehen; denn das Wort erzeugt das Gefuhl. Ich wei8 nicht, ob Sie je bemerkt haben, wie das Wort an sich ein bestimmtes Gefuhl anreizt. Man mu also das Wort selbst genau kennen. Wenn Sie so des Wortes gewahr sind und erkennen, da8& das Wort nicht das Ding ist, daB das Wort Angst ganz und gar nicht die Tatsache ist,dann sind Sie mehr oder weniger mit diesem Gefuhl in Kontakt, Ich hoffe, daB ich es klarmache, Aber es macht nichts aus; wir wer= den weiterhin dartber sprechen. Man mu8 also nicht nur das Wort verstehen und sehen, wie das Wort das Gefuhl hervorruft oder es beherrscht oder ihm elne bestimmte Furbung gibt, sondern man muB auch ewahr sein, dali das Wort nicht des Ding und nicht das Sri lot, Mr dle melsten Menschen Ist das Wort das HUh1, Ey bevteht eine unmittethare Entapreehung awi= aoe jon Getuhl und dem a man daher -* tans |W be harman mbehtay mull man die Wie ll Newr ‘und den ein oer Welterhin mull man der vernehiedsnen Muehiwage gee olfe wahr sein, weil ein Problem nur dann intensiv und akut wird, wenn es unsere ganze Aufmerksamkeit unmittelbar in Anspruch nimmt. Doch die meisten Menschen winschen nicht, mit solcher Intensitét zu leben, Darum verstdrken und vermehren sich die Probleme und schlagen in uns Wur- zel, Man mu8 also nicht nur des Wortes gewahr sein, son- dern man mu auch wissen, wie der Geist zu entrinnen trachtet - denn wir verstehen es ausgezeichnet, vor dem Leben zu fliehen. Wir haben die Kirche, die Literatur, unsere eigenen Erfahrungen, unser Wissen, unsere be- sondere Lebensanschauung, unsere verschiedenen psycho- logischen Ausweichmiglichkeiten, und darum kommen wir niemals mit der Tatsache in Berthrung. Wir glauben, da wir ein Problem gelést haben, wenn wir seine Ursache verstehen kénnen, oder wir glauben, das Problem verstanden zu haben, wennwires analysieren, Aber ist das wirklich so? Ich kenne die Ursache der Furcht oder Angst und da ich die Ursache kenne,glaube ich,da8 die- ses Wissen mich hindert, furchtsam und dngstlich zu sein. Ich kann auch die Natur der Furcht,der Angst, der Schuld und so weiter analysieren - und dennoch ist mein Geist nicht davon befreit, So befreit denn bloBe Prufung, Ana- lyse und die Kenntnis der Ursache eines Dinges den Geist nicht von der Tatsache der Furcht; und das Suchen nach der Ursache,die Analyse wird zu einer Flucht vor der Tatsache. Wenn man nun alle Lebensprobleme wirklich lésen méchte, muB man mit dem Problem in direkten Kontakt kommen, In sounmittelbarem Kontakt mit einem Problem zu sein bedeu- tet aber,das Wort zu verstehen und auch die Bedeutung der Flucht.Dann kommt man mit dem Problem direkt in Kontakt. Wir sprechen Uber Probleme, weil ich glaube, daB ein Mensch stumpfen Geistes wird, wenn er ein Problem hat, ganz gleich welcher Art es sein mag - ob es die Angst vor dem Tode ist oder vor demAlter oder - oh, es gibt so vie~ le Dinge, die zu flrchten sind! Ein Mensch, der sich furchtet oder sich den verschiedenen Lebensformen ohne jeden Kampf fugt,wird sehr bald verwirrt, stumpf, gefthI- los. Haben Sie nicht bemerkt, in welch hohem MaBe der Mensch unbrauchbar, wirr und dumpf ist, wenn er sich furchtet? Die meisten Menschen furchten sich vor so vielen Dingen: vor dem Leben, vor dem Tode, vor dem Nachbarn, yor dem Verlust der Arbeit und davor, daB sie nie im Le- =D ben einen groBen Augenblick haben. All die unzthligen Enttauschungen bringen Furcht hervor, und so wird die Furcht zu einem intensiven Problem, dessen Sie. bewuBt oder unbewufit sein mégen. BewuBt magen Sie fuhig sein, die Furcht aufzulésen, ihr auszuweichen, sie zu bestnfti- gen, sie beiseite zu tun; aber sie ist dennoch da, und mit dieser Furcht in Berthrung zu kommen, so daft Sie thre Zahne in sie eingraben kénnen, erfordert, worauf wir be- reits hingewiesen haben, das Versténdnis fur das Wort und fur das Wesen der Flucht. Unsere Probleme nehmen zu. Obgleich wir Sicherheit haben migen ~ physische Sicherheit, soziale Fursorge und so fort -, bleiben wir psychologisch zu einem grofen Teil animalisch; und solange wir nicht diese gesamte psycho- logische Struktur der Gesellschaft verstehen - wie auch die eigene, die ein Teil der Gesellschaft ist -, kann der Geist niemals frei sein und wird immer von der Furcht ge- quilt werden, Aus diesem Grunde, so scheint es mir, mu8 ein reifes menschliches Wesen, das weit kommen méchte - nicht bis auf den Mond, sondern weit in sich hinein, um das Wahre zu entdecken -, einen klaren, unbefleckten, makellosen Geist haben. Und ein Geist ist nur dann ma- kellos und klar,wenn er frei ist - frei von der Furcht, zum Beispiel. Nur dann kann man - ohne jegliches Dogma, ohne einen Glauben, ohne irgendeine Anstrengung - her- ausfinden, was wahr ist. Wenn wir es also Uberhaupt ernst meinen, sollte unser erstes Anliegen sein, bei der Frage zu verharren, ob der Geist jemals von Problemen frei sein kann, In dieser Welt zu leben, an jedem Tag ins BUro zu gehen, verheiratet zu sein und Kinder zu haben oder nicht verheiratet zu sein Sie kennen jaden ganzen Lebensablauf, so da ich nicht auf zuviele Einzelheiten einzugehen brauche -, kann man das alles in dieser Welt des 20, Jahrhunderts mit seinen phan- tastischen technischen Entwicklungen auf sich nehmen und dabei ein Leben fuhren, in dem es Uberhaupt kein Problem gibt? Das, scheint mir, ist das Wesentlichste, weil ein Mensch, der Probleme hat, in Konflikt lebt. Alle Probleme bedeuten Konflikte. Und-kann der Mensch aktiv, ener- gisch, leistungsftihig, klar, vital, anstrengungslos leben , das heiBt, ohne Probleme sein? Denn wenn Sie sich in irgendeiner Richtung oder auf irgendeiner Ebene bestiindig ge anstrengen, wird Ihr Geist durch solche Anstrengung stumpf und unfiihig, mit dem Leben fertig zu werden, Und das Leben wirft stéindig Probleme auf! Ich verstehe unter ei- nem Problem etwas, das wir nicht begreifen, eine Heraus- forderung, auf die wir unangemessen, unzureichend, ohne vollkommene Achisamkeit reagieren, wodurch ein Wider- spruch zwischen der Herausforderung und unserer Antwort entsteht;und nur wenn die Antwort adéquat ist, gibt es kein Problem mehr. Aber so zu leben, da man jeglicher Her- ausforderung angemessen begegnet, das erfordert einen Geist, der sich nicht sténdig im Kampfzustand befindet. Wir missen dessen gewahr sein, da® es fur uns nicht nur bewuBte Herausforderungen, Wunsche, Fragen gibt, son— dern auch Herausforderungen und Erfahrungen, auf die wir unbewuBt reagieren, Ich gebrauche das Wort unbew ut sehr ungern, weil es eines der inhaltslosesten Worte des Sprachgebrauchs ist. Ich finde, da das UnbewuBte, dem man eine so groBe Bedeutung gegeben hat, eine ganz trivale Angelegenheit ist.Aber dieses Unbewufite sind wir! Das UnbewuBie ist die Vergangenheit, die Tradition, die vielfaltige Anhaéufung von Wissen, von Erfahrungen, das rassische Erbgut und alles, was uns gelehrt wurde - das alles gehdrt dem BewuBtsein an, von dem wir aber nur ge~ wisser Teile gewahr sind, wahrend wir von anderen Teilen keine Kenntnis haben. Wir sind nur des uns BewuBten ge- wahr, weil das der einzige Teil ist, den wir in unserem taglichen Tun benutzen, in unserer Buroarbeit und so wei- ter. Der andere Teil ist latent, und wir haben ihn sorg- faltig beiseite getan, Aber des Ganzen gewahr zu sein heiBt nicht, da® wir der Vergangenheit, dem UnbewuB- ten Fortdauer geben. Die meisten von uns leben in einem traumhaften Zustand. Wir sind nicht des gesamten Inhalts unserer Tréume gewahr, Wir leben auf einer bestimmten Ebene, in einem bestimmten Bezirk; und dieser Bezirk, dieses Fragment kann, wenn es auf eine einzelne Heraus- forderung reagiert, nur Widerspruch erzeugen, Nur wenn eine Herausforderung total beantwortet wird, hért der Widerspruch auf und damit auch das Problem. So stellt sich also die Frage: Ist es fur einen jeden von uns als menschliches Wesen, das seit zwei Millionen Jah- ren und vielleicht noch lénger gelebt hat, das eine unge- wéhnliche Vergangenheit hat, eine groBe geschichtliche =f Vergangenheit, sei es als Franzose, als Englinder, als Inder oder was man sonst sein mag, mit all dem angehduf- ten Wissen und den Erfahrungen ~, ist es fur solch einen Menschen miglich, von dem allen, was der Vergangenheit angehért, frei zu sein und der Herausforderung, die immer der Gegenwart angehirt, entsprechend zu begegnen? Andernfalls wird das Leben zu einem unerfreulichen Kon- flikt, voller Trubsal und Verwirrung. Sie kénnen zu allen Géttern beten, die der Mensch erfunden hat, Sie kénnen allen organisierten Religionen mit ihren Glaubenssttzen und Riten nachlaufen - aber das Problem wird auf diese Weise niemals gelést werden. Das ist Flucht - und zwar eine. nutzlose; Sie kénnen ebensogut einen Drink nehmen. Es kommt allein darauf an, den gesamten inneren Aufbau zu verstehen, und zwar nicht in einem intellektuellen Pro~ zeB, sondern indem wir all dieser Dinge vollkommen ge- wahr sind - der Vergangenheit wie der Gegenwart - und nicht vor ihnen davonlaufen, sondern tatstichlich mit ihnen in Berthrung kommen. Dann werden wir vielleicht erfahren, was es heiBt, zu leben. Wir werden es fUr uns als mensch- liches Wesen entdecken -nicht als Individuum, sondern als menschliches Wesen; denn das menschliche Wesen ist weit bedeutungsvoller als das Individuum. Der Mensch ist das Ergebnis von zwei Millionen Jahren mit allem, was er an- gesammelt hat; er ist kein isoliertes Einzelwesen in einem kleinen, verborgenen Winkel, Dann werden wir vielleicht erkennen, wie ein Leben ohne Konflikt gefuhrt werden kann - und darin liegt eine groBe Schénheit. Nur ein Mensch, der sich von jeder Art von Problemen befreit hat und damit von jeder Art von Anstrengung ~ nur solch ein Mensch kann etwas entdecken, das er nicht selbst proji- ziert hat, etwas, das nicht nur aus Worten, Empfindungen, Emotionen besteht. Vielleicht wurden Sie jetzt gerne Fragen stellen. Frage: Was kénnen wir tun, um achtsam zu sein? Krishnamurti: Ich glaube, Sie kénnen nichis tun. Alles, was Sie tun kénnen, ist, achtsamt zu sein vor der Unachtsamkeit. Verstehen Sie das? Wenn Sie versuchen, achtsam zu sein, gewahr zu sein, dann wird daraus ein Konflikt, ein Kampf,ein ProzeB, der Zeit in sich schlieBt. Ich mdchte jetzt nicht der Frage der Zeit nihertreten; ich werde das spiiter tun. Was die meisten von uns ‘wUnschen, = §5i= ist Fortdaver, Wir denken, "Wenn ich nur sténdig acht- sam sein kénnte, dann wurde ich meine Probleme lésen". Aber wir sind nicht jederzeit achtsam, Das ist un- moglich; unsere Nerven wurden es nicht aushalten, unser physisches Gehirn ist unféhig, eine bestindige Wachsam- keit durchzuhalten.Aber wenn man vor der Unachtsamkeit achtsam sein wurde - Sie wissen, was ich darunter ver- stehe -, dann wurde man selbst auf naturliche Weise her- ausfinden, wie Achtsamkeit entsteht, ohne da man danach trachtet. Bitte, héren Sie zu, Sagen Sie nicht, “Ich will es versuchen", sondern tun Sie es, Das heift, seien Sie vor Ihrer Unachtsamkeit, die den Konflikt hervorruft, voller Achtsamkeit, Nur die Unachtsamkeit schafft die Probleme, nicht wahr? Wenn ich auch nur fur eine Minute achtsam bin, gibt es in dieser Minute kein Problem - dus Problem existiert dann einfach nicht. Ich verstehe unter Achtsam- keit nicht nur, aufmerksam zu sein mit den Nerven, mit dem Kérper, mit den Augen, mit den Ohren, sondern auch mit dem Geist, mit dem Gefthl. Und in dem Augenblick vollkommener Achtsamkeit gibt es nichts, das erfah- ren worden ist, und daher auch keinen Erfahrenden, Aber die meisten von uns sind vor der Unachtsamkeit nicht acht- sam, wodurch die Konflikte entstehen. Wenn wir unacht~ sam sind, sagen wir Dinge, die wir gar nicht meinen, tun wir Dinge mit halbem Herzen, reagieren wir nach unse~ rem jeweiligen Zustand, So ist es denn diese Unachtsam- keit, die die Probleme hervorruft, Aber wenn man vor der Unachtsamkeit achtsam ist, wird die Unachtsamkeit keine Probleme mehr entstehen lassen. Ich wei nicht, ob Sie dem folgen. Frage: Obgleich der Geist in Fragmente zerbrochen ist, besteht da nicht doch zwischen den ver~ verschiedenen Teilen eine Beziehung, ein en- ges Zusammenspiel, eine grofe gegenseiti- ge Beeinflussung? Krishnamurti: Sicherlich besteht zwischen den Teilen eine grote Beeinflussung, eine starke Beziehung. Das ist eine offensichtliche Tatsache, nicht wahr? Frage: Ja. Als Sie aber Uberdie miglichen Schwierig- keiten sprachen,seien sie materiell, gefuhls- mifig, sozial und so fort, erweckten Sie den Se Eindruck, als ob die Lésung nur einen Sektor betreffen wurde. Krishnamurti: Nein,es tut mir leid. Wenn ich das sagte, meine ich es so nicht. Ich meine etwas ganz ande~ res. Frage: Was also meinen Sie? Krishnamurti: Ich werde es erkléren, Beachten Sie aber, da® ich keine Autoritét bin. Wenn Sie mich als Autoritét ansehen, dann werden wir einander nicht ver- stehen, Aber wenn Sie und ich einander zu verstehen ver- suchen, dann ist unsere Beziehung eine giinzlich andere. Greifen Sie nicht nur einen Teil der AusfUhrungen heraus und biirden Sie ihn mir auf. Wir sind menschliche Wesen, in Fragmente zerbrochen, wobei alle Teilstiicke untereinander zusammenhiingen und einander beeinflussen. Wenn wir sehr intellektuell sind, legen wir das gesamte Leben nach intellektuellen Begrif~ fen aus, und dieser Intellekt ist mit anderen Faktoren ver= bunden. Wenn wir sehr gefthlsmaBig sind, ‘gehen wir gleichfalls durch diesen fragmentarischen ProzeB und wis- sen, daB auch hier alle Fragmente in gegenseitiger Be- ziehung stehen. Wir geben einem Fragment das Uberge- wicht, das dann unser Leben beherrscht; und ich weise nur darauf hin, da®, solange wir in diesen abgeteilten Be- zirken, Sektoren, in diesen auseinander gebrochenen Frag- menten leben, obgleich sie auf fast unmerkliche Art zu- sammenhiingen und miteinander verbunden sind, unser Le- ben widerspruch lich und heuchlerisch wird unddaher Kampf und Konflikt ist. Ich betone, da wirnur dann total mensch~ liche Wesen sein kénnen,wenn es keinerlei Konflikte mehr gibt; und nur dann werden wir einen Geist haben, der fahig ist, es sehr weit zu bringen, ohne Illusionen zu projizieren, Darf ich eine Frage stellen? Sie haben mir fUnfund- vierzig Minuten lang zugehért. Vielleicht verstehen die meisten oder einige von Ihnen Englisch; was ist nun indie~ sen funfundvierzig Minuten des Zuhérens mit Ihnen ge- schehen? Es scheint mir weit wichtiger zu sein, dem nach- zuforschen, als daB Sie mir Fragen stellen, Was hat sich tatsdchlich ereignet - nicht theoretisch, nicht proble- matisch, nicht hypothetisch? Das ist das einzig Wichtige, nichts sonst. Ich stelle diese Frage, und ich hoffe, da® Sie ati

You might also like