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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm

Die Welt und


des Islams 55 Propaganda
(2015) 1-61 1

brill.com/wdi

„Der Islam begann als Fremder, und als Fremder


wird er wiederkehren“: Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhābs Prophetenbiographie Muḫtaṣar sīrat
ar-rasūl als Programm und Propaganda

Martin Riexinger
Department of Culture and Society – Arabisk og Islamstudier,
Aarhus Universitet
mri@cas.au.dk

Abstract

Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb embeds in his Mukhtaṣar sīrat al-rasūl the biography of
Muḥammad in an overarching vision of history that begins with Adam and ends in the
Mongol period. In this cyclical concept the promulgation of Islam is followed by a
relapse into shirk due to misdirected piety. But whereas until the time of Muḥammad
God himself reinstalled Islam with the help of prophets and miracles, the true Muslims
are obliged to fight aberrations. The paradigmatic example for this is the defeat of the
ridda, the event which is dealt with most extensively. The author makes clear what he
considers as the two main aberrations of his time: sufi practices which he equates with
pagan practices by the choice of suggestive vocabulary and the – as he sees it – excessive
veneration of Muḥammad. Therefore Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb plays down all
aspects which could lead to an ascription of a different ontological status to him and
following Ibn Taymiyya he even affirms the historicity of the story of the cranes, imply-
ing that ʿiṣma does not mean total infallibility. By stressing both the human character of
Muḥammad and his military activities the author intends to demonstrate that all his
actions which are not related to revelation, in particular the defeat of paganism, can and
have to be repeated.

* Der Aufsatz ist die überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags für das Habilitations­
kolloquium des Autors in Göttingen am 4.11.2009. Teilaspekte wurden unter dem Titel
„Rendering Muḥammad Human Again? Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb’s (1703–1792)
Biography of the Prophet“ auf der Tagung: The Gods as Role Model: Imitation, Divinization,
Transgression, Groningen, 12.-14.1.2011, vorgetragen.

ISSN 0043-2539 (print version) ISSN 1570-0607 (online version) WDI 1

Die
© Welt des brill
koninklijke Islams
nv,55leiden,
(2015) 2015 | doi
1-61 10.1163/15700607-00551p01
2 Riexinger

Keywords

Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb – Muḥammad – sīra-literature – Ibn Taymiyya – pro­


phets in Islam – Wahhabism – Almohads – ridda

Unter den Werken Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs findet sich eine Propheten-
biographie mit dem Titel Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl.1 Obwohl bekannt ist, wie
sehr der Gründervater der Wahhabiten sein Wirken mit der Vita Muḥammads
zu parallelisieren pflegte, haben sich in der westlichen Islamwissenschaft
­bisher nur zwei Autoren mit diesem Buch auseinandergesetzt. So weist Chase
Robinson in Islamic Historiography in einer knappen Notiz auf den ungewöhn-
lichen Aufbau des Werkes hin, während Shahab Ahmed in seinem Artikel über
Ibn Taimīyas Affirmation der Kranichgeschichte („Satanische Verse“) kurz be-
handelt, wie Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb diese umstrittene Episode der
Prophetenvita darstellt und bewertet.2 Wenig oder gar keine Beachtung findet

1 Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl, al-Qāhira: 1956; im folgenden MSR; MT= Maǧmūʿat at-tauḥīd,
al-Qāhira, 1346 a.h.; TN= Ḥusain b. Ġannām: Tārīḫ Naǧd, Hg. Naṣīraddīn Asad, Bairūt: 1405
a.h./1985; MF= Ibn Taimīya: Maǧmūʿ al-fatāwā šaiḫ al-islām Aḥmad Ibn Taimīya, Bairūt:
1982 (37 Bdd.).
2 Chase F. Robinson: Islamic Historiography, Cambridge: 2003, S. 123; Shahab Ahmed: „Ibn
Taymiyyah and the Satanic Verses“ SI 87 (1998) S. 67–124; Brockelmann (GAL S II S. 531)
charakterisiert das Werk offen­kundig ohne genauere Kenntnis als „Auszug aus Ibn Hišām“
und identifiziert es fälschlich mit einer nur wenigen Seiten umfassenden Darstellung
sechs zentraler Elemente der Biographie Muḥammads: « Fī sittat mawāḍiʿ manqūla min
sīrat an-nabī » MT, S. 103–110; in der westlichen For­schungs­literatur zur Entstehung des
Wahha­bis­mus wird das Werk nicht behandelt: Gerd-Rüdiger Puin: „Aspekte der wahhabi-
tischen Reform auf der Grundlage von Ibn Ġannāms ‚Rauḍat al-afkār‘“ Studien zum Min-
derheitenproblem im Islam I, Bonn: 1973, 45–99; Esther Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb
(1703–1792) im Widerstreit: Untersuchungen zur Rekonstruktion der Frühgeschichte der
Wahhābīya, Stuttgart: 1993 (Beiruter Texte und Studien; 56); David Commins: The Wahhabi
Mission and Saudi Arabia, London: 2006; Samira Haj: Reconfiguring Islamic Tradition:
Reform, Rationality, and Modernity, Palo Alto: 2008, S. 11–19, 24–27, 30–66; in wichtigen
neueren Publikationen zu Pro­pheten­bio­gra­phie und Muḥammad­verehrung findet es
ebenfalls keine Beachtung: Marion Holmes Katz: The Birth of the Prophet Muḥammad:
Devotional Piety in Sunni Islam, London: 2007; Tilman Nagel: Allahs Liebling: Ursprung
und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens, München: 2008; Marco Schöller: Mo­-
hammed: Leben und Wirkung, Frankfurt/Main: 2008; Tarif Khalidi: Images of Muhammad:
Narratives of the Prophet of Islam Across the Centuries, New York et al.: 2009; neben dem
Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl hat Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb eine Zusammenfassung von
Ibn al-Qayyims Zād al-maʿād erstellt, in dem anhand von Episoden aus der Prophetenvita
vorwiegend juristische Fragen erörtert werden; zu Zād al-maʿād: Khalidi: Images,

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der Muḫtaṣar dagegen in apologetischen und polemischen Darstellungen der


Wahhabiten in westlichen Sprachen. So streift es der wahhabitische Gelehrte
al-ʿUṯaimīn in seiner Biographie von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb kurz,
ohne auf markante Aspekte einzugehen,3 während Hamid Algar und Hamadi
Redissi es in ihrer Kritik4 ebenso wie Natana De Long-Bas in ihrer apologe-
tischen Darstellung ignorieren.5
Einer der Gründe für das geringe Interesse der Forschung an diesem Werk
mag sein, dass für den saudischen Staat im 20. Jh. die Verbrei­tung des Muḫtaṣar
aus Gründen, die hier abschließend erörtert werden sollen, keine Priorität be-
saß. Das Werk wurde nicht in die ersten Druckausgaben wahhabitischer
Schriften aufgenommen und stattdessen erst 1956/1375 in Ägypten publiziert.6

228–236, zu Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Muḫtaṣar Zād al-maʿād (Bairūt: 1984), hier
S. 7n17, 19n65.
3 ʿAbd Allāh Ṣāliḥ al-ʿUthaymīn: Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb: The Man and His Work,
London & New York: 2009, S. 93f.
4 Hamid Algar: Wahhabism: A Critical Essay, Oneonta, NY: 2002. Dieser „Essay“ hat zum Ziel,
sufisch orientierte Sunniten zu überzeugen, dass der schiitische Islam mehr Gemeinsam-
keiten mit ihren religiösen Vorstellungen aufweise als der Wahhabismus; Hamadi Redissi:
Le Pacte de Nadjd ou comment l’Islam sectaire est devenu l’islam, Paris: 2007. Der Autor
verfolgt die Absicht, zu zeigen, dass der Westen schlecht beraten wäre, wegen des poten-
ziell immer zum Fanatismus neigenden Wahhabismus auf Saudi-Arabien zu setzen. Als
einzige verlässliche Alternative zum arabischen Nationalismus und Islamismus sugge-
riert er daher das tunesische Modernisierungsprojekt.
5 Natana DeLong-Bas: Wahhabi Islam from Revival and Reform to Global Jihad, London &
New York: 2007. Das Werk wird zwar erwähnt, aber nicht behandelt (S. 5). Die schönfärbe-
rische Darstellung von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs ǧihād-Doktrin (S. 202–225) und
die Leugnung des Zusammenhangs zwischen den militärischen Aktionen der Āl Suʿūd
und seinen Lehren (S. 35–40), würden dadurch auch konterkariert. Die für Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb zentralen Begriffe ridda und takfīr sucht man im Index dieses Buchs ver-
geblich.
6 1965 erschien eine weitere Auflage im ebenfalls wahhabitischen Qatar, die mir nicht
zugänglich war. 1995 erschien in Beirut eine weitere, von Hanā⁠ʾ Ǧ azumātī herausgege-
bene Auflage mit Verweisen zu Koranversen und aḥādīṯ, die dem hier benutzten Text
der ersten Druckausgabe folgt; 2004 wurde in Mekka eine neue Auflage publiziert, der
ebenfalls der hier benutzte Text zugrunde liegt, es wurden jedoch Kommentare des sala-
fitischen Ḥadīṯ-Gelehrten Naṣīraddīn al-Albānī zu den im Text verwendeten Propheten­
überlieferungen hinzugefügt. Zu Vita und Konzepten al-Albānīs: Stéphane Lacroix:
„Between Revolution and Apoliticism: Nasir al-Din al-Albani and His Impact on the Sha-
ping of Contemporary Salafism“ in: Roel Meijer (Hg.): Global Salafism: Islam’s New Religi-
ous Movement, New York: 2009, S. 58–80; Jonathan Brown: The Canonization of al-Bukhārī
and Muslim: The For­mation and Function of the Sunnī Ḥadīth Canon, Leiden u.a.: 2007
(Islamic History and Civilization; 69) S. 331–334; Werner Ende: „A Wahhābī Inventory of

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4 Riexinger

Bekannt dürfte das Werk in Ägypten allerdings schon früher ge­wesen sein:
­zugrunde lag dabei die aus dem Jahr 1309 (1891) stammende Abschrift von
Sulaimān b. Suḥmān, der 1923 zusammen mit Rašīd Riḍā die erste Druckaus­
gabe der Schriften von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb und anderer zentraler
wahhabitischer Werke in der arabischen Welt erstellt hatte.7 Das positive Vor-
wort zur ersten Druckausgabe verdeutlicht, dass der Publikation im nasseris­
tischen Ägypten keineswegs die Absicht zugrunde lag, Saudi-Arabien durch
ein anstößiges Werk zu kompromittieren.

Aufbau

Das auffälligste Merkmal des Muḫtaṣar ist, dass einerseits dem Titel entspre-
chend das Leben Muḥammads dargestellt wird, während andererseits eine
Reihe von Ereignissen vor dem Auftreten und nach dem Tode Muḥammads
behandelt werden. Der Text besteht aus einer Einführung, die prägnante Mo-
mente der Geschichte von der Erschaffung Adams bis zum Widerstand Ibn
Taimīyas gegen die Mongolen behandelt. Hierauf folgt die eigentliche
Propheten­biographie. An den Tod Muḥammads schließt ohne formale Ab-
grenzung die annalistische Darstellung der weiteren Entwicklung der isla-
mischen Gemeinschaft bis zum Kalifen al-Manṣūr (reg. 754–775) an. Ein
erheblicher Teil des Werkes, vor allem dessen Hauptteil, wurde nicht von

Dangerous Books“ in: Andreas Christmann & Jan-Peter Hartung (Hgg.): Islamica: Studies
in Memory of Holger Preißler (1943–2006), Oxford: 2009 (Journal of Semitic Studies Supple-
ment; 26) S. 89–100, dort S. 93ff.; 2003 wurde in ar-Riyāḍ eine Edition von ʿAlī Ibn Aḥmad
Āl Nāʾil mit Kommentaren des in Saudi-Arabien lebenden sudanesischen Autors
Muḥammad Ḥāmid al-Faqī erstellt. 2006 erschien in Riad eine englische Übersetzung
(Sameh Strauch) unter dem Titel Mukhtaṣar sīrat al-Rasūl = Biography of the Prophet.
Beide Texte lagen mir nicht vor.
7 MSR S. 236; zum Hintergrund dieser Ausgabe: Dirk Boberg: Ägypten, Naǧd und der Ḥiǧāz:
Eine Untersuchung zum religiös-politischen Verhältnis zwischen Ägypten und den Wahha-
biten, 1923–1936, anhand von in Kairo veröffentlichten pro- und antiwahhabitischen Streit-
schriften und Presseberichten, Frankfurt/Main u.a. 1991 (Asiatische und Afrikanische
Studien; 28) S. 253–257, zur Beziehung Rašīd Riḍās zu ʿAbd al-ʿAzīz b. Suʿūd: ebd. S. 310–
314; erstmals gedruckt wurden die Werke Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs 1895 von den
indischen Ahl-i Ḥādīs̱-Gelehrten ʿAbdulwaḥīd und ʿAbdurrahīm Ġaznawī in Delhi
(Maǧmūʿat at-tauḥīd, 1311. a.h.), siehe Alexander Ellis: Catalogue of Arabic Printed Books in
the British Museum M – Z, London: 1901, S. 627ff.; Martin Riexinger: S̱anāʾullāh Amritsarī
(1867–1948) und die Ahl-i Ḥadīs̱ im Punjab unter britischer Herrschaft, Würzburg: 2004
(MISK; 13) S. 524f., Abb. 4.

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Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb selbst formuliert, sondern aus Zitaten zu­-


sammengefügt. Das Werk lässt sich gleichwohl nicht, wie bei Brockelmann,
als Sammlung von Auszügen abtun. Vielmehr dient die gezielte Auswahl und
Auslassung von Material aus dem Korpus der Überlieferungen zur Propheten-
biographie der Vermittlung von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Geschichts-
deutung und der daraus resultierenden Handlungsnormen.

Vorwort

In den einleitenden Worten hebt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb den erziehe-


rischen Wert der „Geschichten derer aus der Zeit vor und nach Muḥammad“
(qiṣaṣ al-awwalīn wa-l-āḫirīn) hervor, weil sich an ihrem Beispiel vortrefflich
die Folgen von Gehorsam und Ungehorsam gegenüber Gott exemplifizieren
lassen. Sie seien daher, „wie manche Alten sagen, wahre Heere Gottes“, denen
die Gegner nichts entgegenzusetzen haben. Aus ihnen werde deutlich, dass
Gott den Menschen versprochen habe, Gesandte zu schicken, die ihnen Bot-
schaften übermitteln und sie warnen sollen, und dass die Weigerung ihnen zu
gehorchen, Strafe nach sich ziehe.8
Gleich zu Anfang spielt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb auf jenes ḥadīṯ
an, das als Slogan der Wahhabiten fungiert: „Der Islam begann als Fremder,
und als Fremder wird er wiederkehren, so wie er begann“ (bada⁠ʾa l-Islāmu
ġarīban wa-sa-yaʿūdu ġarīban ka-mā bada⁠ʾa).9 Dieses auf Ibn Masʿūd zurück-
geführte ḥadīṯ inspirierte auch andere rigide Erneuerungsbewegungen wie
etwa die Almohaden.10 In jüngerer Zeit verwendete es der von „Neo-Ḥanbaliten“
und Ẓāhiriten inspirierte Rašīd Riḍā,11 und in Zirkeln salafitischer Jugendlicher
der Gegenwart erfreut es sich ebenfalls großer Popularität.12 Es taucht aller-

8 MSR S. 9; bei qiṣaṣ al-awwalīn wa-l-āḫirīn handelt es sich offensichtlich Ergänzung des
Begriffs asāṭir al-awwalīn in 6:25, vgl. Roberto Tottoli: Biblical Prophets in the Qurʾān and
Muslim Literature, Richmond: 2002, S. 13.
9 MSR S. 9; Muslim, Abū Dāʾūd, Ibn Māǧa und Tirmiḏī.
10 J.-C. Vadet s.v. „Ibn Masʿūd, ʿAbd Allāh b. Ghāfil b. Ḥabīb b. Hudhayl“ EI² Bd. III S. 873; Ibn
Tūmart: Kitāb aʿazz mā yuṭlab, in: Ignatz Goldziher: Le livre d’Ibn Toumart, Alger: 1903, S.
266f.
11 « Tafsīr al-Qurʾān » al-Manār 18 (1915) S. 321–352, dort S. 327.
12 Vortrag des amerikanischen Konvertiten Khalid Yasin über das ḥadīṯ, unterlegt mit dem
populären našīd „Ġurabāʾ“: http://www.youtube.com/watch?v=8MfFB7Bmacc&; „Salafi-
tische Initiativen: Stolz darauf, fremd zu sein“ 9.1.2010, http://www.ufuq.de/newsblog/611-
salafitische-initiativen-stolz-darauf-fremd-zu-sein (beide heruntergeladen am 24.10.2013).

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6 Riexinger

dings keineswegs nur im Kontext von puritanischem, womöglich gewaltbe-


reitem Aktionismus auf.13
Zur Erschaffung Adams zitiert Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb den Koran-
vers 7:172: „Und als dein Herr aus dem Rücken der Kinder Adams deren Nach-
kommenschaft nahm“. Er fährt damit fort, dass Adam die Propheten als Kerzen
vor sich sah, deren unterschiedliche Länge deren Lebensalter repräsentiert.
Als Adam sah, dass David nur sechzig Jahre zu erwarten hatte, schenkte er ihm
vierzig von seinen eigenen. Daran wollte sich der Stammvater der Menschen
jedoch nicht mehr erinnern, als der Todes­engel erschien: „Adam leugnete, und
seine Nachkommenschaft sollte leugnen“.14 Bei diesem Text handelt es sich
um ein ḥadīṯ, das mehrere Historiografen – allerdings in unterschiedlichen
Fassungen – in ihre Werke übernommen haben. Ibn Saʿd führt in seinen
Ṭabaqāt, die Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb in anderen Zusammenhängen zi-
tiert, eine längere Version an, in der Adam und seine Nachfahren nicht nur
leugnen, sondern auch vergessen und irren (ḫaṭiʾa). Für Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhābs Intentionen ist jedoch allein die Variante relevant, die sündhaftes
Verhalten auf einen bewussten Verstoß zurückführt.15

13 Bereits in vormoderner Zeit verwendeten „Schreibpultgelehrte“ diese Überlieferung zur


Positionsbestimmung, so etwa der šāfiʿtische Ḥadīṯgelehrte al-Ḫaṭṭābī (gest. 998): Seba-
stian Günther: „In our days, religion has once again become something alien: Al-Khattabi’s
Critique of the State of Religious Learning in Tenth-Century Islam“ in: Todd Lawson (Hg.):
„Text and Society“ American Journal of Muslim Social Scientists, special issue 2008, S. 1–30,
dort S. 11; der Rechtstheoretiker Abū Isḥāq aš-Šāṭibī (gest. 1389) aus Granada, der nicht
allein auf dem Gebiet der uṣūl al-fiqh sehr eigenständige Wege ging, bedient sich bei sei-
ner Kritik am Sufismus ebenfalls dieser Tradition: aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. I S. 62;
ders.: al-Iʿtiṣām, Bairūt: o.J., Bd. I S. 18f; in neuerer Zeit maß der 1986 wegen seines Plädo-
yers für die Aufgabe des islamischen Rechtssystems als Häretiker hingerichtete sudane-
sischen Autor Maḥmūd Ṭāhā der Vorstellung von der „Fremdheit des Islams“ besondere
Bedeutung zu: Mahmūd Ṭāhā: « ar-Risāla aṯ-ṯāniya min al-islām » in ders.: Naḥwa mašrūʿ
mustaqbalī li-l-Islām: ṯalāṯa min al-aʿmāl al asāsīya li-l-mufakkir aš-šahīd Maḥmūd
Muḥammad Ṭāhā, Bairūt & Kuwait: 2002, S. 74, 81, 88; zu Leben und Werk: Annette Oever-
mann: Die Republikanischen Brüder im Sudan: Eine islamische Reformbewegung im zwan-
zigsten Jahrhundert, Frankfurt/Main u. a.: 1993 (Heidelberger Orientalische Studien; 34);
Mohamed A. Mahmoud: Quest for Divinity: A Critical Examination of the Thought of
Mahmud Muhammad Taha, Syracuse NY: 2006.
14 MSR S. 10.
15 Diese auf jüdische Quellen zurückgehende Geschichte findet sich in: Ibn Saʿd: Ṭabaqāt,
Bd. I,1: Biographie Muhammeds bis zur Flucht, ed. Eugen Mittwoch, Leiden: 1905, S. 7 Z.
19ff.; vgl. J. Pedersen s.v. „Ādam“ EI2 Bd. I S. 176ff. Bei Ibn Saʿd (ebd. Z. 7ff.) findet sich auch
eine längere Fassung, die auch in den von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb viel zitierten

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Die Abkömmlinge Adams blieben neun Jahrhunderte der Religion ihrer Vä-
ter treu, bevor sie wegen übermäßiger Verehrung der Frommen (ġulūw fī ḥubb
aṣ-ṣāliḥīn) dem Unglau­ben anheimfielen. Da Gelehrte, die dieser Entwicklung
hätten entgegentreten können, fehlten, begannen sie, jene Statuen anzubeten,
die sie errichtet hatten um sich an Taten und Worte der Frommen erinnern zu
können. Um sie von diesem Irrweg abzubringen, ließ Gott durch seinen Ge-
sandten Noah die Aufforderung zur Umkehr übermitteln. Dass zwischen Adam
und Noah zehn Jahrhunderte vergangen seien, stammt von Ibn Saʿd, dass im
letzten dieser Jahrhunderte aus besagten Gründen ein religiöser Verfall einge-
setzt habe, ist hingegen eine eigenständige Hinzufügung von Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb. Er fährt mit der Feststellung fort, dass nach dem Auftreten
von Noah immer wieder Syntheismus (širk) aufkam, dem Gott begegnete, in-
dem er weitere Propheten aussandte, um die Menschen zu ermahnen. Viele
von ihnen seien gar nicht bekannt, oder es lasse sich wie im Falle von Hūd und
Ṣāliḥ nicht ermitteln, wann sie gewirkt hatten. Nicht zu bezweifeln sei hinge-
gen, dass es kein Volk gebe, zu dem Gott nicht mindestens einen Gesandten
geschickt habe (Koran 16:36).16 Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb betrachtet zwar
Adam als den ersten Gesandten Gottes.17 Vor dem Hintergrund seiner Gesamt-
schau der Weltgeschichte verständlich, warum Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb

Muntaẓam von Ibn al-Ǧāuzī Eingang gefunden hat: al-Muntaẓam fī ta⁠ʾrīḫ al-mulūk wa-l-
umam, Hgg. Muḥammad ʿAbd-al-Qādir ʿAṭā & Naʿīm Zarzūr, Bairūt: 1310/ 1995, Bd. I S. 216.
Sie fungiert weniger als Paradigma menschlichen Ungehorsams und menschlicher
Vergess­lichkeit denn als Erklärung dafür, dass Gott von nun an seine Abmachungen mit
den Menschen schriftlich niederlegte. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb schenkt diesem
Aspekt keine Beachtung.
16 MSR S. 10ff.; Ibn Saʿd: Ṭabaqāt, Bd. I,1 S. 26, Z. 2–5; dass Ibn Saʿd denselben Zeitraum für
den Abstand zwischen Nūḥ und Ibrāhīm sowie zwischen Ibrāhīm und Mūsā ansetzt,
spielt bei Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb keine Rolle; zur in diesem Kontext passenden
Übersetzung von širk: George Rentz: „The Wahhābīs“ in: A. J. Arberry (Hg.): Religion in the
Middle East: Three Religions in Concord and Conflict, Cambridge: 1969, Bd. II S. 270–284,
dort S. 270.
17 Solch eine Auffassung wäre zu seinen Lebzeiten einhellig als kufr betrachtet worden, und
in seiner Muḫtaṣar Zād al-maʿād (S. 105) nennt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb Adam Pro-
phet; ähnlich: « Kašf aš-šubūhāt » MT S. 74; grundsätzlich hierzu: Cornelia Schöck: Adam
im Islam: Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Sunna, Berlin: 1993 (Islamkundliche Untersu-
chungen; 198) S. 133–199; zur Auffassung des in puritanischen Kreisen hochgeachteten
Mullā ʿAlī Qārī: M. J. Kister: „Legends in tafsīr and ḥadīth Literature: The Creation of Adam
and Related Stories“ in: Andrew Rippin (Hg.): Approaches to the History of the Interpreta-
tion of the Qurʾān, Oxford: 1988, S. 82–114, dort S. 85n18.

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8 Riexinger

am Beispiel Noahs und nicht am Beispiel Adams erstmals das Wirken eines
Gesandten darstellt.18
Ausführlich behandelt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb Abraham. Zunächst
gibt er ein bei Buḫārī aufgeführtes ḥadīṯ wieder, wonach Abraham – wenn
auch nur dreimal – gelogen habe, indem er seiner Familie eine Krankheit vor-
täuschte (Koran 37:89), indem er den größten der Götzen bezichtigte, die Göt-
zen zerstört zu haben, obwohl er dies selbst getan hatte (Koran 21:63), und
indem er dem Tyrannen (ǧabbār) gegenüber Sarah als seine Schwester ausgab.
In dieser nichtkoranischen Episode will sich der Tyrann dann dreimal an Sarah
vergreifen, wobei jedes Mal seine Hand gelähmt, aber durch Sarahs Fürsprache
geheilt wird. Als Dank hierfür wird ihr Hagar als Magd geschenkt. In den
Muḫtaṣar wurde dieses ḥadīṯ jedoch nicht wegen der Klärung der Herkunft der
Mutter Ismails aufgenommen, sondern mit Blick auf die Frage, ob Propheten
nur faktisch Zutreffendes aussprechen.19
Im Anschluss daran gibt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb ausführlich das lan-
ge ḥadīṯ nach Ibn ʿAbbās wieder, in dem die Besiedelung Mekkas und die Er-
richtung der Kaʿba durch ihn und seine beiden Söhne Ismael und Isaak
geschildert werden.20 Bei der Darstellung der Nach­kom­men­schaft Ismaels, die
mit der Bewachung der Kaʿba betraut wurde, zeigt sich wieder das bereits ge-
schilderte Muster: Mahnung zur Umkehr gefolgt von erneuter Hinwendung
zum širk. Um dies zu unterstreichen, referiert Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
detailliert die ätiologischen Legenden zu den Kulten der ǧāhilīya. Dabei be-
dient er sich, wie bereits bei der Darstellung Noahs, ana­chro­nistischer isla-
mischer Ter­mino­logie: So habe ʿAmr b. Luḥayy wegen seiner Frömmigkeit so
großes Ansehen genossen, dass er zum Priesterkönig Mekkas wurde (wa-ṣāra
malik Makka wa-wilāyat al-bait bi-yadih). In Syrien habe er gesehen, wie die
Menschen Götzen verehren. Diese Praxis habe er dann nach eigenem Gutdün-
ken für zulässig erklärt (istaḥsana). Mit der Wahl eines Verbs aus der Termino-
logie des fiqh weckt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb Assoziationen an
frevlerische Juristen der Gegenwart. Er fährt damit fort, dass ʿAmr b. Luḥayy die
Statue des Hubal mitbrachte, sie im Innern der Kaʿba aufstellte und sie zu ver-
ehren begann. Die Bewohner Mekkas und schließlich des ganzen Ḥiǧāz seien
ihm darin nachgefolgt. Zwar sollten sie die Religion Abrahams nie ganz aufge-
geben, aber die von ʿAmr eingeführten Riten erklärten sie zur wohlgefälligen
Neuerung (bidʿa ḥasana). Mit diesem Begriff setzt Muḥammad b. ʿAbd al-

18 Siehe S. 46.
19 MSR S. 12f., siehe 43f.; der Tyrann will dann dreimal Sarahs Hand ergreifen, die jedes Mal
gelähmt aber durch Sarahs Fürsprache geheilt wird.
20 MSR S. 14ff.; vgl. Tottoli, Biblical Prophets, S. 118f.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 9

Wahhāb sie mit jenen nachlässigen Juristen seiner Zeit gleich, die dem Treiben
der Sufis ihr Plazet erteilten.21 Den Kult von al-Lāt führt Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb, im Gegensatz zu Ibn Hišām, aber im Einklang mit einem ḥadīṯ, auf
die Verehrung des Grabes eines bei der Rückkehr vom ḥaǧǧ verstorbenen Pil-
gers zurück. Durch solche ungeahndeten Verstöße gegen das Prinzip des tauḥīd
al-ulūhīya hätten sich die Stätten des Göt­zen­dienstes in einem Maße vermehrt,
dass der Islam schließlich „wie ein Fremder begonnen“ habe.22
Nach der Erklärung des Götzendienstes fährt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
mit der Darstellung der Auseinandersetzungen der mekkanischen Sippen über
den Anspruch auf die Verwaltung der Kaʿba fort. Dabei kommen jene Ände-
rungen zur Sprache, die die Quraiš eigenmächtig am Ritus der Pilgerfahrt vor-
nahmen (ibtadaʿū), als sie sich in ihrem Dünkel zu der Auffassung verstiegen,
als Nachfahren Abrahams seien sie bei der Pilgerfahrt nicht dazu verpflichtet,
am Berg ʿArafa zu rasten (wuqūf fī ʿArafa). In der Folge gestalteten sie das Ritu-
al weiter um, so dass die Männer das Heiligtum nackt und die Frauen nur mit
einer Bedeckung ihres Geschlechts­teils umrundeten.23
Im Anschluss an diese Darstellung behandelt Muḥammad b. ʿAbd al-
Wahhāb bereits einige Aspekte des Wirkens von Muḥammad. Er gliedert es
damit zugleich in die Abfolge von Rechtleitung und Rückfall zum širk ein. Zu-
nächst unterstreicht er, dass die erste Offen­barung, die Muḥammad zuteil ge-
worden sei, nicht zum Gebet aufrufe, sondern das Prinzip des tauḥīd erkläre.
Damit kritisiert er implizit die Vorstellung, dass „diejenigen, die die Gebets-
richtung anerkennen“ (ahl al-qibla), indem sie beten, nicht zu Ungläubigen
erklärt werden dürften. Außerdem sei Muḥammad eingeschärft worden, dass
der Islam nicht aufrecht stehen (yastaqīm) werden könne, ohne dass ­diejenigen,
die diese Religion verlassen hätten, als Feinde und ihre Religion als ­Schande
(ʿaib) gebrandmarkt werden. So habe Gott trotz Muḥammads Fürsprache Abū
Ṭālib, der Muḥammad unterstützte, aber nie den Islam annahm, die Verzei-
hung verweigert (Koran 9:114).24 Diese Ausführungen werden durch eine Dar-
stellung der Institutiona­lisie­rung und der Notwendigkeit des ǧihād ergänzt.25
Bereits im Vorwort bekräftigt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb zudem die
His­­torizität der Kranichgeschichte. In diesem Kontext dient ihm dieser Bericht

21 MSR S. 16f.; zu Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Parallelisierung seiner Umwelt mit den
Götzendienern zur Zeit Muḥammads: Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 237; Com-
mins: Wahhabi Mission, S. 12.
22 MSR S. 18; Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī: Fatḥ al-bārī šarḥ ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Hgg. Ḥāfiẓ Ṯanāʾ Allāh
az-Zāhidī & ʿAbd al-ʿAzīz b.ʿAbd Allāh Ibn Bāz, Makka: 1414/1993, Bd. IX S. 594.
23 MSR S. 23f.
24 MSR S. 24f.
25 MSR S. 28f.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


10 Riexinger

über die Anrufung der drei altarabischen Göttinnen im Kontext von Sure 53
zunächst dazu, sein Konzept der alleinigen Verehrungs- und Anrufungswür-
digkeit Gottes (tauḥīd al-ulūhīya) zu verdeutlichen und zu beklagen, wie dieses
Prinzip vernachlässigt werde:

Wenn jemand diese Geschichte kennt und weiß, wie es sich mit den
mušrikūn von heute verhält, und dem was ihre Gelehrten sagten und
sagen, und nicht zwischen dem Islam, den Muḥammad brachte, und der
Religion der Quraiš, wegen derer Gott einen Gesandten schickte um vor
ihr zu warnen, unterscheidet, ist dies ist wahrlich in hohem Maße širk.

Die Erlaubnis, um Fürsprache zu bitten, sei nämlich durch die Verse 22:50–52
ausdrücklich wider­rufen worden.26 Muḥammads Gegner unter den Quraiš
und unter den Juden von Medina werden anachronistisch als ʿulamāʾ tituliert.27
Schließlich betont Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb, dass dem Bekenntnis zum
Islam Vorrang vor Blutsbanden zukomme (Koran 4:97–100).28 Mit Verweis auf
ein über Ḥasan al-Baṣrī überliefertes ḥadīṯ betont er, dass wahrer Glaube sich,
anders als gegenwärtig behauptet, im rechten Handeln erweise.29
Die gegenwartsbezogene Didaxe tritt in der bereits hier recht ausführlichen
Behandlung der ridda noch deutlicher zutage. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
stellt zunächst die verschiedenen Formen des Unbotmä­ßigkeit dar: Rückkehr
zum Götzendienst, Verwei­gerung des Gebets, Verweigerung der zakāt, Beige-
sellung eines angeblichen Propheten (Musailima, Aswad al-ʿAnsī, Ṭulaiḥa al-
Asadī). Er betont, dass die Apostaten getötet oder gefangen genom­men und
ihre Besitztümer beschlagnahmt worden seien, so sie keine Reue zeigten. Die-
sen Sachverhalt kontrastiert er mit der Behauptung von ʿulāmāʾ der Gegen-
wart, Leben und Besitz von Beduinen, die nicht beteten und sogar die
Aufer­ste­hung leugneten, seien unantastbar, solange sie den ersten Teil des
Glaubens­be­kennt­nisses aussprächen. Diese Position sei jedoch unhaltbar, da
sogar die Banū Ḥanīfa, die es während der ridda am schändlichsten getrieben
hätten, gebetet und den ersten Teil des Glaubensbekennt­nisses gesprochen
hätten. Als zur Zeit der Rechtgeleiteten Kalifen einige von ihnen in Kūfa weiter­
hin den Pseudopropheten Musailima und die Seinen priesen, debattierten
dem Bericht von al-Buḫārī zufolge ʿAbdallāh b. Masʿūd und andere Prophe-

26 MSR S. 25f.
27 MSR S. 26.
28 MSR S. 27.
29 MSR S. 28; « laisa l-īmān bi-taḥallī wa-tamannī wa-lākinna mā waqara fī l-qulūb wa-ṣada­
qathu l-aʿmāl » Buḫārī.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 11

tengefährten allein darüber, ob sie zur Buße aufgefordert werden oder gleich
­getötet werden sollten. Dass es sich um kufr handle, habe hingegen stets außer
Frage gestanden.30 Dies legt nahe, die Entstehung des Muḫtaṣar mit der Kon-
troverse zwischen Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb und Ibn ʿAfāliq in Zusammen­
hang zu bringen. Jener hatte Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Auffassung, wer
Heiligenverehrung betreibe, mache sich der Apostasie schuldig, als unmäßig
verworfen, weil es sich vorwiegend um širk fī l-ʿibāda handle. Er insistierte mit
Verweis auf Koran 4:41 und die Praxis der Prophetengefährten darauf, dass
­niemand wegen seines Handelns zum Ungläubigen erklärt werden dürfe, der
die erste Hälfte der šahāda spreche.31
Noch deutlicher fällt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Verdikt über die ġulāt
aus. Während sich die an der ridda Beteiligten nur am Prophetentum versün-
digt hätten, sei jenen vorzuwerfen, dass sie die ulūhīya missachteten, indem sie
ʿAlī zum Gott erklärten. Die ṣahāba hätten sie hierfür einstimmig zu Ungläu­
bigen erklärt, obwohl sie beteten und fasteten. Deswegen hätten die Prophe-
tengenossen angeordnet, jene Häretiker als die Übelsten unter den Ungläubigen
bei lebendigem Leibe zu verbrennen.32 Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb fährt
mit dem Bericht über Muḫtār b. Abī ʿUbaid aṯ-Ṯaqafī fort, der sich mit der For-
derung nach Vergeltung für den Mord an Ḥusain erhoben hatte. Er verrichtete
zwar die Gebete und sorgte dafür, dass in dem von ihm beherrschten Gebiet
Recht gesprochen wurde, doch verstieg er sich schließlich zu der Behauptung,
göttliche Eingebungen empfangen zu haben. Daraufhin entschieden die mit
ihm zunächst im Bunde stehenden Zubairiden, ihn zu töten. Auch in seinem
Fall stimmten die ʿulamāʾ dahingehend überein, dass er ein Ungläubiger sei,
der sich am Prophetentum versündigt habe, wobei nicht als mildernder Um-
stand bewertet werden könne, dass er den äußeren Merkmalen/ Riten (šaʿāʾir)
des Islam Geltung verschafft habe. Ähnlich verhalte es sich mit Ǧaʿd b. Dirham,
der zwar für sein Wissen und seine Orthopraxie berühmt war, aber einige
Eigen­schaf­ten Gottes leugnete und der sich erdreistete zu behaupten, Gott
habe Abraham nicht zum Freunde genommen und nicht zu Moses gespro-
chen. Seine Anhänger hätten es ihm im Frevel gleichgetan, indem sie ihm gar
ein Opfer darbrachten.33

30 MSR S. 29–33.
31 Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 84f.
32 MSR S. 34.
33 MSR S. 34f.; zu Ǧaʿd b. Dirham beruft sich Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb auf Ibn Qayyim
al-Ǧauzīyas Lehrgedicht an-Nūnīya. Dieser historisch kaum fassbaren Figur werden in
sunnitischen Polemiken Auffassungen der Muʿtazila zugeschrieben, um jene als Fort­

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


12 Riexinger

Nach der Frühzeit des Islam überspringt Muḥammad b. Abd al-Wahhāb an-
schließend einige Jahrhunderte. Er widmet sich kurz den Fatimiden (Banū
ʿUbaid), denen er vorwirft, ebenfalls die äußeren Kennzeichen des Islams
praktiziert (aẓhara šaʿāʾir al-islām), aber Unglauben (kufr) und Heuchelei
(nifāq) in einer Form, die er nicht spezifiziert, angehangen zu haben. Gleich-
wohl betont er, dass die ʿulamāʾ sie einstimmig zu Ungläubigen erklärt hätten.
Daher sei die Freude groß gewesen, als Saladin ihrer Herrschaft ein Ende berei-
tete.34 Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb fährt mit den Mongolen fort, die nach
ihrer vorgeblichen Konversion zwar das Gebet verrichtet, die Scharia in ihrer
Gesamtheit jedoch nicht anerkannt hätten. Aus diesem Grund seien ihnen
„die ʿulamāʾ  “ entgegengetreten, bis sie Gott schließlich aus den Ländern der
Muslime vertrieben habe. Ibn Taimīya, auf dessen Fatwa gegen die Īlḫāniden
in Mardin Ibn ʿAbd al-Wahhāb unverkennbar Bezug nimmt, wird allerdings
nicht namentlich erwähnt.35
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb schließt das Vorwort mit einem Vorwurf an
die ʿulamāʾ seiner Zeit: Obwohl alles, was er hier geschildert habe, in jenen
Büchern nachzulesen sei, auf welche sie sich berufen, beharren sie darauf, dass
jemand nicht als Ungläubiger benannt werden dürfe allein, wenn er nur die
Worte lā ilāha illā Llāh ausspreche.36

Die Prophetenbiographie

Die mekkanische Phase


Die Darstellung der eigentlichen Prophetenbiographie beginnt unspektakulär

führung von Ketzereien aus der Frühzeit des Islams zu denunzieren: G. Vajda s.v. „Ibn
Dirham, Djaʿd“ EI² Bd. III S. 745f.; Tilman Nagel, Im Offenkundigen das Verborgene: Die
Heilszusage des sunnitischen Islams, Göttingen: 2002, S. 622.
34 MSR S. 36f.: Er verweist auf das in GAL nicht aufgeführte Werk an-Naṣr ʿalā Miṣr von Ibn
al-Ǧauzī.
35 MSR S. 37; die Fatwā al-marḍinīya erlangte in jüngerer Zeit dadurch Berühmtheit, dass sie
ʿAbdasssalām al-Faraǧ von der ägyptischen Ǧamāʿa al-islāmīya 1981 zur Legitimation des
Attentats auf Sadat heranzog. Zu diesem Rechtsgutachten und seiner neueren Wirkungs-
geschichte: Yahya Michot: Muslims under Non-Muslim Rule, Oxford & London: 2006; vgl.
auch: Tilman Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Zürich & München: 1981,
Bd. II S. 117f. Behnam Said: „Die Konferenz zur Mardin-Fatwa Ibn Taimīyas und zwei
Repliken hierauf aus der jihadistischen Szene“ in: Tilman Seidensticker (Hg.): Zeitgenös-
sische islamische Positionen zu Koexistenz und Gewalt, Wiesbaden: 2011, S. 99–127.
36 MSR S. 38; die Behauptung, dass sich alle eigenen Auffassungen in den von den von den
Gegnern studierten Werken finden, ist ein in innerisla­mischen Kontroversen üblicher
Topos.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 13

mit der Genealogie. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb fährt mit der Schilderung
des Scheiterns des Feldzugs von Abraha, dem äthiopischen Gouverneur des
Jemen, gegen Mekka fort. Es handelt sich um eine leicht geraffte Übernahme
der entsprechenden Passage bei Ibn Hišām.37
Danach legt Muḥammad b.ʿ Abd al-Wahhāb dar, dass es umstritten sei, ob
ʿAbdallāh b. ʿAbd al-Muṭṭalib bereits vor oder erst nach der Geburt Muḥammads
verstarb.38 Im Anschluss stellt er den Großvater und Vater des Propheten, so-
wie seinen Onkel Abū Ṭālib ausführlich vor.39
Auf die Zeugung und Geburt Muḥammads geht er hingegen nicht ein! Ihn
interessiert erst wieder der neun- oder zwölfjährige Muḥammad, der von Abū
Ṭālib mit auf eine Han­dels­reise nach Syrien geschickt wurde, wo er dem Ere-
miten Baḥīrā begegnete, der anmahnte, ihn zum Schutz vor den Juden durch
Sklaven bewachen zu lassen. Davon, dass Baḥīrā das Prophe­ten­mal zwischen
Muḥammads Schultern entdeckt habe – ein Standardelement in Prophetenbi-
ographien –, ist keine Rede. Des Weiteren verbeugen sich bei dieser Gelegen-
heit keine Bäume vor Muḥammad. Die nächsten Ereignisse, die Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb beschreibt, sind die Heirat des etwa 25-jährigen Muḥammad
mit Ḫadīǧa und seine Handelsreisen nach Syrien.40 Muḥammads Rückzug
nach Ḥirāʾ erklärt er damit, dass ihn verlangt habe, Gott zu verehren, und dass
er den Götzendienst verabscheute.41 Es folgt der Bericht, wie Muḥammad
beim Neubau der Kaʿba half, dabei den Schwarzen Stein einsetzte und schließ-
lich als erster den Neubau betrat. Noch zu erörtern ist die Bedeutung eines
Details in diesem Berichts: Muḥammad nahm wie andere sein Hüfttuch ab,
um damit beim Schleppen der Steine seine Schulter zu polstern. Deshalb
­waren jedoch seine Genitalien zu sehen. Er wurde daraufhin von einem Unge-
nannten ermahnt, seine Blöße zu bedecken, und fortan sollte sein Geschlechts-
teil von niemandem mehr erblickt werden. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
entscheidet sich gegen die Schilderung bei Ibn Hišām, in der von unziemlicher
Kleidung und einer Zurecht­weisung keine Rede ist, und folgt hiermit Ibn Saʿd
und Ibn al-Ǧauzī, ohne allerdings wie jene Abū Ṭālib als denjenigen zu benen-
nen, der den Propheten zurechtweist.42

37 MSR S. 39–42; Ibn Hišām: Sīra, Bd. I S. 54 apu. – S. 56 Z. 2.


38 MSR S. 42.
39 MSR S. 42–48.
40 MSR S. 48; Ibn Saʿd: Ṭabaqāt, Bd. I,1 S. 93ff., S. 93 Z. 18ff. Ibn al-Ǧauzī behandelt dies nicht
im Muntaẓam aber in seiner Prophetenbiographie: al-Wafāʾ bi-aḥwāl al-Muṣṭafā,
al-Qāhira, 1966, Bd. I. S. 131–134.
41 MSR S. 49.
42 MSR S. 49ff.; Ibn Saʿd: Ṭabaqāt, Bd. I,1 S. 93ff.; Ibn al-Ǧauzī: Muntaẓam, Bd. II S. 320–327;
Ibn Hišām: Sīra, Bd. I S. 204–211; aḏ-Ḏahabī: Tārīḫ al-islām wa-ṭabaqāt al-mašāhīr wa-l-

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14 Riexinger

In einen Einschub geht Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb ein zweites Mal auf
die Entstehung der ǧāhilīya und die mit ihr verbundenen religiösen Praktiken
ein. Zunächst führt er die Auslegung zweier Koranverse (2:213; 71:23) durch Ibn
ʿAbbās als Beleg dafür an, dass zehn Gene­rationen nach Adam mit der Vereh-
rung der ṣāliḥīn die Abkehr vom Islam begonnen habe. Die Götzenbilder, die
zu diesem Zweck geschaffen wurden, hatte aber die Sintflut vernichtet. Aus-
führlicher referiert er nun, wie Amr b. Luḥayy den Götzendienst in Mekka
insti­tu­tionalisierte. Er zitiert nun auch die Prophetentraditionen, wonach
­niemand derartige Höllenstrafen zu erwarten habe wie eben dieser. Zugleich
betont Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb, dass Restbestände des dīn Ibrāhīm
(Verehrung der Kaʿba, Pilgerfahrt, Muzdalifa) nie ver­schwunden seien. Er ver-
schränkt bei dieser Gelegenheit Prophetenbiographie und Entstehungs­
geschichte des Heidentums, indem er die ätiologischen Legenden zu Hubal,
al-Lāt, al-ʿUzzā und Manāt wiederholt und sie um jene für Ḏū l-Ḫalṣa und
ʿAmm Anas ergänzt.43 Fort fährt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb mit dem Be-
richt ʿĀʾišas über den Beginn der Offenbarung.44 Er zitiert daran anschließend
Ibn Qayyim al-Ǧauzīya mit der Aussage, dass Muḥammad aufgetragen wurde,
sich mit dem, was er empfangen habe, stufenweise an einen immer größeren
Kreis zu wenden. So habe er zunächst seine nächsten Verwandten, dann ­seinen
Stamm, ­danach die Araber der näheren Umgebung, schließlich die Araber in
ihrer Gesamtheit und zuletzt die „beiden Welten“ (d.i. Menschen und ǧinn)
ermahnt. Eigenständig stellt er dann jedoch dar, dass Muḥammad zehn Jahre
ohne Kampf und (Einfordern der) ǧizya missioniert habe (daʿwa), und dass
Gott ihm Geduld befohlen habe, bis er ihm schließlich die hiǧra gestattete.
Danach aber habe er ihm den Kampf erlaubt, dann den Kampf gegen jene an-
geordnet, die ihn bekämpften, und schließlich habe er angeordnet, dass
Muḥammad gegen die Beigeseller Krieg führen solle, bis die Religion ganz auf
Gott ausgerichtet sei (ḥattā yakūna d-dīnu kulluhu li-l-Lāh).45
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb nennt im Anschluss die Namen jener, die als
erste Muḥammads Ruf Folge leisteten: Abū Bakr, ʿUṯmān, Ṭalḥa, Ḫadīǧa, Zaid
b. Ḥāriṯa und ʿAlī. Anders als andere sīra-Autoren weist er jedoch nie­man­dem
explizit den Vorrang zu. Es fällt allerdings auf, dass Muḥammad b. ʿAbd al-
Wahhāb betont, dass ʿAlī, dessen Rolle als erster Gläubiger Ibn Hišām hervor-

aʿlām, al-Qāhira: 1367 a.h./ 1948, Bd. I S. 43, Z. 2 – S. 44, Z. 9.


43 MSR S. 51–55.
44 MSR S. 56.
45 MSR S. 58; übernommen aus: Ibn Qayyim al-Ǧauzīya: Zād al-maʿād, al-Qāhira: 1379 a.h.,
Bd. I S. 20 Z. 8ff., dort statt anḏara l-ʿālamain „inḏār ǧamīʿ man balaġathu daʿwatuhu min
al-ǧinn wa-l-ins ilā āḫir ad-dahr.“

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 15

hebt, bei seiner Konversion erst acht Jahre alt war. Hierbei könnte die Absicht
zugrunde liegen, die Bedeutung einer möglichen zeitlichen Priorität für die
Rangfolge unter den ersten Gläubigen zu minimieren.46
Muḥammad b. ʿAbdallāh schildert dann, dass den Quraiš die ersten Kon­ver­
sionen verbor­gen blieben und dass sie erst später begannen, Muḥammad und
seine Anhänger zu bedrängen, als sie merkten, dass ihre Götter geschmäht
wurden. Sumayya, die Mutter des Prophe­ten­gefährten ʿAmmār b. Yāsir, wurde
so zur ersten Märtyrerin, da sie von ihrer Sippe nicht geschützt wurde, als Abū
Ǧahl eine Lanze in ihr Geschlechtsteil stieß. Diesen Vorfall stellt Muḥammad
b. ʿAbd al-Wahhāb weit drastischer dar, als das in anderen Überlieferungen ge-
schieht: im zugrunde liegenden Bericht von Ibn Saʿd ist nur davon die Rede,
dass sie mit einer Lanze von vorne (min qubulihā) erstochen wurde, nicht min
farǧihā.47
Anschließend stellt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb dar, wie Muḥammad im
vierten Jahr nach der Offenbarung schließlich mit seiner daʿwa hervortrat, wo-
raus der offene Streit mit den mušrikūn resultierte. Saʿd b. Abī Waqqāṣ schlug
dabei einen von ihnen derart heftig auf den Kopf, dass erstmals Blut für den
Islam floss.48 Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb schildert, wie die mušrikūn
Muḥammad wegen seiner Gemeinschaft mit den Erniedrigten (mustaḍʿafūn)
verspotteten. Die Bedrängnis habe Muḥammad veranlasst, einige seiner An-
hänger in Äthiopien Schutz suchen zu lassen.49 In diesem Kontext bekräftigt
Muḥammad b ʿAbd al-Wahhāb erneut die Historizität der „Kranich­geschichte“.
Er schreibt jedoch explizit, dass die Aufforderung zur Anrufung der drei Göt-
tinnen Worte zwar vom Satan bewirkt wurde, jedoch aus Muḥammads Mund
kam (alqā ʿalā lisānihi). Während sich die heidnischen Mekkaner mit ihm ver-
neigten, nachdem er diese Verse gesprochen hatte, führte der Wider­ruf durch
Vers 22:50–52 dazu, dass die Quraiš ihre Oppo­sition gegen Muḥammad ver-
schärften.50 Es folgen Darstellungen der Konversion ʿUmars, der Unterstüt-
zung durch Abū Ṭālib, des Boykotts durch die Quraiš, des Todes von Ḫadīǧa

46 MSR S. 58f.
47 MSR S. 59f.; Ibn Saʿd: Tabaqāt, Bd. VIII: Biographien der Frauen, Hg. Carl Brockelmann,
Leiden: 1904, S. 193, Z. 10ff., wörtlich übernommen: Ibn al-Ǧauzī: Muntaẓam, Bd. II S. 384,
die Emendation des Herausgebers fī qalbihā ist daher falsch; Ibn Hišam (Sīra, Bd. I S. 342
Z. 2–5) erwähnt nur, dass sie getötet wurde, at-Ṭabarī erwähnt sie gar nicht.
48 MSR S. 60; Ibn al-Ǧauzī: Muntaẓam, Bd. II S. 367, jener nennt aṭ-Ṭabarī: Tāʾriḫ (S. 1169f.) als
Quelle.
49 MSR S. 62–68
50 MSR S. 63; der Wortlaut folgt Ibn Saʿd: Ṭabaqāt, Bd. I,1 S. 137, Z. 8–13; sinngemäß stimmt er
mit dem „Standard­bericht“ von aṭ-Ṭabarī überein, auf den die meisten westlichen Darstel-
lungen Bezug nehmen. Dort werden die Begleitumstände etwas ausführlicher dargestellt.

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16 Riexinger

und der nach der Konsultation der jüdischen Gelehrten erfolgten Befragung
zum rūḥ und den Sieben­schläfern mit der Herabsendung der einschlägigen
Verse.51
Mit der Spaltung des Mondes, die zu sehen war, nachdem Walīd b. Muġīra
Muḥammad zum Zauberer und Dichter erklärt hat, erwähnt Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb sehr knapp das zentrale Beglaubi­gungswunder (muʿǧiza), das
Gott Muḥammad zuteilwerden ließ.52 Daran fügt er eine längere Erörterung
der Prophetenwunder an, die hier gesondert behandelt wird.53
Knapp präsentiert Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb die nächtliche Reise
(isrāʾ) nach Jerusalem (al-bait al-muqaddas) und die Himmelsreise (miʿrāǧ). Er
rafft die an sich bereits knappe Darstellung von Ibn Qayyim al-Ǧauzīya, der
sich auf folgende Elemente konzentriert:

1. Den nächtlichen Ritt (isrāʾ) nach Jerusalem auf dem Reittier Burāq,
2. die Leitung des Gebets der Propheten durch Muḥammad,
3. die Begegnung mit den vorausgegangenen Propheten,
4. den Anblick der Seligen im Paradies und der Verdammten in der Hölle,
ohne detaillierte Beschreibung,
5. den Neid Mosis darauf, dass weniger Angehörige seiner umma ins
Paradies eingehen werden als Angehörige der umma Muḥammads,
6. den Anblick des bait al-maʿmūr und des sidrat al-muntahā sowie
7. die von Muḥammad erwirkte Reduktion der Zahl der täglichen Gebete
von fünfzig auf fünf.

Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb streicht die stereotypen Schilderungen, wie die


Propheten einander begrüßen und wie die anderen Muḥammads Propheten-
tum bestätigen, aber bemerkenswerterweise nicht die Reduktion der Gebete.
Die Darstellung der selbst durch dieses Wunder nicht gebrochenen Verstockt-
heit der Mekkaner übernimmt er weitgehend von Ibn Qayyim al-Ǧauzīya.54 Im
Vergleich mit der ausführlichen und ausgeschmückten Darstellung des miʿrāǧ
in der sīra des Ibn Isḥāq55 und erst recht in späteren der Muḥammadverehrung

51 MSR S. 67–76; Ibn Hišām: Sīra, Bd. I S. 321 Z. 13–S. 322 Z. 7. Er ordnet dieses Ereignis aller-
dings vor der Flucht nach Äthiopien ein; bei Ibn al-Ǧauzī (Wafāʾ, S. 58) weisen die Juden
die Mekkaner an, nach einem Prophetenmal zwischen Muḥammads Schultern zu suchen.
Dieses allerdings auch bei Ibn Hišām nicht vorhandene Element fehlt bei Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb.
52 MSR S. 77.
53 MSR S. 77–82.
54 MSR S. 83f.; Ibn Qayyim al-Ǧauzīya: Zād, Bd. II S. 47f., besonders auch S. 48, Z. 10ff.
55 Ibn Hišām: Sīra, Bd. I. S. 403–408.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 17

gewidmeten Werken,56 oder den gerne öffentlich rezitieren Dichtungen über


den miʿrāǧ,57 erweckt die Behandlung dieser Episode durch Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb eher den Eindruck einer Pflichtübung.
An die Darstellung der Himmelsreise schließen die Berichte über die Bünd-
nisse mit den Stämmen von Yaṯrib, die Muḥammad schließlich die hiǧra
ermöglichten, wobei Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb im Wesentlichen Ibn
Hišām folgt. Hervorgehoben wird, dass durch den Islam die 120-jährige Fehde
­zwischen den Ḫazraǧ und den Aus beendet wurde, und dass Muḥammad ver-
kündet habe, dass sein Vertrag mit ihnen mehr Gewicht besitze als seine Bluts-
bande. Der Rückgriff auf das Handeln des Propheten soll wohl nicht zuletzt die
antitribalistische Politik der Āl Suʿūd legitimieren.58
Während die Darstellung der Pläne der Mekkaner, Muḥammad zu töten,
und die Ent­schei­dung Muḥammads zur hiǧra frei von erwähnenswerten Ele-
mente sind, bleibt festzuhalten, dass im Zusammenhang mit der Flucht nach
Yaṯrīb von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb zum dritten und vierten Mal ein
Wunder erwähnt wird. Er übernimmt den bei Ibn Hišām und Ibn Saʿd überlie-
ferten und Ibn al-Ǧauzī zitierten Bericht, wie Muḥammad die Beduinin Umm
Maʿbad fragt, ob sie ihm Proviant verkaufen könne, woraufhin sie auf ihre
durch Futtermangel ausgemergelten Schafe verweist. Nachdem Muḥammad
den schlaffen Euter einer Aue streichelt, gibt diese wieder reichlich Milch.
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb referiert auch, wie sie ihrem Mann daraufhin
den Unbekannten in höchsten Tönen ob der Schönheit seines Gesichts und
seines Körpers und ob seiner eleganten Art zu sprechen lobte. Eigenschaften,
die Muḥammad über das normal Menschliche erheben würden, schrieb sie
ihm jedoch nicht zu. Ihr Mann erkennt den „Herrn der Quraiš“ und bekundet

56 Gerade die Aushandlung der Gebetszeiten schildert Ibn al-Ǧauzī vergleichsweise aus-
führlich (Wafāʾ, S. 218–224; Muntaẓam, Bd. III S. 25–32). Er behandelt außerdem, die von
den meisten Autoren in die Kindheit eingeordnete und von Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb übergangene Reinigung des Herzens im Zusammenhang mit der Himmels-
reise; v.a. Aḥmad b. Muḥammad al-Qasṭallānī: al-Mawāhib al-ladunīya bi-l-minaḥ
al-muḥammadīya, Bairūt: 1996 (3 Bdd.), Bd. II S. 339–398; zur Bedeutung der einzelnen
Elemente: Brooke Olson Vuckovic: Heavenly Journeys, Earthly Concerns: The Legacy of the
miʿraj in the Formation of Islam, New York & London: 2005, S. 47–72.
57 Marco Schöller: „Biographical Essentialism in the Life of Muhammad in Islam“ in:
Andreas Schüle (Hg.): Biographie als religiöser und kultureller Text, Münster: 2002, S. 153–
172, dort S. 167.
58 MSR S. 84–91, bes. S. 85, 88.

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18 Riexinger

seinen Willen, sich ihm anzuschließen. In Mekka wurde daraufhin ein Gedicht
gehört, dessen Rezitator nicht zu sehen war.59
Knapp geschildert werden die Übersiedlung nach Yaṯrib, der Bau der Mo-
schee unter tätiger Mithilfe Muḥammads, die Heirat mit ʿĀʾiša, wobei hervor-
gehoben wird, dass sie unter Missachtung der Konventionen der ǧāhilīya im
Monat Šawwāl stattfand, und die Ver­brü­de­rung (muʾāḫāt) der muhāǧirūn und
anṣār, durch welche die Überordnung der neu gestifteten Gemeinschaft über
die Blutsbande allgemein bekräftigt wurde.60

Die medinensische Phase


Ab der medinensischen Phase geht Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb zur anna-
listischen Darstellungsweise über. Am Ende des jeweiligen Abschnitts werden
die im betreffenden Jahr gestorbenen Prophetengefährten aufgelistet. Diese
Formalie verrät die Orientierung an der Weltchronik al-Muntaẓam des Ibn
al-Ǧauzī. Die Darstellung der medinensischen Periode konzentriert sich auf
die Feldzüge und zentrale Elemente der Offenbarung, wie die Verlegung der
Gebets­richtung,61 den Auftrag, zunächst die medinensischen Juden (Koran 2:
190) und dann alle mušrikūn zu bekämpfen (9:37),62 und am ausführlichsten
die Verleumdung ʿĀʾišas wegen des vermeintlichen Liebeständels mit Ṣafwān
b. al-Muʿaṭṭal. („Halsbandaffäre“, ḥadīṯ al-ifk).63 Andere Ereignisse werden
stich­wortartig abgehakt64 oder überhaupt nicht erwähnt, wie etwa weitere
Eheschließungen Muḥammads.
Ein kurzer Einschub ist Muḥammads Eigen­schaften (ḫaṣāʾiṣ) gewidmet.
Unter dieser Rubrik werden in Pro­phe­ten­bio­gra­phien Berichte über das Ver-
halten Muḥammads im Alltag, aber auch sein Hausstand und sein Aussehen
behandelt. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb schränkt den Katalog jedoch weit-
gehend auf mit Feldzügen zusam­men­hängende Aspekte ein, wie etwa seine
Tapferkeit in der Schlacht, seine strategische Weitsicht, seine Ausrüstung, die

59 MSR S. 94f.; Ibn Saʿd: Ṭabaqāt, Bd. I,1 S. 155, Z. 10 – S. 157 Z. 4; Ibn al-Ǧauzī: Muntaẓam, Bd.
II S. 57–60.
60 MSR S. 98ff.
61 MSR S. 102.
62 MSR S. 103f.; ähnlich S. 107 (2:193; 6:23; 9:49; 85:10).
63 MSR S. 121ff.; zur Überlieferungsgeschichte dieser Affäre ausführlich Gregor Schoeler: Cha-
rakter und Authentie der muslimischen Überlieferung über das Leben Mohammeds, Berlin
& New York, 1996, S. 119–170.
64 MSR S. 102: „in diesem (dem dritten) Jahr: Wurde das Fasten im Ramaḍān für verpflichtend
erklärt, und das Fasten während der ʿĀšūrāʾ abrogiert, aber für weiterhin wohlgefällig
befunden. In diesem Jahr verheiratete der Gesandte Gottes ʿAlī mit Fāṭima.“

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 19

Tatsache, dass er sich mit seinen Gefährten zu beraten pflegte, aber auch, dass
er anordnete, Kinder und Frauen zu verschonen.65
Nach der Auflistung der ersten Überfälle auf die Quraiš erzählt Muḥammad
b. ʿAbd al-Wahhāb, wie ʿAmr b. al-Ḥaḍramī als erster Gegner des Islams von
Muslimen getötet wird.66 Breiten Raum nimmt die aus dem Rachefeldzug der
Mekkaner resultierende Schlacht von Badr ein. Die Darstellung folgt den Kon-
ventionen der Schlachtberichterstattung, kurz wird zum fünften und letzten
Mal ein direkt mit Muḥammad in Zusammenhang stehendes Wunder er-
wähnt: „Der Gesandte Gottes nahm eine Handvoll Staub und schleuderte sie in
die Gesichter der Heerschar, und jeder von ihnen bekam etwas in die Augen.“67
Die Niederlage in der nicht weniger ausführlich geschilderten Schlacht von
Uḥud schreibt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb dem Eingreifen Satans zu. Die-
ser habe gerufen, der Gesandte Gottes sei gefallen, woraufhin viele der musli-
mischen Kämpfer resigniert hätten. Einige hätten trotzdem nicht verzagt und
seien den Gegnern noch mutiger entgegengetreten.68
Nach Berichten über die ġazawāt al-aḥzāb gegen die mit den Mekkanern
verbün­deten Juden der Banū Quraiẓa69 referiert Muḥammad b. ʿAbd al-
Wahhāb die Ḥudaibīya-Episode, in der Muḥammad sich durch einen Vertrags-
schluss Zugang zum Heiligtum in Mekka verschaffte. Diesen Vertrag ließ er
jedoch zum Befremden seiner Anhänger nicht mit Muḥammad rasūl Allāh,
sondern mit Muḥammad b. ʿAbdallāh unterzeichnen.70 Nicht sehr detailliert
und ohne didaktisches Beiwerk werden der Sieg über die Juden in Ḫaibar, die
Belagerung der Juden in Wādī Qurā und der Feldzug gegen Muʾta erzählt.71
Die Darstellung der Eroberung von Mekka kulminiert darin, dass Muḥam­
mad seine Abscheu über die Figuren in der Kaʿba bekundet, die Ibrāhīm und
Ismāʿīl beim Werfen von Orakelpfeilen zeigen („Wahrlich, Gott hätte sie be-
kämpft, hätten sie so etwas getan“), wie er anordnet, das Götzenbild zu zerstö-

65 MSR S. 104f.; Rubin: The Eye of the Beholder: The Life of Muhammad As Viewed by the Early
Muslims: A Textual Analysis, Princeton: 1995, S. 5–10; Marco Schöller: Exegetisches Denken
und Prophetenbiographie, Wiesbaden: 1998 (Diskurse der Arabistik; 3) S. 65f.; Nagel: Allahs
Liebling, S. 204, 263f., 276–288, 297ff., 305f.; in seinem Muḫtaṣar Zād al-maʿād (S. 94–100,
127–180) räumt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb ebenfalls militärischen Aspekten den
­Vorrang ein. Daneben übernimmt er dort die Ausführungen zum Ritual und einigen all-
täglichen Handlungen, zum Beispiel empfehlenswerte Speisen und die Etikette beim
Essen und Trinken: ebd.: S. 79f., 196ff.
66 MSR S. 106f.
67 MSR S. 108–113, Zitat S. 112.
68 MSR S. 115–120, das Eingreifen Satans: S. 118.
69 MSR S. 123–127.
70 MSR S. 127–131.
71 MSR S. 133–140.

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20 Riexinger

ren und wie er das Gebäude anschließend unter Anrufung Gottes betritt, bevor
es durch einen Gebetsruf Bilāls in eine Moschee umgewandelt wird.72 Hierauf
erzählt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb, wie ʿAmr b. al-ʿĀṣ und Saʿd b. Zaid aus-
gesandt wurden, um die Götzen von Sawāʿ beziehungsweise die Statue von
Manāt zu zerstören. Dabei erschlägt er die nackte schwarze Sklavin, die das
Kultbild verteidigt.73
Nach dem detaillierten Bericht über die Schlacht von Ḥunain gegen die
Banū Hawāzin folgt die Schilderung von deren Delegation, die um die Freilas-
sung der Gefangenen und die Rücker­stattung ihres Besitzes bittet. Ihrem Be-
gehren wird schließlich Folge geleistet, als sie den Islam annehmen, und dies
durch die Teilnahme am Gebet unterstreichen.74 Da die Banū Hawāzin jedoch
bald wieder vom Islam abließen, mussten die Muslime erstmals „die Bitterkeit
der Niederlage schmecken.“75
In der anschließenden Darstellung des Feldzuges gegen aṭ-Ṭāʾif treten
­didaktische und legitimatorische Aspekte wieder besonders deutlich zutage.
So wird explizit erwähnt, dass die Rebstöcke der Stadt abgehackt wurden.
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb hebt zudem hervor, dass bei dieser Belagerung
erstmals in der Geschichte des Islams ein Katapult eingesetzt wurde. Der Be-
richt endet mit dem durch hohe Verluste motivierten Abzug der Muslime nach
der erfolglosen Belagerung.76 Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb fährt mit einem
Referat der kurz darauf folgenden Verhandlungen mit den Ṯaqīf in aṭ-Ṭāʾif fort,
die beschlossen hatten, sich zu unterwerfen, da sie keine Chance sahen, den
Muslimen langfristig zu widerstehen. Diese Episode ist deswegen von Be­
deutung, weil die Ṯaqīf zunächst eine dreijährige Schonfrist einforderten, wäh-
rend welcher der al-Lāt-Kult gestattet bleiben sollte.77 Den Umstand, dass
Muḥammad dem Abkommen nicht zustimmte und den gerade erst konver-
tierten Abū Sufyān lossandte, um die Statue zu zerstören, verwendet Muḥam­
mad b. ʿAbd al-Wahhāb als Aufhänger für den Exkurs „Der juristische Gehalt
des Feldzugs von aṭ-Ṭāʾif“:78

Dazu gehört: Dass es erlaubt ist, während der heiligen Monate Krieg zu
führen, und die Aufhebung des Verbots desselben.

72 MSR S. 140–148, bes. S. 146f.


73 MSR S. 149.
74 MSR S. 149–154.
75 MSR S. 155f.
76 MSR S. 156f.; zur strittigen Frage, ob der Einsatz von Katapulten im ǧihād zulässig sei:
David Cook: Understanding Jihad, Berkeley CA: 2005, S. 55f.
77 MSR S. 157f.
78 MSR S. 158f.; ähnlich: 2. Sendschreiben an ʿAbdallāh b. Suḥaim, TN S. 284f.

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 Dazu gehört: Dass es nicht erlaubt ist, Stätten der Götzen und der
Beigesellung (mawāḍiʿ aṭ-ṭawāġīt wa-š-širk) auch nur einen Tag zu dul-
den, wenn man sie in seine Gewalt gebracht hat, denn sie sind Kenn­
zeichen (šaʿāʾir) des Unglaubens und das Abscheulichste, das es gibt.
Dieses Urteil gilt für die Anlagen, die über Gräbern errichtet und zu Göt-
zen erklärt wurden, die unter Missachtung Gottes angebetet werden,
ebenso für die Steine, die verehrt werden, die um Segen angegangen
werden und denen Votivgaben dargebracht werden. Viele von ihnen sind
Stätten des Kultes von al-Lāt und al-ʿUzzā. Die schlimmste Form der
Beigesellung besteht darin, sie dort zu verehren.
 Niemand von denen, die diesen Götzendienst beaufsichtigten (arbāb
hāḏihi ṭ-ṭawāġīt), glaubte, dass jene erschaffen, ernähren, über Leben
und Tod bestim­men, trotzdem betrieben sie bei ihnen, was ihre Brüder
unter den heutigen Beigesellern bei ihren Götzen betreiben. Jene folgten
den Gebräuchen (sunan) derer, die vor ihnen waren. Und die Beigesell-
ung ergriff die Herrschaft über die meisten Seelen, weil die Unwissenheit
aufgekommen und das Wissen verloren gegangen waren, und die unhin-
terfragte Befolgung von Autoritäten (at-taqālīd) sich durchgesetzt hatte.
Gebotenes wurde zu Verwerflichem und umgekehrt, aus sunna wurde
Neuerung und umgekehrt. Das Kleine wuchs heran und das Große wurde
altersschwach. Die Kennzeichen (der Religion) wurde ausgelöscht (ṭumi­
sat il-aʿlām)79 und die Fremdheit des Islam nahm zu.
 Aber nie wird eine Schar der mit Muḥammad im Bunde stehenden
(ṭāʾifa min al-ʿiṣāba al-muḥammadīya)80 aufhören, für Recht und Wah-
rheit aufzustehen, und ǧihād gegen die Beigeseller und Neuerer führen,
bis wir die Erde erben, und wer dann auf ihr lebt, der gehört zu den
besten Erben (Koran 19:40).
 Dazu gehört: Dass der Imam die Besitztümer, welche die Verehrer die-
ser Stätten (mašāhid) jenen zuführen, ausgibt.81 Er muss sie für den ǧihād
und die Bedürfnisse (maṣāliḥ) der Muslime verwenden. Desgleichen
müssen die zugehörigen Stiftungen für die Bedürfnisse der Muslime ver-
wendet werden.

Es folgen die Berichte über die Konversionen des Christen ʿUdayy Abī Ḥātam
b. Hāšim und des Dichters Kaʿb b. Zuhair, die zunächst beide entschiedene

79 In der benutzten Ausgabe ist aʿlām vokalisiert.


80 Auch hier tritt wieder die religiös begründete Loyalität an die Stelle der Blutsbande.
81 Mit mašāhid wird wahrscheinlich auf das zur Zeit Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs in
Naǧd verehrte Grab des Prophetengefährten Zaid b. al-Ḫaṭṭāb angespielt.

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22 Riexinger

Gegner Muḥammads gewesen waren.82 Den Feldzug von Tabūk stellt Mu­
ḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb in enger Anlehnung an die Schilderung von Ibn
Isḥāq dar. Diese Kampagne ist nicht allein deswegen von Bedeutung, weil
es sich bei ihr um den ersten Vorstoß in den Nordwesten der arabischen
Halbinsel handelt. Viel­mehr dienen die Berichte über dieses Ereignis zur Ver-
mittlung der Notwendigkeit, zum ǧihād auszuziehen. Da dieser Feldzug im
Sommer stattfinden sollte, verweigerten einige wegen der Hitze und der anste-
henden Dattelernte die Teilnahme, woraufhin Koran 9:81 herab­ge­sandt wur-
de.83 Hiernach referiert Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb zum Teil ausführlich
über die Gesandt­schaf­ten der Stämme, die zu Muḥammad reisten, um sich zu
unterwerfen. Er hebt hervor, dass sich unter der Gesandten der Banū Ḥanīfa
der (in der Darstellung von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb) später als „Pseudo-
prophet“ hervortretende Musailima befand, den Muḥammad aber bereits bei
dieser Gelegenheit entlarvt habe.84
Mit der etwas gerafften Übernahme der Berichte über die letzte Wallfahrt,
Krankheit und Tod Muḥammads sowie der Klärung der Nachfolge zugunsten
Abū Bakrs auf der Veranda (saqīfa) schließt die eigentliche Prophetenbiogra-
phie. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb übernimmt hierzu den Bericht von Ibn
Hišām.85

Die Fortsetzung des Kampfes zwischen Islam und širk

Bei der Schilderung der Akklamation Abū Bakrs lässt Muḥammad b. ʿAbd al-
Wahhāb zunächst ʿUmar die Bedeutung des Korans für die Rechtleitung beto-
nen, bevor dieser dazu auffordert, Abū Bakr zu huldigen. Abū Bakr hingegen
hebt den meritokratischen Charakter des Kalifats hervor:

Mir wurde die Herrschaft über euch anvertraut (innī qad wullītu ʿalaikum).
Aber ich bin nicht besser als Ihr. Handle ich gut, dann helft mir, handle
ich schlecht, so weist mich zurecht. […] Gehorcht mir, wenn ich Gott und
seinem Gesandten gehorche, und wenn ich beiden zuwider handle, dann
besteht für Euch mir gegenüber keine Gehorsamspflicht.

82 MSR S. 159–163.
83 MSR S. 164–169: „und sie sagen: ‚Rückt doch nicht in der Hitze aus!‘ Sag: ‚Das Feuer der
Hölle ist heißer.‘“
84 MSR S. 170–174.
85 MSR S. 174–182.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 23

All das unterstreicht Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb dadurch, dass er Pro­


pheten­über­lie­fe­rungen, in denen Abū Bakrs Sorge und Fähigkeit, die Gemein-
schaft der Muslime zusammenzuhalten, betont wird, als ausschlaggebend
für seine Wahl anführt.86 Diese Auffassung reflektiert Ibn Taimīyas auf die
Zeit nach dem Ende des Kalifat bezogene Herrschaftstheorie, wonach die
Rechtfertigung der Herrschaft des Sultans aus der Fähigkeit erwächst, die
­Umsetzung der göttlichen Normen und die Ausbreitung des Islams zu garan-
tieren.87 Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb übergeht so jedoch die gängige sunni-
tische, auch von Ibn Taimīya vertretene Auffassung, wonach Abū Bakrs Kalifat
primär durch die Designation durch Muḥammad legitimiert war.88
Als die zentrale Bewährungsprobe für die Gemeinschaft der Muslime stellt
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb die ridda dar, also die bereits im Vorwort ab­
gehandelte Unbotmäßigkeit einer Reihe von Stämmen nach dem Tode Mu­
ḥammads. In der verwendeten Ausgabe umfasst die Schilderung der auf ein
Jahr beschränkten Ereignisse 30 von 229 Seiten, ihnen wird also mehr Auf-
merksamkeit geschenkt als jedem Ereignis zu Lebzeiten Muḥammads. Mu­
ḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb listet zunächst die unter­schied­lichen Formen der
ridda auf und hebt erneut hervor, dass es geboten sei, die Abtrünnigen zu be-
kämpfen, bis sie beide Teile des Glaubens­be­kenntnisses sprechen, das Gebet
verrichten und zakāt abführen. Er berichtet jedoch auch, dass sich Abū Bakr
mit Beschwichtigern kon­frontiert gesehen habe, die ihn drängten, Milde wal-
ten zu lassen, bis sich die Sache von selbst lege. Er habe jedoch insistiert, dass
es weiterhin gelte, ǧihād zu führen wie zur Zeit des Gesandten üblich.89 Die
persönliche Teilnahme am Feldzug redete ihm aber ʿUmar aus, indem er erläu-
terte, dass ein Feldherr nicht selbst in die Schlacht ziehen müsse: „Wenn du
getötet würdest, dann würden die Leute abfallen, und das Falsche würde das
Wahre übertreffen.“90
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb nennt al-Wāqidī als Quelle für seine Darstel-
lung der Ereignisse, dessen Kitāb ar-Ridda dürfte jedoch zu seinen Lebzeiten
bereits verloren gewesen sein. Allerdings hatte der andalusische Autor Ibn

86 MSR S. 182f.
87 MF Bd. XXXV S. 400; Nagel: Staat, Bd. II S. 128.
88 Henri Laoust: Essai sur les doctrines sociales et politiques de Taḳī-d-dīn Aḥmad b. Taimīya,
Le Caire: 1939 (Recherches d’archéologie, de philologie et dʼhistoire; 10) S. 208.
89 MSR S. 184ff. Die unterschiedlichen Formen der ridda sind folgende Behauptungen:
Muḥammad sei nicht gestorben, er sei kein Prophet gewesen, sein Prophetentum sei mit
seinem Tod hinfällig geworden, sowie die Auffassungen man glaube an Gott, aber nicht
den Propheten, Muḥammad sei zwar ein Prophet, man sei ihm gegenüber jedoch zu kei-
nen materiellen Leistungen verpflichtet.
90 MSR S. 187.

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24 Riexinger

Ḥubaiš dieses Werk noch für sein Kitāb al-Ġazawāt nutzen können. Die Anord-
nung der Feldzüge im Muḫtaṣar entspricht der bei Ibn Ḥubaiš, doch ist un-
wahrscheinlich, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb die Ġazawāt gekannt
hat. Der Sachverhalt, dass sich die verbliebenen drei Handschriften allesamt in
Europa befinden legt nicht eben nahe, dass das je über den islamischen Wes­
ten hinaus bekannt wurde. Gänzlich anders verhält es sich jedoch mit dem
sein Geschichtswerk al-Iktifāʾ fī maġāzī rasūl Allāh wa-ṯalāṯat al-ḫulafāʾ von al-
Kalāʿī, bei dessen ridda-Kapitel es sich um gekürzte Versionen derer von Ibn
Ḥubaiš handelt. Die Existenz von Handschriften des Werks von al-Kalāʿī ist zu-
dem für den Osten der arabischen Welt, darunter zwei Orte, an denen
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb gelebt hat (Mekka und Basra), nachgewiesen.91
Zudem stimmen die Kürzungen überein und dort findet sich ein Gedicht, das
bei Ibn Ḥubaiš fehlt, Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb hingegen auch aufführt.
Es fällt zudem auf, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb die Versuche Musaili-
mas, Wunder zu wirken, wie Ibn Ḥubaiš und al-Kalāʿī im Kontext der ridda
abhandelt, und nicht wie üblich bereits bei der Darstellung des Lebens
Muḥammads.92

91 Zur Benutzung von Material al-Wāqidīs durch Ibn Ḥubaiš und seiner Weiterverwendung
durch al-Kalāʿī und ad-Diyābakrī: Ella Landau-Tasseron: „On the Reconstruction of Lost
Sources“ al-Qantara 25 (2004) S. 45–91; die Bedeutung von Ibn Ḥubaiš als Überlieferer von
Material al-Wāqidīs Material zur ridda hatte bereits Caetani erkannt, der ihn in seinen
Annali (II,1) ausgiebig zitiert; zu Ibn Ḥubaiš auch: D.M. Dunlop s.v. „Ibn Ḥubaysh“ EI² Bd.
III S. 803f., ders. „The Spanish Historian Ibn Ḥubaish” JRAS (1941) S. 359–362; GAL G I S. 344;
zu al-Kalāʿī: Charles Pellat s.v. „al-Kalāʿī, Abu ʼl-Rabīʿ Sulaymān b. Mūsā b. Sālim al-Ḥimyarī
al-Balansī, often known as Ibn Sālim al-Kalāʿī“ EI2 Bd. IV S. 468; GAL S I S. 634; nur die
Prophetenbiographie findet sich hingegen in der älteren Ausgabe: al-Iktifāʾ fī maġāzī rasūl
Allāh wa-ṯalāṯat al-ḫulafāʾ, Hg. Muṣṭafā ʿAbdalwāḥid, al-Qāhira: 1387/1968. Die Hand-
schrift, die den beiden Ausgaben hauptsächlich zugrunde liegt (Dār al-Kutub al-Miṣrīya
2074) wurde 862 a.h. in Mekka abgeschlossen (ʿAbdalwāḥid Bd. I S. sīn f., ʿIzzaddīn ʿAlī, S.
rā f.). Zur Handschrift in Basra: ʿAlī Ḫaqānī: Maḫṭūṭāt al-Maktaba al-ʿAbbāsīya fī l-Baṣra,
Baġdād: 1962, Bd. I, S. 255f. (für diesen Hinweis danke ich Maribel Fierro, die mir ihre
Einträge zu Ibn Hubaiš und al-Kalāʿī aus ihrer privaten Datenbank zur Verfügung gestellt
hat); des Weiteren hat der in Mekka wirkende Historiker ad-Diyārbakrī aus dem 16. Jh. bei
der Abfassung seiner Weltchronik Material von al-Kalāʿī verwendet. Zu ihm: Franz
Rosenthal s.v. „al-Diyārbakrī, Ḥusayn b. Muḥammad b. al-Ḥasan“ EI2 Bd. II S. 349, GAL GII
S. 381, S II S. 514.
92 MSR S. 175; Ibn Ḥubaiš: Ġazawāt, Hg. Suhai Zakkār, Bairūt: 1412/1992, Bd. I S. 51–60,
al-Kalāʿī: al-Iktifāʾ fī maġāzī rasūl Allāh wa-ṯalāṯat al-ḫulafāʾ, Hg. Muḥammad Kamāl
ad-Dīn ʿIzz ad-Dīn ʿAlī, Bairūt 1417/1997, Bd. III S. 38–47, eingeleitet wird die Erzählung bei
allen dreien mit einem Bericht von Rafīʿ b. Ḥudaiǧ, wobei Ibn Ḥubaiš, nicht jedoch
al-Kalāʿī und Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb al-Wāqidī als Überlieferer angibt,

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 25

Die Attraktivität dieser Vorlage für Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb ist daraus
zu erklären, dass sie bereits einem ganz ähnlichen propagandistischen Zweck
gedient hat. Die Werke von Ibn Ḥubaiš und al-Kalāʿī waren im Auftrag der
­Almohaden entstanden und sollten ähnlich dem Muḫtaṣar den Kampfgeist
fördern93 und mehr noch jene Praxis legitimieren, die Wahhābiten und Almo­
haden gemeinsam ist: die Erklärung innerislamischer Gegner zu Apostaten,
gegen die es ǧihād zu führen gilt, wobei sie getötet und ihr Besitz beschlag-
nahmt werden dürfen.94 Dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb die almoha­di­
sche Deutung der ridda übernommen hat, ist umso bemerkenswerter, als
selbst der nicht eben als zimperlich bekannte Ibn Taimīya voll Grauen den
­Radikalismus Ibn Tūmarts und seiner Anhänger verdammte.95
Die Präsentation der ridda von Ibn Ḥubaiš zeichnet sich dadurch aus, dass
bei der ausführlichen Schil­derung der Kämpfe gegen die Abtrünnigen die Ge-
walt, mit der die Muslime vor­gingen, hervorgehoben und gelobt wird. So wird
ausführlich berichtet, wie Ḫālid b. Walīd zum Abschluss des Feldzugs gegen
den Pseudo-Propheten Ṭulaiḥa in Buzāḫa befahl, die Gefangenen in Einfrie­
dungen zusammenzupferchen, in denen er die Gefangenen bei lebendigem
Leibe verbrennen ließ.96 Ibn ʿUmar berichtet ebenfalls, dass nach jedem Sieg
über einen abtrünnigen Stamm dessen Sprösslinge (ḏarārī) gefangen genom-
men und ihre Besitztümer verteilt wurden.97 Die gleiche Methode fand beim
Feldzug gegen die Banū Sulaim Anwendung.98 Die Opferzahlen werden eben-
so wenig verhehlt wie die Tatsache, dass von mancher Sippe niemand über-
lebte.99 Gerechtfertigt erscheint diese Grausamkeit weil sie Früchte trug: In
einem Brief schildert der Überlieferer Fazārī, wie Ḫālid mit den Gefangenen

Muḥam­mad b. ʿAbd al-Wahhāb. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb überspringt dann zwei


Berichte, die sich bei beiden finden, und fährt mit einer kurzen Passage, über den Abfall
seines Stammes, die sich nur bei al-Kalāʿī, nicht jedoch bei Ibn Ḥubaiš findet, fort. Alle
drei führen ein gegen Musailima polemisierendes Gedicht von Ibn ʿUmair al-Yaškurī an.
Das Schmähgedicht von Ṯumāma b. Ašras, das bei al-Kalāʿī das Kapitel abschließt, bringt
Ibn Ḥubaiš bereits weiter vorne (S. 54).
93 Landau-Tasseron: Reconstruction, S. 67f., Robinson: Historiography, S. 122.
94 Ibn Tūmart: Kitāb aʿazz, S. 261–266; Dominique Urvoy: « La pensée d’ Ibn Tūmart » BEO 27
(1974) S. 19–44, dort S. 32f.
95 Henri Laoust: « Une fetwâ d’Ibn Taimīya sur Ibn Tūmart » BIFAO 59 (1960) S. 157–184, dort
S. 163 Z. 11.
96 Ibn Ḥubaiš : Bd. I S. 39; al-Kalāʿī: Bd. III S. 29.
97 MSR S. 192; Ibn Ḥubaiš: Ġazawāt, Bd. I S. XX, al-Kalāʿī: Bd. III S. XX.
98 MSR S. 206–209; Ibn Ḥubaiš : Ġazawāt, Bd. I S. 105–112, al-Kalāʿī: Bd. III S. 79–84.
99 MSR S. 206 (7000 von Musailimas Banū Ḥanīfa), S. 211: Feldzug in Baḥrain: „fa-nazalū ilai-
him. fa-bayyatūhum fa-qatalūhum. fa-lam yaflit aḥad.“

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26 Riexinger

verfuhr. Als die Banū Ḥanīfa daraufhin erfuhren, dass Ḫālid auf dem Weg zu
ihnen war, schickten sie eine Gesandtschaft, um über die Rückkehr in den Is-
lam zu verhandeln.100 Die positive Bewertung Ḫālid b. al-Walīds ist bemer-
kenswert, da dieser in der Geschichtsschreibung wegen seines eigenmächtigen
Handelns eher negativ beurteilt wird.101
Während Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb die Auffassungen und Verfeh-
lungen der meisten abtrünnigen Stämme nur knapp benennt, widmet er dem
Treiben des „Pseu­dopropheten“ (kaḏḏāb) Musai­lima, der schon zu Lebzeiten
Muḥammads die Hälfte am Prophetentum und Herrschaft beansprucht haben
soll, wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Er hebt hervor, wie Musailima eigen-
mächtig segnet und Wunder verspricht, dass die göttliche Strafe für diesen Fre-
vel aber auf dem Fuße folgt.102
Allerdings hat Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb al-Kalāʿīs ridda Bericht nicht
in Gänze übernommen. Er beendet dieses Kapitel mit dem Feldzug gegen
Dubā und die Azd ʿUmān, während er die von Ibn Ḥubaiš und al-Kalāʿī an-
schließend geschilderte Niederschlagung der ridda in Ṣanʿāʾ und Hadramaut
überspringt. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb leitet stattdessen direkt zum Feld-
zug Ḫālid b. Walīds gegen den Irak über.103
Die meisten Ereignisse der nächsten Jahre werden nur kurz aufgelistet,
manches Jahr bleibt ohne Eintrag. Die ersten Feldzüge gegen Perser und By-
zantiner streift Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb nur: die Expansion nach außen
ist offenkundig weniger wichtig als der Sieg über die Apostaten.104 Die Über-
nahme des Kalifats durch ʿUmar führt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb auf die
Designation durch Abū Bakr zurück, der seine Entschei­dung jedoch mit des-
sen Fähigkeiten begründete.105 Nach der Auflistung der Eroberungen in Syrien,

100 MSR S. 193, 198ff.


101 Patricia Crone s.v. „Khālid b. al-Walīd b. al-Mughīra al-Makhzūmī“ EI2 Bd. IV S. 928.
102 MSR S. 196–198; hier mag mit hineinspielen, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Gegner
Ibn ʿAfālīq und Sulaimān b. ʿAbd al-Wahhāb Naǧd mit ridda und fitna identifizierten.
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb wird zwar nicht mit Musailima gleichgesetzt, doch soll
auf assoziativem Wege sein Anspruch untergraben werden: Peskes: Muḥammad b.
ʿAbdalwahhāb, S. 113f.
103 Zwar hat ad-Diyārbakrī ebenfalls den Bericht al-Kalāʿīs gekürzt, Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb hat jedoch nicht dessen Version übernommen. So fehlt bei ad-Diyārbakrī
bereits der Feldzug gegen die Azd ʿUmān Ta⁠ʾrīḫ al-ḫamīs fī aḥwāl anfas an-nafīs, Miṣr:
1283, S. 221f. Dagegen, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb dessen ridda-Bericht über-
nommen hat, spricht des Weiteren, dass jener wie die meisten sīra-Autoren die Berichte
über Musailima der Lebenszeiten Muḥammads zuordnet, und jene Berichte zitiert, in
denen Musailima mit Verweis auf Muḥammad dazu herausgefordert wird, Wunder zu
wirken: Ta⁠ʾrīḫ, Bd. II S. 157–160, speziell S. 158, Z. – 14-u., siehe S. 38f.
104 MSR S. 215f.
105 MSR S. 216.

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Iran und Irak hält Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb zwei Geschehnisse in den
Jahren 16 und 17 für erwäh­nens­wert: ʿUmars Beschluss, die hiǧra der islami­
schen Zeitrechnung zugrunde zu legen und dessen Heirat mit ʿAlīs Tochter
Umm Kulṯūm. Letzteres ist ein gängiger Einwand gegen das schiitische Ge-
schichtsbild.106 Als wichtige Ereignisse der folgenden Jahre erwähnt Muḥam­
mad b. ʿAbd al-Wahhāb die Hun­gers­not und die Pest von Emmaus. Die
Eroberungen, auch die so wichtige von Ägypten und der endgültige Sieg über
die Sassaniden bei Nihāwand sind ihm nur eine Notiz wert. Mehr Auf­merk­
samkeit schenkt er der Tatsache, dass der zum Islam bekehrte einstige Pseudo-
prophet Ṭulaiḥa im Kampf gegen die Perser fiel.107
Durch die Ermordung ʿUmars öffnete sich nach Muḥammad b. ʿAbd al-
Wahhāb die Pforte der Zwietracht, die bis in die Gegenwart nicht wieder ge-
schlossen werden konnte.108 Den dritten Kalifen ʿUṯmān lobt Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb zunächst ob seines frühzeitigen Übertritts zum Islam und sei-
ner engen Verbindung zu Muḥammad, die in der Heirat zweier Töchter des
Propheten ihren Ausdruck fand.109 Neben den Eroberungen im jeweiligen Jahr
werden jetzt immer häufiger die im betreffenden Jahr verstorbenen Propheten­
ge­fährten erwähnt.110 Als erstes Zeichen der Zwietracht schildert Muḥammad
b. ʿAbd al-Wahhāb die Opposition des Asketen Abū Ḏarr al-Ġifārī gegen den
von ʿUmar zum Gouverneur von Syrien ernannten Muʿāwiya. Unmut gegen
ʿUṯmān selbst begann sich nach Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb 33/34 unter
den Kufanern zu regen. Er erklärt dies zunächst politisch mit deren Verärge-
rung über die Besetzung von Gouverneurs­posten.111 Zur Erklärung der Ereig-
nisse, die zur Ermordung ʿUṯmāns führen sollten, greift Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb auf den Bericht über den jemenitischen Juden ʿAbdallāh b. Saba⁠ʾ
zurück, der vorgeblich zum Islam konvertiert sei, um die Muslime in die Irre zu
führen. Im Ḥiǧāz, den Lagerstädten und in Syrien habe er damit keinen Erfolg
gehabt. Nach Ägypten verjagt, habe er jedoch erfolgreich begonnen, ʿUṯmān
systematisch zu denunzieren. So sei es im Jahre 35 zu dem großen Unheil ge-
kommen, dass „jene ḫāriǧitischen Verbrecher“ (ulāʾika l-muǧrimīn al-ḫawāriǧ)
ʿUṯmān in seinem Haus belagerten und schließlich ermordeten, während er
betete und den Koran rezitierte.112 Die Erklärung der fitna mit dem Wirken von

106 MSR S. 217f.


107 MSR S. 219; vgl. Ella Landau-Tasseron s.v. „Ṭulayḥa“ EI² Bd. X S. 603; zur „Pest von Emmaus“
Josef van Ess: Der Fehltritt des Gelehrten: Die „Pest von Emmaus“ und ihre theologischen
Nachspiele, Heidelberg: 2001.
108 MSR S. 220f.
109 MSR S. 221f.
110 MSR S. 222–225.
111 MSR S. 224f.
112 MSR S. 226.

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ʿAbdallāh b. Saba⁠ʾ soll den durch Nepotismus in Verruf geratenen ʿUṯmān ent-
lasten. Sie geht auf Saif b.ʿUmar zurück und ist ein zentrales Element in aṭ-
Tabarīs Schilderung des ersten Bürgerkrieges, die Ibn al-Ǧauzī in seinem
Muntaẓam, einer der Hauptquellen Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs, über-
nahm.113
Nach der Darstellung von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb trat ʿAlī erst nach
der Huldigung durch die ahl Badr als Kalif auf, en passant wird die von
Muʿāwiya verweigerte Huldigung und seine Absicht zum Aufstand erwähnt.114
Die Erzählung springt jedoch zur Kamelschlacht, die nach dieser Auffassung
bei einem Vermittlungsversuch ʿĀʾišas ihren Ausgang nahm. ʿAlīs Vertrauter
habe ihre Abgesandten Ṭalḥa und Zubair jedoch aus Basra vertreiben lassen.
Als ʿAlī und Ḥusain auf der einen und Ṭalḥa und Zubair auf der anderen Seite
sich im Irak mit Kämpfern sammelten, hätten die Ḫāriǧiten, also die Anhänger
von ʿAbdallāh b. Saba⁠ʾ, die in beiden Heeren zu finden waren, gefürchtet, dass
die zwei sich vereint gegen sie wenden könnten. Daraufhin hätten sie eine In-
trige ausgetüftelt, um deren Heere zum Kampf gegeneinander aufzustacheln.
Im Zusammenhang mit der Schlacht wird ein Wunder erwähnt. Nachdem das
Kamel von ʿĀʾiša, das der Schlacht seinen Namen gab, zusammengebrochen
war, streckte der von ʿAlī mit ihrem Schutz beauftragte Muḥammad b. Abī Bakr
frevlerisch seine Hand in ihre Sänfte, worauf hin sie fragte: „Wem gehört die
(Hand), die den ḥarām des Gesandten verletzt. Gott möge sie verbrennen.“ Er
erwiderte: „Mit jenseitigem Feuer?“ Worauf sie entgegnete: „mit diesseitigem
Feuer“, woraufhin ihr Wunsch umgehend in Erfüllung ging. ʿAlī hingegen be-
handelte sie mit Respekt und entließ sie mit vierzig Frauen aus Basra nach
Medina. Militärische Aspekte, die in den Berichten über die Feldzüge

113 Aṭ-Ṭabarī: Ta⁠ʾrīḫ, , Bd. I S. 3079, 3081, 3091, 3183, 3191, 3227, 3230; Ibn al-Aṯīr: Kāmil, Bd. III S.
104, Z. – 14, 125 Z. 9; Ibn al-Ǧauzī: Muntaẓam, Bd. V S. 49; Marshall Hodgson s.v. „ʿAbdallāh
b. Saba⁠ʾ“ EI² Bd. I S. 51; Fred M. Donner s.v. „Sayf b. ʿUmar“ EI² Bd. IX S. 102f.; Wilferd Made-
lung: The Succession to Muḥammad: A Study of the Early Caliphate, Cambridge: 1997 S. 140;
Wellhausen hielt sie für unglaubwürdig, weil er die Ḫāriǧiten ernsthafte theokratische
Bestrebungen zusprach, und weil sie zu Anfang gerade keine kleine Gruppe von Ver-
schwörern gewesen seien, sondern eine diffuse in den irakischen Lagerstädten aber wohl
verankerte Gruppe: Julius Wellhausen: Die religiös-politischen Oppositionsparteien im
alten Islam, Berlin: 1901 (Abhandlungen der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften
zu Göttingen; philologisch-historische Klasse; NF V.2) S. 11f.; die westliche Orientalistik
folgte seiner Einschätzung im Wesentlichen, Landau-Tasseron und Nagel erkennen dieser
Überlieferung einen historischen Kern zu: Ella Landau-Tasseron: „Sayf ibn ʿUmar in
Medieval and Modern Scholarship“ Isl. 62 (1990) S. 1–26; Nagel: Mohammed: Leben und
Legende, München: 2008, S. 589–598, 615–618, 622–625, 634.
114 MSR S. 226f.

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Muḥam­mads und die ridda eine ausgiebig referiert werden, fehlen bei der
Schilderung dieser innermuslimischen Auseinandersetzung.115
Dasselbe gilt für Ṣiffīn. Die Vorbereitungen zur Schlacht, das Aufstecken der
Koranseiten auf Lanzen durch Muʿāwiyas Mitstreiter und die Schlichtung zwi-
schen ihm und ʿAlī, Ereignisse, von denen die Chroniken sonst wegen ihrer
zentralen Bedeutung für die islamische Geschichte ausführlich berichten, sind
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb nur wenige Worte wert.
Ausführlicher behandelt Muḥammad b. Abd al-Wahhāb dagegen die Ausei-
nandersetzung ʿAlīs mit dem Ḫāriǧiten, seinen ehemaligen Anhängern, die
ihm nach dem Schiedspruch (ḥukm) mit der Parole „Nur Gott steht ein Schied-
spruch zu“ (lā ḥukma illā li-l-Lāh) entgegentraten. Im Mittelpunkt steht dabei
die Rede des von ʿAlī als Unterhändler in ihr Lager im irakischen Hārūra ent-
sandten Ibn ʿAbbās. Er soll mit Blick auf die Ḫāriǧiten erklärt haben, nie habe
er eine Gemeinschaft gesehen, die in religiösen Fragen eigenmächtiger gehan-
delt (ašadd iǧtihādan minhum) und sich eifriger den religiösen Ritualen gewid-
met habe (akṯar ʿibādatan). Somit wird auch deren Abfall mit fehlgeleiteter
Frömmigkeit erklärt. Auf die Frage von Ibn ʿAbbās, was sie ʿAlī übel nähmen,
antworteten die Ḫāriǧiten:

1. Es handle sich bei der Schlichtung um ein Urteil von Männern in einer
Angelegenheit, in der nur Gott entscheiden dürfe (ḥukm ar-riǧāl fī amr
Allāh). Solch ein Vorgehen widerspreche Vers 12:40.
2. ʿAlī habe zwar gekämpft, aber keine Gefangenen und keine Beute
gemacht. Wären die Anhänger Muʿāwiyas Gläubige, hätten sie nicht
bekämpft werden dürfen, wären sie Ungläubige, dann hätten man ihren
Besitz erbeuten und sie selbst gefangen nehmen (und damit versklaven)
dürfen.
3. ʿAlī habe (auf der Schlichtungsurkunde) selbst den Titel amīr
al-muʾminīn nach seinem Namen ausgewischt. Wenn er nicht der
Befehlshaber der Gläubigen sei, dann sei er jener der Ungläubigen.

ʿAbdallāh b. ʿAbbās entkräftet den ersten Vorwurf damit, dass der Koran sehr
wohl dazu auffordere, bei Ehestreitigkeiten und drohender Blutrache zu
schlichten (5:95, 4:35). Den zweiten Vorwurf erwidert er mit der Frage, ob sie
denn ihre Mutter gefangen nehmen würden und bezüglich ihr für erlaubt
hielten, was sie mit anderen für erlaubt halten (also den Geschlechtsverkehr).
„Sagt ihr ja, so seid ihr Ungläubige, wenn ihr aber behauptet, sie (ʿĀʾiša) sei für
Euch nicht wie eine Mutter, dann seid ihr Ungläubige. Denn Gott sprach

115 MSR S. 227.

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(Koran 33:6) ‚Seine Gattinnen sind ihre Mütter‘“ Wenn sie die Wahl zwischen
zwei Irrtümern hätten, sollten sie wählen, welchen sie wollten. Gegen den drit-
ten Vorwurf wendet er ein, dass bei der Unterzeichnung des Vertrages von
Ḥudaibīya Muḥammad eigenhändig das rasūl Allāh nach Muḥammad ausge-
wischt habe und es durch Ibn ʿAbdallāh ersetzen ließ, obwohl ʿAlī hiergegen
Einspruch erhoben habe.116 Da in dieser Schilderung auf jede dieser Fragen
unisono mit „Allāhumma naʿam“ geantwortet wird, erweckt sie den Eindruck,
als seien die Argumente von ʿAbdallāh b. ʿAbbās weitgehend akzeptiert wor-
den. Daher heißt es auch, dass 4000 Gegner zurück­ge­kehrt seien.117
Diese Schilderung hat Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb verbatim aus Ibn al-
Ǧauzīs Muntaẓam übernommen.118 Bei aṭ-Ṭābarī, Ibn Aṯīr und Ibn Kaṯīr sowie
in einer ähnlich pointierten Darstellung bei al-Mubarrad fehlt nota bene die
zweite Beschwerde samt ihrer Widerlegung,119 obgleich sich Hinweise auf die
in dieser Darstellung zum Ausdruck kommende Auffassung, dass die Enttäu-
schung der Ḫāriǧiten über ʿAlī bereits auf sein Verhalten während und nach
der Kamelschlacht zurück­zuführen sei, bereits in älteren Darstellungen fin-
den.120 Warum Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb diesen Bericht auswählte, hat
allerdings weniger mit der Klärung dieser historischen Frage zu tun als mit der
noch zu behandelnden legitima­to­rischen Funktion seiner Prophetenbiogra-
phie.
Die Darstellung der Ereignisse nach al-Harūrāʾ strafft Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb wieder erheblich. Indem er den Namen der Schlacht von an-
Nahrawān zunächst nicht erwähnt, erweckt er den Eindruck, die verbliebenen
Ḫāriǧiten hätten sich unmittelbar darauf gegen ʿAlī erhoben. ʿAlī einigte sich

116 Dies entspräche der Interpretation, dass die Schilderung von Hudaibīya dazu dient, ʿAlīs
Position in Ḥarūrāʾ zu legitimieren, vgl. Michael Lecker s.v. „Ṣiffīn“ EI² Bd. IX S. 552.
117 MSR S. 228f.
118 Ibn al-Ǧauzī: Muntaẓam, Bd. V S. 124f.; id.: Talbīs, al-Qāhira: s.a. (Idārat aṭ-ṭibāʿa al-
munīrīya) S. 88ff., in beiden Werken mit einem isnād, der zu dem tābiʿī ʿIkrima b. ʿAmmār
führt, der diesen Bericht von einen Simāk Abū Zumail gehört haben will (zu ʿIkrima: Ibn
Saʿd: Ṭabaqāt, Bd. V: Biographien der Nachfolger in Medina sowie der Gefährten und Nach-
folge in dem übrigen Arabien, Hg. K.V. Zetterstéen, Leiden: 1905, S. 404 Z. 18ff.); übernom-
men wurde der Bericht meines Wissens nur vom möglicherweise ebenfalls von
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb konsultierten aḏ-Ḏahabī: Ta⁠ʾrīḫ, Bd. II S. 182ff.
119 Abū l-ʿAbbās Muḥammad Ibn Yazīd al-Mubarrad: al-Kāmil, Hg. Muḥammad Aḥmad
ad-Dālī, Bairūt: 1406/ 1986, S. 1099f.
120 So erwähnt aṭ-Ṭabarī (Ta⁠ʾrīḫ, Bd. I S. 3227), dass ʿAlīs Verbot, nach der Kamelschlacht die
Gegner zu verfolgen und auszuplündern, Anlass zu jenen Auseinandersetzungen gab, die
zur Entstehung der Ḫāriǧiten führten; al-Baihaqī (as-Sunan al-kubrā, Bd. VIII S. 181, Z. 5
apu.) überliefert von Ḍarīʿ al-ʿAbsī, dass dieser Befehl die Kämpfer verärgerte (šaqqa
ʿalainā ḏalika).

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nach dieser Darstellung schließlich auf Muʿāwiyas Vorschlag hin mit jenem
gütlich auf eine Teilung des Reiches, bevor er kurz darauf von Ibn Mulǧam ge-
tötet wurde.121
Dass ʿAlīs Sohn Ḥasan seinen Herrschaftsanspruch nach sieben Monaten
freiwillig an Muʿāwiya abtritt, ist für Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb eine Folge
der Einsicht darein, dass eine der beiden Parteien nur dann eine Chance habe,
sich durchzusetzen, wenn sie Zulauf von der anderen erhielte. Hieran knüpft
eine Erörterung der Legitimität der Forderungen der Prätendenten an. Zwar
erkennt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb ʿAlī zu, dass er mit weit besseren Grün-
den als Muʿāwiya die Übernahme des Kalifats einfordern konnte, doch streicht
er heraus, dass Ḥasan gottgefälliger agiert habe als sein Vater, der nur aus Not-
wendigkeit Verzicht geleistet habe. Keine der beiden Parteien habe allerdings
durch ihr Handeln den Rahmen des Islams verlassen. Dies treffe allein für die
ahl Nahrawān, also die Ḫāriǧiten, zu. Am wohlgefälligsten gehandelt hätten
jedoch die Prophetengefährten, die von beiden Parteien Abstand hielten
(iʿtazalū aṭ-ṭāʾifatain) wie Saʿd b. Abī Waqqāṣ, Ibn ʿUmar und Usāma b. Zaid.
Man sei im Folgenden übereingekommen, von der anderen Partei nicht
schlecht zu reden. Wer Muʿāwiya schmähe, verletzte somit den iǧmāʿ. Muʿāwiya
sei schließlich zum Imam bestimmt worden, da es nur einen geben könne. Da-
her werde das Jahr 41 auf das Jahr der Gemein­schaft (ǧamāʿa) genannt.122
Unter den Verstorbenen des Jahres 48 wird Muḥammads Gattin Ṣafīya er-
wähnt, deren Eheschließung keine Erwähnung gefunden hat; das gleiche gilt
für Sauda bt. Zuʿma im Jahr 54.123 Der Tod Ḥusains im Jahr 61 in der Schlacht
von Kerbela ist Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb nur einen Satz wert. Etwas aus-
führlicher benennt er die Ereignisse der zweiten fitna, in keinem der beiden
Fälle bezieht er jedoch für eine der involvierten Parteien Position. Kurz be-
zeichnet er zudem die Herrschaft von ʿUmar b. ʿAbdalʿazīz als eine Rückkehr
zu Zuständen, wie sie unter den Rechtgeleiteten Kalifen geherrscht hatten.124
Unter den Ereignissen der späten Umayyadenzeit verweist er noch einmal auf
Ǧaʿd b. Dirham, der als erster behauptet haben soll, dass der Koran geschaffen
sei. Yazīd b. al-Walīd nennt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb den letzten allge-
mein anerkannten Kalifen. Er verweist dabei auf ein ḥadīṯ, demzufolge 12 Kali-
fen aus den Reihen der Quraiš herrschen würden.125 Der Bruch nach der dritten

121 MSR S. 229f.


122 MSR S. 230; vgl. Josef van Ess: Der Eine und das Andere: Beobachtungen an islamischen
häresiographischen Texten, Berlin & New York: 2010, Bd. I S. 21–32.
123 MSR S. 231f.
124 MSR S. 233.
125 MSR S. 234f.

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fitna (dem Sturz der Umayyaden) wurde aus der Sicht von Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb bis in seine Gegenwart nicht gekittet.
In der frühen Abbasidenzeit erkennt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb den
Ursprung all jener Zwistigkeiten (fitan) in den religiösen Lehren, welche die
Muslime bis in seine Zeit plagen. Die Schuld weist er in erster Linie al-Ma⁠ʾmūn
zu, weil dieser griechische Bücher übersetzen ließ, verkündete, der Koran sei
geschaffen, und schließlich in der miḥna den Imam Aḥmad (b. Ḥanbal) und
andere hochrangige Gelehrter zwang, dieser Behauptung zuzustimmen.126 Et-
was unvermittelt endet das Werk damit, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
den unter al-Manṣūr einsetzenden Verfall der Gelehrsamkeit beklagt, der da-
mit eingesetzt habe, dass die ʿūlamāʾ begannen, tafsīr und Ḥadīṯ (Ibn Ǧuraiḥ,
Mālik b. Anas, ʿAmr al-Auzāʿī, Sufyān aṯ-Ṯāurī, Maʿmar b. al-Muṯannā), den ra⁠ʾy
(Abū Ḥanīfa) und die maġāzī (Ibn Isḥāq) schriftlich niederzulegen. Davor hät-
ten die Gelehrten auf der Grundlage dessen gesprochen, was sie im Gedächt-
nis hatten, und das Wissen hätten sie auf ungeordneten Seiten überliefert
(ṣuḥuf ġair murattaba).127

Die Quellen des Muḫtaṣar

Wie aus den vorausgegangenen Verweisen und der noch folgenden Darstel-
lung ersichtlich, lassen sich neben den kanonischen Ḥadīṯsammlungen fol-
gende Hauptquellen des Muḫtaṣar ausmachen: Die sīra an-nabawīya des Ibn
Ḥišām, al-Wāqidīs K. al-Maġāzī,128 Ibn al-Ǧauzīs Muntaẓam, die Ṭabaqāt von
Ibn Saʿd, das K. al-Iktifāʾ fī maġāzī l-Muṣṭafā wa-ṯ-ṯalāṯa l-ḫulafāʾ von al-Kalāʿī
und Zād al-maʿād von Ibn Qayyim al-Ǧauzīya. Waren wahhābitische Gelehrte
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit dem Problem konfrontiert, dass ihnen
für Unterricht und Rechtsfindung kaum Bücher zur Verfügung standen,129 be-
saß Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb in Darʿīya offenkundig über eine anstän-
dige Bibliothek, die selbst ausgefallenere historiografische Werke umfasste.130

126 MSR S. 235.


127 MSR S. 235f.
128 Dass Ibn Ḥanbal die Werke al-Wāqidīs wegen mangelhafter Überlieferungen scharf kriti-
siert hatte, spielte offensichtlich keine Rolle, vgl.: Schöller: Exegetisches Denken, S. 60;
Nagel: Allahs Liebling, S. 229.
129 Guido Steinberg: Religion und Staat in Saudi-Arabien: Die wahhabitischen Gelehrten 1902–
1953, Würzburg: 2002 (MISK; 10), S. 65ff., Ibn Kaṯīrs al-Bidāya wa-n-nihāya, und aṭ-Ṭabarīs
Ta⁠ʾrīḫ, die von Wahhabiten im frühen 20. Jahrhundert am meisten verwendeten historio-
grafischen Werke (ebd. S. 134f.) zitiert Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb jedoch nicht.
130 In seiner Korrespondenz und in anderen Werken verweist Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb

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Insgesamt passen die Befunde zu dem, was über die Lektüre historischer
Texte im Ḥiǧaz um 1700 bekannt ist. Mit dem Ṣimt von al-ʿĀṣimī al-Makkī
(1639–1699) verfügen wir über ein kurz vor der Geburt von Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb verfasste Weltchronik. Als Quelle für die Biographie Muḥammads
und die Frühzeit des Islams ist dieses epigonale Werk völlig belanglos, weil der
Autor aber seine Quellen gewissenhaft auflistet, lässt sich anhand dieses
Buches zeigen, welche historiographischen Werke und Abhandlungen über
Muḥam­mad um 1700 im Ḥiǧāz als bekannt und gebräuchlich vorausgesetzt
werden können.131

auch auf anspruchsvolle und weniger bekannte Werke. Im Sendschreiben an die Bewoh-
ner von al-ʿUyaina, TN S. 364 zitiert er aus al-Azraqīs Aḫbār Makka, vgl. Ferdinand Wüsten-
feld: Vorrede zu: Aḫbar Makka, Leipzig: 1858 (die Chroniken der Stadt Mekka; 1) S. XIX:
„Das Werk des Azrakí ist im Orient jetzt so selten, dass es den eifrigen Nachforschungen
des Hr. Dr. Sprenger nicht gelungen ist, ein Exemplar derselben aufzutreiben.“ Anders als
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb behauptet, führt al-Azraqī (Aḫbār Makka, S. 73, 78–82)
den Götzendienst in Mekka jedoch nicht auf die Verehrung eines Menschen zurück;
allenfalls seine Schilderung der Verehrung des Baumes Ḏāt Anwāṭ (S. 82f.) weckt Assozia-
tionen zu den Praktiken zur Zeit von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb; die gegen den Hei-
ligenkult gerichtete Streitschrift Ibn Taimīyas Iqtiḍāʾ ṣirāṭ al-mustaqīm zitiert Muḥammad
b. ʿAbd al-Wahhāb ebenfalls: 1. Sendschreiben an ʿAbdallāh b. Suḥaim, TN S. 247–257, dort
S. 248, zu diesem Werk: Muhammad Umar Memon: Ibn Taimīyaʼs Struggle against Popular
Religion: With an Annotated Transl. of His Kitāb iqtiḍāʾ aṣ-ṣirāṭ al-mustaqīm mukhālafat
aṣḥāb al-jaḥīm, The Hague: 1976; zur Rolle in den Kontroversen mit seinen ḥanbalitischen
Gegnern: Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 88f.; Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb (TN
S. 255) zitiert jedoch auch Ibn Taimīyas Position zur Frage der Substanz und der Akziden-
zien. Er kannte daher offensichtlich dessen Minhāǧ as-sunna; und selbst auf dem Feld des
Kampfes gegen bidaʿ verlässt er sich nicht allein auf ḥanbalitische Autoren. So verweist er
auf al-Bāʿiṯ ʿalā inkār al-bidaʿ wa-l-ḥawādiṯ des Šāfiʿiten Abū Šāma (1203–1267): 2. Send-
schreiben an ʿAbdallāh b. Suḥaim, TN S. 283; zu Abū Šāma: Konrad Hirschler: „Pre-Eigh-
teenth-Century Traditions of Revivalism: Damascus in the Thirteenth Century“ BSOAS 68
(2005) S. 195–214; er wurde auch von anderen puritanischen Strömungen geschätzt, die
südasiatischen Ahl-i Ḥadīs̱ betrachten ihn als einen ihrer Vorläufer: Riexinger: S̱anāʾullāh,
S. 147; als Gewährsmänner für die Auffassungen der salaf nennt Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb in Kašf aš-šubūhāt Ibn Qayyim al-Ǧauzīya, Ibn Kaṯīr, aḏ-Ḏahabī, Ibn Raǧab,
al-Baihaqī, ʿAbdalbarr al-Ḫaṭṭābī und aṭ-Ṭabarī: Sendschreiben and ʿAbdallāh b. Muḥam­
mad b. ʿAbdallaṭīf, TN S. 209–224, dort S. 217. Ibn Ḥazm wiederum führt Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb (« Kitāb at-Tauḥīd » MT S. 57f.) als Gewährsmann für das Verbot an,
Namen wie ʿAbd ʿUmar und ʿAbd al-Kaʿba zu geben. In dessen furūʿ-Werk al-Muḥallā (Hg.
Aḥmad Šākir, al-Qāhira: 1348 a.h.) zumindest findet sich nichts dergleichen, zudem
scheint die Verwendung solcher Namen mit Blick auf den islamischen Westen zu Ibn
Ḥazms Lebzeiten anachronistisch.
131 ʿAbd al-Malik b. Ḥusain al-ʿĀṣimī al-Makkī: Simṭ an-nuǧūm al-ʿawālī fī anbāʾ al-awāʾil

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


34 Riexinger

Die legitimatorische Funktion des Muḫtaṣar

It would only be a slight overstatement to assert that most of the animos-


ity between Wahhabis and other Muslims boils down to this single ques-
tion of what exactly makes one’s life and property inviolable from attack.132


Bereits im Referat des Muḫtaṣar wurde darauf hingewiesen, wie Muḥammad
b. ʿAbd al-Wahhāb durch die Parallelisierung mit dem Wirken der Propheten,
der Vita Muḥammads und den Handlungen seiner Nachfolger sowie unter Ver-
wendung von anachronistischem Vokabular sein eigenes Handeln legitimiert.
Ein markantes Beispiel ist sein Vorgehen gegen die Heiligenverehrung und an-
dere als illegitim betrachtete religiöse Praktiken. Ein weiterer Punkt ist mög­
licherweise die Legitimität der durch ihn ideologisch gestützten Herrschaft
der Āl Suʿūd, indem er das Kalifat von Abū Bakr durch dessen Fähigkeit und
Erfolg (Eroberungen, Sieg über die ridda) rechtfertigt, und nicht durch Desi-
gnation wie Ibn al-Ǧauzī, eine seiner Hauptquellen.133 Besonders augenfällig
ist die legitimatorische Funktion bei Fragen, die den Umgang mit „Ungläu-
bigen“ und „Apostaten“ betreffen. In diesem Zusammenhang wird nicht nur

wa-t-tawālī, Hgg. ʿĀdil Aḥmad ʿAbd al-Mauǧūd & ʿAlī Muḥammad Muʿawwaḍ, Bairūt: 1998,
S. 327–331; zum Autor S. 40f.; GAL G II S. 384, S II S. 516 (dort al-Iṣāmī al-Makkī); Bd. I S. 190
Z. 9., S. 227s.; al-ʿĀṣimī: Simṭ, Bd. I S. 309 Z. 9.; weitere Quellen, die Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb nicht verwendet hat, sind: al-Masʿūdī: Murūǧ aḏ-ḏahab (S. 293 Z. 7.), al-Ḫaṭīb
al-Baġdādī (S. 310 Z. 5.), Ibn al-Ǧauzī Talqīḥ (S. 291u., S. 299pu.), Ibn ʿAsākir (S. 309 Z. 6,
S. 310 Z. 5), Baihaqī (I S. 309 Z. 6, S. 310 Z. 5), Ibn al-Aṯīr (S. 316 Z. 5.), aṣ-Ṣafadī (S. 298 Z. 11),
Ta⁠ʾrīḫ al-ḫamīs von ad-Diyārbakrī (S. 311 Z. 13); außerdem beruft al-ʿĀṣimī sich auf Stan-
dardwerke der überhöhenden Darstellung Muḥammads: Ibn al-Ǧauzī: Wafā (S. 358 Z. 3,
vgl. Nagel: Allahs Liebling, S. 199–206, 247–264), al-Yaʿmurī, d.i. Ibn Sayyid an-Nās (S. 290
Z. 10; vgl. Nagel: Allahs Liebling, S. 218–228), die Prophetenbiographie des Muġalṭay (S. 290
Z. 16), al-Qasṭallānī al-Mawāhib (S. 290 Z. 14, S. 292 Z. 6, vgl. Nagel: Allahs Liebling, S. 238–
245), as-Suhailī Rauḍ al-unuf (S. 292 apu.; S. 303 Z. 9., S. 346 Z. 8; vgl. Maher Jarrar: Die
Prophetenbiographie im islamischen Spanien: Ein Beitrag zur Überlieferungs- und Redak­
tionsgeschichte, Frankfurt/Main u.a.: 1989 (Europäische Hochschulschriften Reihe III
Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; 404) S. 176–210, außerdem gehört hierzu wohl
der nicht zu identifizierende Ḥusain b. Muḥammad ad-Dāmġānī mit seinem Werk Šauq
al-ʿarūs (S. 300 Z. 7).
132 Commins: Wahhabi Mission, S. 14.
133 Ibn al-Ǧauzī: Muntaẓam, Bd. IV S. 63f.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 35

die allgemeine Legitimation für das gewaltsame Vorgehen geliefert, sondern


auch die Rechtfertigung von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Positionen in De-
tailfragen der Kriegsführung, wie das Fällen von Bäumen.134 Dass am Beispiel
von ʿUmar und Abū Bakr exemplifiziert wird, dass der geistige Führer nicht
selbst in den ǧihād zu ziehen brauche, könnte im Bezug dazu stehen, dass
Muḥammad ʿAbd al-Wahhāb seit 1746 eben nicht als Heerführer agierte, son-
dern von ad-Darʿīya aus ideologische Direktiven erteilte.135

Ǧihād und Apostasie


Dass die sīra-Literatur blühte, wenn der ǧihād auf der Tagesordnung stand, ist
an sich nicht überraschend.136 Bemerkenswert am Muḫtaṣar ist jedoch die
Aufmerksamkeit, die dem ǧihād gegen die ridda zuteil wird. Mit Blick auf
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Rezeption almohadischer Historiographie
wurde bereits darauf hingewiesen, dass er ein ǧihād-Konzept vertritt, dass im
Widerspruch zur sunnitischen Mehrheitsmeinung steht, weil es explizit auf
muslimische Abweichler angewandt wird. Die ausführliche und eigentüm-
liche Behandlung bestimmter Ereignisse nach dem Tode Muḥammads ist auf
das Bestreben zurückzuführen, diese Position zu legitimieren, nicht zuletzt
weil sich Parallelen außerhalb des Sunnitentums finden. So weisen nach zaidi-
tischer Aufassung bestimmte Aussagen jemanden als mušrik aus, woraus gefol-
gert wird: „vielmehr ist es Pflicht, ihn zu bekriegen und zu töten, wobei seine
Frauen und Kinder versklavt, sein Besitz enteignet werden dürfen.“137 Wich-
tiger ist jedoch, dass die Wahhābiten ob ihres rigorosen Vorgehens von Beginn
an, das heißt seit den Polemiken von Ibn ʿAfālīq und Muḥammad b. ʿAbd al-
Wahhābs Bruder Sulaimān, mit dem Vorwurf zu kämpfen hatten, sie seien
Wiedergänger der Ḫāriǧiten.138 Dieser Sachverhalt ließ sich nicht einfach da-
mit abtun, dass es sich um einen inflationär gebrauchten polemischen Begriff

134 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 84f.


135 Commins: Wahhabi Mission, S. 26.
136 Einschlägige Beispiele aus al-Andalus: Jarrar: Prophetenbiographie, S. 169–173, 244–269;
Robinson: Islamic Historiography, S. 122f.
137 Werner Schwartz: Ǧihād unter Muslimen, Bonn: 1980 (Bonner Orientalistische Studien;
6.2) S. 45f.
138 Ibn ʿAfālīq verwendet ḫāriǧī als Gegensatz zu iǧmāʿī: Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb,
S. 118; zu Sulaimān b. Abd al-Wahhāb: Commins: Wahhabi Mission, S. 23; selbst aš-Šaukānī
schmähte sie zeitweise als Ḫāriǧiten: Bernard Haykel: Revival and Reform in Islam: The
Legacy of Muhammad al-Shawkani, Cambridge: 2003, S. 128; bei sufisch inspirierten Bewe-
gungen in der Türkei ist dies bis in die Gegenwart gängig: Said Nursi: Lemâ’at, İstanbul:
2002; S. 31, İbrahim Cânan: İslâm Âleminin Ana Meselelerine Bediüzzaman’dan Çözümler,
İstanbul: 1993, S. 158f.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


36 Riexinger

handelte. Schließlich setzt die Kritik an den Wahhābiten daran an, dass sie
rechtes Handeln zum Maßstab des Glaubens erheben und wie die Ḫāriǧiten
ihre Gegner als muš­rikūn und ahl ar-ridda bezeichnen.139
Das Bedürfnis, den Unter­schied der eigenen Position zum Ḫāriğitentum
kenntlich zu machen ist einer der Gründe dafür, dass Muḥammad b. ʿAbd al-
Wahhāb Ibn al-Ǧauzīs Version der Debatte zwischen ʿAbdallāh b. ʿAbbās und
den Ḫāriǧiten ausgewählt hat. Der zweite, aber wichtigere Grund dafür, dass
Muḥammad b. ʿAbdallāh diese Version und damit auch der Kamelschlacht so
auffällig viel Bedeutung beimisst, ist die juristische Bedeutung von ʿAlīs Vorga-
ben zum Umgang mit dem Gegner. Seine Aufforderung, sie bei der Flucht zu
schonen und ihr Eigentum nicht anzutasten, dient gemeinhin als Präzedenz-
fall für den Umgang mit muslimischen Rebellen (bāġī, pl. buġāt), die zwar
in offener Schlacht bekämpft werden sollen, um sie an der Durchsetzung
ihrer Ziele zu hindern, die jedoch anders als Ungläubige und Abtrünnige nicht
verfolgt, gefangen genommen, ihres Eigentums beraubt oder gar versklavt
­werden dürfen.140 Der Vorwurf, dass die Wahhābiten gegen diese Regelungen
verstießen, soll durch den Einwand entkräftet werden, dass ʿAlīs Anordnung
eben keine all­ge­mein gültige Norm gesetzt habe, sondern dem besonderen
und nicht wiederholbaren Umstand geschuldet gewesen sei, dass sich mit
ʿĀʾiša eine „Mutter der Gläubigen“ auf dem Schlachtfeld befunden habe.141

Der unverklärte Muḥammad

Anā Muḥammadun ʿAbdullāhi wa-rasūluh. Mā uḥibbu an tarfaʿūnī fauq


manzilatī allatī anzalanī Llāhu ʿazza wa-ǧalla.142


Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Widersacher Ibn Suḥaim polemisierte da­
gegen, dass jener nicht nur Grabbauten zerstören, sondern auch Bücher ver-

139 Wellhausen: Oppositionsparteien, S. 13ff.


140 Khaled Abou el Fadl: Rebellion & Violence in Islamic Law, Cambridge: 2001, S. 34–37; Made-
lung: Succession, S. 179f.
141 Ein kalkulierter positiver Nebeneffekt könnte sein, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
mit der Abschaffung der Kategorie der buġāt der Argumentation seines Gegners Ibn
ʿAfālīq, der die Wahhabiten als solche bezeichnet, die Grundlage entzieht: Peskes:
Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 118f.
142 « Kitāb at-Tauḥīd » MT S. 69.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 37

brennen ließ. Er nennt neben Rauḍ ar-rayāḥīn, einer Sammlung von Sufibio-
graphien von al-Yāfiʿī (Jemen, gest. 1367), die Dalāʾil al-ḫairāt von al-Ǧazūlī
(Marokko, gest. 1475), eine bis ins frühe 20. Jahrhundert in der gesamten isla-
mischen Welt äußerst populäre Sammlung von der Muḥammad-Verehrung
gewidmeten Litaneien. Ibn Abd al-Wahhāb tat den Vorwurf, die Verbrennung
der Dalāʾil al-ḫairāt angeordnet zu haben, zwar als Verleumdung ab, da er al-
lein davor gewarnt habe, einem anderen Buch mehr Beachtung zu schenken
als dem Koran.143 Doch bereits daraus ist ersichtlich, dass ihm die zu seiner
Zeit übliche Muḥammad­verehrung und ihre Ausdrucksformen mehr als su-
spekt waren. Eines der Hauptziele des Muḫtaṣar ist unverkennbar, dieser – wie
er es sah – Abweichung vom Monotheismus die Grundlage zu entziehen.

Wunder
Bereits in den frühen Muḥammad-Biographien werden mit Muḥammad ver-
schiedene Wunder in Verbindung gebracht. Darunter ist mit der Spaltung des
Mondes nur ein „Bekräftigungswunder“, und mit der Himmelsreise eines, das
wesentlich mit der Vermittlung der göttlichen Gebote zusammenhängt. Bei
den anderen handelt es sich entweder um solche Wunder, die zum Gelingen
der Mission Muḥammads beitragen,144 oder aber um solche, die allein seine
zentrale Stellung in der Schöpfung verdeutlichen sollen. Hierzu gehören die
Berichte über die Verehrung durch Pflanzen, Tiere, Steine und Gebäudeteile
(etwa dem Balken der Moschee in Medina) sowie über Heilungs- und Spei-
sungswunder.145 Im Laufe der Jahrhunderte wuchs der Anteil dieser Motive in
Muḥammad-Biographien beständig an. Waren sie anfangs eher schmückendes
Beiwerk, ging mit aṣ-Ṣāliḥī (gest. 1535) ein Autor soweit, jedes einzelne Wunder
als dem Koran gleichrangig zu betrachten.146
Dieses gängige Element in Muḥammadbiographien reduziert Muḥammad
b. ʿAbd al-Wahhāb jedoch systematisch auf das Unvermeidliche: Es blei-

143 TN S. 360; Peskes: Muḥammad b.ʿAbdalwahhāb, S. 71f.; zu al-Ǧazūlī (gest. 1465), dem gei-
stigen Vater der Saʿdiden: M. Bencheb s.v. „al-Djazūlī, Abū ʿAbd Allāh Muḥammad b.
Sulaymān b. Abī Bakr al-Djazūlī al-Samlālī“ EI² Bd. II S. 527 zum genannten Werk: GAL G
II S. 252f., S II S. 359.
144 Nagel: Allahs Liebling, S. 109: Mit der Vorbereitung der Grabenschlacht verbundene Wun-
der bei al-Baihaqī.
145 Nagel: Allahs Liebling, S. 105f. (Abū Nuʿaim), 202 (Ibn al-Ǧauzī), 287f. (Ibn Kaṯīr), 293f.
(aṣ-Ṣāliḥī), S. 323 (Būṣīrī).
146 Nagel: Allahs Liebling, S. 296; allerdings sind diese Wunderberichte an sich alt: Andreas
Görke & Gregor Schoeler: Die ältesten Berichte über das Leben Muḥammads: Das Korpus
ʿUrwa b. Zubair, Princeton: 2008, S. 269. Was zunahm, ist mithin die Akzeptanz durch
Gelehrte.

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ben allein die Mondspaltung und der miʿrāǧ, zwei kleinere Wunder, die zum
Gelingen der hiǧra beziehungsweise zu einem militärischen Sieg beitrugen.147
Das Erschallen des Gedichts über Mekka am Schluss der Umm Maʿbad-Episode
ist das einzige reine Verherrlichungswunder.
Ein weiteres Indiz dafür, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb bestrebt war,
systematisch die Assoziation von Muḥammad mit Wundern zu vermeiden,
ist seine Auswahl von Überlieferungen zum Wirken von Musailima. Er über-
nimmt den Bericht von Ibn Ḥubaiš / al-Kalāʿī, wonach der Pseudoprophet
Neugeborene segnete und für Kranke betete. Jedem dieser Neugeborenen
(maulūd) fallen jedoch die Haare aus. Außerdem beklagt ein reicher Vater, dass
keiner seiner Söhne, bis auf einen, der zehn Jahre alt wurde, älter als zwei Jahre
geworden sei. Deswegen bat er Musailima, Gott anzurufen, er möge seinem am
Vortag geborenen Sohn ein langes Leben gewähren. Noch ehe der Tag ver-
gangen war, war der ältere Sohn in einen Brunnen gestürzt und der jüngere lag
im Todeskampf. Ihre Mutter sagte: „Wahrlich, er hat bei Gott nicht den glei­
chen Rang wie Muḥammad.“ Ein Brunnen, den Musailima gesegnet hatte, ver-
salzt umgehend.148 Im sonst oft von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb zitierten
Muntaẓam von Ibn al-Ǧauzī werden hingegen aṭ-Ṭabarīs Berichte darüber, wie
Musailimas Wirken Strafe nach sich zieht, wiedergegeben. So bittet ihn eine
Frau, er möge, damit die Brunnen ihres Stam­mes sprudeln, wie Muḥammad
einen Eimer gefüllt mit Wasser daraus segnen und in ihn hineinspucken, so
dass sie den Inhalt wieder zurückgießen können. Doch nach Ausführung
dieses Rituals versiegt der Brunnen. Musailima wird dort bei Ibn al-Ǧauzī wei-
terhin gebeten, Kinder (allerdings ältere, ṣaby) zu segnen. Ihnen fallen eben-
falls die Haare aus, noch dazu fangen sie an zu lispeln. Aber die Eltern der Banū
Ḥanīfa bitten ihn speziell deswegen darum, weil Muḥammad die Kinder
seiner Gefähr­ten segnete.149 Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb dürfte den Versi-
onen von Ibn Ḥubaiš deswegen den Vorzug gegeben haben, da dort der von Ibn

147 Eng verwandt mit ihnen sind die beiden Wunder, welche die Sicherheit seiner Geburt
(die Vernichtung des äthiopischen Heeres) beziehungsweise die Unantastbarkeit der
„Mütter der Gläubigen“ garantieren (die Bestrafung des Frevels von Muḥammad b. Abī
Bakr).
148 S. 196ff.; Ibn Ḥubaiš: Ġazawāt, S. 55f.; hierzu M. J. Kister: „The Struggle against Musaylima
and the Conquest of Yamāma“ JSAI 27 (2002) S. 1–56, dort S. 43f.
149 Ibn al-Ǧauzī: Muntaẓam, Bd. IV S. 21f.; er folgt aṭ-Ṭabarī: Ta⁠ʾrīḫ, S. 1934f.; Diyārbakrī: Ta⁠ʾrīḫ,
Bd. II. S. 158 Z. 11ff. dort findet sich allerdings auch der Bericht von dem Vater der beiden
Söhne aus Ibn Ḥubaiš; Wunder die mit Quellen und Muḥammads Speichel verbunden
sind, spielen bei aṣ-Ṣāliḥi ein herausragende Rolle: Nagel: Allahs Liebling, S: 293f., Hei-
lungswunder allgemein in der Burda des Būṣīrī: ebd. S. 323.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 39

al-Ǧauzī und anderen selbstverständlich vorausgesetzte Bezug zum wunder­


samen Wirken Muḥammads fehlt.150
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb liefert darüber hinaus eine theologische Er-
klärung dafür, warum Wundern im Leben Muḥammads eine geringere Rolle
zukomme als in dem der vorausgegangenen Propheten. Mit Blick auf Koran
17:59 („Und nichts anderes hinderte uns daran, (zur Bestätigung unserer Bot-
schaft) Zeichen mit zu senden, als (der Umstand), daß die früheren (Gene-
rationen) sie für Lüge erklärt haben“), der als Antwort auf die Aufforderung
von Muḥammads Gegnern, er solle Silber in Gold verwandeln und die Berge
um Mekka entfernen, gedeutet wird, führt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb aus,
dass dies umso mehr für die koranischen Strafwunder gelte, mit denen Gott
ganze Völker wegen ihrer Verstocktheit zugrunde gerichtet habe. Mit
Muḥammad sei jedoch die Zeit angebrochen, in der die Ungläubigen durch die
Hände der Gläubigen bestraft werden sollen, indem sie ǧihād führen oder die
die ḥadd-Strafen vollziehen. Ziel sei es schließlich, die meisten Ungläubigen
auf den rechten Pfad zu führen.151
Das Erfüllen und die Durchsetzung der Normen durch die Gemeinschaft
der Muslime machen folglich den göttlichen Eingriff in den gewöhnlichen Ab-
lauf der Ereignisse überflüssig.

ʿIṣma bedeutet nicht Makellosigkeit: Die Funktion der


Kranichgeschichte und des fehlenden Lendenschurzes
Die Kranichgeschichte ist eines der Elemente der Prophetenbiographie, die
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb bereits im Vorwort zur Sprache bringt. In sei-
ner kurzen Abhandlung über sechs zentrale Elemente der Prophetenbiogra-
phie hat er die Episode ebenfalls aufgenommen. Der Vorfall ist folglich für sein
Verständnis von Muḥammad von größter Bedeutung. Dass Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb nachdrücklich betont, aus Muḥammads Munde sei tatsächlich zu
hören gewesen, man dürfe die drei heidnischen Göttinnen um Fürsprache an-
rufen, ist vor dem Hintergrund der mit der Frage der ʿiṣma der Propheten ver-
bundenen Überlie­fe­rungs­geschichte der Kranichgeschichte zu verstehen.
Die Episode findet sich bekanntlich nicht in der Sīra des Ibn Isḥāq in der
Redaktion durch Ibn Hišām, jedoch erscheint sie bei aṭ-Ṭābarī zumindest im

150 Ob Ibn Ḥubaiš diese Berichte von aṭ-Ṭabarī übernommen, dabei jedoch den Verweis auf
Vorbild das Muḥammad bewusst eliminiert hat, und ob diesem Vorgehen, falls dies
zutreffen sollte, eine theologische Intention zugrunde lag, kann hier nicht geklärt wer-
den. Fred M. Donner hat derartige Wunderberichte zumindest in keiner älteren Quelle
gefunden: Vorwort zu The History of aṭ-Ṭabarī X The Conquest of Arabia, Albany: 1993,
S. xvi.
151 MSR S. 77–82.

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Erzählkontext der Überlieferung von Ibn Isḥāq. Es ist daher nicht auzuschlie-
ßen, dass sie zumindest in anderen Redaktionen ein Teil von dessen sīra war.
Außerdem findet sich eine auf al-Wāqidī (und folglich wohl ebenfalls Ibn
Isḥāq) zurückgehende Variante des Berichts bei Ibn Saʿd, mithin bei einem
Zeitgenossen von Ibn Hišām. Die Historizität des Vorfalls, die Muḥammad
nicht in bestem Licht erscheinen lässt, war innerislamisch also bereits früh
umstritten, woran sich bis in die jüngere Vergangenheit nichts geändert hat.152
Im Laufe der Jahrhunderte gewannen diejenigen, welche diese Überliefe-
rung verwarfen, die Oberhand. Der von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb oft zi-
tierte Ibn al-Ǧauzī erklärt in seiner Prophetenbiographie immerhin noch, die
von den Quraiš vernommenen Verse seien von Teufeln und nicht von
Muḥammad rezitiert worden. Er ist also unverkennbar bestrebt, den proble-
matischen Gehalt des Berichts soweit wie möglich zu entschärfen.153 Im jün-
geren Geschichtswerk al-Muntaẓam erwähnt er, dass sich die Mekkaner nach
dem Vortrag von Sure 53 verneigt hätten. Die Erklärung, dass dies geschehen
sei, weil Muḥammad deren Göttinnen erwähnt habe, erzählen einige Reiter,
welche die Exilanten in Äthiopien befragen.154 In einem Werk über die Ge-
schichtenerzähler und Mahnprediger (quṣṣāṣ wa-muḏakkirīn) verwarnt er
jene unter ihnen, die diese Episode berichten: Er hielt sie offenkundig für ge-
eignet, Laien zu verwirren.155
Dem für die Verklärung des Muḥammad-Bildes in späteren Jahrhunderten
einflussreichen Qāḍī ʿIyāḍ zufolge ist Muḥammad gegen jegliche Anfechtung
gefeit. Außerdem betont er, dass die Überliefererketten dieses Berichts nicht
direkt zu einem Zeugen zurückreichen (mursal), obwohl er sonst bei der Aus-
wahl von Berichten zur Stützung seiner Position keineswegs die Maßstäbe
strenger Ḥadīṯ-Kritik beherzigt.156 Ein wichtiger von ihm popularisierter Ge-
danke ist die ursprünglich mālikitische Idee, dass Muḥammad nicht mit Män-

152 In den kanonischen Ḥadīṯsammlungen findet sich diese Episode nicht, die Verbeugung
der heidnischen Mekkaner nach Abschluss der Rezitation von Sure 53 erscheint dort
daher unmotiviert. In der Ḥadīṯ-Literatur wurde diese Überlieferung bereits in den
muṣannaf-Werken ausgeschieden: Rubin: Eye of the Beholder, S. 156–166; Ahmed: „Ibn Tay-
miyyah“ S. 72f.: Bei einer Tagung von Gelehrten wurde 1966 in Ägypten gefordert, alle
Hinweise auf den Vorfall aus historischen Werken zu entfernen.
153 Ibn al-Ǧauzī: al-Wafāʾ bi-aḥwāl al-Muṣṭafā, al-Qāhira: 1386/ 1966, Bd. I S. 193 pu. f.
154 Ibn al-Ǧauzī: Muntaẓam, Bd. II S. 375.
155 Kiṭāb al-quṣṣāṣ wa-l-mudhakkirīn: Including a Critical Edition, Annotated Translation and
Introduction by Merlin S. Swartz, Beyrouth: 1971 (Recherches publiées sous la direction de
l’Institut des lettres orientales Beyrouth; XLVII) arab. Text S. 102.
156 Qāḍī ʿIyāḍ: Šifāʾ bi-taʿrīf ḥuqūq al-Muṣṭafā, Bairūt & Dimašq: o.J., S. 275–285; Nagel: Allahs
Liebling, S. 166–179.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 41

geln in Zusammenhang gebracht werden dürfe, zu denen auch profane


Lebensumstände gehören.157 Faḫr ad Dīn ar-Rāzī verwirft in seinen theolo-
gischen Schriften und seinem Koraninterpretationen fast alle Interpretation
des Vorfalls. Allein die Auffassung, der Satan habe alle Anwesenden getäuscht
oder Muḥammad habe die drei mit Engeln identifiziert, hält er mit dem Kon-
zept der ʿiṣma der Propheten vereinbar, das er als Sündlosigkeit versteht und
als eine Grundlage des Islam betrachtet.158
Die Auffassung von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb steht dagegen in einer
anderen Tradition, derzufolge ʿiṣma keineswegs völlige Sündlosigkeit impli-
ziert.159 Hauptvertreter dieser gegenläufigen, wider die Überhöhung Muḥam­-
mads gerichteten Auffassung ist Ibn Taimīya. Ihm zufolge bedeutet das
Konzept der ʿiṣma lediglich, dass Propheten davor geschützt sind, im Irrtum
zu verharren.160 Vor diesem Hintergrund bereitet es ihm keine Schwierig-
keiten, die Kranichgeschichte in seiner theologischen Hauptschrift Minhāǧ as-
sunna und in der Abhandlung Kalām ʿalā daʿwat Ḏī Nūn als reale historische
Vorfälle anzuerkennen, da Muḥammad die irrige Auffassung schließlich wi-
derrufen habe. Der Sachverhalt, dass die Überliefererketten der einschlägigen
Berichte nur bis zu Prophetengefährten zurückreichen stellt für Ibn Taimīya
keinen gültigen Einwand gegen die Historizität des Ereignisses dar. Nach sei-
ner Auffassung sind die strengen Regeln der Ḥadīṯ-Kritik allein für die Rechts-
findung relevant, während sich in Fragen der Koranexegese und der sīra auch
aus vielen schwachen isnāden und Berichten mit uneinheitlichem Wortlaut
der Status der auf ausreichend umfangreicher Überlieferung basierenden Zu-
verlässigkeit (tawātur) ergeben könne.161
Allerdings war das Unbehagen an diesem Bericht selbst in seinem purita-
nischen Umfeld groß. Seine Schüler umgingen die Kranichgeschichte oder be-
stritten ihre Authentizität.162 Der Hinweis auf diese Episode fehlt in späteren

157 Nagel: Allahs Liebling, S. 183f.


158 ʿIṣmat al-anbiyāʾ, al-Qāhira: 1986, S. 137–143.
159 Ahmed: „Ibn Taymiyyah“ S. 71f.
160 Ahmad: „Ibn Taymiyyah“ S. 74–78, 86–90, 123; Laoust (Doctrines, S. 178–204) ist diese ent-
scheidende Differenz entgangen, wohl auch, da ihm nur bereinigte Versionen wichtiger
Werke vorlagen.
161 Ahmed: „Ibn Taymiyyah“ S. 78–86; Schöller, Exegetisches Denken, S. 62f.
162 Ibn Qayyim al-Ǧauzīya, sein wichtigster Schüler, erwähnt den Vorfall nicht: Ahmed: Ibn
Taymiyyah, S. 114; Ibn Kaṯīr übergeht den Vorfall in al-Bidāya wa-n-nihāya. in seinem
Korankommentar übernimmt er im Kommentar zu 22:52–54 den Wortlaut Ibn Saʿds,
allerdings nur zu dem Zweck, die Historizität des Vorfalls vehement zu bestreiten. Die
zugrunde liegenden Überlieferungen verwirft er unter Berufung auf den Qāḍī ʿIyāḍ als
mursal: Ibn Kaṯīr: Tafsīr al-Qurʾān al-aẓīm, Hgg. ʿAbd al-Ḥalīm b. Maḥmūd & Muḥammad

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Abschriften von Minhāǧ as-sunna und daher auch der Bulāqer Ausgabe. Die
Lektüre des Kalām ʿalā daʿwat Ḏī Nūn, in dem Ibn Taimīya am ausführlichsten
auf diesen Vorfall eingeht, ist jedoch für ḥanbalitische Kreise im 18. Jahrhun-
dert belegt.163 Der Text dürfte folglich auch Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb be-
kannt gewesen sein.
Interessant sind in diesem Zusam­menhang zwei im 16. Jh. im Ḥiǧāz ver-
fasste Texte. Den kurdischen Gelehrten Ibrāhīm al-Kūrānī hat bereits John Voll
als Begründer eines puritanischen Gelehr­ten­netzwerkes ausgemacht, dessen
Wir­kung bis in die Gegenwart reicht. Über dessen Schüler, besonders Muḥam­
mad Ḥayyā as-Sindī (gest. 1750), seien Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb und an-
dere bedeutende Gelehrte des 18. und 19. Jhs. wie Walīyullāh Dihlawī beeinflusst
worden. Diese These Volls stieß zwar auf vehemente Kritik. Gleichwohl zeigte
sich, dass beispielsweise die Verbreitung der Ideen von Ibn Taimīya wie auch
die Wiederentdeckung von ẓāhiritischem Gedankengut und die daraus resul-
tierende Kritik an Rechtschulwesen und iǧmāʿ sehr wohl auf ihn und einige
seine Schüler zurückgeführt werden können.164
Vor diesem Hintergrund ver­dient Beachtung, dass Ibrāhīm al-Kūrānī die Hi-
storizität der Kranichgeschichte im Sinne einer Einflüsterung des Satans in

b. Naşr Abī Ǧabal, al-Qāhira 2010, S. 1987–1990; Ein weiteres späteres Werk, in dem das
Aussprechen der Verse durch Muḥammad bestätigt wird, ist der weitverbreitete
Ḥadīṭkom­mentar Fatḥ al-bārī šarḥ saḥīḥ al-Buḫārī von Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī (1372–1449).
Bei der Auslegung von Sure 22 erklärt er die Interpretation am wahrscheinlichsten,
wonach der Vorfall sich tatsächlich ereignet habe, dass die Worte jedoch vom Satan
gesprochen wurden. Ähnlich wie bei Ibn Taimīya gilt ihm die große Anzahl der Überliefe-
rungen als Beleg dafür, dass sich das Ereignis tatsächlich zugetragen hat. Ibn Ḥaǧar
al-ʿAsqalānī: Fatḥ al-bārī šarḥ ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Makka: 1414/ 1993, Bd. IX, S. 367f.
163 Ahmed: „Ibn Taymiyyah“ S. 116.
164 John O. Voll: „Muḥammad Ḥayyā al-Sindī and Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb: Analysis of
an Intellectual Group in Eightteenth-Century Madīna“ BSOAS 38 (1975) S. 32–39; ders.:
„Linking Groups in the Networks of Eightteenth Century Revivalist Scholars: The Mizjai
family in Yemen“ in: ders. & Nehemia Levtzion (Hgg.): Eightteenth Century Renewal and
Reform in Islam, Syracuse: 1987, S. 69–92; kritische Stellungnahmen: Ahmad Dallal: „The
Origins and Objectives of Islamic Revivalist Thought“ JAOS 113 (1993) S. 341–359; Haykel,
Revival and Reform, S. 12; Volls Position wurde jedoch mittlerweile mit inhaltlichen Bele-
gen untermauert: Bashir Nafi: „Taṣawwuf and Reform in Pre-Modern Islamic Culture: In
Search of Ibrāhīm al-Kūrānī“ WI 42 (2002) S. 307–355; ders.: „A Teacher of Ibn ʿAbd
al-Wahhāb: Muhammad Hayāt al-Sindī and the Revival of Ashāb al-Hadīth’s Methodo-
logy“ ILS 13 (2006) S. 208–241; Riexinger: S̱anāʾullāh, S. 65–71; Khaled El-Rouhayeb: „From
Ibn Ḥajar al-Haytamī (d. 1566) to Khayr al-Dīn al-Ālūsī (d. 1899): Changing Views of Ibn
Taymiyya among Non-Ḥanbalī Scholars“ in: Shahab Ahmed & Yossef Rapoport (Hgg.): Ibn
Taymiyya and His Times, Karachi: 2010, S. 269–318, dort S. 300–305.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 43

einer eigens diesem Thema gewidmeten kurzen Abhandlung vertei­digte.165


Von dem Anstoß, den al-Kūrānīs Erörterung dieser Frage erregt haben könnte,
zeugt möglicherweise, dass der bereits erwähnte šāfiʿtische Historiker al-ʿĀṣimī
al-Makkī, an sich Vertreter eines ver­klärten Muḥammad­bildes,166 das Ereignis
erwähnt, die Argumente, die für und gegen dessen Historizität vorgebracht
werden, auflistet und ausführlich diverse Erklärungen referiert. Er nennt die
Annahme, der Satan habe die Stimme Muḥammads ange­nom­men, als die
wahr­schein­lichste, enthält sich jedoch einer eindeutigen Stellungnahme.167
Speziell daraus, dass Ibrāhīm al-Kūrānī und Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
in dieser Frage übereinstimmen, darf allerdings nicht voreilig gefolgert ­werden,
es handle sich bei dieser Auffassung um Gemeingut unter puritanischen Ge-
lehrten. Aš-Šaukānī verwirft die Kranich­geschichte in Anleh­nung an Ibn Kaṯir.168
Der in Amritsar lehrende afghanische Ahl-i Ḥadīs̱- Gelehrte ʿAbdullāh Ġaznawī
erwähnt seine Position zumindest, ohne ein­deutig für sie Position zu bezie-
hen.169
Dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb im Vorwort zunächst eine mehrdeutige
Formulierung wählt, die auch im Sinne der „entschärften“ Version des Berichts
verstanden werden kann, während er im Hauptteil die Verse eindeutig von
Muḥammad sprechen lässt, legt nahe, dass er angesichts der weitgehenden
Ablehnung dieses Berichts die Notwendigkeit sah, die Zuhörerschaft nicht
zu überrumpeln.170 Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb reiht sich mit seiner Dar-
stellung bewusst unter jene ein, die Muḥammad keine vollkommene Sünd­
losigkeit zuschreiben. In anderen Zusammenhängen über­nimmt er aus den
verschiedenen benutzten Werken ebenfalls jeweils jene Varianten eines Be-
richts, die Muḥammad nicht völlig makellos erscheinen lassen, etwa die
­Geschichte vom abge­nom­menen Hüfttuch bei Wiederaufbau der Kaʿba. Hier-
mit bezieht er gegen die Auf­fas­sung Position, dass Muḥammad bereits vor der
Offenbarung ohne Makel und gegen jeglichen Irrtum gefeit war.171 Muḥammad
b. ʿAbd al-Wahhābs Aufnahme der drei Lügen Ibrāhīms und von Adams Leug-
nung, Lebensjahre an Dāʾūd verschenkt zu haben, in seine Darstellung ist ein

165 Alfred Guillaume: „al-Lumʿat as-sanīya fī taḥqīq al-ilqāʾ fī l-umnīya by Ibrāhīm al-Kūrānī“
BSOAS 20 (1957) S. 291–303.
166 Simṭ, Bd. I S. 290 Z. 5.
167 Al-ʿĀṣimī al-Makkī: Samṭ, S. 327–331.
168 Muḥammad b. ʿAlī aš-Šaukānī: Fath al-qadīr, al-Manṣūra: o.J., Bd. III S. 628pu. ff.
169 Ahmed: „Ibn Taymiyyah“ S: 117; zur Biographie: Riexinger, S̱anāʾullah, S. 179ff.
170 Die Auffassung von Ahmed („Ibn Taymiyyah“ S. 118f.), Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
biete im Muḫtaṣar nur eine entschärfte Version, beruht darauf, dass er die zweite Darstel-
lung im Werk wie auch dessen prophetologische Gesamtkonzeption nicht berücksichtigt.
171 Nagel: Allahs Liebling, S. 163f.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


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weiterer Seitenhieb gegen die Vorstellung, ʿiṣma bedeute, Propheten äußerten


immer nur faktisch Zutreffendes.
Für die saudische Gelehrtenschaft in jüngerer Zeit scheint es jedoch ein er-
hebliches Problem darzustellen, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb der Affir-
mation der Kranichgeschichte so viel Bedeutung beimaß. In der kommentierten
Neuausgabe des Muḫtaṣar von 2004 ist die Passage mit einer an den Qāḍī ʿIyāḍ
angelehnten Kritik von al-Albānī an den entsprechenden Überlie­fe­run­gen ver-
sehen. Dieser Autor hatte selbst 1952 sein „Katapult“ auf die Kranichgeschichte
gerichtet und eine längere Abhandlung zur Widerlegung der Affirmation
­derselben durch Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī publiziert.172 In der von Saudi-Arabien
geförderten Prophetenbiographie ar-Raḥīq al-maḫtūm des indischen Ahl-i
Ḥadīs̱-Gelehrten Ṣafīyurraḥmān Mubārakpūrī wird der Vorfall nicht einmal
erwähnt, die Mekkaner verbeugten sich, weil sie vom Wort Gottes überwältigt
waren.173

Muḥammad ohne nūr muḥammadī


Die Bewertung der Kranichgeschichte als authentisch ist jedoch nicht das ein-
zige Element im Muḫtaṣar, an dem Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Bestreben
deutlich wird, der Verklärung Muḥammads entgegenzuwirken. Besonders auf-
fällig ist, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb sämtliche mit der Empfängnis
und Geburt Muḥammads in Zusammenhang stehenden Überlie­fe­rungen
überspringt und seine Kindheit weitgehend auslässt, obwohl es sich gerade da-
bei um Elemente handelt, die vielen Muslimen nicht zuletzt wegen ihrer Pro-
minenz in der maulid-Poesie besonders präsent sein dürften.174 Darauf, dass
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb diese Berichte wohl nicht für wenig relevant,
sondern für problematisch hielt, deutet ein – allerdings erst für die Zeit nach
seinem Tod belegtes – wahhabitisches Dekret hin. In diesem Dokument wird
verboten, sich zu bestimmten Zeiten zu versammeln, um den Bericht von der
Geburt des Propheten vorzulesen, ohne dabei auf andere Aspekte der sīra ein-
zugehen, sowie anlässlich an Muḥammads Geburtstag vertonte Gedichte vor-
zutragen, „wie in manchen Ländern üblich geworden“.175

172 Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb: Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl, Hg. Kāmil ʿUwaida, Makka: 1425
a.h./2004, S. 24n4; Muḥammad Naṣīraddīn al-Albānī: Naṣb al-maǧānīq li-nasaf qiṣṣat
al-ġarānīq, Dimašq: 1952.
173 Ṣafīyurraḥmān Mubārakfūrī: ar-Raḥīq al-maḫtūm: baḥṯ fī s-sīra an-nabawīya, al-Qāhira:
2005.
174 Nagel: Allahs Liebling, S. 314f., 323.
175 ʿAbdallāh b. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb: « ar-Risāla aṯ-ṯāniya » in: Sulaimān b. Suḥ­
mān (Hg.): al-Hadya as-sunnīya, Miṣr: 1344, S. 35–50, dort S. 47f.; vgl. auch D.S. ­Margoliouth
s.v. „Wahhābīya“ in EI1 (engl.) Bd. V S. 1086–1090, dort S. 187; und Holmes Katz, Birth, S. 171.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 45

Bereits die bei Ibn Hišām und Ibn Saʿd zu findenden Berichte über die Bege-
benheiten in diesen Phasen enthalten Elemente, auf deren Basis sich das Kon-
zept einer Sonderstellung Muḥammads unter den Menschen, wenn nicht gar
innerhalb der gesamten Schöpfung entwickelte. Bei der Darstellung der Kind-
heit Muḥammads übergeht Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb die Spaltung des
Brustkorbs mit der Reinigung des Herzens und die Entdeckung des „Prophe-
tenmals“ durch den Eremiten Baḥīrā in Bosra. Noch auffälliger ist, dass er all
jene Berichte eliminiert, die mit der Vorstellung des nūr an-nubūwa zusam-
menhängen, etwa wie Umm Qattāl kurz vor der Zeugung Muḥammads Vater
ʿAbdallāh zum Geschlechtsverkehr aufforderte, weil sich dieses Licht auf sei-
ner Stirn zeigte, oder die von der schwangeren Āmina ausgehenden Strahlen,
die sie Bosra erblicken lassen. Diese Details sind zunächst noch nicht mit
der Vorstellung verbunden, Muḥammad selbst sei vor der gesamten übrigen
Schöpfung erschaffen worden und stelle ihren Zweck dar. Gleichwohl ent­
wickelte sich hieraus die Vorstellung des präexistenten nūr muḥammadī und
dem Erschaffung Muḥammads vor allen Geschöpfen, als „Inbegriff von Allahs
Schöpfungshandeln“ mit einem „unirdische[n] Wesenskern“.176 Eine weitere
Stellungnahme gegen die Vorstellung der Präexistenz Muḥammads ist das
­Zitat des Koranverses, demzufolge alle anderen Menschen – folglich auch
Muḥammad selbst – nach und aus Adam erschaffen wurden. Dies ist nicht
zuletzt als Parteinahme gegen das für die Muḥammadverklärung wichtige,
wenngleich in keiner kanonischen Sammlung überlieferte ḥadīṯ zu werten:
„Ich existierte bereits, da war Adam noch zwischen Geist und Wasser“.177

Das Geschichtsbild des Muḫtaṣar

Damit, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb gegen die zu seiner Zeit vorherr-
schende Verklärung Muḥammads Stellung bezieht, hängt seine Deutung der
Weltgeschichte und der Position Muḥammads, der Propheten und bestimmter
Muslime in ihr zusammen.
Das ausführliche, den Zeitraum von der Schöpfung bis zu den Īlḫānen be-
handelnde Vorwort ist das auffälligste Element des Muḫtaṣar. Das dort zum
Ausdruck kommende Geschichts­bild ist keine Heilsgeschichte, sondern eine
tendenzielle Unheilsgeschichte, die der beständige Kampf zwischen

176 Nagel: Allahs Liebling, S. 164ff.; vgl. auch Schöller: „Biographical Essentialism“ S. 162f.
177 Holmes Katz: Birth, S. 12f., zu Versuchen, einschlägige Koranverse und kanonisches ḥadīṯ
mit dem nūr muḥammadī in Einklang zu bringen: ebd. S. 20f.; Nagel: Allahs Liebling, S.
327, 354, siehe auch 313f.

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46 Riexinger

dem von Gott verkündeten tauḥīd und der Verführbarkeit der Menschen prägt,
die unablässig Gefahr laufen, sich aus fehlgeleiteter Frömmigkeit heraus dem
širk hinzugeben.178 Bis zu Muḥammad wird dieser Kampf von Propheten ge-
führt. Aber auch nach seinem Tod findet dieses Ringen seine Fortsetzung, al-
lerdings mit zwei Unterschieden. Erstens empfangen die Rechtgeleiteten keine
Offenbarung mehr. Stattdessen handeln sie in Kenntnis des durch Muḥammad
endgültig vermittelten tauḥīd. Zweitens wird der Frevel nicht mehr durch
­göttliche Strafgerichte getilgt, sondern durch Menschen, die göttliche Anord-
nungen mit Gewalt durchsetzen. Daher erscheinen als Nachfolger der Prophe-
ten auf der einen Seite Gelehrte wie Ibn Taimīya mit seiner Fatwa gegen die
pseudoislamischen Mongolen, auf der anderen Heerführer wie der sonst we-
gen seiner Eigenmächtigkeit getadelte Ḫālid b. al-Walīd, als derjenige, der die
ridda ausgemerzt hat, oder Saladin, der Sieger über die Fatimiden.
Vor diesem Hintergrund lässt sich zudem erklären, warum Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb Noah als den ersten paradigmatischen Gottesgesandten be-
handelt: Adam wurde schließlich nicht zu einem irregeleiteten Volk geschickt,
um es auf den rechten Weg zurückzuführen. Die besondere Bedeutung, die
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb den vernichtenden Strafen zumisst, könnte
wiederum eine Erklärung dafür sein, dass er im Vorwort Moses ausspart. Auf
die Verurteilung der Verehrer des goldenen Kalbes als Beigeseller (man ḥalafa
li-ġair Allāh ašraka), verweist Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb in anderen Wer-
ken durchaus. Da Moses aber gerade nicht zu einem Vernichtungsfeldzug ge-
gen die mušrikūn unter den Israeliten aufbrach (Koran 7:148–157), sondern
dass jenen verziehen wurde, macht es nicht eben leicht, ihn in solch ein Ge-
schichtsbild zu integrieren.179 Mit Blick auf die zeitliche Einordnung des
Werkes wäre das Auslassen von Moses als Indiz für ein fortgesetztes Feilen am

178 Das Geschichtsbild der Wahhabiten geht somit über die im engeren Sinne islamische
Geschichte hinaus. Wird der Muḫtaṣar nicht zur Kenntnis genommen, wird dieser zen-
trale Aspekt leicht übersehen: Rentz: Wahhābīs, S. 272; Peskes: Muḥammad b. ʿAbdal­
wahhāb, S. 6f.; so ist es denn auch ke i n e z we i te ǧāhilīya , mit der sich Muḥam­mad b.
ʿAbd al-Wahhāb in seiner Umwelt konfrontiert sieht (ebd. S. 221f.), sondern einer von
z a h l re i c h e n Rü c k f ä l l e n seit dem Tode Muḥammads; zur gängigen „heilsgeschicht­
lichen“ Konstruktion von Muḥammadbiographien: Schöller: „Biographical Essentialism“
S. 156; der Gedanke, dass širk durch fehlgeleitete Frömmigkeit entstehe, lässt sich eben-
falls auf Ibn Taimīya zurückführen: Raquel M. Ukeles: „The Sensitive Puritan: Revisiting
Ibn Taymiyya’s Approach to Law and Spirituality in Light of 20th Century Debates on the
Prophet’s Birthday (mawlid al-nabī)“ in Rapoport & Ahmed (Hgg.), S. 319–337, dort S. 319.
179 « Kašf aš-šubūhāṭ » MT S. 87: „iǧʿal lanā ilāhan“; 1. Sendschreiben an ʿAbdallāh b. Suḥaim,
TN S. 253.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 47

Material und mithin für eine Einordnung des Werkes nach den bekannteren
polemischen Schriften zu bewerten.180
Muḥammads Wirken reiht sich in diesen fortgesetzten Kampf zwischen širk
und tauḥīd ein. Wollte man diese Auseinandersetzung als Diagramm darstel-
len, wäre er der Ausschlag zum Guten hin mit der stärksten Amplitude. Als
Zentrum der Schöpfung oder als Scheidelinie, die das alte vom „neuen Äon“
trennt, kann sein Auftreten jedoch nicht betrachtet werden.181 Im Gegensatz
zu dem für die Muḥammad-Verklärung so wichtigen ḥadīṯ qudsī „lau lāka mā
ḫalaqtu l-aflāka“ wurde der Kosmos nicht für ihn geschaffen, vielmehr agiert er
im Rahmen diesem Geschichtsbilds als ein Funktionsträger in der Schöp-
fung. Die ausführliche Darstellung der sonst gerne verdrängten ridda soll un-
terstreichen, dass mit dem Wirken Muḥammads keineswegs ein Zustand der
Heilsgewissheit eingetreten ist. Vielmehr droht unablässig die Gefahr eines
Rückfalls. Statt der „Herauslösung seiner Gestalt aus der Ereignisgeschichte“
gibt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb ihr wieder einen festen Platz im Heilsge-
schehen.182

Prophetologie – Geschichtsbild – Handlungsauftrag

Die Verbindung des Bildes eines „unverklärten“, aber auch militanten Muḥam­
mad mit dem vom beständigen Kampf zwischen der Versuchung des širk und
der Rückkehr zum tauḥīd geprägten Geschichtsbild impliziert schließlich ei-
nen Handlungsauftrag. Zum einen ist sein Handeln als politisch-religiöser
Führer, so keine offen­ba­rungs­spezifischen Aspekte betroffen sind, reprodu-
zierbar. Zum anderen ergibt sich die Einsicht, dass in der Gegenwart ange-
sichts der Dominanz des širk wieder eine grundlegende Reform oder besser
Restauration (iṣlāḥ) erforderlich ist. Zusätzlich gilt es, sich an das als Slogan
der Wahhabiten fungierende Ḥadīṯ zu erinnern. Von ihm existiert nämlich
eine Variante mit Nachsatz: „bada⁠ʾa l-Islāmu ġarīban wa sa-yaʿūdu ġarīban ka-
mā bada⁠ʾa. Fa-ṭūbā li-l-ġurabāʾi llāḏīna yuṣliḥūna mā afsada n-nās min sunnatī“
(„Der Islam begann als Fremder, und als Fremder wird er wiederkehren. Selig

180 Zu den Datierungsproblemen der Polemiken: Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 51,


da Sulaimān b. Suhaim nicht auf Maßnahmen eingeht, die Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
erst nach dem Bundesschluss mit den Āl Suʿūd anordnen konnte, setzt Peskes (S. 58) des-
sen Sendschreiben in dem Zeitraum zwischen 1740 und 1745 an.
181 So Nagel: Allahs Liebling, S. 253f.: zu Ibn al-Ǧauzī: S. 324f.; ähnlich Schöller: Exegetisches
Denken, S. 35.
182 Nagel: Allahs Liebling, S. 132.

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sind die Fremden, welche wiederherstellen, was die Leute an meiner sunna
verunstaltet haben“). Diese Variante wird zwar nicht im Muḫtaṣar, wohl aber
in der Korrespondenz Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs zitiert.183 Darüber hin­
aus ist davon auszugehen, dass das Werk nicht im stillen Kämmerlein gelesen,
sondern – wie sīra-Literatur generell – zur öffentlichen Unterweisung benutzt
und dabei mündlich kommentiert wurde, wodurch die Identifikation der
muwaḥḥidūn mit diesen „Fremden, die berichtigen, was an meiner sunna ver-
dorben wurde“ niemandem verborgen geblieben sein dürfte.184

Parallelen

In den Werken von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb


Der Muḫtaṣar weist zahlreiche Parallelen zu anderen Werken Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhābs aus. Wenngleich in jenen die Kritik an Praktiken im Mittel-
punkt steht, die in der Prophetenbiographie eine untergeordnete Rolle spielt,185
tauchen hier Elemente aus den qiṣaṣ al-anbiyāʾ und der Prophetenbiographie
mit derselben Intention auf, die Praktiken der Sufis wie auch den Kampf gegen
sie in einen überzeitlichen Kontext einzuordnen.186 Der anachronistische Ge-
brauch des Begriffes ʿulamāʾ findet sich ebenfalls in den Streitschriften187 und

183 Muslim: īmān, 232; Tirmiḏī: īmān, 13; Ibn Māǧa: fitan, 15; zitiert im 2. Sendschreiben an
ʿAbdallāh b. Suḥaim, in: TN, S. 270–288, dort S. 281.
184 So schrieb Ibn al-Ǧauzī speziell für Prediger: Nagel: Allahs Liebling, S. 205f.; manche Leer-
stellen des Muḫtaṣar, wie etwa der Verzicht auf die namentliche Erwähnung Saladins und
Ibn Taimīyas im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Fatimiden bzw. Mongo-
len, scheinen geradezu darauf hin angelegt zu sein, die Zuhörer zu fragen.
185 « Kitāb at-Tauḥīd » MT S. 14f.: Bäume und Steine; S. 16ff.: Keine Opfer/ Votivgaben für
jemanden anderen als Gott; S. 19f.
186 « Kitāb at-Tauḥīd » MT S. 26ff.; « Kašf aš-šubūhāt » MT S. 74: Der unter dem qaum Nūḥ
aufgekommene Götzendienst entsteht bei durch übertriebene Ehrerbietung gegenüber
den Frommen, die dann zur Verehrung von deren Gräbern führt; S. 74: Muḥammad hat
die Bildnisse der Frommen zerstört, und diejenigen bekämpft, die sie verehrten; S. 86:
Jemandem, der Musailima verehrte, wurde ebenfalls keine Gnade gewährt, mochte er
auch die šahāda rezitieren und beten, ʿAlī hat diejenigen verbrannt, die an ihn glaubten
wie an Yūsuf und die beiden Sonnen, obwohl sie behaupteten, Muslime zu sein, Verweis
auf die Banū ʿUbaid (Fatimiden); Sendschreiben an die Bewohner von al-ʿUyaina: TN,
S. 360–393, dort S. 364: Göttinnen waren Menschen oder ein Baum, an dem geopfert
wurde.
187 « Fī sittat mawāḍiʿ min sīrat an-nabī » MT S. 104.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 49

die ridda wird dort ebenfalls als besonders wichtiges Element der Propheten-
biographie dargestellt.188
Wie im Muḫtaṣar schreibt Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb die Irrungen des
Götzendiensts anders als Ibn al-Ǧauzī und Ibn Taimīya weniger einem Prie-
stertrug denn fehlgeleiteter Frömmigkeit zu. Gerade vortreffliche Personen
werden ja als Objekt der Verehrung auserwählt. Dies passt zu seinen Angriffen
auf die in Naǧd verbreitete Verehrung des Grabes des Prophetengefährten Zaid
b. al-Ḫaṭṭāb.189 Die ausführliche Darstellung von Muḥammads Ablehnung
eines Aufschubs für den Götzendienst in aṭ-Ṭāʾif steht mit der an anderer Stelle
theoretisch dargestellten Auffassung in Zusammenhang, dass širk nicht als
kufr zu benennen, selbst schon kufr sei.190 Nicht zuletzt erweist sich wahrer
Glaube im aktiven Bekämpfen des širk.191 In diesem Zusammenhang wird
auch dort das Verbot erörtert, zu töten und auszuplündern, wer die Formel „lā
ilāha illā Llāh“ ausspreche, aber alle anderen religiösen Gebote missachte,192
und dass Muḥammads Onkel und ʿAlīs Vater Abū Ṭālib keine Verzeihung für
sein Verharren im Heidentum gewährt wurde, obwohl er die beiden vor den
Nachstellungen der Mekkaner geschützt hatte.193 Die im Muḫtaṣar mehrmals
an historischen Beispielen verdeutlichte Überordnung der religiösen über die
verwandtschaftlichen Bindungen wird ebenfalls bereits im Kitāb at-Tauḥīd
hervorgehoben.194

In der frühen wahhābitischen Literatur


Deutliche Parallelen in Struktur und Motiven der ersten der beiden wahhā­bi­
tischen Chroniken zur Geschichte der eigenen Bewegung, Rauḍat al-afkār von
Ḥusain Ibn Ġannām (gest. 1811), legen nahe, dass der Muḫtaṣar diesem Werk
als Vorbild gedient hat.

188 « Fī sittat mawāḍiʿ min sīrat an-nabī » MT S. 108ff., daneben: nuzūl, den mušrikūn entge-
gentreten, Abū Ṭālib entgeht trotz aller Verdienste um Muḥammad der Verdammnis
nicht, da er nicht zum Islam konvertiert ist, hiǧra.
189 2. Sendschreiben an ʿAbdallāh b. Suḥaim, S. 287f.; « Fī l-uṣūl aṯ-ṯalāṯa al-wāǧiba ʿalā kull
muslim wa-muslima » MT S. 127.
190 « Fī l-uṣūl aṯ-ṯalāṯa al-wāǧiba ʿalā kull muslim wa-muslima » MT S. 134; vgl.: Peskes:
Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 16, 30.
191 Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 32.
192 « Kitāb at-Tauḥīd » MT S. 11ff.
193 « Kitāb at-Tauḥīd » MT S. 26.
194 « Kitāb at-Tauḥīd » MT S. 42f.; diese Position wurde vom führenden sunnitischen anti-
wahhabitischen Polemiker des 19. Jhs., Aḥmad b. Zainī Daḥlān in einer eigenen Streit-
schrift angegriffen: Asnā al-maṭālib fī naǧāt Abī Ṭālib, o.O. 1999.

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50 Riexinger

Der eigentlichen Ereignisgeschichte wird dort ebenfalls ein Vorbau zur Ein-
ordnung der Mission von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb in die Unheilsge-
schichte vorausgeschickt. Die Gräberverehrung wird nicht nur der Anbetung
von Götzen (auṯān) gleichgestellt.195 Analog dazu, wie im Muḫtaṣar der Ur-
sprung der einzelnen heidnischen Kulte referiert wird, schildert Ibn Ġannām
die einzelnen Heiligenkulte und deren Entstehung.196 Die schlimmsten Zu-
stände herrschen in der Gegenwart wie zur Zeit des Propheten im ḥarām zu
Mekka.197 Als Grund dieser Verfehlungen wird ebenfalls das Bedürfnis, um Hil-
fe zu bitten (istiġāṯa), ausgemacht.198 Das ġurba-Motiv wird auch hier im Kon-
text des Götzendienstes eingeführt.199 Werden im Muḫtaṣar die Juden als
ʿulamāʾ bezeichnet, so sagt Ibn Ġannām quasi als Umkehrung von den ʿulamāʾ,
die Unheil anrichten, sie ähnelten den Juden (während wer bei der Gottesver-
ehrung übertreibe, es den Christen gleichtue).200
Ein zweites Mal wird der Topos am Beispiel des Wirkens von Muḥammad
erklärt: die Bevölkerung befand sich im Irrtum, und während nur einzelne
Muḥammad folgten, wurden sie von den Stämmen ausgegrenzt.201 Die Kennt-
nis der sunna, die durch Muḥammad vermittelt wurde, ermöglichte jedoch die
Rückkehr auf den geraden Weg.202 Die Prüfungen (iḫtibār wa-imtiḥān), die
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb um des tauhīd willen durchstehen musste, ent-
sprechen somit der Gewohnheit Gottes (sunnat Allāh).203 Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhābs Übersiedlung von ʿUyaina nach Darʿīya wird hiǧra genannt,204
das Bündnis mit den Āl Suʿūd als Parallele zur Allianz Muḥammads mit den
anṣār dargestellt205 und die Auf­kün­digung oder Verweigerung eines Bünd-
nisses mit Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb und Ibn Suʿūd als ridda oder irtidād

195 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 13f.; Noah wird ebenfalls allerdings in anderem Kontext zur Mah-
nung wider die Gräberverehrer angerufen: S. 75.
196 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 14f.; dass die Verehrung des Grabes von Aḥmad Badawī in Ṭanṭa
und weitere Stätten in den Nachbarregionen der Arabischen Halbinsel miteinbezogen
werden, verdeutlicht zudem den universalen Anspruch der Wahhābīya (ebd. S. 18–22).
197 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 16.
198 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 18.
199 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 23.
200 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 28; bereits vorher wird erwähnt, dass Muḥammad der umma Ver-
fallserscheinungen vorausgesagt hat, die jenen entsprechen, die unter den Juden verbrei-
tet sind: S. 24f.
201 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 31f.
202 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 35f.
203 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 38.
204 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 87f.
205 So allerdings ohne Bezug zum Muḫtaṣar schon Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb,
S. 245–249.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 51

bezeichnet.206 Gefahr droht sogar von den eigenen Anhängern und muss mit
den entsprechenden Mahnungen bestraft werden, wie vor der Schlacht von
Tabūk.207 Wie in manchen von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Schilderungen
der Schlachten zu Lebzeiten Muḥammads und während der ridda finden sich
in Ibn Ġannāms Darstellung der Feldzüge der wahhābitisch-saudischen Kämp-
fer detaillierte Angaben über die Zahl der getöteten Gegner, sowie der ge­plün­
der­ten Zelte, Kamele und Kleintiere.208 Kleinere Feldzüge unter Führung
Unterge­bener werden wie im Kontext der Prophetenbiographie sirrīya ge-
nannt.209 Die Zerstörung der Gräber nach dem Sieg über die Feinde entspricht
wiederum der Vernichtung der Götzenbilder.210
Ibn Ġannāms Werk endet in der Druckfassung und den bekannten Hand-
schriften abrupt mit Ereignissen des Jahres 1796. Esther Peskes weist jedoch
darauf hin, dass die Wahhabitengeschichte von Félix Mengin, einem franzö-
sischen Diplomaten in Ägypten, bis dorthin mit Rauḍat al-afkār überein-
stimmt. Dessen Schilderung hört wiederum 1811 auf, also im Todesjahr von Ibn
Ġānnām, weshalb es sich um eine Paraphrase handeln dürfte. In diesem Be-
richt wird die Zerstörung der Grabmäler wie auch die Konfiskation und Vertei-
lung der Votivgaben ausführlich dargestellt, ebenso wird berichtet, wie die
Imame von Sanaa und Maskat sowie ein Scheich aus Hadramaut ʿAbd al-ʿAzīz
b. Suʿūd huldigen.211 Tatsächlich scheinen sich die saudischen Heere bei der
Unterwerfung ihrer Gegner am Vorgehen Muḥammads gegen die Polytheisten
von aṭ-Ṭāʾif orientiert zu haben: Nach der Besetzung von Mekka und Medina
1803 wurde der Bevölkerung zunächst der tauḥīd dargelegt, dann wurde sie

206 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 104: « Wa-fī haḏihi s-sanati rtadda Ibrāhīm b. Muḥammad b. ʿAbd
ar-Raḥmān amīr Ḍurmā wa-naqaḍa ʿahd aš-Šaiḫ Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb wa-l-amīr
Muḥammad Ibn Suʿūd »; S. 106: auch über den eigenen Bruder in Ḥuraimila: S. 107; S. 124–
127: Vorfälle von al-Ḥāʾir, Bündnis des Herrschers von Naǧrān mit dem von al-Aḥsā. Irtidād
in Naǧd, Darʿīya wird letztlich erfolglos belagert.
207 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 107f.
208 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 190, dem wohlfeilen Vorwurf „orientalists depict Wahhabism as
violent“ (Haj: Reconfiguring, S. 31) ist mithin entgegenzuhalten, dass die Wahhabiten dies
selber tun.
209 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 146.
210 Ibn Ġannām: Rauḍa, S. 192f.
211 Félix Mengin: Histoire de lʼÉgypte sous le Gouvernement de Mohammed Aly, Paris: 1823, Bd.
II S. 522–530, 535–538. Als Einwand könnte auf die negative Bewertung der Vorgänge ver-
wiesen werden, doch dürfte Mengin diese von seinen ägyptischen Informanten über-
nommen haben; Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 190f.; zum nach anfänglicher
Begeisterung distanzierten Verhältnis der jemenitischen Qāsimī Imame und ihres „ideo-
logischen“ spiritus rector aš-Šaukānī: Haykel: Revival and Reform, S. 127–138.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


52 Riexinger

kollektiv und einzeln verpflichtet, die wahhābitische Lehre zu befolgen, zu-


letzt wurden die Stätten des širk zerstört.212
Die zweite Chronik zur Entstehung der Wahhābīya, von Ibn Bišr, zeichnet
sich dadurch aus, dass die gewaltträchtigen Aspekte von Lehren und Wirken
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs abgemildert werden. Allerdings scheint in
diesem Werk die Idee der zyklischen Erneuerung ebenfalls durch.213
Die bei Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb durch Assoziationen und Auslas-
sungen vermittelte Kritik an der Muḥammadverehrung wird von seinem Enkel
ʿAbd ar-Raḥmān b. Ḥasan in dessen Abhandlung al-Bayān al-muḥaǧǧa fī r-radd
ʿalā l-laǧǧa expliziert. Er attackiert in diesem Traktat vor allem die Burda des
Būṣīrī und weitere dem Prophetenlob gewidmete Gedichte.214 ʿAbd ar-Raḥmān
wirft deren Autoren vor, dem Irrweg der Christen zu folgen, indem sie unziem-
lich Muḥammad in einer Weise überhöhten, wie jene es mit Jesus getan hätten,
obwohl der Prophet selbst sich gegen übermäßiges Lob verwahrt habe.215 Der
Autor betont zudem, dass Muḥammad nur zu Lebzeiten um Fürsprache gebe-
ten werden konnte.216 Verworfen wird die Vorstellung, der Prophet verfüge per
se über Wissen um das Verborgene. Wenn er etwas wisse, das den mensch-
lichen Sinnen und dem menschlichen Verstand nicht zugänglich sei, dann nur
deswegen, weil Gott ihm selbiges zugänglich gemacht hat. In zahlreichen
aḥādīṯ bezeuge Muḥammad vielmehr, dass ihm zum einen häufig diesseitige
Sachverhalte unbekannt seien, und dass zum anderen allein Gott wisse, wann
„die Stunde“ anstehe.217 Die Ablehnung der Position, dass Muḥammad um das
Verborgene wusste, könnte erklären, warum Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
die Halsbandaffäre als eine von wenigen Episoden aus der medinensischen
Phase behandelt. Er selbst weist zwar nur darauf hin, dass ein Monat zwischen
dem Vorfall und Entscheidung, wie mit ʿĀʾiša zu verfahren sei, verging, Sein

212 Esther Peskes: „Die wahhabitische Besetzung von Mekka 1803“ in: Rainer Brunner u.a.
(Hg.): Islamstudien ohne Ende: Festschrift für Werner Ende zum 65. Geburtstag, Würzburg:
2002 (AKM; LIV,1) S. 345–353; Marcel Behrens: „Ein Garten des Paradieses“: Die Propheten-
mosche von Medina, Würzburg: 2007, S. 35–38.
213 Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 211.
214 In: Maǧmūʿat at-tauḥīd Bd. iv S. 224–282; vgl. Nagel: Allahs Liebling, S. 316–326; Schöller:
Mohammed, S. 118–124.
215 MSR S. 225: „lā tuṭrūnī kamā aṭrati n-Naṣārā ibna Maryam“ (Buḫārī: Anbiyāʾ, 654).
216 MSR S. 253f.; vgl. hierzu die in Südasien zwischen Puritanern (Ahl-i Ḥadīṯ und Deobandīs)
sowie zwischen Sufis geführte Auseinandersetzung über die Frage, ob Muḥammad ḥāḍir
und nāẓir sei, und folglich mit yā Rasūl Allāh angeredet werden dürfe oder nicht: Riexin-
ger: Sanāʾullāh, S. 243.
217 MSR S. 255–259.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 53

Sohn aber nennt diese Episode in seiner Prophetenbiographie explizit als Bei-
spiel dafür, dass Muḥammad nicht per se um das Verborgene wusste.218
Die von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Sohn ʿAbdallāh b. Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb kompilierte, ebenfalls als Muḫtaṣar bekannte Kurzfassung der
Biographie Muḥammads mag wiederum Aufschluss darüber geben, wie ein-
zelne Auslassungen im gleichnamigen Werk seines Vaters zu bewerten sind.
Der Aufbau seiner sīra ist konventioneller. Ein Vorspann, mit dem der Vater
Muḥammad in die Weltgeschichte einordnete, fehlt. Allerdings wird auch hier
die Entstehung des Heidentums nach der Schilderung von Geburt und Jugend
erklärt.219 Didaktische und legitimierende Exkurse fehlen dagegen weitge-
hend. Anders als sein Vater übernimmt ʿAbdallāh b. Muḥammad b. ʿAbd al-
Wahhāb eine Reihe der mit der Geburt Muḥammads verbundenen Wunder,
darunter auch zwei, die das nur an-nubūwa implizieren. Er erklärt jedoch, dass
es sich bei diesem Licht um eine Rechtleitung für die Menschen handle, ­welche
die Finsternis des širk vertreibt. Dies legt nahe, dass sein Vater diese Aspekte
nicht für falsch, aber für potenziell irreführend hielt, weil durch sie die
Vorstellung eines andersartigen ontologischen Status Muḥammads verbreitet
werden könnte.220 Gleichwohl kann dieses Werk nicht in seiner Gänze Beleg
für die von Peskes am Vergleich der wahhābitischen Chroniken von Ibn
Ġannām und Ibn Bišr herausgearbeitete Tendenz der Wahhābiten des 19. Jahr-
hundert gelten, besonders anstößige Positionen ihres Gründervaters abzumil-
dern.221 Die anderen wesentlichen Stellungnahmen seines Vaters gegen die
Sündlosigkeit werden nämlich übernommen.222 Ebenso fehlen auch hier wei-
tere gängige Wunderberichte. Die ridda wird allerdings nur kurz behandelt,
Nahrawān hingegen wie im Muḫtaṣar.223 Dies wirkt als ob Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhābs Auffassung zur Apostasie beibehalten wurde, die praktische
Schlussfolgerung daraus jedoch nicht mehr dieselbe Bedeutung genoss. Die
Auflistung von gegen die Ḫāriǧiten gerichteten aḥādīṯ soll die Distanzierung
von ihnen zum Ausdruck bringen.224 Ansonsten jedoch berichtet ʿAbdallāh b.

218 MSR S. 122; ʿAbdallāh b. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb: Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl, Miṣr: 1396
a.h., S. 279.
219 ʿAbdallāh b. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb: Muḫtaṣar, S. 219–239.
220 ʿAbdallāh b. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb: Muḫtaṣar, S. 12f.
221 So schildert Ibn Bišr die Expansion der Wahhabiten als Errichtung von Staatlichkeit in
einem zuvor rechts­freien Raum und somit als eher politisches Phänomen denn als Kampf
zwischen Glauben und Unglauben: Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 167, 220, 329.
222 So die Ermahnung wegen der nachlässigen Kleidung: ʿAbdallāh b. Muḥammad b. ʿAbd
al-Wahhāb: Muḫtaṣar, S. 24; die Kranichgeschichte: S. 93.
223 ʿAbdallāh b. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb: Muḫtaṣar, S. 471–475, 477f.; 497f.
224 ʿAbdallāh b. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb: Muḫtaṣar, S. 498.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


54 Riexinger

Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb sehr viel ausführlicher über den Privat-


menschen Muḥammad: Alle Frauen werden aufgezählt, des Weiteren auch In-
times wie die einmonatige Abstinenz vom Geschlechtsverkehr.225

Parallelen bei Walīyullāh Dihlawī und der indischen ṭarīqa-i


muḥammadīya
Einige Motive aus dem Muḫtaṣar finden eine Parallele bei Walīyullāh Dihlawī,
der ebenfalls zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Ḥiǧāz studiert hatte und als
Begründer der puritanischen Strömung im südasiatischen Islam betrachtet
werden kann. Er verwendet zwar den Begriff tauḥīd al-ulūhīya nicht, doch ar-
gumentiert er ganz ähnlich. So sei es nicht ausreichend, Wesen die unter Gott
stehen, keine Rolle bei der Weltlenkung zuzusprechen, zugleich jedoch zu
­lehren, dass sie um Hilfe angerufen werden dürften, dass man ihnen Schlacht-
opfer bringen, man sich vor ihnen niederwerfen und bei ihnen schwören ­dürfe.
Auf diese Weise würden die Unwissenden (ǧuhhāl) verführt zu glauben, dass
die Verehrung jenen Wesen selbst gelte.226 Er parallelisiert die Einführung des
Götzendienstes durch ʿAmr b. Luḥayy ebenfalls mit der Gräberverehrung, und
erklärt dessen Verbreitung mit unreflektierter Nachahmung (taqlīd).227 Er
unter­streicht ebenfalls, dass Propheten Menschen sind (innamā anā bašarun
miṯlukum) und wendet sich dagegen, dass im Übermaß Wunderberichte her­
angezogen werden, um ihren Status zu verdeutlichen.228 Wie Muḥammad
lehnt er Mittlergestalten ab.229 Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass
die Spannbreite der intellektuellen Traditionen, die ihn beeinflusst haben,
weit größer ist als bei Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb. Dass markanteste Bei-
spiel ist seine neuplatonisch beeinflusste Prophetologie.230
Allerdings entwickelten die Söhne und Enkel Walīyullāhs dessen Gedan-
kengut weiter und schieden dabei mystische Elemente zusehends aus. ­Politisch
bedeutsam wurde die von seinem Enkel Ismāʿīl geführte ṭarīqa-i muḥam­
madīya, die unter der militärischen Führung von Sayyid Aḥmad Barelwī ǧihād
gegen die Sikhs im Punjab führte, bei dessen Niederschlagung 1831 beide fielen.
In der von Ismāʿīl verfassten Programmschrift Taqwiyatu l-īmān finden sich
ähn­liche Angriffe auf die Prophetenverehrung und die Vorstellung von Mu­-
ḥam­mad als „Inbegriff des Schöpfungshandelns“. Das Konzept der Präexistenz

225 ʿAbdallāh b. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb: Muḫtaṣar, S. 320ff., 389.


226 Walī Allāh ad-Dihlawī: Al-Fauz al-kabīr fī uṣūl at-tafsīr, Karāčī: o.J., S. 18f.
227 Walī Allāh ad-Dihlawī: Fauz, S. 19ff.
228 Walī Allāh ad-Dihlawī: Fauz, S. 21f.
229 Walī Allāh ad-Dihlawī: Ḥuǧǧat Allāh al-bāliġa, al-Qāhira: s.a., Bd. I S. 125.
230 Walī Allāh ad-Dihlawī, Ḥuǧǧat, Bd. I S. 84.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 55

des muḥammadanischen Lichts wird hierbei mit dem christlichen Gedanken


der Inkarnation assoziiert.231
Die von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb nur angedeutete, von seinem Sohn
explizierte Deutung der Halsbandaffäre als Argument gegen ʿilm bi-l-ġaib ist
möglicherweise puritanisches Gemeingut. Im südasiatischen Kontext, wo die
Auseinandersetzung über diese Frage einer der zentralen Streitpunkte in der
Auseinandersetzung zwischen puritanischen und am Sufismus orientierten
Muslimen war, verweisen die Anhänger der ṭarīqa-i muḥammadīya ebenfalls
auf diesen Vorfall, um zu widerlegen, dass Muḥammad diese Eigenschaft be-
sitze.232

Abschluss

Prophetenbiographie als Programm und Propaganda


Wie andere sīra-Werke ist der Muḫtaṣar keine Biographie, sondern ein Werk,
das Einblick in das „Heilswerk Gottes“ vermitteln und Positionen in Theologie
und fiqh legitimieren soll.233 Die Figur Muḥammads gewinnt daher wie in ent-
sprechenden anderen Werken mythischen Charakter, die Berichte fungieren
als Kohärenzfiktionen im Sinne Assmanns, indem sie einen „Zusammenhang
von Mittel und Zweck, Nutzen und Kosten, Ursache und Wirkung, Teil und
Ganzem“ herstellen.234 Diese Aufgabe erfüllte die sīra-Literatur jedoch nicht
allein im internen Diskurs der Gelehrtenschaft, da sich die Prophetenbiogra-
phie ohnehin nie als eigenständige Disziplin etablierte. Die große Bedeutung
dieser Literaturgattung für die islamischen Gesellschaften resultiert vielmehr
daraus, dass sie nicht zuletzt dazu diente, den Laien, etwa durch den erbau-
lichen Vortrag in Moscheen, Normen exemplarisch vorzuführen und dadurch
plausibel zu vermitteln.235 Der Muḫtaṣar ist ein Musterbeispiel für diese Ten-
denz. An seinem Beispiel zeigt sich jedoch zugleich, wie fundamental sich

231 Sḥāh Ismāʿīl: Taqwiyat, S. 364.


232 Mir Shahamat Ali: „Translation of the Takwiyat-ul-iman, Preceded by a Notice of the Aut-
hor Maulavi Ismail Hajji“ JRAS 13 (1852) S. 310–372, dort S. 331f.; die Frage des ʿilm bi-l-ġaib
sollte in der Auseinander­setzung puritanischer Muslime in Südasien mit ihren Gegnern
aus den Reihen der Sufis weiterhin eine herausragende Rolle spielen: Barbara Metcalf:
Islamic Revivalism in British India: Deoband 1860–1900, Princeton: 1982, S. 250; Riexinger:
Sanāʾullāh, S. 244.
233 Schöller: Exegetisches Denken, S. 7, 23ff.
234 Schöller: Exegetisches Denken, S. 32; Jan Assmann: Ägypten: Eine Sinngeschichte, Darm-
stadt: 1996, S. 17f.
235 Schöller: Exegetisches Denken, S. 76f.

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56 Riexinger

Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs Denken von der sunnitischen Mehrheitsauf-


fassung seiner Zeit unterscheidet.
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs didaktische Intention wird besonders
­dadurch deutlich, dass der Text sich auf Aspekte beschränkt, die er einerseits
als korrekturbedürftig ansah und andererseits als bekannt voraussetzen konn-
te. Allein hieraus erklärt sich die Auswahl, nicht aus einem Bestreben nach
­kritischer Sichtung.236 Das zweite wichtige Mittel zur Verdeutlichung der Bot-
schaft sind die Parallelisierungen der historischen Epochen und die Verschrän-
kung der geschichtlichen Ebenen im Text.237
So ergibt sich, wenn man seine Prämissen akzeptiert, eine fast kohärente
Deutung der islamischen Geschichte. Dass diese intendiert ist, findet nicht zu-
letzt in der Disambiguierung des Narrativs seinen Ausdruck. Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb wählt stets nur eine Überlieferung aus und verstößt damit ge-
gen das für die „exegetischen Denken“ geprägte islamische Historiografie cha-
rakteristische „Wa-l-Lāhu aʿlam-Prinzip“.238 Der darin implizierte Anspruch
der Allwissenheit, ja Unfehlbarkeit, wurde Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
schon von Zeitgenossen vorgehalten.239 So bricht er mit der harmonisierenden
Tendenz von der Muḥammad-Verehrung gewidmeten Werken.240 Dieses Ge-
samtbild beeinträchtigt allerdings, dass es Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
nicht gelungen ist einen prägnanten Schluss für das Werk zu finden. Hat sich
das überlieferte Material nicht ganz in ein ideologisches Schema pressen las-
sen?
Das augenfälligste Merkmal des Muḫtaṣar ist die recht weit gehende Aus-
scheidung des Wunderbaren und Übermenschlichen, die mit der Verkürzung
auf normative Aspekte, speziell die Notwendigkeit des ǧihād einhergeht. Gera-
de dieser Aspekt verdeutlicht den fundamentalen Gegensatz des „taimitischen“
Islams zu den bis ins 19. Jh. im „sunnitischen“ Kontext dominanten Auffas-
sungen und Praktiken.241 Charakteristika, die Marion Holmes Katz zur Be-
schreibung des Weltbildes von Gegnern des mawlid im späten 19. und frühen

236 Schöller: Exegetisches Denken, S. 68ff.


237 Vgl. Schöller: „Biographical Essentialism“ S. 161.
238 Schöller: Exegetisches Denken, S. 89, 103ff.
239 So meinte Ibn ʿAfālīq, er maße sich Unfehlbarkeit an, wo doch allein der iǧmāʿ der umma
diese garantieren könne: Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 108f.
240 Schöller: Exegetisches Denken, S. 69.
241 Eine Neuprägung scheint geboten, verschleiert das übliche „neo-ḥanbalitisch“ doch eher
die Radikalität des Bruchs mit gängigen rechtstheoretischen und theologischen Auffas-
sungen wie auch den Sachverhalt, dass die Mehrheit der ḥanbalitischen Gelehrten
distanziert, wenn nicht feindselig gegenüberstanden, vgl.: John O. Voll: „The Non-Wahhābī
Ḥanbalīs of Eighteenth Century Syria“ Isl. 49 (1972) S. 277–291; Caterina Bori: „Ibn Taymi-

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 57

20. Jh. verwendet, wie „devoid of the Sacred“, „radical disenchantment“ lassen
sich durchaus auf diesen Text übertragen.242
Der Sachverhalt, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb dem Propheten thau-
maturgische Qualitäten nicht abspricht, sie aber durch Vernachlässigung rela-
tiviert, ist für die religionssoziologische Bewertung des Wahhabitentums von
hoher Relevanz. Hieran zeigt sich nämlich, dass sein Verständnis von der Funk-
tion des Islams sich grundlegend von der gängigen Praxis seiner Zeit unter-
scheidet. Er denunziert primär Praktiken, wie die Bitte um Hilfe (tawassul), die
darauf abzielen, spezifische Probleme zu beheben. Stephen Sharot bezeichnet
solch eine Form von Religiosität in seiner Typologisierung religiöser Ziele als
thaumaturgisch. Für Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb ist es jedoch nicht vor-
rangige Aufgabe des Islams, bei individuellen Problemen Linderung zu ver-
schaffen. Vielmehr soll die Gesellschaft in Einklang mit göttlichen Direktiven
gebracht werden. Mithin ist die Funktion der Religion transformatorisch.
Als Folge hiervon hat der Gläubige wenig zu erwarten, vielmehr wird etwas
von ihm erwartet.243 Daneben entzieht die Relativierung der thaumatur-
gischen Qualitäten Muḥammads der segensspendenden Funktion der auliyāʾ
die Grundlage, welche die Verteidiger der Heiligenverehrung aus eben jener
ableiten.244
Die Ausscheidung mirakulöser Elemente ist allerdings nicht die einzige Par-
allele zum „Modernismus“, wobei der unverklärte Muḥammad dabei eher zum
Sozialreformer denn zum Feldherrn wird.245 Die Kranichgeschichte als mar-
kanteste Verdeutlichung des menschlichen Charakters Muḥammads scheidet
dabei bemerkenswerterweise aus, wohl wegen der Bedeutung, die sie im We-
sten für tatsächliche oder vermeintliche antiislamische Propaganda gewonnen
hatte. Im speziellen Falle von Muḥammad Ḥusain Haikal und Maudūdī mag
aber auch eine Rolle gespielt haben, dass die Worte nicht mehr problemlos
dem Satan zugewiesen werden konnten, ohne das Projekt der Entmytho­

yya wa Jamāʿatuhu: Authority, Conflict and Consensus in Ibn Taymiyya’s Circle“ in: Ahmed
& Rapoport (Hgg.), S. 23–52, dort S. 33–36; Nagel: Im Offenkundigen, S. 385.
242 Holmes Katz: Birth, S. 213f.; Schöller: Ibn Taymīyah, S. 370.
243 Stephen Sharot: Comparative Sociology of World Religions: Virtuosi, Priests, & Popular Reli-
gion, New York: 2001, S. 136; die beiden anderen von ihm diskutierten Funktionen nomic
(Aufrechterhaltung des Zustandes von Welt und Gesellschaft) und extrinsic (Demonstra-
tion von Status und Macht durch Religion) sind im vorliegenden Kontext irrelevant; auch
in dieser Hinsicht ist Ibn Taimīya der Vordenker: El-Rouhayeb: „From Ibn Ḥajar“, S. 272.
244 Zum von Ibn Taimīyas Kritikern übernommenen Analogieschluss, mit dem al-Ġazalī den
Besuch von Heiligengräbern zwecks des Erwerbs von baraka erlaubte: El-Rouhayeb:
„From Ibn Ḥajar“, S. 289f.
245 Schöller: „Biographical Essentialism“, S. 160, 169 am Beispiel von al-Qasṭallānī.

Die Welt des Islams 55 (2015) 1-61


58 Riexinger

logisierung zu gefährden.246 Nicht minder wichtig für die „moderne“ und


„ideo­logische“ Wirkung ist die Aufforderung zur aktiven Bewährung in ge-
meinschaftlichem Handeln, ein Aspekt, der etwa auch die Fragment geblie­
bene Prophetenbiographie Sīra-i Sarwar-i ʿĀlam von Abū l-Aʿlā Maudūdī
charakterisiert. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sich bei diesen
„modernen“ Aspekten des Wahhabismus um eine Teilaffinität handelt. Auf an-
dere Positionen lässt sich dieser Befund nicht übertragen. Das korporalistische
ḥanbalitische Gottesbild mit seinen kosmologischen Implikationen etwa er-
wies sich als erhebliches Hindernis bei der Einführung säkularer Bildungsinsti-
tutionen seit den 1920er Jahren.247
Die Auffassung, dass Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb ausschließlich ein Ibn
Taimīya-Epigone sei, hat sich mittlerweile ohnehin als unhaltbar erwiesen.
Dass er mit der Übernahme des ridda-Verständnisses almohadischer Autoren

246 Ein markantes Beispiel ist bereits die Kritik, die – vermutlich – Rašīd Riḍā an der Aufli-
stung der Episode in den « Fī sittat mawāḍiʿ » (MT S. 195n1) übte; zu reformistischen
­maulid und sīra-Texten: Holmes Katz, Birth, S. 174–181; Maudūdī, bei dem vom nūr
muḥam­madī keine Rede ist, polemisiert scharf gegen jene Autoren, die den Berichten
Glauben schenken und zur Verbreitung der Geschichte beitragen: Abū l-Aʿlā Maudūdī:
Sīrat-i sarwar-i ʿālam, Lāhaur: 1999 (7. Aufl.) Bd. II S. 90–94, 571–578; Ḥaikal schimpft
explizit auf die mustašriqūn: Muḥammad Ḥusain Haikal: Hayāt Muḥammad, al-Qāhira3:
1358 a.h., S. 157f., Muir: S. 159. (S. 157–164).
247 « Kitāb at-Tauḥīd » S. 4; zu den Protesten gegen die Einführung säkularer Schulen, nicht
zuletzt wegen des Geographieunterrichts: Hafiz Wahba: Arabian Days, London: 1964,
S. 49–54, 59–61, sowie: Steinberg: Religion und Staat, S. 291f.; zur Problematik der Teilaffi-
nität von Ibn Taimīya beeinflusster religiöser Strömungen zur „Moderne“ auch Martin
Riexinger: „How Favourable is Puritan Islam to Modernity: A Case Study on the Ahl-i
Hadis in British India“ in: Gwilym Beckerlegge (Hg.): Colonialism, Modernity and Religious
Identities: Religious Reform Movements in South Asia, New Delhi & New York: 2008, S. 147–
165, ders.: „Ibn Taymiyyaʼs Worldview and the Challenge of Modernity: A Conflict among
the Ahl-i Ḥadīth in British India“ in: Birgit Krawietz & Georges Tamer (Hgg.): Islamic The-
ology, Philosophy and Law: Debating Ibn Taymiyya and Ibn Qayyim al-Jawziyya, Berlin: 2013
(Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients; 27) S. 493–517; Georges
Tamer: „The Curse of Philosophy: Ibn Taymiyya as a Philosopher in Contemporary Islamic
Thought“ ebd., S. 329–374; ebenso gut lässt sich diese Problematik der vermeintlichen
Affinität islamischer Strömungen oder Einzelfiguren vor dem 19. Jahrhundert nicht
zuletzt mit dem Gegenbeispiel von Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs osmanischem Zeitge-
nossen Erzurumlu İbrahim Hakkı (1703–1782) verdeutlichen, der die postkopernikanische
Astronomie zwar nicht akzeptierte, aber als erster ʿālim als diskussionswürdige Hypo-
these vorstellte: Erzurumlu İbrahim Hakkı: Maʿrifetnāme, Bulāq: 1257 a.h., S. 144–151. Er
war zugleich ein Anhänger der Vorstellung vom nūr Muḥammadī, und wie von einem Sufi
nicht anders zu erwarten, vertrat er die Auffassung, Gott zeichne die auliyāʾ mit karāmāt
aus: S. 5, 437f., 441f..

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 59

an eine nicht ḥanbalitisch inspirierte puritanische Reformbewegung anknüpft,


zeigt sich allerdings nur in diesem Werk.248 Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb
geht jedoch auch bei der Adaption almohadischen Gedankenguts selektiv vor.
Al-Kalāʿī referiert eng an Ibn Hišām angelehnt die meisten mit Muḥammad in
Zusammenhang gebrachten Wunder. Für ihn bestand schließlich kein Grund,
Wunderberichte zu übergehen, da Ibn Tūmart als unfehlbarer von Muḥammad
abstammender Mahdi selbst beanspruchte, Gnadenwunder empfangen zu ha-
ben, was Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb nie von sich behauptete.249 Wegen
der Wunderberichte sind die meisten der der Prophetenvita gewidmeten Teile
des Werkes von al-Kalāʿī für Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs uninteressant.

Der Muḫtaṣar und das Gewaltpotenzial des Wahhabitentums


Einen Autor, der auf breiter Quellengrundlage eine kohärente Darstellung der
islamischen Geschichte verfasst, die zielgenau auf Erwartungshaltung und
Horizont seines Publikums abgestimmt ist wird man kaum im Anschluss an
seine muslimischen Gegner als primitiv und ungebildet, unkreativ, unoriginell
und keiner Auseinandersetzung würdig abqualifizieren können.250 Diese ab­
wertende Darstellungsweise hat Samira Haj jüngst zu Recht bereits einer
scharfen Kritik unterzogen. Leider geht ihre Neubewertung mit Schönfärberei
in anderer Hinsicht einher. Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb beschränkte sich

248 DeLong-Bas: Wahhabi, S. 52f., 108f.


249 Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt begleitende Zeichen sowie die Entdeckung
des Prophetenmals durch Baḥīrā, allerdings nicht der Verehrung durch Pflanzen: al-Iktifāʾ,
ed. ʿAbd al-Wāḥid, Bd. I S. 167f., 172–176, 190–193; šaqq aṣ-ṣadr Darstellung von isrāʾ und
miʿrāǧ werden ebenfalls in ihrer Ausführlichkeit übernommen: Bd. I S. 377–388; Bd. II
S. 160–163; allerdings wird die Kranichgeschichte affirmiert, wobei hier ebenfalls der
Satan Muḥammad die Worte auf die Zunge legt: Bd. I S. 352f.; Laoust: « Fetwâ » S. 163 Z. 11.;
Maribel Fierro: « Le mahdi Ibn Tûmart et al-Andalus : l’élaboration de légitimité almo-
hade » Revue des mondes musulmans et de la Méditerranée 91–94 (2000) S. 107–125, dort
S. 108–116; Werner Schwartz: Ǧihād unter Muslimen, Bonn: 1980, S. 16; wenngleich dieser
Aspekt mit Blick auf Kalāʿī keine Rolle spielt, ist auch zu betonen, dass für Muḥammad b.
ʿAbd al-Wahhāb ǧihād, anders als für Ibn Tūmart, keinen eschatologischen Bezug hat; vgl.
die Bezüge zu ʿĪsā und dem daǧǧāl: Ibn Tūmart: Kitāb aʿazz, S. 269; das Fehlen jeglichen
eschatologischen Anspruchs ist daneben zugleich ein entscheidender Unterschied zu
einer zeitnahen puritanischen ǧihād-Bewegung, der ṭarīqa-i muḥammadīya in Indien,
vgl.: Marc Gaborieau: « Le mahdi oublié de l’Inde britannique: Sayyid Aḥmad Barelwî
(1786–1831), ses disciples, ses adversaires » Revue des mondes musulmans et de la Méditer-
ranée 91–94 (2000) S. 257–273; umgekehrt wäre die Kritik der Almohaden am Anthropo-
morphismus (Fierro: « Mahdi » S. 113) schwer mit dem ḥanbalitischen Gottesbild der
Wahhābiten zu vereinbaren.
250 Zur Abkanzlung als „Viehhüter“ durch Daḥlān: Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb,
S. 145; Haj: Reconfiguring, S. 30f., 33.

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eben, anders als von ihr suggeriert keineswegs darauf, Degenerationser­schei­


nungen durch Erziehung und intellektuelle Überzeugung zu bekämpfen.251
Die durch die Analyse des Muḫtaṣar bestätigte Feststellung, dass die Ideen
Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs durchdacht sind und Belesenheit reflektie-
ren, erlaubt ­keineswegs, die gewaltbeladenen Aspekten des Wahhabitentums
zu verdrängen.252 Es gilt stattdessen, Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb gerade
deswegen als den Ideologen und geschickten Propagandisten ernst zu neh-
men, der er war. In diesem Sinne ist das Werk eher dazu geeignet die Kritik
von ­Madawi Al-Rasheed zu untermauern, die vielen westlicher Wissenschaft-
ler wie auch regierungsnahen saudischen Autoren vorwirft, die Radikalisie-
rung saudischer Untertanen im Umfeld von al-Qāʿida primär der Rezeption
von ­Sayyid Quṭb und anderen ausländischen Islamisten zuzuschreiben, das
dem Wah­habismus innewohnende Gewalt- und Radikalisierungspotenzial
hingegen kleinzureden.253
Mit Blick auf die Wirkungsgeschichte des Muḫtaṣar ist dies nicht zuletzt
deshalb von Belang, weil die gewaltträchtige Botschaft des Werks, mehr noch
als die Affirmation der Kranichgeschichte, der Grund dafür sein dürfte, dass es
nach der Etablierung des saudischen Staates nie in großem Stil von offizieller
Seite propagiert wurde. Wohl nicht allein, weil die implizite Erklärung aller
Nichtwahhabiten zu Ungläubigen im Ausland Anstoß hätte erregen können.
Gerade als die anderen Werke Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs in Zusammen-
arbeit mit Rašīd Riḍā publiziert wurden, tobte in Saudi-Arabien ein Konflikt
zwischen ʿAbd al-ʿAzīz b. Suʿūd und den iḫwān, jenen Beduinen, die seit den
1910er Jahren in Oasen angesiedelt, militärisch ausgebildet und streng wahha-
bitisch indok­triniert wurden. Erwiesen sie sich während der Expansionsphase
des dritten saudischen Staates als nützliche Kämpfer, so drohte ihre Intransi-
genz und Aufsässigkeit angesichts der kompromissbereiten Politik ʿAbd al-
ʿAzīz die Konsolidierung von dessen Herrschaft ernsthaft zu gefährden. Mit
eigenmächtigen gewaltsamen Aktionen stellten sie das interne Machtgefüge
in Frage und führten diplomatische Verwicklungen herbei. So widersetzten
sich die iḫwān der Duldung der Schiiten durch ʿAbd al-ʿAzīz b. Suʿūd, weil sie
jene als Apostaten betrachteten. Als ʿAbd al-ʿAzīz realpolitisch motiviert eine
Blockade gegen Kuwait verhängte, wandten sie ein, man müsse entweder
ǧihād mit allen Konsequenzen führen, weil es sich um Ungläubige handle,

251 Haj: Reconfiguring, S. 15, im Anschluss an De Long-Bas, S. 18, 53.


252 Haj: Reconfiguring, S. 31, vgl. zur ersten saudischen Herrschaft über al-Aḥsāʾ: Steinberg,
Religion und Staat, S. 490.
253 Madawi Al-Rasheed: Contesting the Saudi State: Islamic Voices from a New Generation,
Cambridge: 2007, S. 73–77.

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Muḫtaṣar sīrat ar-rasūl als Programm und Propaganda 61

oder eben von Kriegsführung absehen. Die Argumentation klingt fast so, als
baute sie auf der Gedankenwelt des Muḫtaṣar auf.254 Die geringe Beachtung,
die man diesem Werk von staatlicher Seite zuteilwerden ließ, wäre mithin als
ein Beispiel für die Versuche zur Kanalisierung des Radikalisierungspotenzials
des Wahhabismus zu werten.

254 Steinberg: Religion und Staat, S. 453–457, 464–469, 499, 528–535; Commins: Wahhabi Mis-
sion, S. 80–92, bes. S. 83f.; Roger Webster: „Hijra and the Dissemination of Wahhābī Doc-
trine in Saudi Arabia“ in: Ian Richard Netton (Hg.): Golden Roads: Migration, Pilgrimage
and Travel in Mediaeval and Modern Islam, Richmond: 2003, S. 11–30, dort S. 18f.

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