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Summary
Growing Up with Two Languages: What About Literacy?
The value of additive mother tongue instruction for children with migration background has be-
come a hot political issue. It has been assumed that L1-instruction has a positive effect on L2 com-
petences. Yet these assumptions have not been investigated by systematic approaches that would
consider a broader range of linguistic and extra-linguistic factors and their respective correlation.
To explore this correlation, this paper presents a study on qualitative and quantitative multi-litera-
cy skills of 28 bilingual 9th graders (with Turkish as a rst language and German as an early L2)
analyzing narrative and expository texts in two languages. The data is examined both from macro
structural perspective, and considers lexico-semantic, syntactic and text organizing features, with
the main focus centered on the correlation between positive transfer and language capability. The
outcomes of the analysis are compared to the respective school curriculum, types and duration of
L1 instructions (mother tongue instruction outside or as part of the school curriculum, bilingual
educational programs and monolingual instruction in the dominant language only).
The results show that mother tongue instruction is not sufcient to obtain a high enough degree of
language prociency to produce positive transfer. Pupils, who didn’t visit L1 instruction courses,
produce better texts. Positive effect of L1 on L2 and vice versa can only be found in the written
text of pupils, who visited a bilingual educational program over a long period of time. It shows
a higher degree of written skills especially in argumentative texts in L1. There are, however,
additional extra linguistic factors which inuence written text competence. Parents’ education
background doesn’t show any inuence on the text competences of pupils. As expected, pupils
with higher degree of written skills in L1 narrative text were not as successful enough in produc-
ing argumentative texts in L1.
1. Einleitung
Die Bundesrepublik Deutschland zeichnet sich durch einen Reichtum an unter-
schiedlichen Kulturen und Ethnien aus. Die bundesrepublikanische Gesellschaft ist
mehrsprachig, »einfach weil ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung mehrspra-
chig ist« (Schroeder 2007, S. 7). Dies liegt u. a. auch daran, dass zurzeit ca. 19,5 %
der Bevölkerung einen sog. Migrationshintergrund aufweisen und die kulturelle und
sprachliche Vielfalt in diesem Land bereichern. Bereits ein Drittel der fünf bis zehn-
jährigen Kinder in Deutschland wächst dadurch potentiell (simultan oder sukzessiv)
bilingual auf (vgl. Statistisches Bundesamt 2012). Im Zuge der fortschreitenden
Globalisierung werden diese Zahlen in den kommenden Jahren weiter zunehmen1.
Neben politischen, sozio-ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen birgt
dies vor allem für das Bildungssystem große Herausforderungen. In diesem Zusam-
menhang war die schulische Leistung von bilingualen Schülerinnen und Schülern
(im Folgenden S&S) immer wieder im Fokus kontroverser (politischer) Diskus-
sionen. Insbesondere das schlechte Abschneiden Deutschlands im internationalen
Schulvergleich (vgl. PISA-Konsortium 2002 ff.) hat zu einer vermeintlich negati-
ven Verbindung zwischen zweisprachigem Aufwachsen und Schulerfolg geführt. In
der Folge bildungspolitischer Konsequenzen, die sich im Bereich einer möglichst
frühen Deutschförderung zeigen (vgl. Gogolin 2008), wird insbesondere der Unter-
richt in Herkunftssprachen (im Folgenden HSU) immer mehr aus dem schulischen
Alltag verbannt (vgl. Woerfel 2014). War die Förderung der Erstsprachen im Rah-
men des HSU insbesondere ab den 1970er Jahren ein (sprachwissenschaftliches)
Argument, zeigt sich aus sprach- und bildungswissenschaftlicher Sicht heutzutage
ein anderes Bild: Die auf Cummins (1979) gründende Hypothese, dass eine durch
Förderung der Erstsprache (L1) hervorgehende sprachliche Kompetenz sich positiv
auf die Zweitsprache (L2) überträgt, konnte sich bisher empirisch nicht belegen
lassen (vgl. Esser 2006). Verfechter eines ganzheitlichen, beide Sprachen fördern-
den, bilingualen Unterrichts konkurrieren mit Befürwortern der (möglichst früh ein-
setzenden) Förderung der Zweitsprache Deutsch. Dadurch ergibt sich aktuell eine
sehr uneinheitliche schulische Landschaft, in der verschiedene Schul- und Förder-
modelle existieren und in der somit unterschiedlich mit der Mehrsprachigkeit von
S&S umgegangen wird. Im Fokus dieses Artikels steht daher die Frage, wie sich
innerhalb dieser Rahmenbedingung Textkompetenzen in den jeweiligen L1 und L2
bei bilingualen S&S entwickeln. Dies wird am Beispiel von S&S mit türkischem
Familienhintergrund dargestellt. Konkret soll dabei die Übertragbarkeit der Text-
kompetenz von einer Sprache auf die andere überprüft und mögliche Einussfakto-
ren auf die schriftsprachlichen Kompetenzen herausgestellt werden. In Kap. 2 wird
zunächst ein Zusammenhang zwischen der Problematik von Mehrschriftlichkeit im
deutschen Bildungssystem und einer möglichen Übertragbarkeit (schrift-)sprach-
licher Muster aufgezeigt. In Kap. 3 werden Analysemodelle vorgestellt, mit Hilfe
derer man Merkmale narrativer und argumentativer Texte herausarbeiten kann, mit
dem Ziel Textkompetenz als eine messbare Größe operationalisierbar zu machen. In
Kap. 4 werden diese Kriterien dann anhand einer empirischen Untersuchung darge-
stellt: Im Fokus der Analyse stehen schriftliche narrative und argumentative Texte
1 Bereits heute liegt die Zahl der Kinder unter fünf Jahren, die bilingual aufwachsen, bei 34,9 %,
die der 5–10 Jährigen bei 32,7 % (Ergebnisse des Mikrozensus 2011; vgl. Statistisches Bun-
desamt 2012).
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2 Woerfel (2014) diskutiert ausführlich die unterschiedlichen Studien zum Nutzen des HSU und
kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die negativste Evaluation des HSU keinen Lernfortschritt
in der Zweitsprache Deutsch erfassen konnte. Gleichzeitig führt die Teilnahme am HSU aber
nicht zu einer Behinderung im Lernerfolg für die L2 Deutsch. Darüber hinaus wird die unein-
heitliche Struktur und Umsetzung des HSU als problematisch angesehen.
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Angebote in Deutsch als Zweitsprache und in der Herkunftssprache sind keine Alternative, son-
dern ergänzen einander. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die Pege der Her-
kunftssprache ein ausgezeichneter Beitrag zum Erwerb der deutschen Sprache ist. Auch die
Schulpraxis zeigt häug, dass Schülerinnen und Schüler mit altersgemäßer Perfektion in der
Herkunftssprache, die als so genannte Seiteneinsteiger im Verlauf ihrer Schullaufbahn in eine
deutsche Schule aufgenommen werden, weitaus leichter Deutsch lernen als Gleichaltrige, die in
Deutschland anregungsarm aufgewachsen sind.
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Mehrschriftlichkeit bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern
3.1 Makrostruktur
3.1.1 Makrostrukturelle Ebene narrativer Texte
Bei der Analyse der Makrostruktur der narrativen Texte wird im Wesentlichen das
klassische Modell von Labov/Waletzky (1967) zugrunde gelegt (für eine detaillier-
tere Diskussion vgl. Riehl 2013).
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3 Boueke u. a. (1995) haben darüber hinaus ein Entwicklungsmodell der narrativen Struktur
vorgeschlagen, das von einem isolierten zu einem narrativ-strukturierten Typ reicht. Dieses
Modell ist im Wesentlichen für Schreibanfänger geeignet.
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Heinrich/Riehl (2011) übertragen das Modell von Boueke u. a. (1995) auch auf ar-
gumentative Texte. Auch hier wenden die Schreiber bisweilen Involvierungsstrate-
gien an, obwohl diese in der deutschen Diskurstradition in argumentativen Texten
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Mehrschriftlichkeit bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern
Die in diesem Kapitel dargestellten globalen Merkmale für narrative und argu-
mentative Textkompetenz werden nachfolgend in ein Analyseraster für die zwei zu
untersuchenden Textsorten überführt (Kap. 4.2).
4 Bildimpuls für Texte auf Deutsch »Missgeschick im Schnellimbisse«; Bildimpuls für Texte in
den Herkunftssprachen »Motorradunfall«.
5 Aufgabenstellung für Texte auf Deutsch: »Soll man in Deutschland schon mit 16 wählen dür-
fen? Schreibe einen Brief an einen Abgeordneten in Deinem Wahlkreis, in dem Du zu dieser
Frage Stellung nimmst. Begründe Deine Meinung!«; Aufgabenstellung für Texte in den Her-
kunftssprachen: »EU-Bürger bekommen das Recht, zwei Pässe zu haben. Schreibe einen Brief
an einen Abgeordneten in deinem Wahlkreis, in dem Du dazu Stellung nimmst. Begründe
Deine Meinung!«.
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6 Im Video sind verschiedene Schulalltagssituationen zu sehen, welche die S&S dazu anregen,
schriftlich ihre eigenen Erfahrungen zu schildern (Narration) und zu diesen Stellung zu neh-
men (Argumentation).
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Mehrschriftlichkeit bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern
H4: Eine hohe Textkompetenz in der L1 begünstigt die Textkompetenz in der L2.
H5: Sozio-ökonomischer Hintergrund und Schultyp haben einen größeren Einuss auf Textkom-
petenzen in L1 und L2 als der HSU.
4.1.2 Subkorpus/Probanden
Um die Hypothesen zu überprüfen, wurden zunächst aus dem Korpus Daten von
S&S, die Türkisch als Familiensprache und Deutsch als (frühe) L2 erworben haben,
extrahiert. In einem zweiten Schritt wurden die Daten nach unterschiedlichen For-
men der Alphabetisierung in der L1 ausgewählt, die neben den unterschiedlichen
Schultypen7 in die Analyse miteinießen: (i) ohne HSU; (ii) mit HSU; (iii) mit bi-
lingualem Unterricht. Insgesamt ergibt sich ein Subkorpus von 112 narrativen und
argumentativen Texten von insgesamt 28 bilingualen deutsch-türkischen S&S8.
4.2 Analysekriterien
Um die Texte hinsichtlich der Textkompetenz bewerten zu können, werden diese
zunächst mithilfe eines Analyserasters für jede Textsorte analysiert. Das Raster be-
rücksichtigt die in Kap. 3 dargestellten Kriterien für narrative und argumentative
Texte.
In Anlehnung an Riehl (2013) wurden auf der Grundlage der verschiedenen
Analysemodelle für narrative und argumentative Text, die in Kap. 3 vorgestellt
wurden, unterschiedliche Textkompetenztypen festgelegt, um die verschiedenen
Textsorten in einem zweiten Schritt in Hinsicht auf ihre Literalität (im Sinne von
Textkompetenz) evaluieren zu können. Die im Folgenden kurz dargestellten Text-
kompetenztypen basieren auf Analysemodellen zur Makrostruktur, zur Diskurs-
strategie sowie zu Involvierungs- bzw. Distanzierungsstrategien, wie sie in Kap. 3
vorgestellt wurden.
7 Die ausgewählten S&S besuchten drei verschiedene Schultypen: (i) Realschule (NRW);
(ii) Gymnasium (NRW), (iii) Gesamtschule mit bilingualem Programm (Berlin).
8 Die Wahl dieser Gruppe begründet sich darin, dass Türkisch einerseits die meistgenannte Fa-
miliensprache im Korpus ist, andererseits hier drei Gruppen in Bezug auf die aufgeführten
Alphabetisierungskriterien gebildet werden können. Die S&S waren zum Zeitpunkt der jewei-
ligen Datenerhebung zwischen 14 und 16 Jahre alt (Durchschnitt 14;9).
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Till Woerfel/Nikolas Koch/Seda Yılmaz Woerfel/Claudia Riehl
4.3 Ergebnisse
Die Ergebnisse der analysierten Texte werden im Folgenden zunächst in ihrer
Gesamtheit betrachtet (4.3.1/2) und anschließend mit den verschiedenen Variablen
(L1 und L2, Alphabetisierung, Schultyp und Bildungshintergrund) korreliert.
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Mehrschriftlichkeit bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern
Abb. 1 Abb. 2
Bei den türkischen narrativen Texten zeigt sich ebenfalls ein positiver Einuss des
bilingualen Unterrichts auf die Textkompetenz (s. Abb. 2): Auch hier überwiegen im
9 Aufgrund der kleinen Gruppengrößen wurde in den folgenden statistischen Analysen ein Fi-
sher Exact Test durchgeführt.
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Vergleich zu den anderen beiden Gruppen komplexere Texte (Typ 2 und 3). Interes-
santerweise schneidet die Gruppe mit HSU schlechter ab als die Gruppe ohne HSU.
Der Besuch des HSU scheint keinen positiven Einuss auf die Textkompetenzen
in der L1 zu haben; der mögliche Einuss ist auch hier nicht statistisch signikant
(p = 0,86). Die Hypothese, dass der Besuch des HSU einen positiven Einuss auf
Textkompetenzen in der L1 (hier bei Narrationen) hat, kann nicht bestätigt werden.
Die Korrelation der deutschen argumentativen Texte mit den Alphabetisie-
rungsvariablen zeigt, dass auch hier wieder die Gruppe mit HSU schlechter ab-
schneidet als die anderen beiden Gruppen. Die Gruppe ohne HSU zeigt eine leicht
höhere Textkompetenz als die bilinguale Gruppe. In beiden Gruppen nden sich
überwiegend Texte des Mischtyps 2; in der Gruppe ohne HSU mehr Texte des
komplexen Typs 3 als in der bilingualen Gruppe. Auch hier ist der Einuss aber
nicht signikant (p = 0,76; s. Abb. 3). Bei den Argumentationen auf Türkisch ndet
sich ein verändertes Bild (vgl. Abb. 4): Hier überwiegen weniger komplexe Texte
(Typ 1) in den Gruppen mit und ohne HSU, während in der bilingualen Gruppe Typ
2 deutlich häuger vorkommt. Der Einuss ist in diesem Fall statistisch signikant
(p = 0,02). Die Hypothese (H2), dass der Besuch des HSU einen positiven Einuss
auf Textkompetenzen hat, wurde auch für argumentative Texte widerlegt. Die Hy-
pothese (H3), dass der längerfristige Besuch eines bilingualen Programms einen
positiven Einuss hat, bestätigt sich hier zumindest für die argumentativen Texte.
Abb. 3 Abb. 4
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Mehrschriftlichkeit bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern
sich die Hypothese (H4) nur bedingt bestätigt: Der Großteil der Texte in der L2
weist eine geringere Textkompetenz auf. Allerdings wurden nur in zwei Fällen in
der L2 wenig elaborierte Texte (Typ 1) produziert.
Abb. 5
10 Die Ergebnisse sollten im Folgenden vorsichtig interpretiert werden, da das Verhältnis der im
Gymnasium geschriebenen Texte deutlich geringer ist (nur drei S&S).
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Abb. 6 Abb. 7
Abb. 8 Abb. 9
Auch hier bestätigt sich die Tendenz, die bei den deutschen Texten zu sehen ist,
wenngleich statistisch (noch) nicht signikant (p = 0.06).
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Mehrschriftlichkeit bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern
Abb. 10 Abb. 11
hintergrund aufweisen (s. Abb. 12). Der Einuss ist auch hier statistisch nicht
signikant (p = 0,63). Auch bei den Texten auf Türkisch ähnelt das Bild dem der
Narrationen: Die höchste Textkompetenz erzielen S&S mit einem hohen Bildungs-
hintergrund, während S&S mit einem niedrigeren oder mittleren Bildungshinter-
grund eine deutlich schwächere Textkompetenz zeigen. Die Texte der Gruppe mit
einem mittleren Bildungshintergrund sind leicht besser als die mit niedrigem Bil-
dungshintergrund (s. Abb. 13). Der Test ist statistisch (noch) nicht signikant, es ist
aber eine eindeutige Tendenz zu beobachten (p = 0,06).
Abb. 12 Abb. 13
Die Hypothese (H5), dass der sozio-ökonomische Hintergrund und der Schultyp
einen größeren Einuss auf Textkompetenzen in L1 und L2 als der Besuch des HSU
haben, kann zwar statistisch nicht bewiesen werden. Die Ergebnisse zeigen aber,
dass sich der Einuss an die von Schader (2006) gefundenen Ergebnisse annähert.
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Till Woerfel/Nikolas Koch/Seda Yılmaz Woerfel/Claudia Riehl
ble offensichtlich eine größere Gewichtung einnimmt als die der Alphabetisierung.
Diese Beobachtung geht einher mit den Ergebnissen von Schader (2006); gleich-
zeitig zeigt sich, dass der familiäre Bildungshintergrund keinesfalls eine verlässli-
che Größe für die Textkompetenzen der S&S darstellt.
Bei einem individuellen Vergleich der jeweils produzierten Textsorten in bei-
den Sprachen zeigt sich zudem ein interessantes Bild: Einige S&S, die eine hohe
Textkompetenz (Typ 3) in narrativen Texten in der L1 aufweisen, sind nicht in der
Lage, einen adäquaten argumentativen Text in ihrer L1 zu verfassen.
5. Diskussion
Im Fokus der durchgeführten Studie stand die Frage nach der Übertragbarkeit von
Textkompetenz von einer Sprache auf die andere bei bilingualen S&S. Darüber
hinaus sollten mögliche Einussfaktoren auf die Textkompetenzen herausgestellt
werden.
Die Ergebnisse zeigen, dass bei den S&S, die eine hohe Textkompetenz in der
L1 aufwiesen, auch eine gute Kompetenz in der L2 vorhanden war (s. Kap. 4.3.3).
Das Ergebnis ist hingegen wenig aussagekräftig, da sich diese Beobachtung nur auf
wenige Einzelfälle bezieht.
Ein Erklärungsansatz für die geringe Kompetenz in argumentativen Texten in
der L1 (bei gleichzeitig hoher narrativer L1-Kompetenz) könnte der fehlende Er-
werb argumentativer Muster in der L1 sein. Im Gegensatz zu narrativen Strukturen,
die sich auch in der Alltagskommunikation wiedernden, weisen argumentative
Texte ein textsortenspezisches Muster auf (s. Kap. 3.1.2). Dieses ist scheinbar im
Türkischen nicht erworben worden. Somit ist auch eine positive Beeinussung der
argumentativen Kompetenz in der L2 nicht möglich.
Wie vermutet, hat der Besuch des HSU keine positiven Auswirkungen auf die
L2-Textkompetenz. Überraschend hat dieser auch keine positive Auswirkung auf
die L1-Kompetenz (s. Kap. 4.2.3). Eine mögliche Erklärung hierfür liegt einer-
seits in der unzureichenden Einbindung in das Schulcurriculum (vgl. Schroeder
2003, 2007; Woerfel 2014) und einer geringen (gesellschaftlichen) Wertschätzung
der Herkunftssprachen, welche die Einstellung der Eltern negativ beeinusst (vgl.
Wiese 1994). Aus diesem Grund wird oftmals kein Wert auf den (regelmäßigen)
Besuch des HSU gelegt (vgl. Woerfel 2014).
Bei dem Vergleich der Argumentationen in Bezug auf die unterschiedlichen
Schulformen fällt auf, dass vor allem an Gymnasien eine hohe Textkompetenz er-
reicht wird. Dieser Umstand lässt sich leicht mit dem Schwerpunkt des Verfassens
argumentativer Texte an Gymnasien in der Jahrgangsstufe 9/10 in NRW erklären.
Auffallend ist zudem, dass der vermeintlich zu erwartende Abstand in der L1-
Textkompetenz im bilingualen Programm sehr gering ist. Generell stellt sich eine
Interpretation der Daten in diesem Zusammenhang als schwierig dar, insofern hier
nicht nur zwei verschiedene Schulformen miteinander verglichen werden, sondern
auch zwei Bundesländer mit unterschiedlichen Lehrplänen.
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Mehrschriftlichkeit bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern
Eine weitere Komponente, die sich als wichtig herausstellte und auf die auch
verschiedene andere Studien immer wieder hinweisen, sind Spracheinstellungen
und literale Praktiken im Elternhaus (vgl. Verhoeven/Aerts 1998). Interessanter-
weise zeigen die Ergebnisse der Pilotstudie, dass nicht zwangsläug der sozio-öko-
nomische Status der Eltern, wie Untersuchungen von Krashen (1999) oder auch
Ergebnisse der PISA-Studien (PISA-Konsortium 2002) nahe legen, Auswirkungen
auf die Textkompetenz der Schüler haben. Diese Beobachtung ndet sich auch bei
Riehl (2013) bei der Gruppe russisch-deutscher Bilingualer desselben Korpus’. Es
ist anzunehmen, dass hier andere Faktoren wie Einstellungen zur eigenen Sprache
und Bildung stärker wiegen. Um dies zu bestätigen, sind zukünftig detailliertere
Beobachtungen nötig, wie bspw. Interviews mit den Eltern, hinsichtlich ihrer Ein-
stellung zu Bildung sowie literalen Praktiken im Elternhaus.
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