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Location: Bulgaria
Author(s): Violaine De Larminat
Title: Die Musik des 20. Jh.: eine Herausforderung für die Gehörbildung?
The Music of the 20th Century – a Challenge to Solfège?
Issue: 8/2017
Citation Violaine De Larminat. "Die Musik des 20. Jh.: eine Herausforderung für die Gehörbildung?".
style: Алманах - Национална музикална академия „Проф. Панчо Владигеров“ 8:19-99.
https://www.ceeol.com/search/article-detail?id=758934
CEEOL copyright 2022
Violaine de Larminat
(Universität für Musik und darstellende Kunst – Wien)
Violaine de Larminat
(University for Music and Performing Arts – Vienna)
Abstract
1894: “L’après-midi d’un faune”, 1912: “Pierrot lunaire”, 1913: “Le sacre
du printemps”. Three dates and three works that are counted as the pickup
measure of 20th century music. Since then numerous works have been created
in a wide array of style and music expression: variety that seems to impede
this period’s systematization. Still: is such music theory characterization im-
possible, or very difficult?
19
This question stems from solfège’s pedagogy, that is often accused that is
not suited for that époque. This discipline’s tradition pedagogic approaches
seem passé: the usual chord and melodic constructions and changing harmonic
and contrapuntal rules of the functional tonal system, existing in an established
measure construction since the Renaissance, the sound of a conventional
orchestra, based on string instruments, as well as the tonally limited structures
of the old music, still remain an important and much needed field of the
discipline solfège; however they do not longer cover the quality specifics of
the 20th century. We have catalogues from olden time, describing the various
usually used technical and stylistic means – that turn us into the right direction
to offer a purposeful, effective and specialized training in solfège. Such
summary enumeration lacks for the 20th century, because until the present,
efforts were made do stress stylistic features of the particular composers, but
not to seek common features in their writing techniques; thus making possible
the crystallization of a common music language characteristics.
It would seem improbable that the actual challenge to solfège could be
determined with such an overview, as well as to consider the right direction
that solfège should take. New hearing strategies could be formulated, to
develop new exercises and assignments, but also to create new directions for
the discipline of solfège, as well as new levels of competency in the future.
This article presents musings and perspectives that have occurred by means of
a long teaching experience the discipline “Solfège for composers and music
directors”.
Keywords: solfège, 20th century, melodies and chords in 20th century music,
mode scales, microintervals and microintervalics.
***
Die Gehörbildung ist traditionellerweise ein Fach, das sich nicht nur dem
Auditiven bzw. dem Klanglichen widmet, sondern das ein Verhältnis zwischen
Klang und Notation aufbaut und eine Verbindung zwischen Theorie und Wahr-
nehmung herstellt, bis kein Unterschied zwischen Lesen und Hören (Spielen,
Singen, Komponieren, Dirigieren) bzw. Denken und Hören spürbar ist. Auge
und Ohr sind in der Praxis für den klassisch ausgebildeten Musiker eng mit-
einander verbunden und arbeiten ständig interaktiv. Dabei gibt es aber für die
Gehörbildung zwei Arbeitsrichtungen: vom Lesen zum Klangergebnis bzw.
„in-Praxis-Setzen“ und umgekehrt vom Hören zum Schreiben bzw. Erkennen
und Beschreiben von klanglichen Strukturen. Voraussetzungen für beide ist
das Beherrschen der musikalischen Semiologie und die Kenntnis des musika-
20
21
die erste Schritte hin zur späteren elektronischen und elektroakustischen Musik.
Sehr bald mischten sich alle möglichen Experimente und Stile: Das Ende des
ersten Weltkriegs brachte die Jazzmusik nach Europa; die Weltausstellungen
machten die außereuropäische Musik mit den Gamelan-Orchestern, den af-
ro-kubanischen Rhythmen und einem neuen Instrumentarium (Schlagzeug,
u.a.) bekannt. Die Entwicklung der Musikwissenschaft und die Wiederentde-
ckung früherer Musik war nicht ohne Konsequenzen: Neben dem bekannten
Verhältnis, das Schönberg und Webern zur Renaissance-Zeit hatten, beobachtet
man die Wiedereinführung der Isorhythmie und der damit verbundenen Be-
nutzung von Taleas und anderen rhythmischen Modi (Stravinsky, Messiaen,
dann Lutosławski und Ligeti); Auf Kirchentonarten und griechischen Modi
wurde von den Impressionisten und danach der Groupe des Six, von Hindemith
oder von auch Harry Partch zurückgegriffen. Vertreter neuer Stilrichtungen,
z. B. des Neobarocks und des Neoklassizismus, später auch der sogenannten
Collage-Technik und der Polystilistik scheuten sich nicht, einen neuen Bezug
zur „Alten Musik“ als Inspirationsquelle offen zu verkünden (s. Arvo Pärt und
Alfred Schnittke). Die neu entstandene Filmkunst bot den Komponisten bald
neue Arbeitsfelder, Ausdrucksperspektiven und Aussichten an: Prokofjew,
Eisler und Schostakowitsch produzierten bereits in den Dreißiger und Vierzi-
ger-Jahren für die Kinematographie in Hollywood und Paris. Für die Zwischen-
kriegszeit sind außerdem Bartók und Stravinsky als wichtige „Scheinwerfer“
und Pioniere zu nennen, deren Musik eine Schlüsselfunktion einnimmt, um
das zwanzigste Jahrhundert überhaupt verstehen zu können.
Der Zweite Weltkrieg stellte mit Vernichtung und Traumata einen tie-
fen Bruch dar, der sich in der westlichen Musikwelt mit der sogenannten
„Avant-Garde“ des „sérialisme intégral“ (Messiaen, Boulez und Stockhausen)
und der Elektroakustik wiederspiegelte. Die Spaltung zwischen der sogenannten
E- und der U-Musik sowie die neuerlich entstandenen Kluft zwischen den Musi-
kern und das Publikum verstärkten sich radikal. Etwas später gab es weitere aus-
geprägte Reaktionen auf verschiedenen Formen des intellektuellen, politischen,
wirtschaftlichen oder religiösen Totalitarismus mit den ursprünglich benannten
„New-Age“ Bewegungen, Arvo Pärt, den Minimalisten, der Neuen Einfachheit,
um nur einige Musikrichtungen zu erwähnen. Die Mikrotonalität entwickelte
sich mit Alois Habà und Ivan Wyschnegradksy bis zur Ästhetik der Musique
spectrale (Grisey, Murail) weiter und Mikrointervalle wurden allmählich zu
Standardvokabel jüngerer Komponisten. Die Entstehung der Psychoanalyse
hatte mit den Surrealisten und der Methode der „écriture automatique“ (des
unzensiertes Schreibens) schon nach dem ersten Weltkrieg einiges an Revo-
lutionärem in der Kunstwelt hervorgebracht. In der Musikwelt wurde diese
neue Konzeption der Kreativität nach dem Zweiten Weltkrieg ein wesentlicher
22
Drei Fragen sollen für eine für die Gehörbildung angemessene Systemati-
sierung der verwendeten technischen und stilistischen Mittel in der Musik des
zwanzigsten Jahrhunderts gestellt werden:
– Welche Eigenschaften der Musik der früheren Epochen sind im neuen
Repertoire erhalten geblieben und welche Lehrinhalte der traditionellen
Gehörbildung können oder sollen adaptiert und ergänzt weiterbestehen?
– Welche Charakteristika der Musikproduktion des zwanzigsten Jahr-
hunderts erscheinen als neue, gemeinsame Faktoren aller gegenwärtigen
Stilrichtungen?
– Welche Eigenschaften der verschiedenen Tonsprachen und Stile dieser Zeit
sind so spezifisch, dass es nicht mehr möglich erscheint, sie innerhalb des tra-
ditionellen – wenn auch angepassten erweiterten Gehörbildungsunterrichts
zu behandeln, und welchen neuen Gebiete sollten dafür entwickelt werden?
Zur ersten Frage muss man entschieden antworten: Wenngleich der Anbruch
der Atonalität als eine absolute Revolution angesehen wurde, hat die Tonalität
eine starke Lebenskraft und begleitet durchgehend und hartnäckig die Musik
der vergangenen hundert Jahren weiter! Dass es sich nun um eine sog. „freie“
oder „erweiterte“ Tonalität handelt, dass neue Formen der Modalität entstan-
den sind, dass eine „Tonika“ nicht immer vorhanden ist – aber dennoch Pole
und Tonzentren! –, dass Polytonalität und Polymodalität dazu gekommen
sind, ändert dieses Fazit nicht: Die tonale Sprache bleibt vorhanden! Obwohl
die Zwölftontechnik als avantgardistische Entdeckung präsentiert wurde, sind
Umkehrungen sowie Krebsformen von Machaut bis Bach, Beethoven, und
darüber hinaus bis zur Postromantik, häufig verwendete kontrapunktische Satz-
23
24
Beispiel 1:
25
Beispiel 2:
Von der Klangfarbe und dem Klangraum gehen wir zum zeitlichen Aspekt
der Musik: Die Umwandlung des Begriffes Rhythmus in den breiter formulier-
ten Begriff „Zeit-Behandlung“ ist als dritter allgemeiner Faktor der Moderne
und Avantgarde von Bedeutung, einerseits mit einer neuen Sprache auf der
Mikroebene des musikalischen Ablaufs und der Materialgestaltung, anderseits
mit neuen Organisationsprinzipien auf der Makroebene. Auf der Mikroebene
ist eine erweiterte „rhythmische“ Arbeit in traditionellem Sinn weitgehend
möglich und notwendig, wenn es sich um das Lesen und in Praxis-Setzen des
Geschriebenen – und damit um die Ausbildung der Interpreten – handelt. Eine
detaillierte Perzeption und ein Erkennen von rhythmischen Strukturen, wie bei
Gehörbildungsdiktaten verlangt wird, erscheint bei manchen avantgardistischen
Werken (z. B. Werken von Brian Ferneyhough) weder sinnvoll noch möglich,
und die Wahrnehmung soll sich in diesen Fällen auf eine globale Beobachtung
und Beschreibung des Klangergebnisses beschränken. Für die Makroebene
und die Formwahrnehmung, die von den einzelnen Stilen nicht trennbar ist,
ist die Einführung der Höranalyse als neuer Teilbereich der Gehörbildung
absolut notwendig, da diese neuen Formen selten als Muster erkennbar sind
und öfters eine zeitliche Dehnung des präsentierten klanglichen Materials
darstellen. Dabei ist jedoch die Frage, welche Präzision und Gründlichkeit bei
der Höranalyse zeitgenössischer Werke erreichbar ist: zwischen unhörbaren,
latent und unbewusst wahrnehmbaren, und greifbaren hörbaren Strukturen
dieser Musik soll mit Sicherheit mehr als beim Repertoire bis zur Postromantik
unterschieden werden.
26
(Computer-) Technologien auf Musik und Musiker (insb. hier die Gehörbil-
dungspädagogen) besteht darin, dass diese neuen Mittel einerseits auch neue
Notationsformen mit sich bringen, anderseits teilweise keine Notation benöti-
gen, selbst wenn sie nicht improvisiert sind. Zum Teil wurden Zeichen für neue
Spieltechniken und für Mikrotöne geschaffen, die sich in der herkömmlichen
musikalischen Notation für die traditionellen Instrumente integriert haben, zum
Teil entstehen ganz neue graphische Notationsarten, wofür eine Gebrauchsan-
weisung für jedes Werk der Partitur beigelegt wird, zum Teil wird auch auf jeder
Art schriftlicher Darstellung verzichtet. Dass die neue Semiologie sowie eine
neue analytische Terminologie in der Gehörbildung integriert werden soll, ist
nicht nur selbstverständlich sondern auch zwingend. In dem Moment jedoch,
wo jegliche Musiknotation verschwindet, fragt sich, ob nicht ein neuer Zugang
und ein neues Fach gleichzeitig entstehen sollte: neben der Gehörbildung, die
eine Brücke zwischen Klang und Notation aufbaut, eine Gehörbildung, die
ohne visuelle Intermediär mit dem Gehörten arbeitet. Kompetenzen im Bereich
der Elektroakustik würden dafür unentbehrlich sein, und die Klangtypologie
von Pierre Schaeffer1 würde sich als mögliche Basis anbieten, erweitert von
jüngeren Klassifikationen (wie die z. B. von Helmut Lachenmann2) aber auch
von psychoakustischen Forschungsarbeiten3, um den nun mehr ausschließlich
sprachgebundenen Unterrichtsinhalten weiterhin Sachlichkeit und Objektivität
zu verleihen.
27
4
S. Doris Geller, Praktische Intonationslehre für Instrumentalisten und Sänger. Mit Übungsteil (und CD). Bärenreiter
1999 und Doris Geller, INTON – das Trainingsprogramm zum Intonationshören, www.dorisgeller.de
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Hier sei nun versucht, ein Überblick über die notwendigen Erweiterungen
der Gehörbildungslehrinhalte für die vier Hauptparameter Tonhöhe, Rhythmus,
Klangfarbe und Form herzustellen. Der Bereich „Tonhöhe“ wird im Folgenden
in den zum Teil traditionellen Kategorien Melodik, Harmonik, Kontrapunkt,
Allgemeines und Mikrointervalle aufgeteilt: Die für die tonale Musik
ursprünglich bestimmte Begriffe Melodik, Harmonik und Kontrapunkt sollten
im weitesten Sinn als „Allein-“, „Zusammen-“ und „Übereinander-Klingendes“
verstanden werden. Fallweise werden Literaturbeispiele herangezogen, und für
jeden Bereich ein kleiner Hinweis über die Übungsaktivitäten gegeben, die
dafür im Gehörbildungsunterricht angeboten werden können.
TONHÖHE: MELODIK
Latente Zweistimmigkeit in einer Melodie
Diktate und Fehler-
Erkennen
Lage- und Registerwechsel
Singen und
chromatismes renversés Blattsingen
(„umgekehrte Chromatizismen“)
Intervallarbeit
Reihentechnik: (Singen),
Transpositionen, Krebs- und Umkehrungsformen Diktate und Fehler-
Erkennen
Wie schon erwähnt, sind manche dieser Elemente schon früher in der
Musikgeschichte verwendet worden, jedoch nicht immer mit der Systematik
und Auffälligkeit, mit der sie in den neuen Tonsprachen auftauchen. Die latente
Zweistimmigkeit ist eine Charakteristik der Melodieführung von Alban Berg,
sei es für thematische Haupt- und Nebenstimmen oder für andere, im Gewebe
mehr versteckte Linien. Hier sei ein Beispiel aus den Altenbergliedern (1911 –
1912) gegeben: Die Bassstimme der Kontrabässe teilt sich in zwei auf- und
abwärts schreitende chromatische Linien. Bei Schönberg könnte das Buch
der hängenden Gärten5 (1908 – 1909) erwähnt werden: Beim Blattsingen ist
ein zweistimmiges Denken der Melodie dabei besonders hilfreich. Weitere
Beispiele bei Stravinsky und Penderecki zeigen ein ähnliches Verfahren trotz
verschiedener Tonsprachen: das Fugenthema der Psalmensymphonie (1930)
ist klar tonal, die hier ohne Begleitung gesungenen Gesangslinien des Miserere
5
Nr. 5: Saget mir, auf welchem Pfade
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Bei diesem letzten Beispiel von Penderecki sind die von Messiaen genannten
„chromatismes renversés“ auch zu sehen, die eine zweite Charakteristik der
Melodik des zwanzigsten Jahrhunderts allgemein darstellen. Diese Verwendung
des chromatischen Materials in einer nicht-chromatischen Reihenfolge wird von
allen Komponisten benutzt. Bei Bartók stehen sie für gespannte, sich im Kreis
drehende Themen (s. z. B. der ersten Satz der Musik für Saiteninstrumente.
Schlagzeug und Celesta von 1943), oder sie sind kennzeichnend als
Täuschungseffekt zur scheinbaren Ausdehnung des Klangraumes: Die
Möglichkeit, ein Intervall (hier beispielsweise die Oktave) mit vielen kleinen
Schritten auszufüllen, verändert die Wahrnehmung dieser Spanne zwischen
den zwei Grenznoten und wirkt wie seine „elastische Erstreckung“:
Beispiel 6:
Die Melodik des zwanzigsten Jahrhunderts ist außerdem nicht mehr von
dem „Sanglichen“, das die frühere musikalische Thematik kennzeichnet hatte,
30
Beispiel 7:
Der Rhythmus wird als zweiter Schritt eingeführt: von einer reinen Inter-
vallübung wird die Tonfolge zur Melodie.
Beispiel 8:
Danach werden mehr und mehr einzelne Töne innerhalb dieser neuen Me-
lodie oktaviert, bis man die Flexibilität erworben hat, diese Linie trotz aller
möglichen Lagenwechsel immer zu erkennen und zu ihr innerlich zu folgen.
31
Beispiel 9:
Diktate und Höranalyse lassen das umgekehrte Prozedere üben: Statt von
einer reduzierten Linie auszugehen und Töne daraus zu oktavieren, reduziert
man das Gehörte innerlich, um das Tonmaterial zu erkennen, das einen wich-
tigen Schlüssel für die Formdeutung darstellt und daher in vielen Fällen genau
so präzis notiert werden soll, wie man bei der Analyse tonaler Musik Themen
aufschreibt: Eine „pauschalierende globale Analyse“ sollte auf keinem Fall als
Ausrede zugezogen werden, um das atonale Repertoire weniger gründlich als
die frühere tonale Musik zu behandeln… Leichte Beispiele sind Linien mit
einer ausgeprägten Chromatik, wie hier das Thema von Edgar Varèse:
Im sechsten Satz seines Quatuor pour la fin du Temps (1941) macht Olivier
Messiaen eine mächtige Variation des modalen Anfangsthemas – die ersten
vier Takte beruhen auf der Ganztonleiter und die folgende dreitaktige Phrase
auf der Oktatonik –, mit Lagenwechseln und rhythmischen Diminutionen:
32
Beispiel 12: C. Ph. E. Bach (1714 – 1788), 3. Preußische Sonate (Wq. 48/3)
33
34
Beispiel 13: Hanns Eisler, Fünf Orchesterstücke, II. Andante (T. 7 – 15)
35
36
Beispiel 14:
Eine besondere Stellung in den modalen Skalen erhält die mit der Zelle
Halbton / Ganzton aufgebaute Tonleiter. Diese von Messiaen14 als sein „Zweiter
Modus“ klassifizierte Skala wurde vor ihm (s. Rimsky-Korsakov, Debussy,
Skrjabin, Schönberg, Kodaly, Berg) sowie auch nach ihm (u.a. von Bartók und
Berio, sowie von Jazzmusikern) verwendet. Um ihrer Stellung im Repertoire
außer der Musik von Olivier Messiaen gerecht zu werden wird sie auch
Oktatonik genannt. Ähnlich wie die Ganztonleiter enthält sie Dominantakkorde
mit Septime und kleiner None sowie alterierte Dominantakkorde. Dur- und
Moll-Dreiklänge sowie Durdreiklänge mit hinzugefügter Sechst ergänzen
diese Möglichkeiten einer „süßen“ tonalen Harmonik. Mit ihren acht Tönen
sind aber dazu viele weitere Möglichkeiten von dissonanten Aggregaten und
nicht tonaler Melodik vorhanden: Die Oktatonik bildet dadurch eine „Brücke“
zwischen tonaler und atonaler Tonsprache. Die strukturierenden kleinen Terzen
der oktatonischen Skala, die die reine Oktave in gleichen Intervallen teilen sind
bei Debussy (Pelléas) sowie bei Alban Berg in quasi identischer Darstellung
wie hier im Orchester am Anfang des zweiten Liedes nach Ansichtskarten von
Altenberg zu finden:
13
Z. B. Préludes, Band I, Nr. 2 Voiles oder Six épigraphes antiques (II).
14
Olivier Messiaen, Technique de mon langage musical, Leduc 1944.
37
38
Beispiel 16: Beispiel 126 aus der „Technik der musikalischen Sprache“ von
Olivier Messiaen – die Töne des fünften Modus kommen in einer großen Anzahl
verschiedener Anordnungen (Permutationen) vor:
Mit der neuen Auseinandersetzung mit der Modalität ist auch die Möglichkeit,
neue Modi zu erfinden, ans Licht gekommen: Neue Skalen entstehen, die
meistens in einem einzigen Stück erscheinen und daher nicht klassifiziert sein
müssen, jedoch als Modi erkannt und analysiert werden sollten. Bei Bartók sind
immer wieder solchen modal-klingenden Stücken zu finden, wie zum Beispiel
in den 14 Bagatellen für Klavier solo op. 6: Die dritte Bagatelle entwickelt
unterhalb einer chromatischen Ostinato-Linie eine frei-modale Melodie,
auf dem Tritonus C-Fis polarisiert und mit vielen ausdruckvollen Halbtöne
fortschreitend. Die dreizehnte Bagatelle benutzt ebenso ein hier harmonisch-
rhythmisches Ostinato in tiefer Lage von im jambischen Rhythmus wiederholte
Es-Moll- und A-Moll-Akkorde. Obwohl die Melodie die zwölf chromatischen
Töne enthält, erzeugt die Polarisierung auf die zwei tonalen Akkorde einen
modalen Charakter. Ligeti schaffte ebenfalls einen sechstönigen Modus in
seiner zweiten Bagatelle für Bläserquintett (1953), in dem er ausschließlich die
Töne D – F – G – Gis – H – Cis und ihr intervallisches Potential (vor allem die
drei Tritoni, die drei kleinen Terzen, und die Halbtonschritte) in einem Bartók
sehr ähnlichen Stil erforscht.
39
40
Ravel charakteristischer Akkord der II7 über die Dominant, der Jazz 13-Chord
und der Messiaen- „accord sur la dominante“ (s. Bsp. 23) sind identisch;
der mystischer Akkord von Skrijabin ist ein alterierter Dominantakkord
mit hinzugefügter Sechst. Die Akkorde 1 bis 4 des folgenden Beispiels sind
Dominantakkorde mit Quartvorhälten, die auch in einem kirchenmodalen oder
pentatonischen Zusammenhang benutzt werden können.
Beispiel 17:
Beispiel 18:
Die reine Quart ist überhaupt ein „Chamäleon-Klang“, der sich sowohl me-
lodisch wie auch harmonisch in vielen verschiedenen Tonsprachen integrieren
lässt. Es ist ein typisches „Bartók-Intervall“: Am Anfang seines Orchester-Kon-
zerts sind nach Anhören des ersten Themas (T. 1 – 5) viele Entwicklungsmög-
lichkeiten der Tonsprache offen, von der funktionellen Tonalität zur Atonalität,
durch Kirchentonarten, Pentatonik, oder neue Modi:
41
15
Die einzige Ausnahme ist, dass parallele Quinten im tonalen Zusammenhang harmonisch nicht vorkommen
dürfen, parallele Quarten wohl.
16
Der Begriff „Terzverwandtschaft“ der deutschen Funktionstheorie existiert in Frankreich nicht. Diese
Terzverhältnisse zwischen Dominantakkorden bei Debussy werden anders ausgelegt. Dazu: Violaine de Larminat,
Die frühe Harmonik von Debussy und Schoenberg: Spiegel verschiedener Unterrichtstraditionen. Fünfter Kongress der
Deutschen Gesellschaft für Musiktheorie in Hamburg, 2005.
42
Ein Merkmal der Tonsprache von Debussy ist das Verbinden verschiedener
alterierten Dominantakkorde durch Pedaltöne (sehr oft mit zwei Tönen im
Ganztonverhältnis) in der hohen Lage. Diese Pedaltöne werden entweder
aus gemeinsamen Tönen zwischen den Akkorden ausgewählt, oder ergeben
hinzugefügte Noten (Non, Sechst, Tritonus) dazu. Dieses Prozedere, der hier
in einem klaren tonalen Zusammenhang noch erfolgt, führt zu der Möglichkeit
von freien oder fremden Pedaltönen, die einerseits das Tonmaterial verschleiern
und anderseits einen musikalischen Abschnitt effizient gliedern können.
43
ein klanglicher Halo-Effekt über andere Ereignisse ausbreiten. Von nun an kann
der „Klang-Raum“ beliebig ausgefüllt werden: wie Vordergründe, Hintergründe,
Untere- Obere- und Seitenteile eines Bildes können die verschiedene Register
allerlei Klangfunktionen in einer Komposition frei übernehmen.
In der früheren tonalen Musik bildeten typische Akkorde wie die Dreiklänge
und die Septakkorde, der neapolitanische Sechstakkord und die verschiedenen
übermäßigen Sechstakkorde die Basis des tonalen Vokabulars. Jetzt gehören
andere typische Zusammenklänge zum „Alltagsvokabular“ eines Komponisten,
darunter auch welche, die durch die musikalischen Werke, in denen sie zum
ersten Mal erschienen oder eine besondere Bedeutung aufwiesen, bekannt
geworden sind. Der Daphnis-Akkord und der mystische Akkord von Skrjabin
sind schon erwähnt worden, andere müssen noch benannt werden, auch wenn
eine vollständige Auflistung nicht möglich ist: in jedem Land und für jeden
Komponist gibt es ein eigenes Repertoire und beliebte Referenzwerke…
Beispiel 22:
Bei dem „Glasfenster-Effekt“ von Olivier Messiaen wird das einfache tonale
Prinzip der Akkord-Umkehrung erweitert, indem er die Umkehrungen seines
„Akkordes auf der Dominant“ auf denselben Basston transponiert und damit
eine Akkordfolge auf einem Orgelpunkt herstellt. Dieses Prinzip gehört jetzt
den allgemeingültigen Kompositionstechniken, und soll daher bekannt werden:
Beispiel 23:
Das tonale Prinzip der Sequenz wurde nicht sofort abgeschafft und erscheint
noch häufig in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Vor allem bei
Akkordfolgen, die eine Verfremdung der üblichen tonalen Harmonik brachten,
waren transponierte Wiederholungen noch häufig. Akkordfolgen entstanden
44
auch als Ergebnis einer freien Stimmführung bzw. aus der kontrapunktischen
Entwicklung des musikalischen Diskurses.
Der fünfte Satz von Bartók Streichquartett Nr. 5 (1934) ist ein gutes Beispiel
der bis jetzt angesprochenen Merkmale der Musik des vorigen Jahrhunderts.
Mit einer Bewegung von den kontrastierenden extremen hohen und tiefen
Lagen vom Cello und ersten Geige bis zur Mitte des Klangraumes hin werden
zuerst drei Haupttöne mit mysteriösen, sich in Stille auflösenden Trillern (Fis
– Cis – Dis), dann eine arco-gespielte Linie mit latenter Zweistimmigkeit und
chromatismes renversés präsentiert, die vom Gis (reine Quart zu Dis) zum
Halbton Ais-H fortschreitet. Die tiefe Streicher übernehmen die schon gehörten
Quarten Cis-Fis und Cis-Gis und führen zu einer ambivalenten Kadenz: Der
obere Tritonus von Cis (G) wird gemeinsam mit der unteren Quart Gis als
erster Akkord zum Ruhepunkt D führen: der Tritonus Gis-D trübt den tonalen-
modalen Charakter der plagalen Wendung G-D, die das Intervall einer reinen
Quart wieder präsentiert. Ein Bicinium folgt mit neuen chromatismes renversés
– dabei werden zuerst die Ganztöne, danach wieder die Tritoni hervorgehoben
– und Lagenwechsel über den Orgelpunkt D bis die Basslinie quasi-tonal weiter
geführt wird. Der dreistimmige Satz am Ende dieser Periode bringt wieder eine
modale Harmonik mit Quarten und Tritonus (G – C – F – H) und eine plagale
Kadenz zu G-Dur, dem zentralen Akkord des nächsten Abschnittes.
Obwohl bei der Gehörbildung größtenteils mit Repertoire-Beispielen
gearbeitet wird, ist nicht so sehr das Fokussieren auf individuelle Tonsprachen
einzelner Komponisten wichtig, sondern vielmehr die Konfrontation mit neuen
Ideen und Fragen der Behandlung des Tonmaterials, wie
– die Aussicht der Erfindung neuer Modi, die nicht nur als Skalen betrachtet
45
werden können;
– die neue Bedeutung der einzelnen Intervalle und des Umkehrungsprinzips
in der atonalen Musik;
– die neue Möglichkeit des Intervalle-Kombinierens, die sich ja in der
tonalen Musik auf Terzen-Aufbau beschränkte;
– das Potential fremder Harmonietöne;
– die Auswirkung der Parallelität;
– die neue Methoden der Akkordbildung;
– die neue Bedeutung des Klangraumes;
– die Frage des Weiter-Bestehens von früheren Verfahren wie das
Sequenzieren, das Wiederholen, das Transponieren.
46
Beispiel 26:
Beispiel 27:
Quarten, Quinten und Tritoni können auch als Ergebnis eines kontrapunt-
kischen Gewebes harmoniebildend sein, wie in den folgenden Beispielen bei
Lutosławski und Luciano Berio zu sehen ist. Letztendlich sind symmetrische
Akkorde ein bekanntes Merkmal der Tonsprache von Anton Webern18, und
demzufolge eine weitere Möglichkeit der Akkordbildung für die folgende
Generationen von Komponisten.
18
S. Violaine de Larminat, „Das Hören als Ausgangspunkt struktureller Analyse. Ein Beispiel mit der Organisation
des Tonmaterials bei Webern op. 6 Nr. 3 (1909.) Musiktheorie und Vermittlung. Didaktik • Ästhetik • Satzlehre • Analyse
• Improvisation, hrsg. von Ralf Kubicek (Paraphrasen. Weimarer Beiträge zur Musiktheorie, Band 2), Hildesheim u.a.
2014 (Olms)
47
Beispiel 30:
Bei Akkordfolgen oder beim formalen Aufbau eines Stückes tritt das Prinzip
des chromatischen Totals bzw. der chromatischen Komplementarität als eine
neue wichtige kompositionelle Struktur auf. Beim dritten Präludium aus den
Präludien und Fuge für dreizehn Solostreicher (1972) von Lutosławski werden
die zwölf in der gleichschwebenden Stimmung verfügbaren chromatischen
Töne in zwei klanglich durch pizzicato- und arco-Spiel differenzierte Aggregate
geteilt. Gemäß der Tradition der Renaissancezeit, wo ein Präludium für das
Ausprobieren der Stimmung eines Instrumentes – d.h. für die Untersuchung
der speziellen Art, wie das pythagoreische Komma im Quintzirkel zwischen
akustisch reinen und unreinen Quinten verteilt wurde – diente, werden hier
verschiedene Möglichkeiten der Teilung der zwölf Töne erforscht: Der erste
Akkord ist mit Quarten, Tritoni und Quint, der zweite mit Quinten und großen
Terzen aufgebaut (s. Bsp. 27). Ähnlich ist die Teilung des chromatischen
Materials beim vierten Duo der Acht Duos für Violine und Cymbalum op. 4
von György Kurtág (1965) in zwei mal sechs Töne, jeweils von der Geige und
vom Cymbalum gespielt. Zum Schluss werden die Klangfarben ausgetauscht,
wobei das Cymbalum die Töne der Violine nicht mehr spielt, wie sie früher
48
Beispiel 31:
Wichtig ist in der Berufspraxis die Fähigkeit, alle Noten eines Zusammenklangs
beim Hören zu individualisieren und zu erkennen. Mit Aggregaten, die am
Klavier gespielten werden, ist das Üben von Zusammenklängen, die bis fünf
oder sechs Noten enthalten, gut möglich; darüber hinaus kann das Erkennen
der einzeln gespielten Töne von der Anzahl an Obertöne erschwert werden,
die im Klavierklang sehr schnell hörbar werden. Dies hängt natürlich von der
Disposition des Aggregats ab und lässt sich nicht wirklich pauschal definieren.
Bei Orchesterwerken ist die Instrumentierung manchmal eine Hilfe, wenn
unterschiedliche Klangfarben verschiedene „Bereiche“ oder Tongruppierungen
eines Aggregates hervorheben: Eine Individualisierung der einzelnen
Komponenten eines dickeren Aggregates wird dadurch leichter gemacht.
Manche Zusammenklänge mögen auch mehr für ihre Dichte und Klangfarbe
als für das kompositorische Potential der einzelnen darin enthaltenen Noten
ausgewählt worden sein. Dafür ist die Höranalyse wieder eine gute Ergänzung
zur notwendigen aber schulmäßigen Diktat-Arbeit.
Henry Cowell (1897-1965) wird die erste Benutzung von Cluster
zugeschrieben aber diese werden mit dem Schaffen Ligetis, Pendereckis
oder Xenakis zweifellos in besonderer Weise verbunden bleiben. Mit seinem
Orchesterstück Atmosphère (1961) stellte Ligeti eine erste Brücke zwischen
Elektroakustik und Instrumentalkomposition her, indem er mit Cluster
49
Beispiel 32:
Bei der Clusterbildung über das Anfangsthema des schon zitierten Orches-
terkonzerts von Bartók (Bsp. 19) erscheinen zuerst Töne der Ganztonleiter,
die unmittelbar darauf chromatisch ergänzt werden. Die entstehende Bipo-
larität (Cis – C) zwischen der in der Bass-Lage gespielten Melodie und dem
Clusterkern bringt zu dem zuerst gehörten diatonischen Material eine scharfe
Dissonanz. Die melodische Gegenüberstellung von Fis und C deutet auf das
19
S. Henri Dutilleux Timbre, Espace, Mouvement (1976),
20
S. Ligeti Lux Aeterna, 1966
50
Beispiel 34: Webern, Sechs Bagatellen für Streichquartett (op. 9 Nr. 5) Anfang
Beispiel 35:
Zum Thema „Cluster“ soll außerdem die graphische Notation von György
Kurtág, die in den Klavierwerken Játékok 23 entwickelt wurde, gezeigt werden.
Die damit angegebenen Klangflächen werden nicht mehr durch die im Cluster
21
Webern, Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 (1911).
22
György Kurtág, 12 Mikroludien für Streichquartett. Hommage à Mihaly András (1977 – 1978).
23
Spiele, für Klavier. Band 1: 1979.
51
enthaltenen Töne sondern durch die Spielart und die persönliche Anatomie des
Pianisten definiert. Vom Notenmaterial wird nur mehr zwischen diatonischen,
pentatonischen und chromatischen Clustern unterschieden, dem Spielen jeweils
der weißen, schwarzen, oder weißen und schwarzen Tasten. Die mit den
verschiedenen Zeichen angegebenen Cluster erstrecken sich in einem breiten
Spektrum, das von der Armlänge und Handbreite des Spielers abhängig ist,
daher werden die Grenzgebiete der Klangflächen nur ungefähr angegeben.
Beispiel 36: György Kurtág, Játékok (Spiele) für Klavier, Bd. 1 (1979)
52
TONHÖHE: KONTRAPUNKT
Gruppen-Improvisation
Polytonalität – Polymodalität Höranalyse
Blattsingen
Intervallarbeit (Singen)
Mikropolyphonie
Höranalyse
„Kohärenzfaktoren“ (Messiaen):
Verschmolzener Klang oder
Gegenüberstellung verschiedenen
Klangfarben
24
Für pädagogisches Material besonders geeignet: Eight Instrumental Miniatures für fifteen Players (1962), Sinfonie
in drei Sätzen (1942 – 1945), Symphonies of Wind Instruments (1920).
25
U.a.: Sonate pour flute (1958).
53
Beispiel 37: Bartok, 44 Duos für zwei Geige, Nr. 33 Erntelied (Anfang)
Der oben angegebene „Accord du Sacre“26 (s. Bsp. 22) wird manchmal als
bitonal analysiert, obwohl er aus der Überlagerung eines Dominantseptakkords
auf Es über die VI Stufe Fes Dur besteht: es geht hier um das herkömmliche
Prinzip des Vorhalts des Dominantakkords bei der Auflösung, hier im
Trugschluss. Er wird jedoch durch die dichte Anhäufung aller Töne in
der tiefen Lage als „Lärmakkord“ wahrgenommen und wirkt wie einen
richtigen „Faustschlag“: Dabei ist es nicht möglich, irgendeine Bitonalität
wahrzunehmen. Messiaen spricht über Kohärenzfaktoren in seinen Analysen
der Wahrnehmbarkeit verschiedener kompositorischen Ideen. Für den speziellen
Fall der Polytonalität gehören die Verteilung der Klanggebilde im Tonraum, die
Instrumentation, das Gegenüberstellen von Melodien gegen Harmonien oder
die Rhythmik dazu: bei großer Entfernung zweier Elemente im Klangraum
oder bei deutlichem Unterschied in der Instrumentation werden Lagekontrast
bzw. Klangfarbe-Ungleichheit ein Hilfsfaktor zu ihrer Individualisierung;
gleichfalls ist eine dünne bewegliche Linie leicht von einem Klangteppich zu
unterscheiden, ebenso wie schnelle Läufe gegenüber langen Notenwerten27.
Polytonalität und Polymodalität sind kompositorische Mittel, zu denen
man mit einer intensiven Beschäftigung mit dem Repertoire des zwanzigsten
Jahrhunderts häufig stößt: Der Umgang damit ist in der Gehörbildung durch
Blattsingen von Melodien mit Klavierbegleitung am leichtesten (Britten28,
Bartok, Groupe des Six). Interessant dabei ist das Üben eines inneren Hörens,
das die Anziehungskraft der dabei anwesenden Dissonanzen aushält.
TONHÖHE: ALLGEMEIN
Die „Technik der falschen Note“
Chromatik als „Bindemittel“
Diktate
Glissandi
Polen und Tonzentren Fehler-Erkennen
Tritoni-Verhältnisse und
Tritonus-Achsen-System (Lendvai) Höranalyse
Bartók / Lendvai Achsen-System
Heterophonie als Rhythmus-Klang-Prinzip
Bezug nehmend auf den Neo-Barock und auf den Neoklassizismus wird
in Frankreich mit genauso so viel Respektlosigkeit wie treffendem Humor
über die „Technik der falschen Noten“ gesprochen: Damit werden die mitten
in einem „altmodischen“ klaren tonalen Diskurs erscheinenden Dissonanzen
angesprochen, die mit etwas „Pfeffer“ die herkömmliche Tonsprache schärfen
sollen. Werke dieser Stilrichtung30 eignen sich gut um bei den Studenten mit
Übungen zum Fehler-Erkennen zu überprüfen, wie gut die tonale Sprache in
ihrer Klangvorstellung bzw. innerem Hören verankert ist…
Nach der postromantischen Zeit wurde die damit stark tonal gefärbte
Chromatik manchmal mit etwas Misstrauen betrachtet und melodisch nur
mit großer Vorsicht verwendet. Chromatische Tonfolgen finden jedoch
häufig als kontrapunktische Begleitung einer Melodie Verwendung, die somit
entpolarisiert wird und einen neutraleren oder schwammigen Charakter erhält.
Dies ist eine typische Begleitungstechnik bei Debussy, wofür man aber viele
Beispiele auch im späteren Repertoire finden kann.
Beispiel 38: Skrjabin, Sonate Nr. 9 „Schwarze Messe“, op. 68 (1911 – 1913)
(Anfang):
30
Z. B. Poulenc: Sonate für Klarinette und Fagott op. 32 (1922 / 1945), Sonate für Horn, Trompete und Posaune op. 33
(1922 / 1945); Milhaud, Suite d’après Corette für Bläsertrio op. 161b (1937); Stravinsky, Concertino für 12 Instrumente
(1920 / 1952), Eight Instrumental Miniatures für fifteen Players (1962), Lutosławski, Tänzerische Präludien für Klarinette
und Klavier (1954).
55
Das von Ernö Lendvai im Zusammenhang mit der Musik von Béla Bartók
beschriebene Achsensystem mit Tritonus-Verhältnissen ist ein wichtiger Schlüs-
sel zum Verstehen der Neuen Musik überhaupt, und gehört zu den wertvollen
Werkzeugen der Analyse des Repertoires des zwanzigsten Jahrhunderts. Ge-
nauso bleibt ohnehin die Polarisierung bei nicht tonaler Musik ein wichtiges
Handwerk der formalen Aufbau und Strukturierung des Tonmaterials. Beide
Begriffe der Analyse gehören nicht direkt zum Lerninhalt der Gehörbildung,
begleiten aber den Unterricht als Deutungsmittel zu den geübten klanglichen
Strukturen.
Die Heterophonie ist das gleichzeitiges Erklingen einer Melodie und ihrer
Ornamentierung oder rhythmischen Variation. Sie ist charakteristisch für au-
ßereuropäische (vorwiegend südasiatische) Musik und wurde ab Debussy33 in
der europäischen Orchestermusik übernommen. Das Ergebnis der Heterophonie
ist eine Verschmelzung von Melodie und Harmonie, wobei die Harmonie wie
bei der romantischen Orchestermusik global wahrgenommen wird, und die
Melodie ähnlich wie bei einem reich ornamentierten Barock-Thema zu ihrem
Skelett reduziert werden soll.
31
U.a.: De Natura Sonoris (1966 und 1971), Threnos (Threnodie) – Den Opfern von Hiroshima (1960 – 1961).
32
Metastasis (1953 – 1954), Pithoprakta (1955 – 1956), Mikka und Mikka S für Violine (jeweils 1971 und 1966).
33
S. z. B. Prélude à l’après-Midi d’un faune, 5 Takte nach Ziffer 7.
56
TONHÖHE: MIKROINTERVALLE
Drittel-Töne
Einzelne Intervalle
Vierteltöne
Fünftel-Töne
Summieren der einzelnen Mikrointervalle
(Zweidritten und Dreiviertel-Töne, usw.) Singübungen
Komplexe Intervalle
Kombination der einzelnen Mikrointervalle Alterations-Diktate
mit Halb- und Ganztöne (Höranalyse)
Quinten und Quarten,
Terzen und Sechsten,
Naturintervalle
kleine Septimen,
verminderte Quint
Damals galt die mikrotonale Musik noch als ein nicht wirklich ernsthafter
Versuch einiger origineller Außenseiter und erhielt erst nach 1950 allgemeine
Anerkennung: Viertel-, Drittel- und Sechstel-Töne sind jetzt in der allgemei-
nen musikalischen Sprache definitiv integriert. Blasinstrumente erhalten neue
Hilfsklappen für das Spielen verschiedener Mikrointervalle. Entscheidend
34
S. darüber die Schriften von Patrizio Barbieri, u.a. Enharmonic Instruments and Music 1470 – 1900, Ed. Levante,
2008, ISBN 978-88-95203-14-0.
35
S. die Mikrotöne-Klavier der Firma Sauter, die Fokker-Orgel und das Möllendorf-Harmonium.
57
für diese Entwicklung ist einerseits der Einfluss der Elektroakustik, die nicht
mehr mit definierten Intervallen oder Tönen arbeitet, anderseits die vermehrten
Kontakte zur Musik anderer Kulturen, die sich meistens nicht-temperierten
Skalen bedienen. Mikrointervalle werden von allen bedeutenden Komponisten
der Nachkriegs-Generation verwendet wie von Giacinto Scelsi, Iannis Xen-
akis, Krzysztof Penderecki, György Ligeti, Maurice Ohana, Claude Ballif,
und Edison Denisov. In Frankreich entwickelt sich mit Tristan Murail und
Gérard Grisey, dann Philippe Manoury, Michaël Levinas und Hugues Dufourt
die sogenannte Musique spectrale, die auch in anderen Ländern mit Georg
Friedrich Haas, Magnus Lindberg, Ivan Fedele und Marco Stroppa u.a. Fuß
fasst. Wie der Name es ausdrückt, arbeiten diese Komponisten mit auf der
Obertonreihe basierenden harmonischen und inharmonischen Spektren. Es
zeichnen sich also zwei Grundrichtungen ab: die mikrotonale Komposition,
die kleinere Intervalle als den Halbton zur Weiterteilung der Oktave in gleiche
Intervalle vorsieht, und jene Kompositionsrichtung, die mit Naturintervallen
aus der Obertonreihe arbeitet. Die Notation der Mikrointervalle wurde noch
nicht verallgemeinert, jedoch findet jene Notation, die Georg Friedrich Haas
für Viertel- und Sechstel-Töne verwendet, häufig Gebrauch:
Mikrotöne gehören also seit einiger Zeit der allgemeinen klanglichen Land-
schaft an, werden jedoch in keinem universitären Fach behandelt36. Instrumen-
talisten, Sänger und Dirigenten werden in der Berufspraxis mit mikrotonaler
Musik konfrontiert, erhalten jedoch keinerlei spezielle Ausbildung dafür und
müssen sich passende Spieltechniken sowie adäquate auditive Fähigkeiten
selber aneignen. Das Singen von Vierteltönen stellt kein so großes Problem
36
Alois Habà und Josef Suk gründeten in Prag ein Studium mikrotonaler Musik, die aber 1951 abgeschafft wurde.
58
dar: Wenn man sich mit langsamen Glissandi an die (größer als vermutete)
Intervallspanne eines Halbtons gewöhnt, kann man irgendwann „dazwischen
Halt machen“, und mit Übung und Praxis richtige Viertelton-Skalen Singen. Da
wir als „tonale Hörer“ noch immer von der Bewegung „Leitton – Tonika“ stark
geprägt sind, sind die aufsteigenden Vierteltöne am Anfang meistens leichter
zu bewältigen, doch adaptiert man sich auch rasch an die Abwärtsbewegung.
Der nächste Schritt ist das Kombinieren von Viertel-, Halb- und Ganztönen.
Als Nächstes stellt das Singen und Kombinieren von Dreivierteltönen eine
weitere Herausforderung dar, da man sich nicht mehr mit dem Klavier und an
den üblichen standfesten Intervallen orientieren kann. Wenn keine mikrotonalen
Instrumente im Unterrichtsraum zur Verfügung stehen, kann man sich nur mit
selbst-hergestellten Beispielen und Übungen helfen, die aufgenommenen und
mit Computer bearbeiteten wurden. Ein ähnlicher Übungsprozess erscheint
prinzipiell für Dritteltöne, und darüber hinaus Achtel- und Sechstel-Töne denk-
bar: mir fehlt persönlich (noch!) die Erfahrung dafür. Es ist sicherlich etwas
schwieriger, die Dritteltöne für sich zu gewinnen, da man dabei die Halbtöne
„vergessen“ soll, um den Ganzton in drei gleiche Intervalle zu teilen.
Schlussfolgerung
Wie hier die Tonhöhe sollten auch weitere musikalische Parameter erforscht
werden, um die Gehörbildung an die neuen Herausforderungen der Musik des
zwanzigsten Jahrhunderts anzupassen, namentlich:
59
– der zeitliche Ablauf (früher als Form bezeichnet) und die damit verbunde-
nen Aspekte des Gedächtnisses und der modernen philosophischen Betrachtung
der Zeit allgemein,
– die Klangfarbe, sei sie von neuen Instrumenten erzeugt, oder durch neue
Instrument-Kombinationen und Besetzungen sowie neue Behandlungsmöglich-
keiten des herkömmlichen Instrumentariums und der menschlichen Stimme
geschaffen, und
– die neuen rhythmischen und metrischen Eigenschaften dieses Repertoires.
Dieser letzte Aspekt ist für das Fach Gehörbildung besonders relevant: In
Betracht zu ziehen wären hier insbesondere der Verlust an spürbarem Puls (von
den Impressionisten durch geschriebenes Rubato erzielt, bis hin zum Verzicht in
der Aleatorik von Lutosławski), die zunehmende Einsatz irrationaler Taktarten
und Taktwechsel (Stravinsky und Bartok bis hin zu komplexeren Taktrelationen
bei Eliott Carter oder Ferneyhough), die ab Messiaen eingeführten „hinzu-
gefügten Werte“ und die vielfach verwendete Polyrhythmik und Polymetrik
mit häufigem Einsatz von Ostinati (s. Nancarrow, die Minimalisten und viele
andere Komponisten).
Es wird nicht unbemerkt geblieben sein, dass die hier angestellte Aufzählung
an klanglichen Elementen und Kompositionstechniken auf dem in Frankreich
und in den deutschsprachigen Ländern gebräuchlichen Repertoire beruht:
Es sollte folglich von Fachkollegen, mit anderen stilistischen Referenzen,
selbstverständlich ergänzt und erweitert werden. Anstelle von spezifischen
stilistischen Merkmalen sind jedenfalls Elemente herauszufiltern, die sich in
einem „gemeinsamen Vokabular“ für den berücksichtigten Zeitraum heraus-
kristallisiert haben. Je größer der zeitliche Abstand zwischen dem Repertoire
und dem Betrachter und je umfangreicher bzw. differenzierter der einstudierte
Vorrat an musikalischen Werken, desto leichter wird es, eine solche Arbeit
durchzuführen. Allerdings besteht das Hören nicht nur aus dem Erkennen
von Bekanntem (oder Erlerntem) sondern auch aus dem ständigen Vergleich
von „Neuem“ zu bereits integrierten Elementen: Bei der Gehörbildung ist es
demnach anzuraten, einen Bestand an Klangelementen auszuwählen, der nicht
unbedingt erschöpfend ist, aber als Referenzrahmen ausreicht, um sich in einem
bestimmten Repertoire zu orientieren.
60
***
Солфежът традиционно е специалност, която не само се посвещава
на аудитивното, т.е. на звуковата страна на музиката, но изгражда съот-
ношението между звук и нотация и установява връзка между теорията и
възприятието, така че да не се чувства разлика между четене и слушане
(свирене, пеене, композиране, дирижиранe), т.е. между мислене и слушане.
Окото и ухото в практиката на класически образования музикант работят
интерактивно и са свързани много тясно.
В областта на солфежа има две работни посоки: от четенето към зву-
ковия резултат, т.е. „поставяне в практиката“, и обратно – от слушането
към писането, т.е. разпознаване и описване на звуковите структури.
Предпоставки за двете са владеенето на музикалната семиология и
познаването на музикалния материал във всички параметри (ритъм, висо-
чина, динамика, агогика, тембър, форма, изпълнителска практика). След
края на Ренесанса нотацията на тоналната музика е повече или по-малко
фиксирана и езикът ù се променя само стилово в рамките на църковно-
модалните или на функционалните тонални звукореди: затова връзката
звук-писмо е присъща на този репертоар. Възникнали са и възникват много
методи и педагогически средства, по които тя да се преподава и изучава.
След импресионизма и Втората виенска школа възниква нарастващо
несъответствие между нотация, способност за четене, звукова представа и
възприятие, което с течение на времето предизвиква полемичния въпрос за
„слушаемостта“ на т.нар. „съвременна“ музика или на „музиката на аван-
гарда“ – две незрели понятия, които се дефинират трудно: определението
„съвременно“ винаги ни връща към всяко ново „сега“, а „авангардно“
е синоним на радикално, „напредничаво“, но те не са установени нито
стилистично, нито във времето! В течение на ХХ век понятието „атонал-
ност“ също губи съдържателна сила, тъй като сама по себе си идеята за
изчезването на тоналните скали и функции не разкрива какви структури
и тонови системи се определят. Тук стои и новото предизвикателство
към солфежа: когато се работи върху слушаните структури в музиката, те
трябва първо да се дефинират и опишат! В тази статия ще бъде направен
опит да се създаде класификация на употребяваните звукови елементи,
известни в музиката на ХХ век, които трябва да се упражняват в солфежа.
61
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Пример 1
Пример 2
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Пример 3. А. Берг. „Песни по Алтенберг“ op. 4, № .3 „Über die Grenzen des All“
(без сопранова партия)
69
Пример 6
Пример 7
Пример 9
71
Пример 12. К. Ф. Е. Бах (1714 – 1788). Трета „Пруска соната“ (Wq. 48/3)
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Пример 14
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Пример 15. А. Берг. „Песни по Алтенберг“ op. 4 (1911 – 1912) № 2 „Sahst Du nach
dem Gewitterregen“
77
Пример 16. Пример 126 от „Technique de mon langage musical“ от Оливие Месиан:
тоновете на 5. модус се появяват в голям брой различни пермутации
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Пример 17
80
81
Пример 20. К. Дебюси. Ariettes oubliées (1887). I. „C’est l’extase langoureuse“. Хармоническа
структура от т. 35 до края
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Пример 22
Пример 23
83
Пример 25. А. Берг. „Воцек“. Приспивна песен на Мари (д. 1, сц. 3, т. 372 – 375)
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Пример 26
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Пример 27
18
Вж. Larminat,Violaine de (2014). Das Hören als Ausgangspunkt struktureller Analyse. Ein Beispiel mit der
Organisation des Tonmaterials bei Webern op. 6 Nr.3 (1909.) Musiktheorie und Vermittlung. Didaktik • Ästhetik •
Satzlehre • Analyse • Improvisation, hrsg. von Ralf Kubicek (Paraphrasen. Weimarer Beiträge zur Musiktheorie,
Band 2). Hildesheim u.a.: Olms.
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тика в границите на чиста кварта наред с бавни трилери, които след това
изтъква с chromatismes retournés в противоположно движение.
Естествено принципно тук всичко изглежда възможно: в откриването
на нови съзвучия авангардът избягва грижливо само тези, които съдър-
жат тонални реминисценции. Полутонове и цели тонове се комбинират
подобно на цитираните по-горе интервали: изразът „expandierte Cluster“
(„разтворен клъстър“) се отнася за основния материал на тези агрегати, в
които следващите един след друг тонове (хроматични или диатонични) се
разделят в пространството. Според вида инструментация с малко тонове
се разкрива голямо многообразие от различни съзвучия.
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Пример 35
György Kurtág. 12 Mikroludien für Streichquartett. Hommage à Mihaly András (1977 – 78).
22
90
91
92
Глисанди Диктовки
Седем сонета по Микеланджело op. 22 (1943), A Charm of Lullaby op. 41 (1948), Winter Words op. 52
28
(1953).
29
Вж. между другото Lux Aeterna (1966).
93
Пример 38. А. Скрябин. Соната № 9 „Черна меса“ op. 68 (1911 – 1913) – начало
94
1/
3 -тонове
Отделни интервали
1/
4 -тонове
1/ -тонове
5
Сумиране на отделните
микроинтервали
Упражнения за
(2/3 - и 3/4 - тонове) пеене
Комплексни интервали
Комбинации от отделни Диктовки с
микроинтервали с полутонове и алтерации
цели тонове (Слухов анализ)
Квинти и кварти,
терци и сексти,
Естествени интервали
малки септими,
умалена квинта
Между другото De Natura Sonoris (1966 и 1971), Плач за жертвите от Хирошима (1960 – 1961)
31
Metastasis (1953 – 1954), Pithoprakta (1955 – 1956), Mikka и Mikka S за цигулка (съответно 1971 и 1976)
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Заключение
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