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Wilhelm Marx in den politischen Auseinandersetzungen


der Zentrumspartei während des Ersten Weltkriegs

von

Ulrich von Hehl

I.
D e r rheinische Zentrumspolitiker Wilhelm Marx (1863—1946) gehört
zu den vielen Führergestalten des politischen Katholizismus in Kaiser-
reich und Weimarer Republik, deren Wirken heute weithin vergessen ist'.
Dieses Faktum überrascht zunächst, bedenkt man die Fülle der Ämter
und Funktionen, die zeitlebens auf seinen Schultern gelegen hat: Je 22
J a h r e lang gehörte er dem Preußischen Land- (1899—1921) und dem
Reichstag (1910—1932) an, war Zentrumsvorsitzender von Elberfeld
(1899—1904) und Düsseldorf (1907—1919), stellvenretender Vorsitzen-
der des Rheinischen Zentrums (1906—1919) sowie schließlich Vorsitzen-
der der Reichstagsfraktion (1921 — 1923, 1926) und Vorsitzender der
Deutschen Zentrumspartei (1922—1928).
Den H ö h e p u n k t seiner politischen Laufbahn erreichte der 60jährige,
als er schon im Begriff stand, sich aus der Politik zu verabschieden: Nach
dem Sturz Gustav Stresemanns bekleidete er in den Jahren 1923—1925
und 1926—1928 insgesamt viermal das Amt des Reichskanzlers, war
1925 kurzzeitig Preußischer Ministerpräsident und Kandidat des demo-
kratischen Lagers bei den Reichspräsidentenwahlen, 1926 dann im 2.
Kabinett Luther ]\isúz- und Minister f ü r die besetzten Gebiete.
In seine Regierungsverantwortung als Reichskanzler fallen das Ende
der Inflation, der Beginn wirtschaftlicher Erholung und innenpolitischer
Beruhigung, fallen die erste außenpolitische A n n ä h e r u n g an die Sieger-
mächte, der Dawes-Plan zur Lösung der Reparationsfrage und der

' Eine Marx-Biographie bereitet Verf. vor. An k ü r z e r e n biographischen W ü r d i g u n g e n


vgl. z u l e t z t HUGO STEHKÄMPER, W i l h e l m M a r x ( 1 8 6 3 — 1 9 4 6 ) , i n : RUDOLF MORSEY
( H r s g . ) , Z e i t g e s c h i c h t e in L e b e n s b i l d e r n , Bd. 1, M a i n z 1973, S. 1 7 4 — 2 0 5 u. 306 f. mit
w e i t e r e n L i t e r a t u r h i n w e i s e n . STEHKÄMPER ist a u c h B e a r b e i t e r d e s v o r z ü g l i c h e n N a c h -
laßverzeichnisses „ D e r N a c h i a ß des Reichskanzlers W i l h e l m M a r x " , 4 Teile (Mittei-
l u n g e n a u s d e m S t a d t a r c h i v K ö l n , H . 52 — 5 5 ) , K ö l n 1968, d a s e i n e F u n d g r u b e z u r
Person und zur aligemeinen Zentrums- und Reichsgeschichte darstellt. — Eine sehr
k n a p p e A u s w a h l v o n R e d e n bei R . MORSEY ( H r s g . ) , W i l h e l m M a r x / H e i n r i c h B r ü -
n i n g : R e i c h s t a g s r e d e n , B o n n 1974.

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Wilhelm Marx 99

Beginn des Truppenabzugs aus den besetzten Gebieten. Einem Diktum


Konrad Adenauers zufolge verdankte gerade das Rheinland Marx in
schwerster Zeit alles^. Dennoch sucht man im Straßenverzeichnis seines
Alterssitzes Bonn vergeblich seinen Namen, in Düsseldorf erinnert das
„Wilhelm-Marx-Haus" lediglich an den gleichnamigen Oberbürgermei-
ster von 1899—1910, und nur seine Vaterstadt Köln hat sich dazu ver-
standen, eine — allerdings drittrangige — Wohnstraße nach ihm zu
benennen.
Hier ist nicht der O r t , den Gründen für diese höchst spärliche Aner-
kennung nachzugehen'. Immerhin soll darauf hingewiesen werden, daß
sie auch seiner eigenen Person zuzuschreiben sind, vor allem seiner ganz
und gar unpolitischen Bescheidenheit (R. Morsey). Marx verkörperte in
vielleicht idealtypischer Weise die Stärken und Schwächen eines von
christlichen Grundsätzen bestimmten Politikers; ihn leiteten weder
Machtinstinkt noch Ehrgeiz oder Geltungsbedürfnis, sondern ein außer-
ordentlich hoch entwickeltes Pflichtethos*. Keines seiner Ämter hat er je
von sich aus erstrebt, aber auch niemals Verantwortung gescheut, wenn
er gerufen wurde. Dabei war er keine kraftvolle Führernatur, kein eigen-
ständiger politischer Denker, aber der geborene Vermittler zwischen den
politischen Fronten: ruhig, geduldig, zäh; nüchtern im Urteil, von ausge-
prägtem Sinn für das politisch Mögliche und Nötige — und gerade des-
halb ein Meister des Ausgleichs (O. Geßler), weil seine Uneigennützigkeit
ihn völlig hinter die ihm gestellte Aufgabe zurücktreten ließ. Seine eigent-
liche Domäne, die Schul- und Kultuφolitik, war schon damals nicht
gerade schlagzeilenträchtig. So blieb er stets im Schatten ambitionierterer
Zeitgenossen, namentlich Stresemanns, dessen unbestreitbarem Geschick
zur Selbstdarstellung er Gleichartiges weder entgegensetzen konnte noch
wollte. Marx gönnte jedem seine politischen Lorbeeren von Herzen.
Vor seinem vergleichsweise späten Aufstieg in die Partei- und Staats-
führung war er ein M a n n des zweiten Gliedes. Weder mangelte es in der
alten Führungsriege der Partei an geeigneten Kandidaten noch entsprach
er dem in der Vorkriegszeit neu aufkommenden Typ des „Vollblutpoliti-

^ Ansprache beim Begräbnis von Reichskanzler a. D. Wilhelm M a r x , in: Mitteilung


des N a c h r i c h t e n a m t e s d e r Stadt Köln, 9. 8. 1946, S. 4. — H e r r n Landgerichtsdirektor
i. R. /ose/Marx, Linz am R h e i n , bin ich f ü r die leihweise Überlassung zahlreicher pri-
vater U n t e r l a g e n seines V a t e r s und f ü r viele A u s k ü n f t e d a n k b a r verpflichtet.
' Zu gleichen B e o b a c h t u n g e n im Falle des langjährigen sozialdemokratischen Preußi-
schen Ministerpräsidenten Otto Braun vgl. HAGEN SCHULZE, O t t o Braun oder Preu-
ßens d e m o k r a t i s c h e S e n d u n g . Eine Biographie, F r a n k f u n am Main—Berlin—Wien
1977, S. 31 f.
^ N ä h e r e s jetzt bei ULRICH VON HEHL, Wilhelm Marx. Zu Person und G e d a n k e n w e l t
eines christlichen Politikers, in: DIETER ALBRECHT U. A. (HRSG.), Politik und Konfes-
sion. Festschrift z u m 60. G e b u r t s t a g von K o n r a d Repgen, Berlin 1983, S. 305—317.

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100 U L R I C H VON H E H L

kers", den berufliche Interessen oder politische Leidenschaft gleichsam


von selbst nach „oben" drängen ließen. Als Doppelmandatar ohnehin
stark belastet, hatte Marx mit den Aufgaben im Düsseldorfer und rheini-
schen Zentrumsvorstand vollauf genug zu tun, zumal er in der sitzungs-
freien Zeit auch noch gewissenhaft seinen Dienstpflichten als Oberlan-
desgerichtsrat genügte.
Überdies nahm vor 1918 sein vielfältiges Engagement im katholischen
Verbandswesen einen Großteil seiner Zeit in Anspruch^. Im Mittelpunkt
stand dabei der Auf- und Ausbau der 1911 von ihm gegründeten Katholi-
schen Schulorganisation ( K S O ) zur Verteidigung der chnstlichen Schule
und Erziehung*"; ihr widmete er zwischen 1914 und 1918 den größten
Teil seiner Arbeitskraft. Nahezu ständig war er auf Vortragsreisen. Die
Beiträge der periodisch erscheinenden „Mitteilungen" verfaßte er großen-
teils selbst, ebenso eine Reihe von Massenbroschüren. Bis 1920 jedenfalls,
als Wilhelm Böhler^ zum hauptberuflichen Generalsekretär der K S O
bestellt wurde, ruhte die Hauptlast der Arbeit auf seinen Schultern.
Gleichwohl traten schon bald nach Kriegsausbruch inneφarteiliche
Auseinandersetzungen in den Vordergrund, die namentlich das rhei-
nisch-westfälische Zentrum erschütterten. Sie begannen um die Jahres-
wende 1914/15 mit nachdrücklich vorgebrachten Forderungen des Arbei-
terflügels der Partei, griffen 1916 auf die Erörterung des U-Boot-Einsat-
zes über, steigerten sich in der allgemeinen Kriegszieldiskussion und gip-
felten schließlich während der letzten beiden Kriegsjahre in Erzbergers
Friedensinitiative und im Kampf um die preußische Wahlrechtsreform.
Als stellvertretender Vorsitzender des Rheinischen Zentrums konnte
Marx diesem Richtungsstreit um so weniger ausweichen, als er häufig
genug den Ersten Vorsitzenden, Karl Trimhom, vertreten mußte, der bis
August 1917 Dienst im besetzten Belgien tat'. Mit Trimhom, dem neun

' Häufig trat Marx als Redner auf Katholikentagen auf, zweimal war er deren Präsi-
dent: 1910 in Augsburg, 1929 in Freiburg/Br. Dem Vorstand des Volksvereins für das
katholische Deutschland gehörte er seit 1908 an, war 1920 für ein Jahr dessen haupt-
amtlicher Generaldirektor, von 1921 bis 1933 dessen Vorsitzender, ebenso von 1911
bis 1933 Vorsitzender der K S O . Die Aufzählung ließe sich fonsetzen.
' Vgl. GÜNTHER GRÜNTHAL, Reichsschulgesetz und Zentrumspartei in der Weimarer
Republik (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien,
Bd. 39), Düsseldorf 1968, S. 7 0 - 7 9 .
' Zu Böhler, dem späteren Leiter des Katholischen Büros Bonn, vgl. BURKHARD VAN
SCHEWICK, Wilhelm Böhler (1891 — 1958), in: JÜRGEN ARETZ, RUDOLF MORSEY,
ANTON RAUSCHER (HRSG.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 4, Mainz 1980, S.
1 9 7 - 2 0 7 u. 277 f.
' Zu Trimbom nach wie vor untersetzt HERMANN CARDAUNS. Karl Trimborn.
Nach seinen Briefen und Tagebüchern, M.Gladbach 1922, sowie zuletzt RUDOLF
MORSEY, Karl Trimborn ( 1 8 5 4 - 1 9 2 1 ) , in: Zeitgeschichte 1 (wieAnm. 1) S. 8 1 - 9 3 u.
301.

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Wilhelm Marx 101

Jahre älteren politischen Mentor und Freund, verband ihn im übrigen ein
lebenslanges enges und kaum je von Meinungsverschiedenheiten getrüb-
tes Vertrauensverhältnis, das auf dem Gleichklang ihrer Temperamente
und Anschauungen beruhte, freilich auch in Aiarx'allgemein anerkannter
Selbstlosigkeit wurzelte'. Beide hatten sie, bei aller weltanschaulichen
Festlegung, ein gänzlich unideologisches, pragmatisches Politikverständ-
nis; beide suchten nicht die Auseinandersetzung, sondern waren ausge-
sprochene Vermittlernaturen, immer geneigt, Konflikte gütlich beizule-
gen, gespaltene Meinungen wieder in dem großen Zentrumsgedanken zu
vereinen^°. Marx erscheint dabei als der geborene zweite Mann: Er
prägte die Geschicke des rheinischen Zentrums weniger, als daß er den
Vorsitzenden unterstützte, ohne sich durch weiterreichende Ambitionen
in seiner Loyalität beirren, durch abweichende Vorstellungen auf andere
Wege führen zu lassen. Trimbom hat das ausdrücklich anerkannt, wenn
er dem Freund gelegentlich schrieb: Ich bewundere Deine Arbeitskraft, vor
allem aber (erlaube mir, daß ich es einmal offen ausspreche) die anspruchslose
Art, in der sie sich vollzieht. Ich bin fest überzeugt, daß darauf Gottes Segen
ruhen wird^K

' Vgl. Marx' undatierten Erinnerungsbericht „Carl Trimborn". Privatbesitz J. Marx,


Mappe 4.
Trimbom an / . Bachem, 26. 3. 1898, zit. bei H. CARDAUNS (wie Anm. 8) S. 49.
" Trimbom an Marx, undatiert, nach 19. 7. 1917. HAStK, 1070, Nr. 223.

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102 ULRICH VON H E H L

II.

D i e t i e f g r e i f e n d e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n im p o l i t i s c h e n Katholizismus
der Vorkriegszeit, von denen namenthch der Zentrums- und Gewerk-
schaftsstreit das G e f ü g e d e r Partei erschüttert hatten, schienen zu Beginn
des J a h r e s 1 9 1 4 b e i g e l e g t ' ^ Seit d e m „ M a c h t w o r t " des Reichsparteiaus-
s c h u s s e s v o m 8. F e b r u a r 1 9 1 4 ' ^ g a b e s a l l e n f a l l s n o c h Nachhutgefechte,
aber keine ernsthaften Schwierigkeiten mehr. M o b i l m a c h u n g und Kriegs-
ausbruch schufen dann ohnehin eine völlig v e r ä n d e r t e Situation: Was
immer noch an Differenzen zurückgeblieben war, trat nun hinter die
gemeinsame „vaterländische Aufgabe" zurück. Entsprechend war in
einem flammenden Aufruf der rheinischen Zentrumsführung von feind-
lichefmj Ubermut undfeindlichelm] HaßA'it Rede, und jeder war aufgeru-
f e n , fur sich und an seinem Platz alles zu tun, was er nur immer für das
Vaterland leisten kann^^. Jedenfalls lag in d e n Augusttagen 1914 ein
Traum von Einigkeit ( M . S t ü r m e r ) über d e m sonst v o n tiefen Gegensät-
z e n z e r r i s s e n e n V o l k ; d i e v a t e r l ä n d i s c h e B e g e i s t e r u n g w a r a l l g e m e i n , sie

Eine wissenschaftlich befriedigende Gesamtdarstellung des Zentrums im Kaiserreich


ist Desiderat, eine Geschichte des rheinischen Zentrums fehlt völlig. Wegen ihres
Materialreichtums ist daher KARL BACHEMS neunbändige „Geschichte und Politik der
Deutschen Zentrumspartei", Köln 1 9 2 7 — 1 9 3 2 , nach wie vor unentbehrlich. John K.
Zeender's „The German Center Party 1 8 9 0 — 1 9 0 6 " , Philadelphia 1976, richtet das
Hauptaugenmerk auf das außenpolitische Engagement in der Ära Lieber; für vorliegen-
des T h e m a ist sie unergiebig. RONALD J . ROSS, Beleaguered T o w e r : T h e Dilemma of
Political Catholicism in WiUielmine Germany, Notre D a m e — London 1976, wendet
sich zwar innenpolitischen und innerparteilichen Fragen zu, konzentriert sich jedoch
gleichfalls auf die Vorkriegszeit. ELLEN LOVELL EVANS' „ T h e German Center Party
1 8 7 0 — 1 9 3 3 . A Study in Political Catholicism", C a r b o n d a l e and Edwardsville 1 9 8 ! , ist
zu summarisch, versteht sich überdies auch nur als informal survey. Eine Gesamtschau
aus onhodox-marxistischer Sicht geben HERBERT GOTTWALD/GÜNTER WIRTH, Zen-
trum. 1 8 7 0 — 1 9 3 3 , in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd. 2, Leipzig 1970,
S. 8 7 9 — 9 4 3 . Wichtige Aspekte unter allerdings eingeschränkter Fragestellung behan-
delt URSULA MITTMANN, Fraktion und Partei. Ein Vergleich von Zentrum und
Sozialdemokratie im Kaiserreich (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und
der politischen Parteien, Bd. 59), Düsseldorf 1976. Die Organisationsgeschichte ist
schon Ende der 50er J a h r e skizziert von THOMAS NIPPERDEY. D i e Organisation der
deutschen Paneien vor 1918 ( B e i t r ä g e . . . , Bd. 18), Düsseldorf 1961, S. 2 6 5 - 2 9 2 .
Einen knappen, präzisen Gesamtüberblick bietet nun RUDOLF MORSEY, D e r politische
Katholizismus 1 8 9 0 — 1 9 3 3 , in: ANTON RAUSCHER .(HRSG.), D e r soziale und politi-
sche Katholizismus, Bd. 1, M ü n c h e n - W i e n 1981, S. 1 1 0 — 1 6 4 . Zum Zentrums- und
Gewerkschaftsstreit vgl. zuletzt MANFRED BLERGANZ, Hermann Cardauns
( 1 8 4 7 - 1 9 2 5 ) . Politiker, Publizist und Wissenschaftler in den Spannungen des politi-
schen und religiösen Katholizismus seiner Zeit, phil. Diss. Aachen 1977, S. 2 3 4 — 3 2 8 ,
sowie RUDOLF BRACK, Deutscher Episkopat und Gewerkschaftsstreit 1 9 0 0 — 1 9 1 4
( B o n n e r Beiträge zur Kirchengeschichte, B ¿ 9 ) , K ö l n - W i e n 1976.
" D r u c k : K. BACHEM (wie Anm. 12), Bd. 7, S. 4 3 3 f.
'•* Beirat zum Provinzialausschuß der Rheinischen Zentrumspartei an die Kreis- und
Ortsvorsitzenden, 10. 8. 1914. H A S t K , 1070, Nr. 2 9 4 .

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Wilhelm Marx 103

kannte keine Unterschiede der Klassen und Konfessionen. Wie die parla-
mentarischen Auseinandersetzungen ruhten, so ruhte auch die Arbeit der
Zentrumspanei im Lande, wenigstens für kurze Zeit.
Schon gegen Jahresende begann sich indessen in den Reihen der west-
deutschen Arbeiterschaft U n m u t zu regen. D a niemand mit längerer
Dauer des Krieges gerechnet hatte und entsprechende Vorsorge nicht
getroffen war, bekam sie die Folgen der schleppenden, dann mehr und
mehr ungenügenden Nahrungsmittelversorgung als erste zu spüren'^.
D a s verstärkte im Zentrum die ohnehin bestehenden Spannungen zwi-
schen agrarischem und Arbeiterflügel, die durch den Gewerkschaftsstreit
lediglich überlagert, nicht jedoch ausgeräumt worden waren. In ihren
Beschwerden fühlten sich die Arbeiter von der Zentrumsführung nur
ungenügend unterstützt. Strittige Fragen, die besonders die gewerbliche
und industrielle Zentrumswähierschaft interessierten, ließen sich in den
rechtmäßigen Instanzen der Partei kaum klären, meinte Adam Steger-
wald, Führer der Christlichen Gewerkschaften, im September 1915
gegenüber Trimbom^^. Es mangele an Richtlinien von Seiten des Reichs-
ausschusses, die Provinzialorganisationen seien nach lediglich organisato-
rischen Gesichtspunkten besetzt, und allzu oft werde nach parteitakti-
schen Gesichtspunkten entschieden, so daß die verschiedenen Interessen-
strömungen innerhalb der Partei unverbunden und unversöhnt nebenein-
anderliefen.

Eher noch gereizter war die Stimmung gegenüber einflußreichen


Organen der Zentrumspresse, deren betont eigenständiger politischer
Kurs sich während des Weltkriegs überhaupt zur folgenschweren Bela-

' ' Z u r Kriegswirtschaft und ihren Folgen vgl. AUGUST SKALWEIT, Die deutsche
Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart 1927; JÜRGEN KOCKA, Klassengesellschaft im
Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914—1918 (Kritische Studien zur Geschichtswis-
senschaft, Bd. 8), Göttingen 1973, S. 12—21 ; ERNST RUDOLF HUBER, Deutsche Ver-
fassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung
1914—1919, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1978, S. 7 3 - 1 1 5 .
" Stegerwaldzn Trimhom, 11.9. 1915. HAStK, 1070, Nr. 222. - Zu StegerwaldMi\.
JOSEF DEUTZ. Adam Stegerwald. Gewerkschafter, Politiker, Minister 1874—1945,
phil. Diss. Bonn 1950; HELMUT J . SCHORR, Adam Stegerwald. Gewerkschaftler und
Politiker der ersten deutschen Republik, Recklinghausen 1966, sowie zuletzt RUDOLF
MORSEY, Adam Stegerwald ( 1 8 7 4 — 1 9 4 5 ) , in: Zeitgeschichte 1 (wie Anm. 1) S.
206 — 219 u. 307 f. — Zur Rolle der (üЬeφaπeilichen) Christlichen Gewerkschaften
während des 1. Weltkriegs vgl. jetzt MICHAEL SCHNEIDER, Die Christlichen Gewerk-
schaften 1894—1933, Bonn 1982, S. 363 — 441. Die Auseinandersetzungen innerhalb
der Zentrumspartei werden hier jedoch nur am Rande behandelt. D a s gilt auch für
MARTIN SCHUMACHERS Untersuchung „ L a n d und Politik. Eine Untersuchung über
politische Parteien und agrarische Interessen 1914—1923" (Beiträge zur Gescnichte
des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 65), Düsseldorf 1978, S.
33 — 84 u. 3 8 7 — 3 9 5 , die ihren S c h w e φ u n k t überdies in der Nachkriegszeit hat.

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stung für die Paneieinheit entwickelte'^. Der Essener Voikszeitung bei-


spielsweise hielt der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter Deutschlands
vor, zuviel die Interessen der landwirtschafilichen Produzenten, zu wenig
die der Konsumenten zu vertreten, eine Haltung, die er in sachlich nicht
gebotener Rücksichtnahme auf die Konservativen begründet sah, von der
er aber befürchtete, daß sie nach Kriegsende zum Abschwenken der großen
Konsumenten-Masse von der Partei führen w e r d e " .
Schon um den Einwand lediglich einseitiger Interessenvertretung zu
entkräften, führte auch Stegerwald diese Sorge immer wieder an. Bei all
seinen Bemühungen, beiehrte er den um Vermittlung angegangenen Vor-
sitzenden des Augustinus-Vereins, Lambert Lensing^"*, leiteten ihn grund-
sätzlichere Erwägungen, vor allem die Frage, wie die städtische Bevölke-
rung im allgemeinen und die industrielle katholische Arbeiterschaft im
besonderen fiir die Zentrumspartei erhalten und möglichst wieder in stärke-
rem Maße fiir sie gewonnen werden könne^°. Das war auch mit Blick auf
das Kriegsende gesagt, wo nach Auffassung der Christlichen Gewerk-
schaften gerade im Ruhrgebiet die Basis fiir die politische Gemeinschafisar-
beit im Zentrum neu umschrieben werden mußte^'. Es würde dann nicht
mehr genügen, sich lediglich auf die gemeinsame Konfession zu berufen
oder bei Konflikten die Kulturkampfglocke zu läuten; erforderlich sei viel-
mehr, daß neben dem Weltanschauungsbindeglied auch eine vertiefte volks-
wirtschaftliche, allgemeinpolitische und soziale Aufklärungsarbeit verbreitet
wird''.
Auf eine mehr organisatorisch-praktische Konsequenz dieser Forde-
rung wies Stegerwald]un\ 1917 den Vorsitzenden der Reichstags-
fraktion, Peter Spahn'^, hin: die auch im Verfassungsausschuß des

" Zahlreiche Hinweise zum Verhältnis Zentrum-kaiholische Presse, die keine Panei-
presse im engeren Sinne war, bei U. MITTMANN (wie Anm. 12) S. 206—261. Vgl. fer-
ner WILHELM KISKY, Der Augustinus-Verein zur Pflege der katholischen Presse von
1878 bis 1928, Düsseldorf 1928, passim.
" Der Schriftwechsel des Gewerkvereins mit dem Verlag der Essener Volkszeitung
von März 1916 abschriftlich in: HAStK, 1070, Nr. 222.
" LAMBERT LENSING ( 1 8 5 2 — 1 9 2 8 ) , V e r l e g e r d e r D o r t m u n d e r „ T r e m o n i a " , Vor-
standsmitglied der Westfälischen Zentrumspartei, 1912—1928 Vorsitzender des Augu-
stinus-Vereins. Über ihn W, KISKY (wie Anm. 17), passim. — Trimbom meinte über
Lensing, er stehe dem Bund der Landwirte sehr nahe. Indes der Mann läßt mit sich reden,
und das ist es, worauf es ankommt. Trimbom an Marx, nach 4. 6. 1917. HAStK, 1070,
Nr. 2 2 3 .
" Stegerwald ЛП Lensing, 28.9. 1916. HAStK, 1070, Nr. 222. - Vgl. auch St.s pro-
grammatische Schrift von Juli 1916 „Die Stellung der deutschen Arbeiterschaft im
neuen Deutschland", zit. bei H. J. SCHORR (wie Anm. 16) S. 50 ff.
Stegerwald an Peter Spahn, 2. 6. 1917. Kopie im Besitz des Verf.s.
^^ Stegerwald ЛП Trimbom, Knm. 16.
" Über Spahn zuletzt HELMUT NEUBACH, Peter Spahn (1846—1925), in: Zeitge-
s c h i c h t e 1 ( w i e A n m . 1) S. 6 5 — 8 0 u. 3 0 0 .

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Wilhelm Marx 105

Reichstags beratene Aufieilung der Riesenwahlkreise^*. Sie hätte in Ver-


bindung mit dem gleichfalls vorgeschlagenen Verhältniswahlrecht allein
für das rheinisch-westfälische Industrierevier eine Zunahme der Mandate
von bisher sechs auf mindestens fünfzehn bedeutet und daher auch dem
Arbeiterflügel innerhalb der Zentrumsfraktion mehr Gewicht verschafft.
In der Tat war nicht einzusehen, warum beispielsweise das vorwiegend
agrarisch strukturierte rechtsrheinische Bayern mit fast 30 Abgeordneten
im Reichstag vertreten war, während das nahezu stimmengleiche Ruhrge-
biet nur aus sechs Wahlkreisen bestand; der Vorwurf der einseitig agrari-
sche[n] Zusammensetzung der Zentrumsfraktion fand also hier eine hand-
feste Untermauerung.
Allerdings konnte Stegerwaids Vorstoß auch als Bumerang auf die Par-
tei zurückfallen, denn es lag auf der H a n d , daß das Zentrum seine starke
Stellung in den Parlamenten nicht zuletzt der geltenden, die Großstädte
benachteiligenden Wahlkreiseinteilung verdankte, welche seit 1871
unverändert bestand und ihm ein Viertel mehr an Mandaten eintrug, als
es Stimmen erhielt. W e n n Trimbom daher einmal jede einseitige Interes-
senvertretung als Sprengpulver für die Partei bezeichnete, war das auch
wahlarithmetisch zu verstehen: Was „links" womöglich durch Zugeständ-
nisse gewonnen worden wäre, hätte „rechts" durch Abwanderung von
Wählern bezahlt werden müssen^'.
Stegerwaids Ziel war jedenfalls klar, es hieß: vollwertige Integration
der (christlichen) Arbeiterschaft in das politisch-gesellschaftliche Gefüge
des Reiches und der P a n e i , und zwar möglichst schon während des Krie-
ges. Ebenso klar war aber auch, daß dieses Vorhaben die überkommene,
mühsam austarierte Gewichisveneilung im Zentrum sprengen mußte und
sich nur gegen erbittene Widerstände würde erreichen lassen. Insofern
hatten auch eine Reihe von Konferenzen, zu denen Stegerwald zwischen
November 1914 und Juli 1916 einlud, keinen Fortschritt gebracht".
Gemeinsam wie ihr T h e m a , die Zukunft der Zentrumspartei und die
Rolle der Arbeiterwähler, war auch ihre Ergebnislosigkeit. Die Teilneh-
mer, befand er in prononcierter Überspitzung, seien sich in ihren

^^ Vgl. MANFRED RAUH, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches (Beiträge


z u r Geschichte des Parlamentarismus und der politischen P a n e i e n , Bd. 60), Düsseldorf
1977, S. 365—384. — Die Zitate nach Stegerwald an Spahn, wie Anm. 21.
" Vgl. RUTOLF MORSEY, Die Deutsche Zentrumspartei 1917—1923 ( B e i t r ä g e . . . ,
Bd. 32), Düsseldorf 1966, S. 42 f. u. 45, Anm. 16; ferner JOHANNES SCHAUFF, Das
Wahlverhalten der deutschen Katholiken im Kaiserreich und in der W e i m a r e r Repu-
blik, neu hrsg. von R. MORSE Y (Veröffentlichungen der Kommission f ü r Zeitge-
schichte, A, Bd. 18), M a i n z 1975, S. 2 0 - 3 0 , 36—39.
" Aufstellung im Schreiben Stegerwaids an Lensing, wie Anm. 20. D o n auch die fol-
genden Zitate.

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106 U L R I C H VON H E H L

Anschauungen um keinen Schritt näher gekommen, man habe nur stunden-


lang aneinander vorbei[geredet].
Marx betrachtete diese Entwicklung mit durchaus gemischten Gefüh-
len. Ihm wurde schnell bewußt, d a ß das Kriegsgeschehen nicht ohne tief-
gehende Folgen auch für die Stellung der Arbeiterschaft innerhalb des
Zentrums bleiben konnte: Sie verlangte mit Recht mehr Berücksichtigung
wie vielfach in den Jahren vorher^''. Auch stellte er den Konkurrenzdruck
in Rechnung, dessen sie sich von Seiten der sozialistischen Freien
Gewerkschaften zu erwehren hatte^'. Dennoch schien ihm ihr massiv
gewachsenes Selbstgefühl in manchem über das rechte M a ß hinauszuge-
hen, jedenfalls den die Standesinteressen übergreifenden Charakter des
Zentrums nicht genügend in Betracht zu ziehen — ein Vorwurf, den er
im übrigen auch gegen einseitige Interessenvertreter agrarischer Prove-
nienz erhob, wo er mit dem Präsidenten des Rheinischen Bauernvereins,
Clemens von Loe, in einer Art Dauerfehde lag^'. In der Betonung des
überkommenen Repräsentationsprinzips der Zentrumspartei stimmte er
mit Felix Porsch^^, dem Fraktionsvorsitzenden im Preußischen Abgeord-
netenhaus, voll überein, der ihm gegenüber schon Ende Dezember 1915
die Empfindung ä u ß e n e , daß nicht rechtzeitig in den leitenden Kreisen
unter den Arbeitern gebremst worden sei".
Dennoch mochte er sich manchen der Arbeiterforderungen nicht ver-
schließen. Er selbst sah ja Grund, Mängel und Ungerechtigkeiten in der
Lebensmittelversorgung, auch die Eigensucht mancher Produzenten-
kreise vor dem Reichstag heftig zu kritisieren, ohne nun damit den Ver-
such machen zu wollen, dem aufgestauten Unmut lediglich Wind aus den
Segeln zu nehmen^^. Auch drängte er Mitte September 1915 auf rasche

Vgl. Marx' 1935 v e r f a ß t e n E r i n n e r u n g s b e r i c h t „ D a s Z e n t r u m in d e r Zeit n a c h


1 9 1 Г . H A S t K , 1070, N r . 2 2 2 .
Vgl. M . SCHNEIDER ( w i e A n m . 16) S. 3 9 8 — 4 0 3 , w o dieses K o n k u r r e n z v e r h ä l t n i s
u n d seine F o l g e n f ü r d i e A g i t a t i o n d e r C h r i s t l i c h e n G e w e r k s c h a f t e n nicht g e n ü g e n d
herausgearbeitet werden.
" B e i s p i e l h a f t seine T a g e b u c h n o t i z v o m 16. 11. 1916: Ich streite mich hauptsächlich mit
V. Loe herum, der immer wieder von seinen Landwirtschaßssachen anfängt HAStK,
1070, N r . 1. — Clemens Freiherr von Loe (-Bergerhausen) (1866—1930), Rittergutsbe-
sitzer, 1 9 0 8 — 1 9 1 8 M d L , 1 9 0 3 — 1 9 3 0 P r ä s i d e n t des R h e i n i s c h e n B a u e r n v e r e i n s . G u t e
C h a r a k t e r i s i e r u n g in K V N r . 6 2 4 v. 8. 12. 1930. Vgl. a u c h M . SCHUMACHER (wie
A n m . 16) S. 398 f. (u. ö.) s o w i e F E R D I N A N D JACOBS, V o n S c h o r l e m e r z u r G r ü n e n
F r o n t , D ü s s e l d o r f 1957, S. 40 ff. mit A n m . 11.
" Ü b e r Forsch z u l e t z t H E L M U T NEUBACH, Felix F o r s c h ( 1 8 5 3 — 1 9 3 0 ) , in: Z e i t g e -
s c h i c h t e 1 (wie A n m . 1) S. 1 1 3 - 1 2 8 u. 303.
Forsch an Marx, 27. 12. 1915. Ä h n l i c h Graf Galen an Marx, 4. 1. 1916. H A S t K ,
1070, N r . 222.
Vgl. seine R e i c h s t a g s r e d e z u r E r n ä h r u n g s l a g e v o m 13. 1. 1916. S t e n o g r a p h i s c h e
Berichte, Bd. 3 0 6 , Berlin 1 9 1 6 , S. 5 7 3 — 580.

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Wilhelm M a r x 107

Einberufung des Reichsausschusses, dessen Tagung in Frankfurt a. M.


(24725. Oktober 1915) er dann zu einem Appel! an die Versöhnungsbe-
reitschaft der Kontrahenten nutzte. Er war überzeugt: N u r das Gespräch
miteinander konnte zu einer Verständigung fiihren. Allerdings mußte er
die Erfahrung machen, daß es nicht immer zweckmäßig war, bei einer
aufgeregten Menge von Milde und [sozialem] Frieden zu sprechen; oft war
Schweigen das Klügere. Sein Frankfurter Beschwichtigungsversuch trug
ihm jedenfalls auch empörte Zuschriften aus Arbeiterkreisen ein. Es
werde schwer sein, notierte er Ende Oktober 1915, überhaupt die Partei
zusammenzuhalten bei dieser Teuerung und bei dieser aufgeregten Stim-
mung, die jetzt schon in große Kreise hineingetragen ist^^.

III.
Seit dem Frühjahr 1915 zeichnete sich ab, daß die sozialen Konflikte
nicht der einzige Krisenherd blieben und nicht einmal der gefährlichste.
Weit größere Gefahren für die Einheit des Zentrums gingen vom rechten
Parteiflügel aus; die Stichworte hießen Kriegszieldiskussion und Reform
des preußischen Dreiklassenwahlrechts. Die Kontrahenten waren in bei-
den Fällen zwar nicht völlig, aber doch weitgehend identisch.
Während es 1914/15 wegen der mit Recht konstatierten außenpoliti-
schen Abstinenz des Zentrums — die ebenso Folge der traditionell innen-
politischen Orientierung wie mangelnder Informationsmöglichkeiten war
— keine nennenswerten Auseinandersetzungen über die grundsätzlichen
Probleme von Krieg und Frieden gegeben hatte^^, bildete sich infolge der
unerwartet langen Dauer des Krieges und seiner Belastungen ein
zunehmend heftiger werdender Gegensatz über der Frage der Kriegsziele
und der Art des anzustrebenden Friedens heraus. Dabei wiederholte sich
eine Eigentümlichkeit, die schon die Diskussion mit den Arbeiterführern
belastet hatte: daß nämlich der Disput im wesentlichen öffentlich g e f ü h n
wurde, in den Spalten der großen Zentrumsorgane, die kaum durch Par-
teidisziplin gezügelt wurden, vielmehr ihre Unabhängigkeit ausdrücklich
betonten. Publizistischer Vorkämpfer in diesem Streit war die Kölnische
Volkszeitung (KV). Sie hatte sich im inneφarteilichen Meinungskampf
der Vorkriegszeit stets als Organ der (sozial-)politischen Vernunft und
des Augenmaßes bewährt, wurde aber nun unter der neuen Schriftleitung
der Brüder Franz Xaver und Karl Bachem zu einem entschiedenen Ver-

" T a g e b u c h v o m 1 8 . 9 . , 2 5 . / 3 0 . 10., 2 . 1 2 . 1 9 1 5 s o w i e u n d a t i e r t e A u f z e i c h n u n g .
H A S t K , 1070, N r n . 1 u. 2 2 2 ; f e r n e r N o t i z e n K. BACHEMS z u r R e i c h s a u s s c h u ß s i t z u n g .
H A S t K , 1006, N r . 523.
V g l . U . MITTMANN (wie A n m . 12) S. 341 u. 355.

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108 U L R I C H VON H E H L

fechter chauvinistischer A n n e x i o n s f o r d e r u n g e n ^ ' . Insofern entsprach ihre


Mitte September 1914 abgegebene Versicherung, sich in patriotische/r/
Gesinnung und nationaler Begeisterung von niemandelm] übertreffen lassen
zu w o l l e n ' ' , nicht lediglich begeisterter A u f b r u c h s t i m m u n g , sondern ver-
k ü n d e t e ein P r o g r a m m , das in der Folge mit alldeutschem G r ö ß e n w a h n
zu wetteifern schien. Es f a n d seinen b e s o n d e r e n Ausdruck in einer eige-
nen Kriegsausgabe f ü r die T r u p p e , die in f ü r damalige Verhältnisse
schwindeierregender A u f l a g e n h ö h e v o n 130 000 Exemplaren erschien
und die lebhafte A n e r k e n n u n g der O b e r s t e n Heeresleitung f a n d ' ' . Die
Verleger verfolgten zugleich den Z w e c k , auch letzte Zweifel in die
Reichstreue des (rheinischen) Katholizismus zu zerstreuen, ihm n u n m e h r
endgültig einen gleichberechtigten Platz zu s i c h e r n ' ' .
In seinem bornierten Nationalismus weigerte sich das Blatt, den all-
mählichen S t i m m u n g s u m s c h w u n g in der Bevölkerung und damit auch bei
der Z e n t r u m s a n h ä n g e r s c h a f t zur Kenntnis zu nehmen. Je mehr die über-
optimistische Siegeszuversicht einer vorsichtigeren und realistischeren
Betrachtung Platz machte, desto schriller w u r d e n seine D u r c h h a l t e p a r o -
len, desto ausufernder seine Siegfriedenspläne. Das mußte über kurz o d e r
lang zu Differenzen nicht allein mit d e m besonnenen Kurs des Reichs-
kanzlers, sondern auch zum Streit im eigenen Lager f ü h r e n , w o vielen die
Treibertaktik Atr K V auf die Nerven g i n g " . Bereits im F r ü h j a h r 1915 war
Julius Bachem, der in der Vorkriegszeit z u s a m m e n mit Hermann Cardauns
die K V auf den H ö h e p u n k t ihres publizistischen Ansehens gebracht
hatte, wegen u n ü b e r w i n d b a r e r außenpolitischer D i f f e r e n z e n mit seinen
beiden Vettern aus der Redaktion ausgeschieden·*®.

^^ Zum folgenden ERNST HEINEN, Zenirumspresse und Kriegszieldiskussion uncer


besonderer Berücksichtigung der „Kölnischen Volkszeitung" und der „Germania",
phil. Diss. Köln 1962, sowie, von HEINEN übersehen, JOHN К. ZEENDER, The Ger-
man Center Party during World War I. An internal Study, in: The Catholic Historical
Review 42, 1957, S. 4 4 1 - 4 6 8 . - Von den Brüdern Franz АГдг^ег ( 1 8 5 7 - 1 9 3 6 ) und
Karl Bachem (1858—1945) ist namentlich letzterer, M d L / M d R 1889—1904/06, als
Publizist und Geschichtsschreiber des Zentrums (vgl. Anm. 12) hervorgetreten. Vgl.
N D B , Bd. 1, Berlin 1953, S. 494, sowie WILHELM KOSCH, Biographisches Staatshand-
buch, Bd. 1, Bern-München 1963, S. 51.
" KV (alle Ausgaben) vom 16. 9. 1914.
" V g l . E . H E I N E N ( w i e A n m . 3 5 ) S. X I I I .
" V g l . R . M O R S E V , Z e n t r u m s p a r t e i ( w i e A n m . 2 5 ) , S. 5 7 m i t A n m . 2 0 .
Ebenda S. 56 mit Anm. 19. — Zur späteren stillschweigenden Entschuldigung dieses
Verhaltens vgl. K. BACHEM (wie Anm. 12), Bd. 8, S. 228 f.
Über /. Bachem und H. Cardauns zuletzt HUGO STEHKÄMPER, Julius Bachem
( 1 8 4 5 - 1 9 1 8 ) , i n : Z e i t g e s c h i c h t e 1 ( w i e A n m . 1) S. 2 9 - 4 2 u . 2 9 7 f . ; M A N F R E D BLER-
GANZ, Cardauns (wie Anm. 12), sowie DERS., Hermann Cardauns (1847—1925), in:
Rheinische Lebensbilder, Bd. 8, Köln-Bonn 1980, S. 305 — 323. — Zu den Hintergrün-
d e n d e s R e d a k t i o n s w e c h s e l s J . K . Z E E N D E R ( w i e A n m . 3 5 ) S. 4 4 9 f . ; E . H E I N E N ( w i e
A n m . 3 5 ) S. X I I u . 4 f. s o w i e U . M I T T M A N N ( w i e A n m . 12) S. 2 5 8 .

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Wilhelm M a r x 109

Allerdings schwelten die inneφarteilichen Meinungsverschiedenheiten


zunächst nur unter der Oberfläche. Eine Verlautbarung, die der Reichs-
ausschuß des Zentrums am 24. Oktober 1915 zur Kriegszielfrage erließ,
sprach lediglich in allgemeinen Wendungen von verstärktem Schutze unse-
res Landes im Osten und Westen; sie schien die Geschlossenheit der Partei
zu unterstreichen. Nur seinem Tagebuch vertraute Marx ernste Zweifel
an ihrer Einigkeit an^".
Auf der Osterdienstagssitzung des Rheinischen Provinzialausschusses
am 25. April 1916 brachen die Gegensätze offen aus, und zwar über der
Frage des uneingeschränkten U-Boot-Einsatzes. Als Julius Bachem nach
einem einleitenden Referat des Essener Reichstagsabgeordneten Bell*^
eine Resolution vorschlug, die der Regierung für ihre (besonnene) Hal-
tung das Vertrauen aussprach und die Zentrumspresse davor warnte, sich
von bestimmten Kreisen verleiten zu lassen, die U-Bootfrage mit einer Hur-
rastimmung zu behandeln*^, sah der gleichfalls anwesende Karl Bachem
damit das Signal zu einem konzentrierten Vorstoß gegen die Haltung der
К V. gegeben^^. In der Tat wurde die Debatte dann äußerst lebhaft.
Namentlich die Arbeitervertreter, insbesondere StegerwaU, hätten sich in
hefiigen Ausdrücken geäußert, und Direktor Brauns*^ habe namens des
Volksvereins^' gefordert, daß ein scharfer [Trennungs-JStrich zwischen der
Zentrumspolitik und der Politik der KV. gezogen werden müsse. Karl
Bachem war weitgehend isoliert, nur der Düsseldorfer Rechtsanwalt und

E r k l ä r u n g des Reichsausschusses, 4 . 1 1 . 1 9 1 5 , in: SCHULTHESS' Europäischer


Geschichtskalender 56, 1915/1, M ü n c h e n 1919, S. 541 f. Vgl. auch E. HEINEN S. 15 f.,
der übersieht, d a ß bei FRIDA WACK.ER, Die H a l t u n g der Deutschen Zentrumspartei
zur Frage d e r Kriegsziele im Weltkrieg 1914—1918, phil. Diss. W ü r z b u r g 1937, S. 8,
eine deutlich schärfere Fassung der Erklärung gedruckt ist, in der zusätzlich von
Gebietserwerbungen und ausreichende[n] Bürgschafien die R e d e ist. O f f e n b a r ist nur die
e n t s c h ä r f t e Fassung in die Presse gelangt, wohl infolge des Verbots der Kriegszielerör-
t e r u n g e n . Vgl. KV N r . 905 u. G e r m a n i a N r . 512 vom 5. 11. 1915. — Die Bedenken
Marx· im T a g e b u c h vom 25. 10. 1915. H A S t K , 1070, N r . 1.
JOHANNES BELL ( 1 8 6 8 — 1949), Tustizrat, 1908 — 1921 MdL, 1912—1933 MdR,
1 9 1 9 / 2 0 Reichsverkehrs-, 1926 Reiciisjustiz- und Minister f ü r die besetzten Gebiete.
Ü b e r ihn N D B , Bd. 2, Berlin 1955, S. 29, sowie W . KOSCH (wie Anm. 35), Bd. 1,
S. 87 f.
' ' P r o t o k o l l der R e d a k t i o n s k o n f e r e n z der K V , 26. 4. 1916. H A S t K , 1006, N r . 868.
^^ Bachem an Eisele, 27. 4. 1916. Ebenda. D o r t auch die folgenden Zitate. Vgl. auch E.
HEINEN (wie Anm. 35) S. 28 ff. sowie U. MlTTMANN (wie Anm. 12) S. 320 mit Anm.
71, 362 mit Anm. 119.
Ü b e r Д г д и ш ' z u l e t z t HUBERT MOCKENHAUPT, Heinrich Brauns (1868—1939), in:
Zeitgeschichte 1 (wie Anm. 1) S. 148 — 159 u. 304 f., sowie DERS., W e g und Wirken
des geisdichen Sozialpolitikers Heinrich Brauns, M ü n c h e n - P a d e r b o r n - W i e n 1977.
Z u m V o l k s v e r e i n v o r 1918 vgl. HORSTWALTER H E I T Z E R , D e r V o l k s v e r e i n f ü r d a s
katholische Deutschland im Kaiserreich 1890—1918 (Veröffentlichungen d e r Kommis-
sion f ü r Zeitgeschichte, B, 26), M a i n z 1979, w o die hier angeschnittene Frage, der
pädagogischen Ausrichtung der Arbeit entsprechend, jedoch nicht behandelt ist.

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110 U L R I C H VON HEHL

Landtagsabgeordnete Brockmann^^, ein höchst eigenwilliger O p p o n e n t


vom äußersten rechten Parteiflügel, unterstützte ihn. D a sich Bachem
auch nicht dazu verstehen mochte, eine K o m p r o m i ß r e s o l u t i o n zu billi-
gen, in der die Invektive gegen die Zentrumspresse fortgelassen war, fand
er bei der Schlußabstimmung lediglich zwei V e r b ü n d e t e ^ ' .
O b w o h l Marx den Kurs der K V entschieden mißbilligte, hielt er sich
bei dieser Sitzung auffallend zurück. Als Stellvertretender V o r s i t z e n d e r
des Rheinischen Z e n t r u m s suchte er alles zu vermeiden, was die Span-
n u n g e n hätte verschärfen oder gar die Parteieinheit hätte g e f ä h r d e n k ö n -
nen. Insofern beschränkte er sich auf die Rolle des unbeteiligten Zuhörers
und überließ sogar den Vorsitz Bell, g a n z abgesehen davon, d a ß außen-
o d e r verteidigungspolitische Fragen ohnehin nicht seine D o m ä n e waren
und sein Fraktionskollege ungleich besser geeignet schien, die Frage des
U - B o o t - E i n s a t z e s zu behandeln·". Auch blieb er ja in vielen anderen
Bereichen auf die U n t e r s t ü t z u n g der K V angewiesen; f ü r Juli 1916 stand
bereits die V e r ö f f e n t l i c h u n g von schulpolitischen Leitsätzen aus seiner
Feder an'°. D a h e r w a r Z u r ü c k h a l t u n g am Platze, jedenfalls solange es
ging·
Diese T a k t i k blieb zunächst auch f ü r die R e i c h s f ü h r u n g des Z e n t r u m s
bestimmend. Die Reichsausschußsitzung in F r a n k f u r t am Main am
2 6 . / 2 7 . September 1916, bei der Marx Protokoll führte, verlief ruhig und
friedlich, der Streit mit der K V w u r d e gar nicht besprochen, auch war die
Stimmung p[uncJto Krieg gedrückt^K Ebensowenig kam es am 9. N o v e m -
ber auf der Provinzialausschußsitzung in Köln, der erstmals nach langer
Abwesenheit wieder Trimbom präsidierte, zu neuen Z u s a m m e n s t ö ß e n :
Großzügig, ruhig und besonnen, faßte Karl Bachem seine Eindrücke vom
Sitzungsverlauf z u s a m m e n , keine Krakelerei gegen K. V., selbst Stegerwald
ganz zahm, und M.Gladbach [d. h. der Volksverein] schwieg^^.
Indessen war es nur die R u h e vor dem Sturm. Als am 28. N o v e m b e r
1916 das V e r b o t der Kriegszielerörterungen a u f g e h o b e n w u r d e und zwei
W o c h e n später, am 12. D e z e m b e r , die Reichsregierung mit einem Frie-

' ' Zu Lambert Brockmann, Besitzer des Düsseldorfer Tageblaus, vgl. die übrigens
dürftigen biographischen Angaben bei WOLFGANG STUMP, Geschichte und Organisa-
tion der Zentrumspartei in Düsseldorf 1917—1933 (Beiträge zur Geschichte des Parla-
mentarismus und der politischen Parteien, Bd. 43), Düsseldorf 1971, passim.
" Tagebuch vom 26. 4. 1916. HAStK, 1070, Nr. 1.
Zu U-Boot-Einsatz und Kriegszielstreit allgemein vgl. E. R. HUBER (wie Anm. 15),
Bd. 5, S. 2 1 7 - 3 1 1 .
" Tagebuch vom 4. 7. und 3. 8. 1916. HAStK, 1070, Nr. 1.
' ' Aufzeichnung Karl Bachems, 26./27. 9. 1916. HAStK, 1006, Nr, 523. Vgl. auch E.
HEINEN (wie Anm. 35) S. 43 f. sowie Tagebuch Marx'\om 26./27. 9. 1916. HAStK,
1 0 7 0 , Nr. 1.
" Aufzeichnung K. Bachems, 9. 11. 1916. HAStK, 1006, Nr. 851.

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Wilhelm Marx 11 1

densangebot an die Entente-Mächte überraschte, erhielten die gegensätz-


lichen Auffassungen neuen Auftrieb. Die öffentliche Diskussion nahm
nicht allein schlagartig zu, sie führte auch zu einer Konkretisierung der
teilweise weitausgreifenden Kriegszielforderungen. Beides wirkte glei-
chermaßen verschärfend.
Die Zentrumspartei stand damit vor einem Dilemma. Zwar bot sich für
alle Unzufriedenen nun Gelegenheit, Dampf abzulassen und Position zu
beziehen, wovon die KV schon bald reichlich Gebrauch machte, aber
andererseits mußten die Gegensätze nun offen zutage treten. Auch wurde
immer deutlicher, daß der annexionistisch gesonnene rechte Parteiflügel
im Begriff stand, die Reichskanzlerfronde (E. Heinen) der Konservativen
und Nationalliberalen zu verstärken. Bethmann Hollwegs zurückhaltend-
vorsichtiges Taktieren in der Kriegszielfrage fand wachsenden Wider-
spruch, wurde vielfach als unklar und verworren empfunden^' und löste
bei rechten Politikern wie dem Abgeordneten Brockmann arge vaterländi-
sche Beklemmungen aus^·*. Aiarx wurde mit diesen Vorgängen ganz unmit-
telbar konfrontiert: Ein tiefer Schmerz erfaßt uns alle, eine Art Ingrimm,
schrieb ihm Pfarrer Kruchen^^, ein Paneigänger der KV, Ende Dezember
1916, daß wir so schwächlich gefuhrt und regiert werden... Haben wir
Hindenburg bekommen durch die Not der Lage und auf allgemeinen
Wunsch der Bevölkerung, so wird hoffentlich auch für die politische Leitung
sich der starke Mann finden, den wir nötig haben^^.
Marx hingegen trug in realistischerer Einschätzung der Lage den Kurs
derjenigen Kräfte im Zentrum mit, die ungeachtet einzelner Meinungs-
unterschiede bis Mitte 1917 die Außenpolitik des Reichskanzlers stützten.
Andererseits war der wachsende innerparteiliche Widerstand unüberseh-
bar, vor allem in der ohnehin stärker rechts orientierten preußischen
Landtagsfraktion, aber auch von seiten etlicher Reichtagsabgeordneter,
die sich mit teilweise weitreichenden Forderungen zu Wort meldeten''.
In einem Referat des annexionsfreundlichen Stellvertretenden Vorsitzen-
den der Reichstagsfraktion Adolf Gröber^* vor Venretern der Zentrums-
presse am 2. Dezember 1916 konnte man geradezu den Versuch sehen,

" E. MEINEN (wie A n m . 35) S. 52.


" Brockmann an Marx, 10. 1. 1917. H A S t K , 1070, Nr. 2 2 3 .
" Eduard Kruchen ( 1 8 7 2 — 1 9 2 4 ) , seit 1915 Pfarrer in K ö l n - E h r e n f e l d , Mitglied des
Provinzialausschusses der Rheinischen Zentrumspartei.
" Kruchen ρ Marx 25. 12. 1916. H A S t K , 1070, N r . 223. - D i e Anspielung auf Я т -
denhurg b e z i e h t sich auf dessen Berufung an die Spitze der (3.) Obersten Heeresleitung
am 29. 8. 1916.
" V g l . / . Bachem an Marx, 2. 3. 1917. Ebenda. Ferner E. HEINEN S. 5 3 u. 67.
Z u Größer ( 1 8 5 4 — 1 9 1 9 ) vgl. HERMANN CARDAUNS, A d o l f Gröber, M . G l a d b a c h
1921 ; N D B , Bd. 7, Berlin 1966, S. 107 f. s o w i e R. MORSEY, Zentrumspartei (wie A n m .
2 5 ) , S. 5 6 5 - 5 7 0 .

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112 U L R I C H VON H E H L

der Vorsicht und der Zurückhaltung des linken [!] rheinischen Parteiflü-
gels . . . einen spürbaren Hieb zu versetzen und ihn zu einer Änderung sei-
ner Politik zu veranlassen^'. Wenn Marx daher Anfang Januar 1917 in
einer eigenen, übrigens mäßig besuchten Veranstaltung seines Wahlkrei-
ses Mülheim genügende Bürgschaften gegen die Wiederholung heimtücki-
scher Überfälle durch unsere /e/wi/e verlangte und, an die Adresse der S P D
gewandt, denjenigen schwere Verantwortung zuschob, die nur um des Frie-
dens willen den Frieden zur Unzeit fordern und nichts danach fragen, wie er
ausfällt, argumentierte er gewissermaßen auf der Basis des kleinsten
gemeinsamen Nenners, der die Partei noch verband. Sein hohes Lob des
Bethmannschen Friedensangebots war gleichwohl eine klare Ablehnung
jeder Treibertaktik''°.
Die Absicht, 1ппефап:е1НсЬе Gegensätze nicht seinerseits zu verschär-
fen, lag auch seiner Einladung zur Beirats- und Provinzialausschußsit-
zung am 3. Januar 1917 zugrunde. Sie sollte sich vorwiegend mit organi-
satorischen Fragen befassen, eine Diskussion der Kriegsziele war gar
nicht erst vorgesehen^'. Prompt meldete sich Widerspruch, der vom rech-
ten Parteiflügel kam. Ohnehin von gemischten Gefühlen über das kaiserli-
che Friedensangebot beseelt, machte sich Pfarrer Kruchen zum Sprecher
all derjenigen, die darin ein Zeichen der Schwäche, der nachlassenden
Nervenkraft sahen. Vollends unverständlich war ihm die Haltung der
Zentrumsführung: Während Nationalliberale und Sozialdemokraten
gegen und fur die Friedensnote großartige Versammlungen abhielten,
schweige das Zentrum, gehe jeder Stellungnahme aus dem Wege, mache
nachgerade einen hülflosen Eindruck. Daher halte er eine offene Ausspra-
che für unerläßlich; schließlich handele es sich doch um Deutschlands
Zukunft und die Grundlage aller Entwicklung''^.
Wie begreiflich der Vorwurf der Untätigkeit ist, bleibt doch zu fragen,
was anders außer Lavieren die Zentrumsführung hätte tun können. Ein-
heitsstiftende weltanschauliche Gravamina waren nicht berührt; außen-
und militar-, freilich in wachsendem Maße auch innen- und sozialpoliti-
sche Meinungsverschiedenheiten von solcher Tragweite ließen sich eben

" E. MEINEN (wie Anm. 35) S. 56. — Die Vertreter einer maßvollen Politik im rheini-
schen Zentrum unter linke/mj. . . Parteiflügel(s¡ zu subsumieren, ist natürlich nicht
angängig. Ebenso unrichtig ist es, Marx unter die Führer des rechten Flügels zu subsu-
m i e r e n . V g l . E. R . H U B E R ( w i e A n m . 15), B d . 5, S. 1 0 7 1 .
Vgl. Tagebuch vom 6 . 1 . 1 9 1 7 . H A S t K , 1070, Nr. 1; ferner KV Nr. 17 vom
8. 1. 1917 sowie die Polemik in der (sozialdemokratischen) Rheinischen Zeitung Nr. 6
vom 8. 1. 1917: Herr Wilhelm Marx redet.
" Tagebuch vom 3. 1. 1917. Ebenda.
" Vgl. Anm. 56.

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Wilhelm M a r x ИЗ

nicht mehr auf der Grundlage der gemeinsamen Katholizität lösen.


Ebenso offen lag das Unvermögen der zerstrittenen Flügel zutage, ohne
inneren Zwang oder äußeren Druck aufeinander zuzugehen. Insofern
unterschied sich die Situation grundlegend von den Rahmenbedingun-
gen, die seinerzeit der Kulturkampf geschaffen hatte: Die Volkspartei
Zentrum zeigte nun spezifische Schwächen, die stärker auf Veränderun-
gen des politischen Umfeldes als auf Mängel der Organisation oder das
Fehlen überragender Führergestalten zurückgingen. Das „Schweigen"
der Zentrumsführung war daher nichts anderes als der Versuch, den nun
einmal bestehenden tiefen politischen Dissens aus der öffentlichen Dis-
kussion herauszuhalten.
Nun ließ schon das Drängen der Unzufriedenen erkennen, daß diese
Taktik ihre Grenzen hatte. Tatsächlich versuchte es die KV wenige
Monate später mit einem Überrumpelungsmanöver, ohne sich durch
mögliche Rückwirkungen auf die Parteieinheit beeindruckt zu zeigen.
Am 21. Mai 1917 veröffentlichte sie unter der Überschrift Was will der
deutsche Frieden f eine Zusammenstellung ihrer weitausgreifenden Kriegs-
zielforderungen, die sie ihren Lesern zur Zustimmung unterbreitete'^.
Damit verfolgte sie im wesentlichen zwei Ziele: Sie wollte zunächst der
ihrer Meinung nach verderblichen Flaumacherei und Verzagtheit entge-
genwirken; polemisch hielt sie daher ihren Hindenburgfrieden dem Schei-
demannschen Verzichtßieden der parlamentarischen Linken entgegen.
Zum anderen hoffte sie, die Widerstrebenden oder Zögernden im eige-
nen Lager auf ihre Seite zu ziehen. Sie hatte deshalb auch dem rheini-
schen Zentrumsvorstand eine Zustimmungsadresse gesandt, stieß aber bei
Trimbom und Marx auf entschlossene Ablehnung. Trimhom hielt nicht
allein die Annexionsforderungen für weit überzogen, sondern bezeich-
nete sich auch als einen prinzipiellen Gegner der ganzen Kriegszielerörte-
rung. Sie habe nur einen Riß ins Volk gebracht und sei auch insofern ohne
praktische Bedeutung . . als sich die Kriegsziele doch nur nach dem militä-
rischen Erfolg richten würden. Passives Verhalten des Vorstands war im
übrigen seine Devise, und allenfalls hielt er im Beirat eine Aussprache für
angebracht'^

Marx teilte diese Einschätzung. Statt übertriebene, geradezu phantasti-


sche Kriegsziele aufzustellen, hielt er für richtiger, am alten Kaiserwort
festzuhalten: „Uns treibt nicht Eroberungslust!", und das deutsche Volk
unter Hinweis auf die gewaltige Überzahl unserer Feinde zu äußerster

" K V Nr. 3 9 4 v o m 2 1 . 5. 1 9 1 7 , V g l . auch E . HeinEN (wie Anm. 3 5 ) S. 8 5 - 9 1 .


" Tnmbom an Marx, 2 4 . 5. 1 9 1 7 , H A S t K , 1 0 7 0 , N r . 2 2 3 .

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114 U l r i c h VON H e h l

Kraftanstrengung anzuspornen^^. O h n e h i n störte ihn das Säbelrasseln der


K V , die ihm in gründlicher V e r k e n n u n g der V o l k s s t i m m u n g fast aus-
schließlich die M e i n u n g des Generalstabs w i e d e r z u g e b e n schien^^.
Trimbom freute sich über den Gleichklang ihres Urteils, wollte es nun
aber auch nicht zu einem Strafgericht gegen die K V k o m m e n lassen, das
schon mit Rücksicht auf ihre A n h ä n g e r untunlich war^^. Ü b e r h a u p t
stimmten beide darin überein, verletzte Empfindlichkeiten der Gegenseite
in R e c h n u n g zu stellen; K a n d i d a t e n des rechten Flügels sollten bei anste-
h e n d e n Beiratswahlen nicht ü b e r g a n g e n w e r d e n , w e n n sie n u r mit sich
reden ließen. Das w a r A n f a n g Juni. Am 6. Juli 1917 u n t e r n a h m Matthias
Erzherger seinen a u f s e h e n e r r e g e n d e n V o r s t o ß im H a u p t a u s s c h u ß des
Reichstages, der binnen weniger T a g e z u m R ü c k t r i t t Bethmann Hollwegs
u n d z u r Friedensresolution der neuen parlamentarischen M e h r h e i t aus
S P D , Linksliberalen und Z e n t r u m f ü h r t e . G a n z u n e r w a r t e t w u r d e damit
die i n n e φ a r t e i l i c h e A u s e i n a n d e r s e t z u n g auf eine neue E b e n e gehoben.

IV.
W ä h r e n d man sich im (rheinischen) Z e n t r u m n o c h um das weitgrei-
f e n d e A n n e x i o n s p r o g r a m m der K V stritt, w a r e n in d e r ä u ß e r e n wie inne-
ren Lage des Reiches folgenschwere V e r ä n d e r u n g e n vor sich gegangen.
G e g e n den W i d e r s t a n d Bethmann Hollwegs hatten M a r i n e - und Oberste
Heeresleitung zum 1. Februar 1917 die A u f n a h m e des uneingeschränkten
U - B o o t - K r i e g e s durchgesetzt, durch d e n die l ä h m e n d e Bewegungslosig-
keit an der W e s t f r o n t d u r c h b r o c h e n u n d die britische Flotte binnen sechs
M o n a t e n vernichtet w e r d e n sollte. Marx k o m m e n t i e r t e diese Entschei-
d u n g mit unverhohlener S k e p s i s " , u n d in d e r T a t w u r d e das militärische
Ziel auch nicht a n n ä h e r n d erreicht. Die T o r p e d i e r u n g f r e m d e r Schiffe
bewirkte lediglich, d a ß nun auch die U S A d e m Reich den Krieg erklärten
(6. April) und V o r b e r e i t u n g e n trafen, aktiv in das K a m p f g e s c h e h e n ein-
zugreifen.
Auch an der O s t f r o n t zeichnete sich eine neue E n t w i c k l u n g ab. Im
F e b r u a r 1917 brach in R u ß l a n d die Revolution aus, wobei z w a r die Mit-

" Rede im Kölner Gürzenich, 3. 11. 1918(!). Ebenda, Nr. 222 (undatiert). Das genaue
Datum ergibt sich aus inhaltlichen Hinweisen, dem in Anm. 27 genannten Erinne-
rungsbericht und einem Bericht des Kölner Local-Anzeigers Nr. 306 vom 4. 11. 1918.
— Nichts spricht dafür, d a ß Marx zwischen seiner (bisher nicht bekannten) Antwort
an Trimbom von Ende Mai 1917 und dem oben genannten Datum seine Meinung
geändert hätte. Vgl. auch Anm. 67.
" Aufzeichnung von W. Marx, 11.8. 1936, zitiert bei R. MORSEY, Zentrumspartei
(wie Anm. 25), S. 57, Anm. 20.
" Trimbom an Marx, nach 4. 6. 1917. HAStK, 1070, Nr. 223.
" Tagebuch vom 9. und 21. 2. 1917. Ebenda, Nr. 1.

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Wilhelm Marx 115

telmächte von den innerrussischen Wirren zu profitieren hofften, aber


doch auch ein Uberschwappen der revolutionären Wogen nicht ausschlie-
ßen konnten. Mit größter Sorge betrachtete die Reichsführung indessen
die wachsende Kriegsrnüdigkeit ihres Hauptverbündeten, der Donau-
monarchie. Eine streng geheime Denkschrift des österreichischen Außen-
ministers Graf Czemin schilderte Mitte April die Lage des Vielvölkerstaa-
tes in den düstersten Farben und drängte das Deutsche Reich zu rascher
Friedensbereitschaft. Gleichzeitig liefen insgeheim Friedenssondierungen
zwischen dem Wiener Hof und der französischen Regierung; für den Fall
einer deutschen Weigerung erwog Österreich sogar den Gedanken eines
Sonderfriedens.
An der „Heimatfront" sah es kaum besser aus. Der mühsam überstan-
dene Hungerwinter 1916/17 steckte noch allen in den Gliedern, doch die
Versorgung besserte sich nicht. Chronischer Mangel an allen Gütern des
täglichen Bedarfs, endlose Klagen über Schieber und Wucherer, schließ-
lich die hohen Gefallenenzahlen drückten als schwer erträgliche Last auf
die Stimmung der Menschen, ohne daß ein Ende abzusehen oder der
Sinn der Entbehrungen, ein klares, allgemein akzeptiertes Kriegsziel, zu
erkennen gewesen wäre^'. Unruhen, Plünderungen und wilde Streiks
brachen vielerorts aus, Ende Juni 1917 auch in Düsseldorf'". Ein Tele-
gramm, das Marx im Juli aus dem Wahlkreis erhielt, sprach aus, was viele
dachten : Sie sind dringend gebeten, mit aller Entschiedenheit für alle auf ein
baldiges Ende des Krieges hinzielenden Maßnahmen einzutreten. Wir wol-
len unsere siebzehnjährigen Kinder nicht auch noch hinschlachten lassen^^.
Psychologisch jedenfalls war die Bevölkerung auf einen möglichen vier-
ten Kriegswinter nicht im geringsten vorbereitet. Insofern muten die Sieg-
friedenshoffnungen der KV eigentümlich wirklichkeitsfremd an; die poli-
tische und militärische Lage entsprach ihnen nicht mehr. Karl Trimbom
traf den Nagel auf den Kopf, als er Anfang Juni an Marx schrieb, die
äußeren Verhältnisse, auch der Druck des Volkes könnten schließlich
dazu führen, daß sich selbst ein „Verzichtfriede" nicht mehr ausschließen
lasse, wie die Sozialdemokraten ihn soeben ins Spiel gebracht hätten.
Niemand werde in diesem Fall unpopulärer sein als die Scharfmacher von
gestern'^. Die M S P D beschloß jedenfalls im Juni 1917, neue Kriegskre-
dite nur zu bewilligen, wenn die Regierung zuvor ihren Forderungen
zugestimmt habe. Bei einer Weigerung war sie zum Sturz Bethmann Holl-
wegs entschlossen.

" Die T a g e b ü c h e r d e r J a h r e 1915 bis 1918 enthalten zahlreiche einschlägige Bemer-


kungen. Ebenda.
" T a g e b u c h vom 28. 6. 1917. E b e n d a .
" Offermann an Marx, 18. 7. 1917. E b e n d a , N r . 223.
W i e A n m . 67.

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116 U L R I C H VON HEHL

Indessen gingen die Ereignisse, die zur innenpolitischen W e n d e des 19.


Juli 1917 f ü h r t e n , nicht zunächst auf das Ultimatum der M S P D zurück,
sondern w u r d e n durch eine Aktion des schwäbischen Z e n t r u m s a b g e o r d -
neten Matthias Erzberger iusgdöst^^. Erzherger-wir unter den (katholi-
schen) Parlamentariern der Kaiserzeit eine singuläre E r s c h e i n u n g : ein
umtriebig-quirliger Vollblutpolitiker par excellence, der sich als einer der
ersten g a n z der Politik verschrieben hatte und mit ihr seinen Lebensun-
terhalt bestritt. Seit er, erst 28jährig, 1903 in den Reichstag eingezogen
war, hatte er häufig f ü r Schlagzeilen gesorgt, nicht immer zur Freude sei-
ner P a n e i , in deren bedächtig agierendes H o n o r a t i o r e n t u m er sich nur
schwer einfügte. Aber auch seine i n n e φ a r t e i l i c h e n G e g n e r m u ß t e n vor
der immensen S c h a f f e n s k r a f t und stupenden Sachkenntnis Erzbergers
kapitulieren'^. Sein Urteil, selbst wenn es o f t u n g e f r a g t a u f g e d r ä n g t
w u r d e und von p e n e t r a n t e r Besserwisserei nicht frei w a r , f u ß t e d o c h stets
auf gründlicher Beschäftigung mit der Materie. So entsprang die verbrei-
tete Reserve gegen ihn d e n n auch eher persönlicher Abneigung. Unbe-
stritten blieb indessen, d a ß er eminent gescheit und über die M a ß e n tüch-
tig war, und mochten ihn viele unausstehlich finden, so w a r er d o c h uner-
setzlich'K

N a c h d e m Erzherger zunächst als Annexionist mit sehr konkreten


Kriegszielvorstellungen aufgetreten war, hatte der Kriegsverlauf seinen
Optimismus g e d ä m p f t . E n d e April 1917 erhielt er Kenntnis von d e r deso-
laten Lage Österreichs, w u r d e im M a i / J u n i streng vertraulich über einen
bevorstehenden Friedensschritt Papst Benedikts XV. unterrichtet und
erlangte vor allem d a n k eigener präziser Berechnungen die Gewißheit,
d a ß der uneingeschränkte U - B o o t - K r i e g die in ihn gesetzten E r w a r t u n -
gen nicht erfüllte. Auch über die wachsende Kriegsmüdigkeit der Bevöl-
k e r u n g gab er sich keinen Illusionen hin: D e r Krieg, das stand nach all-
dem f ü r ihn fest, w a r f ü r Deutschland nicht mehr zu g e w i n n e n , also
mußte das Reich sich o h n e Säumen, solange es noch aus einer Position
der Stärke verhandeln k o n n t e , um einen V e r s t ä n d i g u n g s f r i e d e n bemü-
hen.
V o r diesem H i n t e r g r u n d kam der anstehenden neuen Kriegskreditvor-
lage und dem sozialdemokratischen Junktim besondere B e d e u t u n g zu.

Z u £ r z ¿ e r ¿ e r g r u n d l e g e n d , freilich in m a n c h e m z u k o r r i g i e r e n b z w . zu e r g ä n z e n :
KLAUS EPSTEIN, M a t t h i a s E r z b e r g e r u n d d a s D i l e m m a d e r d e u t s c h e n D e m o k r a t i e ,
Berlin 1962. V g l . f e r n e r RUDOLF MORSEY. M a t t h i a s E r z b e r g e r ( 1 8 7 5 — 1 9 2 1 ) in: Z e i t -
g e s c h i c h t e 1 (wie A n m . 1) S. 1 0 3 — 1 1 2 u n d 302 f., s o w i e T H E O D O R ESCHENBURG.
Matthias Erzberger. D e r g r o ß e M a n n des Parlamentarismus und d e r F i n a n z r e f o r m ,
M ü n c h e n 1973.
T y p i s c h A i a r x ' B e m e r k u n g : Erzberger redet die ganze Zeit, ich wundere mich, daß der
Mann nicht müde wird. T a g e b u c h v o m 27. 9. 1916. H A S t K , 1070, N r . 1.
" T H . ESCHENBURG in D I E Z E I T N r 24 v o m 8 . 6 . 1973.

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Wilhelm Marx 117

und um nicht dem parlamentarischen G e g n e r das Feld allein zu überlas-


sen, entSchloß Erzberger sich zu einem spektakulären Schritt. N a c h d e r
Devise, d a ß Ü b e r r a s c h u n g die Seele des Angriffs ist, überfiel er den
ahnungslosen H a u p t a u s s c h u ß des Reichstags am 6. Juli mit einer scho-
nungslos o f f e n e n Analyse der Situation, in der er das Scheitern des unein-
geschränkten U - B o o t - K r i e g e s nachwies, das bedrohliche Stimmungstief
der Bevölkerung ansprach und verlangte, auf den Ausgangspunkt des Krie-
ges zurück/zu/gehen, da lediglich vom Standpunkt des Verteidigungskrieges
aus. .. eine Einigung des deutschen Volkes zu erreichen sei. H ö h e p u n k t sei-
ner A u s f ü h r u n g e n w a r der Vorschlag, den Feinden mit einer gemeinsa-
men Friedensresolution des Reichstags die Bereitschaft zu einem V e r s t ä n -
digungsfrieden zu signalisieren, freilich zugleich die Entschlossenheit, im
Weigerungsfalle w e i t e r z u k ä m p f e n . Innenpolitische Nebenabsichten d e u -
tete er lediglich an, w e n n er von politischen Konsequenzen auch in der
Wahlrechtsfrage wie in der Frage der engeren Fühlungnahme zwischen
Regierung und Parlament sprach'^. Wesentlich unverblümter äußerte er
sich am N a c h m i t t a g des 6. Juli vor d e r Z e n t r u m s f r a k t i o n , w o er die Ein-
beziehung von Parlamentariern in die Regierung f o r d e r t e , um, wie Marx
sich notierte, der Resolution nach außen hin Nachdruck und Wert zu
geben^^.

Welche G r ü n d e im einzelnen ihn zu dieser Art des V o r g e h e n s veran-


laßten, ist hier nicht zu erörtern, die unmittelbaren Folgen jedenfalls sind
bekannt. N o c h am gleichen T a g konstituierte sich ein Interfraktioneller
Ausschuß aus Z e n t r u m , M S P D , Fortschrittlicher Volkspartei und N a t i o -
nalliberalen, d e r die Beratungen ü b e r den Resoiutionsentwurf a u f n a h m .
Ü b e r diesen unmittelbaren Aniaß hinaus kam dem Ausschuß in der Folge
wachsende B e d e u t u n g f ü r die sich a n k ü n d i g e n d e Parlamentarisierung des
Reiches z u " . Z u n ä c h s t indessen gipfelten die Geschehnisse in einem f ü r
A u ß e n s t e h e n d e schwer d u r c h s c h a u b a r e n Intrigenspiel um die Person
Bethmann Hollwegs, der nun auch die U n t e r s t ü t z u n g der bisher ihn tra-
g e n d e n parlamentarischen K r ä f t e verlor, n a c h d e m Marx zwischenzeitlich
noch einmal den E i n d r u c k g e w o n n e n hatte, d a ß seine Stellung. . . fester
geworden sei. Am 13. Juli wich der Reichskanzler d e m D r u c k der O b e r -
sten Heeresleitung und ihrer V e r b ü n d e t e n , o h n e d a ß er es v e r m o c h t
hätte, sich seinerseits entschlossen an die Spitze der V e r s t ä n d i g u n g s b e w e -

" Wiedergabe seiner Rede in: REINHARD SCHIFFERS u . a . (Hrsg.), Der Hauptaus-
schuß des Deutschen Reichstags 1915—1918, Bd. 3: 1917 (Quellen zur Geschichte des
Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 9/III), Düsseldorf 1981, S. 1525 —
1529.
" A u f z e i c h n u n g e n von Marx, 4.—12. 7. 1917; ferner Tagebuch vom 6 . 7 . 1 9 1 7 .
H A S t K , 1070, Nrn. 223 und 1.
" V g l . ERICH MATTHIAS u n d R U D O L F M O R S E Y ( H r s g . ) , D e r I n t e r f r a k t i o n e l l e A u s -
schuß 1 9 1 7 / 1 8 , 2 Teile (Quellen . . ., Bde l / I / I I ) , Düsseldorf 1959.

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118 U L R I C H VON HEHL

gung zu setzen. Auf die Bestellung seines N a c h f o l g e r s blieb die neue


Reichstagsmehrheit übrigens o h n e Einfluß. Marx und seine Fraktionskol-
legen e r f u h r e n die E r n e n n u n g von Georg Michaelis erst einen T a g später
auf der R ü c k f a h r t von Berlin^'.
Im Lager der Parteien w a r die Verwirrung k a u m weniger g r o ß , und
niemand w u r d e d u r c h Erzbergers V o r s t o ß stärker überrascht als die
eigene Fraktion; nur wenige P a r t e i f r e u n d e hatte er z u v o r ins V e r t r a u e n
g e z o g e n ' " . Nicht allein sein eigenmächtiges, im Fraktionsvorstand als
illoyal e m p f u n d e n e s V o r g e h e n stieß viele vor den K o p f ; wie ein D o n n e r -
schlag aus heiterem H i m m e l mußten seine Enthüllungen auf eine Partei
wirken, die bis dahin t r o t z fehlender Geschlossenheit d o c h an einem Pro-
gramm w e n n auch wenig fest umrissener Gebietserwerbungen festgehal-
ten h a t t e " . Dieses Ü b e r r a s c h u n g s m o m e n t hatte Erzbergerbe-wu&i einkal-
kuliert, er wußte, d a ß niemand seinen schlagenden A r g u m e n t e n etwas
entgegensetzen k o n n t e . D e r 71jährige Fraktionsvorsitzende Spahn
schwieg resigniert, obschon er die g a n z e Friedensaktion fiir unrichtig
hielt'^, und bekam über aller A u f r e g u n g in der Fraktionssitzung am
12. Juli einen O h n m a c h t s a n f a l l ' ^ . Sein e r k r a n k t e r Stellvertreter Gröber
fehlte ohnehin. So gelang es Erzberger, die zunächst widerstrebenden
Abgeordneten hinter sich zu bringen. In der Fraktionssitzung vom 12.
Juli votierten lediglich sieben Abgeordnete f ü r ein Verbleiben Bethmanns,
und nur vier stimmten gegen die Resolution'"·. Z w a r kamen vielen in der
sitzungsfreien Zeit zwischen dem 14. und 18. Juli erneut Zweifel, denn
überall im Land machten die G e g n e r der Friedensresolution mobil und
überschütteten die Fraktion mit einer Flut von T e l e g r a m m e n . So w u r d e
in der entscheidenden Fraktionssitzung am 19. Juli wieder wild geredet,
aber am Ende stand d o c h die Einsicht, d a ß es zu Erzbergers Schritt keine
vernünftige Alternative gab'^. In der Reichstagssitzung vom gleichen T a g

" Tagebuch vom 9. und 14. 7, 1917. HAStK, 1070, Nr. 1.


Vgl. R. MORSEY, Zentrumspartei (wie Anm. 25), S. 61 f., sowie ТН. ESCHENBURG
fwie Anm. 73) S. 65 f.
V g l . F. W A C K E R ( w i e A n m . 41) S. 2 4 ff.
" Tagebuch vom 11.7. 1917. HAStK, 1070, Nr. 1. - Wie Marx ferner notierte
(Tagebuch vom 12. 7. und Aufzeichnungen, wie Anm. 77), äußerte Spahn am 12. 7. vor
der Fraktion die Befürchtung, die ganze Aktion könne im Ausland als Schwäche ausge-
legt werden. Da aber der Reichskanzler der Resolution zustimme, so könnten [auch]
wir dafiir sein. Es wäre allerdings wünschenswert, wenn die Nat[ional]-Lib[eralen] mit
dafiir stimmten. Vgl. auch seinen späteren Bericht an K. Bachem, 9. 12. 1928. HAStK,
1006, Nr. 978.
" Tagebuch vom 12. 7. 1917. HAStK, 1070, Nr. 1. Die Angaben bei R. MORSEY, Zen-
trumspartei (wie Anm. 25), S. 63, und U. MlTTMANN (wie Anm. 12) S. 323, Anm. 88
sind entsprechend zu berichtigen.
" Tagebuch vom 12. 7. 1917. Ebenda. Vgl. dagegen IFA (wie Anm. 78), Bd. 1, S. 65,
Anm. 20, wo zwei Gegenstimmen erwähnt sind.
" Tagebuch vom 19. 7. 1917. Ebenda.

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Wilhelm Marx 119

Stimmte n u r eine kleine M i n d e r h e i t d e s rechten Parteiflügels g e g e n die


R e s o l u t i o n , die mit 212 g e g e n 126 S t i m m e n bei 17 E n t h a l t u n g e n a n g e -
nommen wurde''.
Marx h a t bei diesen V o r g ä n g e n nicht f ü h r e n d mitgewirkt. W e d e r
z ä h l t e er zu d e n A u ß e n p o l i t i k e r n seiner Partei n o c h g e h ö r t e er z u r F r a k -
t i o n s f ü h r u n g , in die er erst am 20. A u g u s t 1917 g e w ä h l t w u r d e ' ' . I m m e r -
hin w u r d e er Z e u g e des große[n] Aufsehen[s], d a s £rz¿er¿er5 V o r s t o ß h e r -
v o r r i e f " . W o h l beurteilte auch er die P e r s o n u n d d e n A k t i o n i s m u s Erz-
bergers mit gewisser Reserve — o h n e d a ß m a n n u n g e r a d e von A b n e i g u n g
s p r e c h e n k ö n n t e , blieb der Kerl ihm i r g e n d w i e unheimlich —, a b e r mit
d e r ihm e i g e n e n N ü c h t e r n h e i t n a h m e r dessen E n t h ü l l u n g e n weit gelasse-
ner auf als viele seiner F r a k t i o n s k o l l e g e n " . A u c h d e c k t e das Ziel eines
V e r s t ä n d i g u n g s f r i e d e n s sich mit seinen eigenen V o r s t e l l u n g e n . W i e
b e t r o f f e n ihn d a h e r Erzbergers d ü s t e r e Z u s t a n d s s c h i l d e r u n g a u c h i m m e r
m a c h t e , w u ß t e er d o c h , d a ß m a n d e n R e a l i t ä t e n ins A u g e blicken m u ß t e .
Es ging nicht, wie er d e m d i s s e n t i e r e n d e n adeligen Flügel in d e r F r a k t i o n
vorhielt, u m das, was wünschenswert, s o n d e r n u m das, was n a c h r u h i g e r
B e u r t e i l u n g d u r c h d e n Z w a n g d e r U m s t ä n d e g e b o t e n w a r , eine E i n s c h ä t -
z u n g ü b r i g e n s , die sich leitmotivisch d u r c h sein g e s a m t e s politisches W i r -
k e n zieht. I n s o f e r n behielt er in aller A u f r e g u n g b e m e r k e n s w e r t s t a r k e
N e r v e n , u n d als er in d e r s t ü r m i s c h e n F r a k t i o n s s i t z u n g v o m 19. Juli, die
d e r e n t s c h e i d e n d e n R e i c h s t a g s s i t z u n g v o r a u s g i n g , sah, d a ß die A r g u -
m e n t e p r o u n d c o n t r a sich ständig w i e d e r h o l t e n u n d die R e d n e r l i s t e
i m m e r l ä n g e r w u r d e , v e r z i c h t e t e er auf seine W o r t m e l d u n g u n d g i n g statt
dessen — z u m Essen, ein E n i s c h l u ß , d e r sicher nicht h e r o i s c h , a b e r n u n
a u c h w i e d e r nicht u n v e r n ü n f t i g w a r u n d schließlich a m G a n g d e r D i n g e
n i c h t d a s geringste ä n d e r t e ' " .

· ' V g l . K . B A C H E M ( w i e A n m . 12), B d . 9, S. 4 3 4 , s o w i e E . R . H U B E R ( w i e A n m . 1 5 ) ,
Bd. 5, S. 321. — HUBER nennt 5 Nein-Stimmen aus dem Zentrum, R. MORSEY, Zen-
trumspartei (wie Anm. 25), S. 62 f., Anm. 12 f., nennt — basierend auf Erzberger — 7
Abgeordnete.
" Die Angabe bei H. STEHKÄMPER, Marx (wie Anm. 1), S. 179, Marx sei erstmals
1916 in den Vorstand der Reichstagsfraktion gewählt worden, ist ohne Quellenangabe.
Ihr widerspricht ein Schreiben Trimboms an Marx, 17. 8. 1917 (HAStK, 1070, Nr.
223), in dem Tr. sich über iWdrx'Wahl in den Fraktionsvorstand freut. Wahrscheinlich
ist die Wahl — in Abwesenheit von Marx — auf der Fraktionssitzung am 20. 8. 1917
erfolgt, in der Gröber als Nachfolger des zum Preußischen Justizminister ernannten
Spahn zum neuen Vorsitzenden gewählt wurde. Vgl. KV Nr. 652 und Germania Nr.
385 vom 21. 8. 1917.
" Tagebuch vom 6. 7. 1917. HAStK, 1070, Nr. 1.
" Vgl. Tagebuch vom 27.9. 1916 und 9.6. 1918, ferner seinen Erinnerungsbericht
„Das Jahr 1920", S. 38 f. Ebenda, Nrn. 1 und 51. — Die Annahme von K. EPSTEIN
(wie Anm. 73) S. 272, Marx habe sich (wie Wirth und Giesberts) bei der Verteidigung
Erzbergers besonders hervorgetan, ist jedenfalls zu relativieren.
Tagebuch vom 19. 7. 1917. HAStK, 1070, Nr. 1.

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120 U L R I C H VON HEHL

Während sich die Fraktion nach heftigem Disput zu relativer Geschlos-


senheit durchrang, war die Diskussion unter den Zentrumsanhängern im
Lande noch lange nicht beendet. Die Aufregung, urteilte ein Zeitgenosse,
war ungeheuer. Die Wählerschafi und die Presse der Zentrumspartei befan-
den sich in der größten Verwirrung und verstanden nicht, was vorgegangen
war^y Auch Marx bekam diesen Unwillen zu spüren; in den Zuschriften,
die ihn zwischen dem 15. und 18. Juli erreichten, überwogen die ableh-
nenden Stellungnahmen'^. Ausgerechnet sein eigener Düsseldorfer Orts-
verband wurde eine Hochburg des Widerstandes'^. Der rechte Parteiflü-
gel und namentlich Rechtsanwalt Brockmann, unterstützt durch das Düs-
seldorfer Tageblatt, wollten sich gar nicht beruhigen; sie standen nach wie
vor auf dem [Siegfriedens-¡Standpunkt der /CK und hatten in der Person
des abtrünnigen Erzberger nun einen willkommenen Sündenbock gefun-
den'r
In dieser Situation kam dem eilends einberufenen Reichsparteiaus-
schuß des Zentrums die Aufgabe zu, die nötige Aufklärung nachzuholen.
Unter den 64 Delegierten, die am 2 3 . / 2 4 . Juli in Frankfurt am Main
zusammentrafen, befand sich auch Marx. Er meldete sich mehrfach zu
Wort, vermied es jedoch, sich zu den persönlichen Gegensätzen im Zen-
trum zu äußern. Statt dessen sprach er scharf gegen die Konservativen,
deren starre Verweigerungshaltung seiner Meinung nach wesentlich zur
gegenwärtigen Zuspitzung der Gegensätze beigetragen hatte'^. Sein gut-
gemeinter Versuch, von der innerparteilichen Polarisierung abzulenken,
war erfolglos; beherrschende Themen blieben eben doch das selbstherrli-
che Vorgehen des Herrn Abgeordneten Erzberger und der Kurswechsel
der Fraktion. Die Kritik war heftig, auch persönlich gefärbt; aus ihr spra-
chen nicht allein grundlegende Meinungsverschiedenheiten, sondern vor
allem der Unmut darüber, in einer zentralen vaterländischen Frage über-
fahren worden zu sein. D a Erzberger aus der Defensive argumentieren
mußte, griff er zu einem fragwürdigen Mittel''': N a c h d e m er den Reichs-

" K. BACHEM (wie Anm. 12), Bd. 9, S. 437.


In: H A S t K , 1070, Nr. 223. Vgl. auch A f a r x ' S a m m l u n g einschlägiger Zeitungsani-
kel. E b e n d a , Nr. 470.
" Vgl. W. STUMP (wie Anm. 47) S. 1 7 - 2 4 .
T a g e b u c h vom 15. 7. und 12. 9. 1917. H A S t K , 1070, N r . 1.
" T a g e b u c h vom 24. 7. 1917. Ebenda.
" Bewerungein Gröber, 8. 10. 1917. E b e n d a , N r . 223.
" Z u m folgenden K . BACHEM (wie Anm. 12), Bd. 9, S. 4 3 7 — 4 4 5 (Zitate 438). Die
1 т е ф г е 1 а и о п E. R. HUBERS (wie Anm. 15), Bd. 5, S. 328, Erzbergers Indiskretion sei
außenpolitisch einer Katastrophe gleich g e k o m m e n , ist lediglich als Beispiel fortwirken-
der frz^erger-Animositäten bemerkenswert; in der Sache ist sie bereits 1926 von VIK-
TOR BREDT (in: D a s W e r k des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden
Deutschen Nationalversammlung und des Reichstages 1 9 1 9 — 1 9 2 8 . 4. Reihe: Die
Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im J a h r e 1918, 2. AbtIg., Bd. 8: D e r Deut-
sche Reichstag im Weitkrieg, Berlin 1926) widerlegt worden.

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Wilhelm Marx 121

parteiausschuß ausdrücklich zur Verschwiegenheit aufgefordert hatte, las


er den völlig verblüfften Zuhörern aus der Denkschrift des österreichi-
schen Außenministers vor, um die Notwendigkeit und Eilbedürftigkeit
seines Schritts zu unterstreichen. Für viele der Teilnehmer war der Ein-
druck einfach niederschmetternd, allerdings auch. . . für die weitaus mei-
sten . . . überzeugend. Jedenfalls stimmte die Versammlung einer vorberei-
teten Entschließung zu, in der sie sich zu einem Frieden der Verständigung
und des Ausgleichs bekannte, der Deutschlands politische Sicherung und
wirtschafiliche Weiterentwicklung gewährleistet"^^. Das Verhalten der
Reichstagsfraktion wurde nicht eigens erwähnt, der Kompromißcharak-
ter der Resolution war überdeutlich.
Marx nahm die äußerst gewagte Indiskretion Erzbergers mit Kopf-
schütteln auf. Von allgemeinen Opportunitätserwägungen abgesehen,
bezweifelte er, daß sie mehr als einen vorübergehenden Überrumpelungs-
effekt haben würde. Mit dieser Skepsis behielt er r e c h t " . Auf dem rech-
ten Parteiflügel bestärkte sie nur die Zweifel an Erzbergers Seriosität;
seine Enthüllungen über den U-Boot-Krieg wurden sogar von vielen Kri-
tikern als objektiv vaterlandsverräterisch tmpíunátn^°°. So blieb die Partei
von heftigen Gegensätzen zerrissen, die, da sie nun personifiziert werden
konnten, die Auseinandersetzungen in der Kriegszielfrage an Heftigkeit
noch übertrafen'"'. W e d e r die Beiratssitzung am 10. September noch die
von Marx geleitete Sitzung des Provinzialausschusses der Rheinischen
Zentrumspartei am 17. September 1917 brachten eine Annäherung der
Standpunkte'"^. Auf letzterer tat sich insbesondere Rechtsanwalt Brock-
mann in schwer erträglicher Weise hervor, indem er der Fraktion vor-
warf, durch die Reichstags-Resolution vom 19. 7. „in schwerster Zeit in
einer vaterländischen Frage versagt"zu haben'"'. Den Hinweis des Arbei-
terflügels, wer gegen Erzberger sei, müsse folgerichtig auch gegen Hin-
denburguT\á Ludendorffstm, die beide der Friedensresolution zugestimmt
hätten, suchte er durch ein persönliches Schreiben des Generalquartier-
meisters zu entkräften, das dieses Einverständnis offenbar wieder in
Frage stellte. Er verlas es auszugsweise vor der Versammlung, wollte es
Marx aber nicht zur Verfügung stellen'"·*. So scheiterten dessen Integra-

" SCHULTHESS' Europäischer Geschichtskalender 58, 1917/1, München 1920, S. 727.


" Tagebuch vom 23. 7. 1917. H A S t K , 1070, Nr. 1. Vgl. auch K. EPSTEIN (wie Anm.
7 3 ) S. 2 2 9 f.
Wie Anm. 96.
" " Vgl. U. MITTMANN (wie A n m . 12) S. 3 5 8 u n d E . H E I N E N ( w i e A n m . 3 5 ) S.
119—142, 193—252.
Tagebuch vom 10., 12. und 17. 9. 1917. HAStK, 1070, Nr. 1. Vgl. auch die gewun-
dene Erklärung des Provinzialausschusses in KV Nr. 743 vom 22. 9. 1917.
Hartrath ЛП Trimbom und Marx, 18./19. 9. 1917. HAStK, 1070, Nr. 223.
Brockmann an Marx, 27. 9. 1917. Ebenda.

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122 ULRICH VON HEHL

tionsbemühungen. Resigniert hielt er abends im Tagebuch fest; Es ist


unerhört, was der Mann sich alles herausnimmt^°^.
Unterdessen war Anfang September 1917 in Königsberg die Deutsche
Vaterlandspartei gegründet worden, die sich als übeφarteiliche Samm-
lung all derjenigen Rechtskräfte verstand, welche entgegen der Friedens-
resolution des Reichstages an der annexionistischen Kriegszielpolitik fest-
halten wollten""·. Das im Gründungsaufruf verkündete Ziel, der Reichs-
führung durch weiteste vaterländische Kreise den Rücken für eine kraft-
volle Reichspolitik zu stärken, fand auch die lebhafte Unterstützung des
unzufriedenen Düsseldorfer Zentrumsflügels"". Unter Führung des stell-
vertretenden Parteivorsitzenden Justizrat Bewerunge, des Vorsitzenden
der Stadtratsfraktion Adams und, natürlich, des Landtagsabgeordneten
Brockmann schritten eine Reihe örtlicher Zentrumshonoratioren alsbald
zur Gründung einer eigenen Ortsgruppe, angeblich, wie Bewerunge sich
gegenüber Tnmbom verteidigte, um zu verhindern, daß die Vaterlands-
„partei" zu einer eigenen Partei sich auswachse, in Wirklichkeit, weil
ihnen die ganze Richtung nicht paßte"". Obwohl Trimbom namens der
Reichtagsfraktion am 6. Oktober eine Beteiligung des Zentrums an den
Aktivitäten der Vaterlandspanei scharf ablehnte'®', setzten K V und Düs-
seldorfer Tageblatt ihre publizistische Unterstützung fort. Wir haben,
meinte das Düsseldorfer Zentrumsorgan selbstbewußt, den Frieden nicht
nötiger als unsere Feinde^^°. Dieser Standpunkt ließ keine Verständigung
zu.

Vergeblich suchte Marx diese Entwicklung abzubiegen. Auf einer Zen-


trumsversammlung in der Düsseldorfer Bürgergesellschaft, zu der er am
21. September außer den eingeladenen Akademikern kurzentschlossen
auch die Arbeitervertreter gerufen hatte, zeigte sich der rechte Parteiflü-
gel unbelehrbar. Marx gab den Kampf &u{, weil er doch aussichtslos i s t " ' .
Eine öffentliche Erklärung Bewerunges und seiner Anhänger, in der sie
ihre von Erzberger, der Reichstagsfraktion und ihrem eigenen Vorsitzen-
den grundsätzlich abweichenden Ansichten darlegten, ließ sich nicht verhin-
dern; sie erschien am 26. September 1917 auf der Titelseite des Düssel-
dorfer Tageblatts

Tagebuch vom 1 7 . 9 . 1917. Ebenda, Nr. 1.


Vgl. ROBERT ULLRICH, Deutsche Vaterlandspanei, in: Die bürgerlichen Parteien
in Deutschland, Bd. 1, Leipzig 1968, S. 6 2 0 — 6 2 8 . Das folgende Zitat 622.
Vgl. W . STUMP (wie Anm. 47) S. 1 8 — 2 1 .
Bewerunge ix\ Trimbom, 9. 10. 1917. H A S t K , 1070, Nr. 223.
" " SCHULTHESS' Europäischer Geschichtskalender 58, 1917/1, S. 852 f. Vgl. auch U.
MITTMANN (wie Anm. 12) S. 374 f.
Düsseldorfer Tageblatt Nr. 227 vom 18. 8. 1917.
Tagebuch vom 2 1 . 9 . 1917. H A S t K , 1070, Nr. 1.
Düsseldorfer Tageblatt Nr. 266.

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Wilhelm Marx 123

Wenngleich der Affront offenkundig war, konnte und wollte Marx


nicht energisch vorgehen. Wie bei den früheren Zusammenstößen han-
delte es sich auch hier um eine Streitfrage, die vom „katholischen Stand-
punkt" aus nicht eindeutig zu beantworten war, und in der weder das
Interesse des Zentrums noch [das] des Vaterlandes... eine ehrliche Scheidung
der Ge/ííer erforderten. Also mußte flexibel reagiert werden, also vermied
man apodiktische Erklärungen^^^. Immerhin antworteten Parteimitte und
linker Flügel mit einer Gegenerklärung, in welcher der Fraktionskurs ver-
teidigt wurde, ein Schritt, der wiederum eine Antwort der frondierenden
Parteirechten nach sich zog"·*. Marx beendete diese Auseinandersetzung
nach guter Zentrumsweise mit einer gemeinsam beschlossenen Resolu-
tion, um deren Ausarbeitung er Trimborn gebeten hatte und in der alles
Angreifende vermieden war. Sie wurde am 7. Oktober auf einer gut
besuchten Zentrumsversammlung angenommen, einstimmig, wie es hieß,
nachdem die Arbeiter zuvor der Vaterlandspartei. . . gehörig die Meinung
gesagt h a t t e n ' " .
Die Entschließung löste keine der bestehenden Meinungsverschieden-
heiten, überwölbte sie aber durch den Appell an die Einmütigkeit und
Geschlossenheit der Partei. Im übrigen wurde der Streit schon bald obso-
let. In der Reichsausschußsitzung des Zentrums am 12. Oktober in Berlin
prallten die Gegensätze zwar noch einmal hart aufeinander''^, aber je
mehr sich die Friedensaktion vom 19. Juli als Fehlschlag erwies, desto
mehr ging das öffentliche Interesse an ihr zurück. Schon am 18. Oktober
notierte Marx, niemand habe mehr Lust, weiter über die Kriegsziele zu
sprechen^^^. Es gab mittlerweile ein neues Feld der Auseinandersetzung:
die preußische Wahlrechtsreform.

V.
Während der Deutsche Reichstag in unmittelbarer, gleicher und gehei-
mer Wahl gewählt wurde, galt in Preußen für die Wahlen zum Abgeord-
netenhaus (und übrigens auch zu den kommunalen Parlamenten) bis zum
Ende der Monarchie ein lediglich mittelbares, ungleiches Zensuswahl-
recht mit öffentlicher Stimmabgabe, das die Urwähler nach Maßgabe
ihres Steueraufkommens in drei Abteilungen einteilte und daher Dreiklas-
senwahlrecht hieß. Um seine Reform oder Ersetzung durch das Reichs-

U . M I T T M A N N ( w i e A n m . 12) S. 3 7 6 .
"" Düsseldorfer Tageblatt Nr. 273/277 vom 3./7. 10. 1917.
Tagebuch vom 3. und 7. 10. 1917. HAStK, 1070, Nr. 1. Druck der Entschließung:
Düsseldorfer Tageblatt Nr. 278 vom 8. 10. 1917.
Aufzeichnung K. Bachems. HAStK, 1006, Nr. 523. Vgl. U. MLTTMANN S. 288,
Anm. 169 (mit falscher Datierung).
Tagebuch vom 18. 10. 1917. HAStK, 1070, Nr. 1.

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124 U L R I C H VON HEHL

tagswahlrecht war seit den 1870er Jahren vergeblich gerungen worden,


ohne daß sich vor Kriegsausbruch mehr als lediglich kosmetische Ände-
rungen hätten erzielen lassen"'. Die Gründe sind hier nicht im einzelnen
zu verfolgen; sie beruhen weniger auf der Intransigenz der Regierung als
vielmehr auf der unterschiedlichen Interessenlage der Parteien, von
denen Konservative, Freikonservative und Nationalliberale durch Einfüh-
rung des gleichen Wahlrechts ihre starke parlamentarische Stellung
gefährdet sahen.
Die preußische Zentrumsfraktion hielt dagegen unverändert an der
Forderung des Antrags Windthont \on 1873 fest, das Dreiklassen- durch
das Reichstagswahlrecht zu ersetzen, tat aber wenig zu deren Verwirkli-
chung. Auch in diesem Punkt war die Partei sich nicht einig: Neben
grundsätzlichen Befürwortern der Reform gab es beim rechten Fraktions-
flügel entschiedene Gegner. Etliche Mitglieder waren gegen eine weitere
„Demokratisierung" überhaupt, andere befürchteten, daß die mit einer
Wahlrechtsänderung verbundene Schwächung der Konservativen das
Zentrum seines wichtigsten Verbündeten in zentralen Bereichen der
Schul- und Kulturpolitik berauben würde. Daher kam es der Fraktions-
führung nicht ungelegen, daß die im Sande verlaufenden Reformdebatten
der Vorkriegszeit sie einer klaren Entscheidung enthoben.
Der Kriegsausbruch ließ auch die Wahlrechtsdebatte zunächst völlig in
den Hintergrund treten. Indessen wurde mit wachsender Kriegsdauer
klar, daß es nach dem Ende der Kämpfe nicht ohne entscheidende Ände-
rungen im Innern würde abgehen können. Der Preußische Innenminister
von Loebell hatte denn auch schon im Februar 1915 angedeutet, daß
künftig die innere Politik auf wichtigen Gebieten mit den veränderten Zeit-
umsti-nden in Einklang gebracht werden solle^^^, die Reform des Wahl-
rechts freilich nicht ausdrücklich erwähnt. Die Fortschrittliche Volkspar-
tei bedauerte das in der Aussprache vom 2. März, dagegen trat Marx
namens der Zentrumsfraktion dem Regierungsstandpunkt bei: Angesichts
der erheblichen Differenzen zwischen den Parteien untereinander und

Vgl. z u m f o l g e n d e n REINHARD PATEMANN, D e r K a m p f u m die p r e u ß i s c h e W a h l -


r e f o r m im Ersten W e l t k r i e g ( B e i t r ä g e z u r G e s c h i c h t e des P a r l a m e n t a r i s m u s u n d d e r
politischen P a r t e i e n , Bd. 26), D ü s s e l d o r f 1964; DERS., D e r d e u t s c h e E p i s k o p a t u n d
d a s p r e u ß i s c h e W a h l r e c h t s p r o b l e m 1 9 1 7 / 1 8 , in: V f Z G 13, 1965, S. 3 4 5 - 3 7 1 ; E. R.
H U B E R (wie A n m . 15), Bd. 3, S. 8 5 — 9 4 ; Bd. 4, S. 368 — 3 8 4 ; Bd. 5, S. 151 — 161,
4 7 9 — 496, 5 9 3 — 5 9 7 ; R . MORSEY, Z e n t r u m s p a r t e i (wie A n m . 25), S. 5 8 — 6 1 , 66 — 6 8 ;
LUDWIG BERGSTRÄSSER, D i e p r e u ß i s c h e W a h l r e c h t s f r a g e im K r i e g e u n d die E n t s t e -
h u n g d e r O s t e r b o t s c h a f t 1917, T ü b i n g e n 1929; K. BACHEM (wie A n m . 12), Bd. 8, S.
2 3 7 — 2 4 0 , dessen A n g a b e n j e d o c h ä u ß e r s t d ü r f t i g sind. Z u r W a h l r e c h t s d i s k u s s i o n in
d e r L a n d t a g s f r a k t i o n vgl.: D i e T ä t i g k e i t d e r Z e n t r u m s f r a k t i o n des P r e u ß i s c h e n A b g e -
o r d n e t e n h a u s e s in d e r Session 1901 . . . ( - 1 9 1 4 ) , Berlin 1 9 0 3 — 1 9 1 4 .
Zitiert bei R. PATEMANN, K a m p f (wie A n m . 118), S. 34.

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Wilhelm Marx 125

zwischen den Parteien und der R e g i e r u n g halte das Z e n t r u m — bei


unveränderter H a l t u n g in der W a h l r e c h t s f r a g e — d a f ü r , das T h e m a in
dieser gefährlichen Zeit hier gar nicht erst zu erörtern'^®.
Diese Absicht ließ sich schon wegen des D r ä n g e n s der Linken, vor
allem aber wegen der schlechter w e r d e n d e n Stimmung der Bevölkerung
nicht verwirklichen. Am 13. J a n u a r 1916 kündigte Wilhelm II. daher in
unbestimmten W e n d u n g e n eine N e u g e s t a l t u n g der Grundlagen für die
Vertretung des Volkes in den gesetzgebenden Körperschaften a n ' ^ ' . Das
Z e n t r u m und die beiden liberalen Parteien begrüßten die Initiative, der
S P D ging sie nicht weit genug, die Konservativen lehnten sie ab. Im
Herbst 1916 beschäftigte die R e f o r m d e b a t t e auch den Reichstag. Sie
erhielt Auftrieb nach Bildung der Dritten Obersten Heeresleitung unter
H i n d e n b u r g und L u d e n d o r f f (29. August 1916) u n d erwies die W a h l -
rechtsfrage nur als Teil jener umfassenderen inneren Krise des Wilhelmi-
nischen Systems, die in dem g e s c h i l d e n e n V o r s t o ß Erzbergers im Juli
1917 ihren spektakulären Ausbruch f a n d u n d die Parlamentarisierung des
Reiches einleitete.
Indessen trat M i n i s t e φ r ä s i d e n t von Bethmann Hollweg schon am 27.
Februar 1917 die Flucht nach vom an'^^. Seine Feststellung, die Reform
der inneren Verhältnisse liege nicht m e h r im freien Ermessen von Regie-
rung u n d Parlament, sondern es gehe ausschließlich n o c h d a r u m , den tat-
sächlich eingetretenen V e r ä n d e r u n g e n auch in geeigneter Weise Rech-
nung zu tragen'^^, löste jedoch bei d e n Konservativen und A n f a n g M ä r z
1917 auch im H e r r e n h a u s derartig s c h r o f f e R e a k t i o n e n aus, d a ß Marx
damals kopfschüttelnd meinte, durch das törichte Vorgehen der Rechten
werde d e r Kanzler immer mehr zur Linken gedrängt'^"*.
Mit der O s t e r b o t s c h a f t Wilhelms II. vom 7. April 1917 erreichte die
preußische Wahlrechtsdebatte ihr entscheidendes Stadium. Marx weilte
zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Berlin; er lag k r a n k zu H a u s e . Aber
aus der Presse und durch zahlreiche Berichte seiner P a r t e i f r e u n d e konnte
er das g r o ß e Echo verfolgen, das die A n k ü n d i g u n g des Kaisers in der
Öffentlichkeit auslöste'^'. Erstmals w a r nun von höchster Stelle aner-
kannt, d a ß eine neue Zeit a n g e b r o c h e n sei, die fur das Klassenwahlrecht in
Preußen kein[en] Raum mehr biete. U n d obgleich der Kaiser die Reform

S t e n o g r a p h i s c h e B e r i c h t e d e s A b g e o r d n e t e n h a u s e s , 2. Session 1 9 1 4 / 1 5 , Bd. 7, Sp.


8566 f.
SCHULTHESS' E u r o p ä i s c h e r G e s c h i c h t s k a i e n d e r 57, 1 9 1 6 / 1 , S. 1 0 — 1 3 , hier 11.
E. R . H U B E R (wie A n m . 15), Bd. 5, S. 136.
R e i c h s t a g s r e d e v o m 2 7 . 2 . 1917. SCHULTHESS' E u r o p ä i s c h e r G e s c h i c h t s k a l e n d e r
58, 1 9 1 7 / 1 , S. 1 8 9 - 1 9 7 , h i e r 190.
T a g e b u c h v o m 14. 3. 1917. H A S i K , 1070, N r . 1.
V g l . K V N r . 272 u n d 2 7 6 v o m 7 . / 8 . 4. 1917.

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126 U L R I C H VON HEHL

erst nach Kriegsende in K r a f t setzen wollte, ließ er bereits einen Gesetz-


entwurf ausarbeiten, der die unmittelbare und geheime Wahl der Abgeord-
neten vorsah. Ü b e r das Wahlsystem war noch nichts gesagt, d o c h erging
u n t e r dem D r u c k der Verhältnisse am 11. Juli 1917 ein weiterer R e f o r m -
erlaß, w o n a c h die Abänderung des Wahlrechts zum Abgeordnetenhaus auf
der Grundlage des gleichen Wahlrechts aufzustellen war'^^. Die entspre-
c h e n d e n G e s e t z e n t w ü r f e gingen dem Landtag am 25. N o v e m b e r 1917 zu,
schon unter F e d e r f ü h r u n g der neuen Regierung Hertling, die das Ü b e r -
gangskabinett von Reichskanzler Michaelis nach wenigen M o n a t e n abge-
löst hatte.
Aber bereits lange bevor die parlamentarischen Auseinandersetzungen
b e g a n n e n , löste die R e f o r m a n k ü n d i g u n g im (rheinischen) Z e n t r u m eine
höchst kontroverse Diskussion a u s ' " . H a t t e der Rheinische Provinzial-
ausschuß das Dreiklassenwahlrecht noch 1908 als das rückständigste und
ungerechteste im Deutschen Äejc/» verworfen und seine Ersetzung durch das
Reichstagswahlrecht verlangt, so w u r d e nun o f f e n k u n d i g , d a ß das seithe-
rige T a k t i e r e n der Partei nur tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten
ü b e r d e c k t hatte. W i e seit 1916 der Streit um die Kriegsziele, spaltete jetzt
auch die Wahlrechtsdebatte das Z e n t r u m in zwei Lager, wobei in beiden
Dissenspunkten die Fronten ähnlich verliefen.
Z u den entschiedenen B e f ü r w o r t e r n einer R e f o r m g e h ö r t e der sozial-
politisch aufgeschlossene „linke" Flügel der Partei, also vor allem der
M . G l a d b a c h e r Volksverein, die Katholischen Arbeitervereine West-
deutschlands und die Christlichen G e w e r k s c h a f t e n ' ^ ' . Sie hielten die Ein-
f ü h r u n g des gleichen und geheimen Wahlrechts nicht nur f ü r ein G e b o t
der Gerechtigkeit, sondern f ü r die unabdingbare V o r a u s s e t z u n g , um die
politischen A u f g a b e n der Z u k u n f t erfolgreich bewältigen zu k ö n n e n .
W e n n die A u f b a u a r b e i t nach dem Krieg gelingen sollte, d u r f t e es keine
Staatsbürger zweiter Klasse m e h r geben, — diese Einsicht suchte insbe-

Z u Einzelheiten vgl. E. R. H U B E R (wie A n m . 15), Bd. 5, S. 156 f., 3 0 6 ; R . PATE-


MANN, Kampf (wie A n m . 118), S. 5 8 — 6 5 , 8 9 — 9 6 .
' ' ' H i e r z u jüngst H E R B E R T LEPPER, Rheinische Katholiken z w i s c h e n kirchlichem
G e h o r s a m und politischer S e l b s t v e r a n t w o n u n g . D e r A a c h e n e r Stiftspropst Dr. jur. can.
Franz K a u f m a n n und die A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n um die preußische W a h l r e c h t s r e f o r m
1 9 1 7 / 1 8 , in: A H V N d r h n 185, 1982, S. 3 9 - 7 2 . D a s f o l g e n d e Zitat 39, A n m . 3.
V g l . H . W . H E I T Z E R (wie A n m . 46) S. 1 2 4 — 1 3 8 ; DERS., D e r Parlamentarier
A u g u s t Pieper. A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n des Volksvereins für das katholische D e u t s c h -
land mit d e m Zentrum über die Fortführung der Sozialpolitik und die Wahlrechtsre-
f o r m in Preußen im Ersten Weltkrieg, in: Christliches E n g a g e m e n t in Gesellschaft und
Politik. Festschrift für H e i n r i c h Pauels, Frankfurt am M a i n - B e r n - C i r e n c e s t e r 1979, S.
1 9 9 — 2 1 4 ; JÜRGEN ARETZ, Katholische Arbeiterbewegung und Christliche G e w e r k -
schaften. Zur G e s c h i c h t e der christlich-sozialen B e w e g u n g , in: A. RAUSCHER (wie
A n m . 12), Bd. 2, 1982, S. 1 5 9 - 2 1 4 , hier 1 6 3 - 1 7 5 ; M . SCHNEIDER (wie A n m . 16) S.
403-408.

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Wilhelm Marx 127

sondere Adam Stegerwald seit Herbst 1915 immer wieder seinen Zuhö-
rern zu vermitteln, ohne daß er indessen die Parteiführung zu eindeuti-
gen Stellungnahmen hätte veranlassen können'^'.
Wie Trimbom teilte auch Marx diese Auffassung, wenngleich ihn die
Massivität störte, mit welcher die Arbeiter ihre Forderungen vorbrachten;
das sprach in seinen Augen aber nicht gegen deren Berechtigung. Daher
begrüßte er die Osterbotschaft des Kaisers als hochherzige Tat und hielt
für die Aufgabe des Landtags, die gute Absicht [Wilhelms IL] möglichst
schnell durch Annahme entsprechender Gesetze Wirklichkeit werden zu las-
sen. Uberhaupt meinte er, das Zentrum habe mit dem gleichen Reichs-
tagswahlrecht stets gute Erfolge erzielt, so daß politische Einsichtsfähig-
keit auch diejenigen hätte umstimmen müssen, die — wie die Fraktions-
führer Forsch und Herold — im Innern keine warmherzigen Lobredner des
gleichen Wahlrechts waren'^°.
Um so unverständlicher war ihm die überaus heftige Opposition des
rechten Parteiflügels, auch wenn sie nach allen bisherigen Erfahrungen
nicht unerwartet kam. Die stark agrarisch-konservativ geprägten, teil-
weise auch um die Sonderrechte der besitzenden Klasse^^^ bangenden Kri-
tiker fürchteten, daß die Übernahme des Reichstagswahlrechts zu einer
Linksmehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus führen würde, als deren
Folge das Zentrum in eine trostlose Oppositionsstellung kommen und. . .
seine kulturellen Forderungen nicht mehr würde verwirklichen [können].
Mit einer... politisch-demokratischen Entwicklung, meinte Karl Bachem,
als Herausgeber der KV einer der einflußreichsten Reformgegner im
rheinischen Zentrum, könnte man ja wohl noch zurecht kommen. Aber
unsere Demokratie ist nicht nur politisch-demokratisch, sondern auch in reli-
giösen Dingen Jreisinnig" und „sozial-demokratisch"^^^. Damit war der
entscheidende Vorbehalt auf eine knappe Formel gebracht. Er zielte nicht
einmal gegen die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts schlechthin,
auch nicht gegen die geplante Einführung der direkten und geheimen
Wahl, sondern gegen die mit der Reform verbundene Notwendigkeit
einer Neueinteilung der Wahlkreise und gegen den Grundsatz des glei-
chen Wahlrechts für a l l e ' " .
Wenige Tage nach Bekanntwerden der Osterbotschaft, am 19. April
1917, wurden die Meinungsverschiedenheiten auf der Sitzung des Pro-

V g l . U . M I T T M A N N ( w i e A n m . 12) S. 8 0 , A n m . 105.
Wie Anm. 27.
Westdeutsche Arbeiterzeitung Nr. 18 vom 6. 5. 1917, zitiert bei H . LEPPER (wie
Anm. 127) S. 43, Anm. 16.
Bachem an von Buhl, 25. 8. 1917, sowie Bachem auf der Provinzialausschußsitzung
vom 19. 4. 1917. HAStK, 1006, Nr. 941; 1070, Nr. 223.
H. LEPPER (wie Anm. 127) S. 40 ist entsprechend zu korrigieren.

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128 U L R I C H VON H E H L

vinzialausschusses der Rheinischen Zentrumspartei unverhülit deutlich'^''.


Da Marx durch Krankheit an der Leitung verhindert war, erfuhr er ledig-
lich durch Berichte von Teilnehmern über den nicht sehr erfreulichen Ver-
lauß^^·. Auf der einen Seite die Arbeitervertreter als uneingeschränkte
Reformbefürworter, auf der anderen Seite unter Wortführung Bachems
die Kritiker, die — mit im einzelnen wechselnden Abstufungen —
anstelle des gleichen ein an Besitz und Bildung orientiertes Pluralwahl-
recht verlangten. D a ß damit auf Umwegen doch der Klassencharakter
des Wahlrechts erhalten bleiben würde, störte sie angesichts der vielfach
beschworenen Gefahr einer linken Vorherrschaft nicht. Zwischen diesen
konträren Positionen suchte der Reichs- und Landtagsabgeordnete Bell
zu vermitteln. Sein Hinweis, die Wahlrechtsvorlage der Regierung müsse
zunächst einmal abgewartet werden, spielte auf Zeitgewinn. Lediglich
seine Äußerung, Parteiinteressen [allein] könnten bei der Stellungnahme
nicht entscheidend sein, war als Absage an den Egoismus der Reformgeg-
ner zu verstehen.

Die folgenden Wochen und Monate brachten keine Annäherung.


Ohnehin mit Emotionen belastet, verschärften sich die Auseinanderset-
zungen noch durch Erzbergers Vorstoß in der Friedensfrage. Das
dadurch ausgelöste Zusammengehen mit der parlamentarischen Linken
weckte Mißtrauen. Während der Arbeiterflügel unter tatkräftiger Unter-
stützung durch den Volksverein beklagte, daß die fuhrende Zentrums-
presse Rheinlands und Westfalens. . . kein Verhältnis. . . zur kaiserlichen
Osterbotschafi , wurden die Äußerungen der Reformgegner schril-
ler. In Marx' eigenem Ortsverband Düsseldorf waren die Spannungen
besonders unerfreulich; führende Parteihonoratioren lehnten jedes Ent-
gegenkommen ab'^'. Justizrat Bewerunge sprach geradezu von der
Erpressung des gleichen Wahlrechts für Preußen^^^, und Rechtsanwalt
Brockmann, Argumenten der Billigkeit und Vernunft ohnehin nur schwer
zugänglich, sah durch das gleiche Wahlrecht nicht allein die konfessio-
nelle Schule, sondern die christliche Kultur selbst in Gefahr'^'. Zu den
vaterländischen Beklemmungen um Kriegszielfrage und Wahlrechtsdiskus-
sion trat aber auch der aligemeine Unmut über die schleichende Parla-
mentarisierung des Reiches, wie sie sich aus der Zusammenarbeit im
Interfraktionellen Ausschuß ergab. Lapidar verkündete der Chefredak-

Das Folgende nach dem Sitzungsprotokoll, wie Anm. 132.


Tagebuch vom 27. 4. 1917. H A S t K , 1070, Nr. 1.
Wie Anm. 21.
Vgl. W . STUMP (wie Anm. 47) S. 17-24.
Wie Anm. 108.
In einem Beitrag für das Düsseldorfer Tageblatt Nr. 338 vom 7. 12. 1917, zitiert bei
W . S T U M P S. 19.

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Wilhelm Marx 129

teur des Düsseldorfer Tageblatt schon Mitte Juli 1917: Wir wollen vom
parlamentarischen Regime nichts wissen! — und fügte hinzu, die weitere
„Demokratisierung" unseres Verfassungslehens sei nicht notwendig, sie
würde vielmehr nur schädlich und gefährlich sein'^°. Zu heftigen Vorwür-
fen kam es auch Ende Oktober 1917 auf der Provinzialtagung des west-
fälischen Zentrums in H a m m , wo neben Erzherger sich gerade Trimbom
wegen seiner Teilnahme an den interfraktionellen Beratungen des Reichs-
tags attackiert sah'^'.
Angesichts dieser Frontenbildung war die (rheinische) Zentrumsfüh-
rung um ihre integrative Aufgabe nicht zu beneiden. Wie zuvor schon
beim Streit um Kriegsziele und Friedensresolution hätte jeder energische
Schritt ihrerseits die Gräben nur noch vertieft, wahrscheinlich sogar die
Gefahr der Parteispaltung heraufbeschworen. Da an die Einsichtsfähig-
keit der Reformgegner nicht zu appellieren war, hielten Trimhom und
Marx zurückhaltendes Taktieren f ü r das klügste. Das konnte natürlich
den Eindruck der Unentschlossenheit und Schwäche hervorrufen. Inso-
fern mochte Stegerwald zwar grollen, im Westen fehle gegenwärtig... der
führende aktiv tätige Kopf, der die Probleme der Sturule sieht, aber den Tat-
sachen entsprach es nicht'"*^: An Einsicht in das sachlich Gebotene und
politisch Mögliche mangelte es dem Vorstand nicht, wohl an Mitteln und
Wegen, das als notwendig Erkannte auch durchzusetzen. Von der auch
hier irrelevanten konfessionellen Grundlage des Zentrums einmal abgese-
hen, welches (ohnehin nicht vorhandene) Führungsgremium hätte man
um eine autoritative Entscheidung angehen, mit welchen Druckmitteln
schließlich einer solchen Entscheidung auch Respekt verschaffen sollen?
Denn ungeachtet aller organisatorischen Ansätze war das Zentrum
immer noch ein vergleichsweise lockerer Honoratiorenverband, jeden-
falls das genaue Gegenteil einer straff geführten disziplinierten Funktio-
närspartei. So war flexibles Reagieren das Gebot der Stunde'^^.
Immerhin gelang es Marx nach langen und sehr kontroversen Debat-
ten, am 17. September 1917 in Köln eine gemeinsame Resolution durch-

Düsseldorfer Tageblau Nr. 191 und 196 vom 13./18. 7. 1917, zitien ebenda S. 18.
Rheinische Zeitung Nr. 257 vom 3. 11. 1917, Artikel „Die Gegensätze im Zen-
trum"; zu Trimboms kritisierten Äußerungen vgl. IFA (wie Anm. 78), Bd. 1, S.
301-318.
Wie Anm. 21. — Der Vorwurf, Trimbom und namentlich Marx ließen im Beirat der
Rheinischen Zentrumspartei die Zügel der Initiative schleifen (U. MLTTMANN S. 48,
Anm. 58 bezieht diese Kritik irrtümlich auf die Arbeit im Wahlkreis), findet sich auch
später noch, jedoch in wenig substanziiener Form. Vgl. Biesenbach an Bachem,
12. 6. 1918. HAStK, 1006, Nr. 851.
Vgl. U. MITTMANN iwie Anm. 12) S. 375 f., wo allerdings in unzutreffender Weise
zwischen taktische¡rj Haltung der alten Zentrumsfiihrer, zu denen Trimbom, und politi-
scheim] Kalkül der neu aufsteigenden Männer, zu denen Marx und kurioserweise Fehren-
bach gerechnet werden, unterschieden wird.

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130 U L R I C H VON H E H L

zusetzen. Darin b e k a n n t e sich der Rheinische Provinzialausschuß aus-


drücklich zur Einführung eines allgemeinen, geheimen, direkten und glei-
chen Wahlrechts fiir Preußen, also z u m Ausbau der Volksrechte. Den
Bedenken des rechten Parteiflügeis k a m eine Reihe von „Sicherungen"
entgegen. So sollten alle[n] großen Schichten und Erwerbsstände[n] der
Bevölkerung Berücksichtigung finden u n d keine Minderheiten.... ent-
rechte[t] werden. Einträchtiges Zusammenwirken von Staat und Kirche
sowie der Schutz der Konfessionsschule waren als weitere Bedingungen
ausdrücklich genannt. Ein besonderer Abschnitt versprach mit gleicher
Entschiedenheit an einer starken Monarchie festzuhalten, da nur im
Gleichklang beider Kräfte, der Krone und der Volksvertretung, die beste
Grundlage einer gedeihlichen Staatsentwicklung zu erblicken sei'"'''.
Aííirx'Erleichterung über diesen K o m p r o m i ß hielt nicht lange vor. Als
er am 18. O k t o b e r vor der preußischen L a n d t a g s f r a k t i o n seinen r e f o r m -
freundlichen S t a n d p u n k t erläuterte, stieß er weithin auf t a u b e O h r e n . Die
S t i m m u n g war überall sehr scharf gegen das gleiche Wahlrecht, und um die
M e i n u n g s g e g e n s ä t z e nicht vollends nach außen treten zu lassen, k o n n t e
die F r a k t i o n s f ü h r u n g lediglich erreichen, daß nichts mehr geschrieben wer-
den soll und daß man sich auf nichts festlegen soll·^^.
Auch diese R e c h n u n g ging nicht auf. Z u r Ü b e r r a s c h u n g vieler meldete
sich am 1. N o v e m b e r 1917 der preußische Episkopat mit einem gemeinsa-
men Hirtenbrief zu W o r t . Das unter F e d e r f ü h r u n g des starr konservati-
ven Kölner Kardinals von Hartmann entstandene P r o k l a m a n d u m
behandelte die aktuellen politischen Streitfragen z w a r in einer der T a g e s -
polemik entrückten Form, k o n n t e in seinen einschlägigen Passagen aber
nur als klare Absage der Kirche an d e n G e d a n k e n der Volkssouveränität
und das gleiche W a h l r e c h t verstanden werden'^^. Im V o r f e l d der parla-
mentarischen Beratungen w a r das ein u n ü b e r h ö r b a r e s Signal; es gab den
R e f o r m g e g n e r n von autoritativer Seite willkommene R ü c k e n s t ä r k u n g
und legte den B e f ü r w o r t e r n des gleichen Wahlrechts nahe, ihren Stand-
p u n k t noch einmal zu ü b e r d e n k e n . Hartmann tat noch ein Übriges,
indem er auch persönlich auf Trimbom einzuwirken suchte, um ihm die

'·"' K V N r . 743 vom 22. 9. 1917. Z u r E n t s t e h u n g der Erklärung vgl. T a g e b u c h vom 13.
und 17. 9. 1917. H A S t K , 1070, N r . 1.
T a g e b u c h vom 18. und 27. 10. 1917. E b e n d a . Die Darstellung R. PATEMANNS,
K a m p f (wie Anm. 118), S. 112 ff., ist entsprechend zu ergänzen.
Kirchlicher Anzeiger Köln 57, 1917, S. 1 5 5 - 1 6 4 . - Zu Felix von Hartmann
(1851 — 1919), 1911 Bischof von Münster, 1912 Erzbischof von Köln, 1914 Kardinal
und Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenzen, 1916—1918 Mitglied des Preußi-
schen H e r r e n h a u s e s , vgl. N D B , Bd. 7, Berlin 1966, S. 741 f.

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Wilhelm Marx 131

Gefahren vorzuhalten, die der Kirche und der Schule drohten, wenn das
gleiche Wahlrecht Gesetz werde^*^.
Damit mußte sich auch Marx direkt angesprochen fühlen, und da der
Dissens ohnehin in der Publizistik lebhaft erörtert wurde'·", entschloß er
sich zu öffentlicher Stellungnahme. Die Jahreswende 1917/18 bot hierzu
mehrfach Gelegenheit, und gleich der erste Auftritt in Münster ver-
schaffte ihm überregionale Aufmerksamkeit'·". Die Westfälische Zen-
trumspanei hatte hier für den 30. Dezember zu einer Großkundgebung
eingeladen, um der in die Wählerschaft eingekehrten Verwirrung entge-
genzutreten. Als Redner war neben Marx sein Fraktionskollege von
Savigny^^° gewonnen, der den reichspolitischen Teil der Ausführungen
übernahm, während Marx über den inneren Aufl>au in Preußen und
namentlich die preußische Wahlrechtsreform sprach. Wie immer argu-
mentierte er streng sachbezogen, verzichtete auf polemische Seitenhiebe
und suchte alles zu vermeiden, was die innerparteilichen Gegner hätte
provozieren oder bloßstellen können. Dennoch ließ die Rede an seinem
prinzipiellen Eintreten für das gleiche Wahlrecht nicht den geringsten
Zweifel aufkommen"'. Hierbei ging er zunächst von realistischer Ein-
schätzung der vorliegenden Tatsachen aus: Das preußische Volk verlange
nach dem beispiellosen Einsatz, den es neben dem Feldheer in diesem
Krieg erbringe, Anerkennung seiner Rechte, Anerkennung seiner bürger-
lichen Freiheiten. Es lasse sich nicht mehr politisch unmündig behandeln.
Das bestehende Dreiklassenwahlrecht sei endgültig tot, ... endgültig vor-
über! — und nur das gleiche und allgemeine Wahlrecht dürfe an seine
Stelle treten. Seit 40 Jahren habe das Zentrum dies immer wieder gefor-
dert, seit den Zusicherungen Wilhelms II. sei auch die Ehre der Krone aufs
engste mit dieser Frage verknüpfi, und jetzt, wo eine Wahlrechtsvorlage
das königliche Versprechen einlöse, müsse das Zentrum auf das kräftigste
dabei mitwirken.

R. PATEMANN, Episkopat (wie Anm. 118), S. 348. — Zur Reaktion Trimboms, der
sein mildes Entsetzen über Hartmanns mangelnde Einsichisfähigkeit hinter taktischen
Ausflüchten verbarg, die wiederum Hartmann als Resignation in^eφretierte, vgl.
ebenda sowie H . LEPPER (wie Anm. 127), S. 47 f. Zur realistischeren und flexibleren
Haltung anderer Bischöfe PATEMANN, Episkopat, S. 350 f., 357, 362, 370. Aufschluß-
reich Clemens von Loes eigenwillige Ausdeutung des Hirtenbriefs im Düsseldorfer
Tageblatt Nr. 36 vom 5. 2. 1918.
Zur publizistischen Auseinandersetzung vgl. H . LEPPER S. 48 sowie R. PATE-
MANN, Kampf (wie Anm. 118), S. 167 ff.
Zum folgenden K V Nr. 2 vom 1., Germania Nr. 2 vom 2., Westdeutsche Arbeiter-
Zeitung Nr. 2 vom 13. 1. 1918.
CARL VON SAVIGNY ( 1 8 5 5 - 1 9 2 8 ) , 1898 — 1918 M d L , 1 9 0 0 — 1 9 1 8 M d R ,
1912 — 1918 Schriftführer des Landesausschusses der Preußischen Zemrumspanei.
O b U . MITTMANNS (wie Anm. 12 S. 78) Einteilung der Befürworter der Wahl-
rechtsreform in prinzipiell oder lediglich taktisch Argumentierende dem Sachverhalt
gerecht wird, erscheint nach Mar:¿ Rede mehr als fraglich.

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132 U L R I C H VON H E H L

D a ß das gleiche W a h l r e c h t über k u r z o d e r lang k o m m e n werde, stand


f ü r Marx fest. D a h e r w a r n t e er davor, den Blick einseitig auf die
befürchteten Folgen zu richten. Viel wichtiger schien ihm die Frage: Was
kommt, wenn die Vorlage abgelehnt wird? H i e r allerdings schienen sich
ihm weit dunklere Aussichten zu e r ö f f n e n , eine Welle des Radikalismus
werde d a n n durch das verbitterte V o l k gehen u n d diejenigen, die abge-
lehnt hätten, mit schwerer V e r a n t w o r t u n g belasten. E r jedenfalls sei nicht
bereit, unter diesen U m s t ä n d e n in einen W a h l k a m p f zu ziehen.
W i e aber stand es mit den G e f a h r e n , die das gleiche W a h l r e c h t nach
M e i n u n g der R e f o r m g e g n e r f ü r Kirche u n d Schule mit sich brachte? Als
G r ü n d e r und V o r s i t z e n d e r der Katholischen Schulorganisation k o n n t e
Marx' Urteil hier besondere K o m p e t e n z b e a n s p r u c h e n , nur kam er zu
anderen Ergebnissen, als viele e r w a r t e t hatten. Er löste nämlich die
befürchteten negativen Folgen von ihrer unzulässigen V e r k n ü p f u n g mit
der Wahlrechtsproblematik: N i c h t erst das gleiche W a h l r e c h t g e f ä h r d e
die Freiheiten unserer Kirche und den Bestand d e r konfessionellen Volks-
schule; die G e f a h r sei viel älter, habe schon lange vor d e m Kriege bestan-
den und w e r d e u n a b h ä n g i g vom A u s g a n g d e r W a h l r e c h t s d e b a t t e weiter
bestehen. Nie und nimmer macht das gleiche Wahlrecht die Gefahr größer,
als sie bis jetzt war. N u r sei zu h o f f e n , d a ß den K a t h o l i k e n jetzt endlich
die Augen aufgingen u n d sie aus ihrer Gleichgültigkeit e r w a c h t e n , gegen
die er seit G r ü n d u n g der K S O vergebens a n k ä m p f e . Im übrigen solle sich
niemand der Illusion hingeben, kirchenfeindliche Geistesrichtungen durch
Gesetzesparagraphen einschnüren zu k ö n n e n . Stärkster, erfolgreichster
Schutz der konfessionellen Volksschule sei nächst der allgemeinen Volks-
überzeugung eine starke, geschlossene, überzeugungstreue Zentrumspartei.
Fällt das Zentrum, so lautete sein Fazit, so fällt auch die konfessionelle
Schule.

Mit gleicher Entschiedenheit trat Marx drei W o c h e n später in einem


Beitrag f ü r die G e r m a n i a V e r s u c h e n der Konservativen entgegen, das
Z e n t r u m unter Hinweis auf seine k u l t u φ o l i t i s c h e n Interessen von der
Zustimmung zum gleichen Wahlrecht abzuschrecken^^^. W i e in M ü n s t e r
prophezeite er f ü r den Fall der A b l e h n u n g eine bedeutend stärkere Radika-
lisierung des Landtags, als die A n n a h m e des R e g i e r u n g s e n t w u r f s sie bewir-
ken w ü r d e , namentlich, wenn Verbesserungen desselben durchgesetzt wer-
den könnten'^^. Auch den Anliegen des katholischen V o l k e s u n d d e r Kir-
che erweise man d u r c h V e r w e i g e r u n g den schlechteste[n] Dienst.

G e r m a n i a N r . 31 vom 19. 1. 1918.


Zu ähnlichen A r g u m e n t e n des F r a k t i o n s v o r s i t z e n d e n Forsch in dessen D e n k s c h r i f t
vom 13. 4. 1 9 1 8 v g l . R . P A T E M A N N , K a m p f ( w i e A n m . 1 1 8 ) , S. 1 6 9 f f .

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Wilhelm Marx 133

Unterdessen waren auch die Reformgegner nicht untätig geblieben.


Eine Dekanatskonferenz (Stadt-)Kölner Pfarrer hatte sich mit Billigung
Kardinal von Hartmanns im Dezember 1917 an den Vorsitzenden der
Preußischen Zentrumsfraktion gewandt, um für den Fall der Annahme der
[Wahlrecht$-]Vorlage besondere Garantien zum Schutz unserer religiös-
kirchlichen Interessen zu verlangen''^. Für den 8. Januar 1918 waren die
Dechanten, Definitoren und zahlreiche weitere interessierte Geistliche
aus dem gesamten Erzbistum, ferner die rheinischen Zentrumsabgeordne-
ten, insgesamt 622 Personen, von denen etwa 250 erschienen, zu einer
Informationsversammlung nach Köln geladen'^'. Initiator dieses Treffens
war der vielfach seine eigenen Wege gehende, sonst tüchtige Pfarrer Kruchen
von Köln-Ehrenfeld"^, der als wahlrechtspolitische[r] Berater^" Kardinal
von Hartmanns die Veranstaltung in seinem Sinne zu lenken suchte. Er
hatte zu diesem Zweck mit dem Aachener Stiftspropst und Landtagsabge-
ordneten Franz Kaufmann^^* einen der engagiertesten Gegner des glei-
chen Wahlrechts als Referenten gewonnen, auf Drängen Trimboms aber
auch Wilhelm Marx als überzeugte[n] Befürworter der Wahlrechtsreform
auf die Rednerliste g e s e t z t " ' .
In Kruchens Regie war f ü r Kaufmann das taktisch günstigere zweite
Referat vorgesehen; dennoch verlief die Versammlung nicht zur vollen
Zufriedenheit ihrer Veranstalter. In der anschließenden Diskussion wur-
den die Reformgegner in die Defensive gedrängt; namentlich die Vertre-
ter des Volksvereins taten sich hervor, so daß Kruchen ihre Einladung
schon bereute. Auch im Klerus herrschte keineswegs Einigkeit. So warnte
O b e φ f a r r e r Kastert^''°, zweiter Stellvertretender Vorsitzender der Rhei-
nischen Zentrumspartei, vor einseitiger Blockierung der Wahlrechtsre-
form. Jedenfalls kam die ursprünglich geplante Resolution nicht
zustande. Allerdings war auch Marx nicht hefnedigt von der ganzen
Geschichte^''\ hatte ihm doch der Verlauf erneut deutlich gemacht, wie
unbelehrbar unà stur áci rechte Parteiflügel blieb'^^.

"" V g l . z u m f o l g e n d e n H . L E P P E R ( w i e A n m . 1 2 7 ) S. 4 8 - 5 3 .
Tagebuch vom 8. 1. 1918. H A S t K , 1070, Nr. 1.
So Marx \n seinem oben Anm. 27 genannten Erinnerungsbericht. Vgl. auch H. LEP-
PER S. 49, Anm. 42a mit weiteren Hinweisen.
R . P A T E M A N N , K a m p f ( w i e A n m . 1 1 8 ) , S. 3 6 1 .
• f Franz Kaufmann (1862—1920), 1912 Stiftspropst in Aachen, 1 9 0 8 - 1 9 1 8 MdL.
Über ihn H . LEPPER S. 42, Anm. 11 mit weiteren Hinweisen.
H . L E P P E R S. 5 0 .
Bertram Kasten (1869—1935), 1 9 1 6 - 1 9 2 7 Oberpfarrer in Köln, St. Kolumba,
1927 Pfarrer in Bad G o d e s b e r g - M u f f e n d o r f , 1919 Mitglied der Preußischen Landes-
versammlung.
Wie Anm. 155.
Wie Anm. 27.

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134 ULRICH VON HEHL

Insgesamt erwies sich das Treffen nur als Beginn einer ganzen Veran-
staltungswelle, welche, statt zur Versachlichung beizutragen, die Fronten
eher verhärtete'^'. Eine in diesen Wochen erschienene Streitschrift warf
den Befürwortern der Wahlrechtsreform sogar Abweichung von den
katholischen Grundsätzen v o r ' " . Der Gipfel der Uneinsichtigkeit war für
Marx erreicht, als im Februar 1918 der Rheinische Bauernverein die Ein-
führung von Pluralstimmen verlangte, fiir die er nicht weniger als elf Klas-
sen au/stellte^*"^. Scharf gtùti Marx deshalb mit Bauernpräsident von Loé
aneinander'^^. Ebensowenig brachten Provinzialausschußsitzung und
Delegiertentag am 2. April in Köln eine Verständigung'^'. Die Sitzung
begann zwar mit einer spontanen Vertrauenskundgebung für die beiden
Vorsitzenden Trimbom und Marx, wobei ihr Verhalten auch Strömungen
gegenüber, die sich im Laufe der letzten Zeit bemerkbar gemacht hatten, aus-
drücklich gebilligt wurde, aber Marx notierte doch, wie es dann hinterher
in der Diskussion wieder ziemlich scharf gtworátn sei. D a ß man auch im
Düsseldorfer Onsausschuß wieder gehörig aneinander geriet, wunderte
ihn nicht: Brockmann war eben ein zu eigensinniger Mann^*"^.
Indessen verliefen die parlamentarischen Beratungen der Wahlrechts-
vorlage in Ausschuß und Plenum des Preußischen Abgeordnetenhauses
kaum erfreulicher'^'. Gleich zweimal beschloß der Ausschuß mit seiner
Mehrheit aus Konservativen und Nationalliberalen, anstelle des gleichen
das Pluralwahlrecht einzuführen (20. Februar und 11. April 1918). Die
Zentrumsfraktion hielt durch ihre Ausschußmitglieder am gleichen Wahl-
recht fest, drang im Plenum aber vergeblich auf den Einbau von „Siche-
rungen", denen zuzustimmen wiederum die Rechte keinen Grund sah,
weil sie die Einführung des gleichen Wahlrechts überhaupt verhindern
wollte. Daß angesichts dieser Schwierigkeiten von Seiten einzelner
Bischöfe auch noch Druck auf die Fraktion ausgeübt wurde, empfand
Marx als ärgerlich: Die Herren urteilten, ohne überhaupt jemand von uns
gehört zu haben^^°.

V g l . Bericht ü b e r e i n e V e r s a m m l u n g v o n G e i s t l i c h e n in E s s e n , 7. 2. 1918, H A S t K ,
1070, N r . 2 2 2 , s o w i e H . LEPPER S. 53 f.
V g l . R . PATEMANN, K a m p f (wie A n m . 118), S. 167 f.
W i e A n m . 27. — D e r V o r s c h l a g d e s R h e i n i s c h e n B a u e r n v e r e i n s i n : H A S t K , 1070,
Nr. 222.
T a g e b u c h v o m 28. 2. 1918. E b e n d a , N r . 1.
Z u m f o l g e n d e n K V N r . 269 v o m 6. 4. 1918.
T a g e b u c h v o m 2. 4. u n d 31. 5. 1918. H A S t K , 1070, N r . 1.
E i n z e l h e i t e n bei R. PATEMANN, K a m p f (wie A n m . 118), S. 127 — 2 2 8 ; E. R .
H U B E R (wie A n m . 15), Bd. 5, S. 4 8 2 - 4 9 6 .
T a g e b u c h v o m 11. 4. 1918. H A S t K , 1070, N r . 1. - Z u d e n H i n t e r g r ü n d e n vgl. R .
PATEMANN, E p i s k o p a t (wie A n m . 118), S. 360 ff., s o w i e R . MORSEY, Z e n t r u m s p a r t e i
(wie A n m . 25), S. 6 5 , A n m . 28.

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Wilhelm Marx 135

Die verwickelten parlamentarischen Vorgänge des Frühjahrs 1918 mit


ihren zahlreichen Abstimmungen sind hier nicht im einzelnen darzustel-
len. Das entscheidende Datum war der 11. Juni 1918. An diesem Tag
wurde der Antrag auf Wiederherstellung des gleichen Wahlrechts mit 164
zu 245 Stimmen abgelehnt. Auch im Zentrum blieb eine starke Minder-
heit bis zuletzt unzugänglich: Lediglich 68 Zenirumsabgeordnete stimm-
ten dafür, immerhin 25 d a g e g e n ' " . Wenngleich die Reformvorlagen
noch das Herrenhaus zu passieren hatten, waren sie doch schon endgül-
tig gescheitert. Zu Marx' uefer Enttäuschung hatte das Abgeordneten-
haus eine geschichtliche Stunde versäumt. Noch siebzehn Jahre später,
als er seine Erinnerungen niederschrieb, war ihm die Beschämung über
diese unglaubliche Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit anzumerken"^.

VI.
Niemanden konnte überraschen, daß diese Entscheidung beim Arbei-
terflügel des Zentrums Empörung auslöste. Nachdem noch am 26. Mai
1918 auf dem Christlich-nationalen Arbeiterkongreß in Essen mehr als
tausend Teilnehmer nachdrücklich die Einführung des gleichen Wahl-
rechts gefordert hatten"^, drohte eine Protestkundgebung am 23. Juni in
Bochum, die ganz unter dem Eindruck der Abstimmungsniederlage
stand, keinem Wahirechisgegner künftig die Stimme zu geben, selbst
wenn man dadurch gezwungen sein werde, sich mit anderen Parteien
zusammenzutun'^"'. Auch die Westdeutschen Arbeitervereine übten auf
einer Vertrauensmänner-Versammlung des Kreises Köln-Mülheim
namentlich Kritik am reformfeindlichen Verhalten mancher (auch hoher)
Geistlicher'". Daß daraufhin Kardinal von Hartmann am 24. August
1918 den Kölner Diözesanpräses Otto Müller súnts Amtes enthob und
von den Arbeitervereinen verlangte, sich künftig jeder politischen Betäti-
gung zu enthalten, wurde als bewußte Provokation verstanden'^'. Wie
die solidarische Reaktion der Betroffenen zeigte, hatte der Erzbischof
den Bogen überspannt: Der als Diözesanpräses entlassene Müller wurde
alsbald zum neuen Verbandspräses der Westdeutschen Arbeitervereine

R. PATEMANN, K a m p f , S. 191. G e r i n g f ü g i g e A b w e i c h u n g bei E. R . HUBER, Bd. 5,


S. 4 9 1 . H . W . HEITZER, P i e p e r (wie A n m . 128), S. 212 f., A n m . 6 2 , v e r w e c h s e l t J a - m i t
Nein-Stimmen.
W i e A n m . 27.
K V N r . 4 4 1 v o m 27. 5. 1918.
K V N r . 4 9 3 v o m 24. 6. 1918. D e r o f f i z i e l l e V e r s a m m l u n g s b e r i c h t ist w i e d e r a b g e -
d r u c k t in; T e x t e z u r k a t h o l i s c h e n S o z i a l l e h r e , Bd. I I / 1 , h r s g . v o m B u n d e s v e r b a n d d e r
K A B , K e v e l a e r 1976, S. 7 4 9 - 7 9 6 .
V g l . R . PATEMANN, K a m p f , S. 214 f.
Z u AI«//er j e t z t J Ü R G E N ARETZ, O t t o M ü l l e r ( 1 8 7 0 — 1 9 4 4 ) , in: Z e i t g e s c h i c h t e 3
( w i e A n m . 7), M a i n z 1979, S. 1 9 1 - 2 0 3 u n d 2 9 1 f.

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136 ULRICH VON HEHL

gewählt. Um weiteres Aufsehen zu vermeiden, sah Hartmann sich


gezwungen, diese Wahl zu bestätigen.
Adam Stegerwald weitete die Wahlrechtskritik der Arbeiter am 27. Juli
in Köln und dann noch einmal am 29. September in Köln und Düsseldorf
ins Grundsätzlich-Staatspolitische a u s " ' . Indem er die Rolle von Arhei-
terschaft und politische[rJ Zukunfisentwicklung zu beschreiben suchte,
konnte er an frühere Äußerungen anknüpfen. Er machte aber zugleich
deutlich, daß die Arbeiterführer nicht die Partei zu verlassen beabsichtig-
ten.
Ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten stellte er sich damit auf
den Boden des Aufrufs, mit dem der Reichsparteiausschuß des Zentrums
am 30. Juni 1918 zu geschlossener Einigkeit 3iu{gt{oT0tn und neue Richtli-
nien für die Parteiarbeit erhssen h a t t e ' ' ' . Sie waren der Versuch, die ver-
breitete Orientierungslosigkeit (R. Morsey) zu durchbrechen und den ver-
änderten Zeitverhältnissen Rechnung zu t r a g e n " ' , vor allem aber über die
unüberbrückbaren Gegensätze der letzten Jahre hinweg die Einheit der
Zentrumspartei zu bewahren. Die Leitsätze gingen auf eine Initiative der
KV und des rheinischen Arbeiterflügels zurück, waren seit November/
Dezember 1917 in zunächst getrennten, dann gemeinsamen Sitzungen
vorberaten worden und lagen seit F e b r u a r / M ä r z 1918 dem Reichs- und
den Landesvorständen der Zentrumspartei v o r " ° . Bereits Anfang April
hatte Tnmbom ihr baldiges Erscheinen auf dem Kölner Parteitag ange-
kündigt und unter Hinweis auf die bedrohlichen Spannungen der Kriegs-
jahre auch organisatorische Konsequenzen verlangt; die Einrichtung
eines Generalsekretariats der Partei war dabei ausdrücklich vorgese-
h e n " ' . Nicht ohne Erleichterung meldete die KV denn auch das Ende
der Programmdiskussion, hob das Bestreben gegenseitiger Verständigung
hervor und gab der H o f f n u n g Ausdruck, daß die Ergebnisse der Beratun-
gen vom besten Erfolge fur die Partei begleitet sein werden^^^.

K V N r . 590 vom 29. 7., N r . 771 und 772 vom 30. 9. 1918.
D r u c k von Aufruf und Richtlinien; K. BACHEM (wie A n m . 12), Bd. 8, S. 363 — 366,
sowie DERS., Politik und Geschichte der Z e n t r u m s p a n e i . Im A n s c h l u ß an die Richtli-
nien f ü r die Parteiarbeit vom 30. Juni 1918, Köln 1918, S. 18—22. Z u r Entstehung der
Richtlinien ebenda S. 22 f. A b d r u c k eines KV-Artikels ( N r . 525) vom 6 . 7 . 1918. -
Vgl. auch E. MEINEN (wie Anm. 35), S. 257 ff.; R. MORSEY, Zentrumspartei (wie
Anm. 25), S. 70 f., sowie U. MITTMANN (wie Anm. 12) S. 376 f.
So Trimbom am 2. 4. 1918 auf dem Rheinischen Z e n t r u m s p a r t e i t a g . KV N r . 269
vom 6. 4. 1918.
D r u c k f a h n e n der verschiedenen Fassungen im N a c h i a ß Marx. H A S t K , 1070, N r .
222. — Eine (womögliche f ü h r e n d e ) Mitarbeit Trimhoms u n d Marx', wie sie U. MiTT-
MANN S. 377 andeutet, läßt sich aus dem N a c h i a ß nicht nachweisen, ist aber nicht
unwahrscheinlich. Die Initiative ging jedenfalls von der K V - R e d a k t i o n aus.
W i e Anm. 179.
K V N r . 517 vom 3. 7. 1918.

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Wilhelm M a r x 137

Die kurzsichtige Verweigerungshaltung des Abgeordnetenhauses


wurde jedenfalls durch die weitere Entwicklung rasch obsolet. Je drohen-
der sich der militärische Zusammenbruch abzeichnete, desto dringlicher
wurde eine Reform der innenpolitischen Verhältnisse. So fand der Frak-
tionsvorsitzende Adolf Größer allseits Zustimmung, als er am 12. Septem-
ber 1918 im Interfraktionellen Ausschuß die sofortige Lösung der Wahl-
rechtsfrage in unserem demokratischen Sinn verlangte'". Indessen kam
der Wahlrechtskompromiß, der schließlich Anfang Oktober dem Herren-
haus vorlag und von allen Parteien getragen war, schon zu spät; er hätte
nach Passierung sämtlicher parlamentarischer Hürden frühestens Mitte
Dezember 1918 Gesetzeskraft erlangen können, also lange nachdem die
Novemberrevolution bereits vollendete Tatsachen geschaffen hatte"^.
Auch kreuzten sich die Beratungen mit dem Sturz des Reichskanzlers von
Hertling und der Installierung des quasi-parlamentarischen Kabinetts des
Prinzen Max von Baden (3. Oktober 1918), in das mit Trimhom, Gröber
und Erzberger crstmaXs auch drei Zentrumsparlamentarier als Staatssekre-
täre berufen wurden. In Düsseldorf lief am 9. Oktober ein offenbar von
geistlicher Seite ausgehendes Gerücht um, auch Marx sei als Unterstaats-
sekretär in Aussicht genommen, es stellte sich bald als unrichtig h e r a u s ' " .
Marx traf erst am 15. O k t o b e r wieder in Berlin ein. Am gleichen Tag
hielt Brockmann im Abgeordnetenhaus eine seiner bekannten Reden:
Streit der Vergangenheit solle jetzt vergessen sein. Aiarx'ungewohnt bis-
siger Kommentar: Das werden wir ihm schon zeigenfii&t die Anspannung
der letzten Monate erkennen. Er hatte genug von diesen endlosen Quere-
len, dieser mangelnden Einsichtswilligkeit derer, die nicht lernen, sondern
alles im alten Stil weiterfiihren wollen. Das deutsche Waffenstillstandser-
suchen und der Notenwechsel mit dem amerikanischen Präsidenten Wil-
son, von denen er jetzt Einzelheiten erfuhr, machten ihm deutlich, daß
die Lage noch weit schlimmer aussah, als er gedacht hatte. Nun kam es
auf rasches Handeln an, auch und gerade bei der Frage der parlamentari-
schen Umgestaltung des R e i c h e s ' " .
Immerhin blieb auch das Düsseldorfer Zentrum von den Berliner Vor-
gängen nicht unbeeindruckt: Am 17. Oktober sprach sich der Zentral-
wahlausschuß für Düsseldorf-Stadt und -Land mehrheitlich fiir das gleiche
Wahlrecht in Preußen aus und bedauerte die Haltung des rechten Parteiflü-
gels um das Düsseldorfer T a g e b l a t t " ' . Diese Kritik wurde am 27. Okto-

IFA (wie A n m . 78), Bd. 2, S. 538. — Z u m Sitzungsverlauf vgl. auch R. PATE-


MANN, Kampf (wie Anm. 118), S. 212 ff.
E. R. HUBER (wie A n m . 15), Bd. 5, S. 596 mit Anm. 67.
T a g e b u c h vom 9. 10. 1918. H A S t K , 1070, N r . 1.
' " · T a g e b u c h vom 15., 25. und 27. 1С. 1918. Ebenda.
W . STUMP (wie Anm. 47) S. 22.

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138 U l r i c h VON H e h l

ber auf einer scharfen Sitzung des G e s c h ä f t s f ü h r e n d e n Ausschusses unter


Leitung von Marx noch einmal bekräftigt. Marx war der Auffassung, es
sei nun genug verhandelt und geschlichtet w o r d e n , jetzt müsse man end-
lich zu Taten kommen. W e n n das Parteiorgan sich t r o t z m e h r f a c h e r
W a r n u n g e n auch künftig gegen die überwiegende M e h r h e i t d e r Parteian-
gehörigen stelle, müsse der V o r s t a n d sich weitere Schritte vorbehalten.
W e l c h e , w u r d e nicht k o n k r e t i s i e n ; es w a r lediglich von stärkerem redak-
tionellem Einfluß der P a r t e i f ü h r u n g die R e d e ' " .
In der T a t blieb Marx, n a c h d e m sich der g r ö ß t e Ärger gelegt hatte,
bestrebt, den endgültigen Bruch zu v e r m e i d e n ' " . Als er sich am 4.
N o v e m b e r mit den P a r t e i f r e u n d e n Brauns und Kastert über d e n weiteren
W e g des Z e n t r u m s austauschte, wollte er von radikalen Schritten schon
nichts mehr wissen. Selbst Д м и и ^ ' V o r s c h l a g , die G e g n e r d e r p a r l a m e n t a -
rischen U m g e s t a l t u n g des Reiches, wie sie durch die R e f o r m e n vom 28.
O k t o b e r eingeleitet w a r , von künftigen K a n d i d a t u r e n a b z u h a l t e n , schien
ihm zu weit zu gehen. T r o t z aller Enttäuschungen also a u c h hier noch
V e r s ö h n u n g und Brückenschlag. O h n e h i n w u r d e n die i n n e φ a r t e i l i c h e n
Q u e r e l e n von g r ö ß e r e n Sorgen überschattet. G e s p a n n t blickte er von
Düsseldorf nach der Reichshauptstadt, w o in diesen T a g e n große Dinge
vor sich gingen und er sich selbst gar nicht so bewußt [war], was alles
geschieht'''^

T a g e b u c h vom 27. u n d 29. 10. 1918, e b e n d a , sowie W . STUMP S. 23.


D a g e g e n hielt der Düsseldorfer Rechtsanwalt und Zentrums-Stadtverordnete Julius
Stocky in einem Schreiben an Trimbom, 12. 10. 1918, die Parteispaltung für wahr-
scheinlich: Es werde auf die Dauer zur Ahsplitterung des rechten Flügels des Zentrums
kommen, der sowohl die Integralen wie die Vaterlandsparteiler umfaßt. H A S t K , 1006,
Nr. 853. Vgl. W. STUMP S. 23 mit Anm. 37.
Tagebuch vom 28. 10. und 4. 11. 1918. H A S t K , 1070, Nr. 1. — Die soeben im
Manuskript abgeschlossene Habilitationsschrift von WILFRIED LOTH, Katholiken im
Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutsch-
lands, die einen bedeutenden Beitrag zur Zentrums- und allgemeinen Parteienge-
schichte des Kaiserreichs darstellt, konnte für diesen Aufsatz nurmehr in sehr wenigen
Punkten ausgewertet werden. Sie wird in Kürze in den „Beiträgen zur Geschichte des
Parlamentarismus und der politischen Parteien" erscheinen. Ich bin dem Verfasser für
die Überlassung des Manuskripts und kritische Hinweise dankbar v e φ f l i c h t e t .

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