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Spencer Brown Transformation 3
Spencer Brown Transformation 3
net/publication/365196405
Die Spencer-Brown-Transformation
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1 author:
Dirk Baecker
Zeppelin University
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Dirk Baecker*
überarbeitete Fassung, März 2023
I.
Eine der ungelösten Fragen in der jüngeren soziologischen Systemtheorie ist das Verhältnis
von Systemtheorie, Netzwerktheorie und Formkalkül. Sicher ist nur, dass es darum geht,
Sachverhalte zu beschreiben, die das Ergebnis der Vernetzung von Beobachtungen zweiter
Ordnung sind. Doch wer beobachtet wen? In welcher Beziehung stehen System und
Netzwerk? Und was errechnet der Formkalkül?
Spencer-Browns Formkalkül (1969/2008) ist aus der letzten Phase der Theorieentwicklung
im Werk von Niklas Luhmann nicht wegzudenken (siehe Luhmann 1988, 2017). Woran liegt
das? Ich vermute, dass eine Antwort auf diese Frage auch einen Beitrag zur Beantwortung der
ersten drei Fragen leisten kann. Einen wichtigen Hinweis gibt Luhmann im Abschnitt
„Medium und Form“ des Kapitels „Kommunikationsmedien“ in seinem Buch Die
Gesellschaft der Gesellschaft (Luhmann 1997: 190ff.). Dort heißt es:
Mit der These, dass Kommunikation nur als „Prozessieren dieser Differenz“ von medialem
Substrat und Form möglich ist, überbietet Luhmann alle bisherigen Formulierungen seines
Kommunikationsbegriffs. Die Thesen der Unterscheidung von Selbstreferenz und
Fremdreferenz, der operationalen Geschlossenheit sowie der Synthese von Information,
Mitteilung und Verstehen sind nach wie vor gültig und mitzulesen, werden jedoch mit der
These des Prozessierens einer Differenz noch einmal tiefergelegt. Ausgangspunkt ist jetzt
nicht nur die Gleichzeitigkeit von Selbstreferenz und Fremdreferenz, nicht nur die
Ausdifferenzierung eines Systems (minimal: eines Kontakts; s. Luhmann 1984: 33) und nicht
nur die Dopplung der Attributionsperspektiven in Ego und Alter Ego, sondern eine
Oszillation, die diesen Leistungen zugrunde liegt. Die begriffliche Schwierigkeit, gedoppelt
zur Schwierigkeit der Erfassung entsprechender empirischer Sachverhalte, liegt darin, eine
Unterscheidung zugleich als Oszillation und als Reproduktion dieser Oszillation (als
Prozessieren einer Differenz) zu denken. Die temporale Fassung sozialer Systeme als
–3–
nutzen, doch das wäre nicht möglich, wenn nicht bereits die Operation das Moment der
Unruhe mit sich bringt. Die Unterscheidung zwischen oszillierender Operation und
beobachtender Reflexion ist eine analytische und damit artifizielle. Sie bringt den Kalkül in
Gang, aber nicht die Praxis. In der Praxis sind beide Momente eins. In der Praxis wäre die um
ihre Reflexion bereinigte Operation ein ambiguity failure (Leifer 2002), ein Versagen
hinsichtlich der die Kommunikation allererst in Gang bringenden Frage, wer und was gemeint
ist. Deswegen ist der Kalkül, den wir uns hier anschauen, ein semantischer und struktureller,
kein physikalischer. Hat Leibniz nicht genau danach gesucht, als er dem physikalischen
Differentialkalkül einen semantischen und strukturellen „Kalkül der Lage“ an die Seite stellen
wollte (Leibniz 1793/1996; Krämer 1992)? Oder ist dieser auf Fragen der Geometrie
beschränkt (Poincaré 1895)?
Erleichtert wird das Verständnis der Komplikation von Operation und Reflexion durch
eine weitere Komplikation. Die prozessierte Differenz ist eine Asymmetrie. Die beiden Seiten
der Unterscheidung sind ungleich. Sie werden zusammen mit der Unterscheidung und dem
durch diese Unterscheidung hervorgebrachten Raum als eine (mindestens) Zwei-Seiten-Form
verstanden, auf deren Innenseite eine weitere Form bezeichnet wird, während die Außenseite
zusammen mit der Unterscheidung und dem durch sie hervorgebrachten Raum als mediales
Substrat der Form zu verstehen ist. Die Differenz von Form und Medium ist ihrerseits formal
selbstähnlich eine Form in einem medialen Substrat.
Man kann das wie folgt anschreiben – und muss dabei berücksichtigen, dass der Ausdruck
seinerseits als „Form“ zu verstehen ist, die somit zweimal vorkommt, ebenso wie das
„Medium“ zweimal vorkommt, einmal bezeichnet und einmal unbezeichnet als
Voraussetzung der Möglichkeit einer Form, n (ich komme darauf zurück):
Luhmanns Formulierung für den Sachverhalt der Asymmetrie ist, dass Anschlüsse der
Kommunikation auf der Innenseite der Unterscheidung stattfinden (Luhmann 1993a: 63ff.).
Auf der Innenseite wird bezeichnet, was von der Außenseite der Form unterschieden wird.
Anschlüsse greifen diese Innenseite auf. Die Außenseite entzieht sich. Sie ist das
Ausgeschlossene, das nur als Ausgeschlossenes mitgeführt wird. Das gilt auf der
algebraischen Ebene des Kalküls, auf der die Seiten der Unterscheidung durch Variablen
bezeichnet werden – oder auch unbezeichnet bleiben können (weswegen die Kritik von
Conrad 2022: 1887ff., nicht zutrifft.
–5–
Auf der tieferliegenden arithmetischen Ebene des Kalküls ist es die Außenseite der
Unterscheidung, die bezeichnet wird (Kauffman 2017: 8, und 2022: 4). Denn die erste
Unterscheidung markiert den Raum, in dem sie vorgenommen wird. Das ist die Außenseite
einer noch nicht vorhandenen Innenseite, wenn man so will. Erst im Anschluss kann dieser
Raum als Außenseite einer Innenseite bezeichnet werden, um die beiden Seiten voneinander
zu unterscheiden, die „Form“ zu explorieren und die Unterscheidung, den dritten und ersten
Wert, zu entdecken, die für die Trennung der beiden Seiten verantwortlich ist.
Anschlüsse der Kommunikation finden in der Form und an die Form statt, deren
Außenseite das mediale Substrat bezeichnet, das diese Form voraussetzt, aufruft und
verfügbar macht. Konkret bedeutet das, dass auf der Außenseite einer Unterscheidung
Alternativen zu im Moment nicht realisierten, aber dadurch „potentialisierten“ (Barel 1989)
Formen zu denken sind. Im Medium, aufgenommen von der Form, findet sich eine Unruhe,
die dadurch erzeugt wird, dass die Bezeichnung auf eine Außenseite verweist, die nur ist, was
sie ist, weil sie von einer Innenseite unterschieden wird, die auf eine unbestimmt bestimmte,
eben: „mediale“ (Scheier 2016), Art und Weise Alternativen zur gewählten Bezeichnung
mitführt. Möglicherweise bietet es sich an, hier eine Brücke zu einer Kulturtheorie zu
schlagen, die beschreibt, wie die Innenseite als ein Raum zu verstehen ist, in dem Werte
aufgerufen werden können, die sich den Medien einer Gesellschaft verdanken und diesen
Formen zuspielen. Luhmanns (1997: 410) Skepsis, an diesen Gedanken eine Theorie der
Kultur zu knüpfen, erklärt sich daraus, dass die Bestimmung von Kultur aus diesem
„Verweisungsüberschuss von Sinn“ (ebd.: 409) auf der Außenseite aller Formen zu
unspezifisch bleibt. Kultur wäre jedoch nicht dieser Verweisungsüberschuss selbst, sondern
die Bewährung einer Form im Umgang mit dem Verweisungsüberschuss der Medien.
II.
Spencer-Browns Formkalkül ist der seltene Fall einer Mathematik, die einen soziologisch zu
verstehenden Grundgedanken zum Ausdruck bringt. Selbst die Behauptung, dass die ersten
10 Kapitel des Buches Laws of Form nur Einsichten der Booleschen Algebra wiederholen, ist
zu bezweifeln, wenn man sieht, dass Spencer-Brown eben nicht ein Universum (Booles „1“)
von einem Nichts (Booles „0“) unterscheidet (Boole 1854/1958: 48), sondern einen marked
state von einem unmarked state, ein cross, , von einem void, , und Operationen der
Aufhebung vorsieht, festgehalten in der form of cancellation, = , die diese Leere
mathematisch zu erzeugen vermögen. Das Universum, von dem Spencer-Brown spricht – „a
universe comes into being when a space is severed or taken apart“ (Spencer-Brown
–6–
1969/2008: xxii) –, enthält bereits beide Seiten. Es wird nicht vom Nichts unterschieden,
sondern enthält es wesentlich. Ginge es nach Spencer-Browns laws of form, müsste Booles 0
in seiner 1 enthalten sein. Man müsste Boole mit Spencer-Brown lesen (Kauffman 1995;
Schönwälder-Kuntze/Wille/Hölscher 2009: 27f.) und nicht, wie so oft behauptet wird (Gould
1977; Banaschewski 1977; Cull/Frank 1979), Spencer-Brown mit Boole. Diese Diskussion
muss ich jedoch Mathematikern und Logikern überlassen. Wichtiger ist mir, dass Operationen
zur Erzeugung einer Leere psychologisch und soziologisch unmittelbar nachvollzogen
werden können, auch wenn es in der psychologischen und soziologischen Theorie bislang
kaum Anhaltspunkte für eine entsprechende begriffliche Fassung dieses Phänomens gibt.
Man kennt solche Operationen aus der Meditation und kann sich Praktiken der
Gruppendynamik, Therapie und Beratung, ganz zu schweigen von poetischen, literarischen
und theatralen Praktiken vorstellen, in denen dies ebenfalls der Fall ist (Luhmann/Fuchs
1989). Darüber hinaus zeigt Manfred Sommer (2020), dass bereits für das Blatt Papier und
das vom Blatt stellvertretene Gesichtsfeld des Menschen dieses eigentümliche Verhältnis von
Leere und zugreifender Bezeichnung und Beschreibung gilt, das in seinem Vollzug die Leere
nicht aufhebt, sondern reproduziert.
Die Oszillation der Form in der Form ist ein zunächst technisches Phänomen der
Aufrechterhaltung elektrischer Spannung zwischen einem Positiv- und einem Negativpol, das
von Spencer-Brown in seinem Formkalkül als einem Kalkül von Schaltungen mathematisch
formuliert und von der Soziologie als Charakteristikum kommunikativer Vorgänge des
Handelns und Erlebens wiedererkannt wird. Damit wird Kommunikation nicht zur Schaltung,
geschweige denn zu einem technischen Vorgang, aber auch für Kommunikation gilt, dass sie
eine Spannung nicht nur aufrechterhält, sondern erzeugt. Sind Schaltungen an eine externe
Spannungsquelle gebunden, so gewinnt Kommunikation alle Unruhe aus sich selbst, das heißt
aus der Differenz zu einem mitgeführten Medium in einer mitgeführten Welt. George Herbert
Meads Begriff der Konstitution von Identität im Prozess der Kommunikation fehlt in dieser
Hinsicht neben dem „Verständnis des Gesagten“ (Mead 1973: 182f.) nur das Verständnis des
Nichtgesagten, um diese Oszillation am Rande eines Nichts nachvollziehen zu können.
Harvey Sacks (1992) Begriff der Konversation formuliert Verfahrensregeln zur Bildung und
zum Wechsel von Zurechnungen („accounts“) auf Sprecher:innen und Themen, denen es
gelingt, das eine zu sagen, um etwas anderes nicht zu sagen (zum Beispiel per Telefon um
Beratung und Hilfe zu bitten, ohne den eigenen Namen zu nennen). Erving Goffmans (1974)
Rahmenanalyse erlaubt die Untersuchung von keyings und fabrications, von framing und
anchoring, die laufend damit rechnen, die Kommunikation auf einer Spur halten oder auf eine
Spur setzen zu können, zu der es jederzeit Alternativen gibt. Und Eric M. Leifer (1991;
–7–
Leifer/Rajah 2000) zeigt, dass das Geschick von Beobachtern in einer Kommunikation darin
besteht, Ungewissheit darüber aufrechtzuerhalten, wer oder was gemeint ist; das setzt den
Einschluss des Ausgeschlossenen elementar voraus.
Nichttechnisch zu fassen ist an diesem soziologischen Verständnis von Kommunikation
der Umstand, dass die Oszillation nicht unbedingt zwischen zwei benennbaren Zuständen,
sondern zunächst zwischen einem benannten und einem unbenannten oder einem bestimmten
und einem unbestimmten Zustand erfolgt. Eine Ahnung davon vermittelt Claude E. Shannons
mathematische Kommunikationstheorie, indem sie Information als die Selektion einer
Nachricht aus einem Auswahlbereich möglicher Nachrichten konzipiert (Shannon/Weaver
1963: 31). Jede einzelne Nachricht erhält ihren Informationswert aus ihrer Selektion, das
heißt mit Blick auf den Auswahlbereich. Das war zwar nur als kryptografisches Problem
gefasst, das heißt als Technik, verschlüsselte oder korrumpierte Zeichen im Hinblick auf
ihren möglichen Sinn zu lesen (und so zu entschlüsseln beziehungsweise zu korrigieren),
doch wenn man die technische Annahme eines zum Beispiel als Alphabet definierten, also
festliegenden Auswahlbereichs durch die soziologische Annahme eines in der Situation der
Nachricht jeweils zu konstruierenden, also ungewissen und riskanten Kontexts der Nachricht
ersetzt, hat man es mit jener asymmetrischen Unterscheidung zwischen Bestimmtheit und
Unbestimmtheit zu tun, die man für eine soziologische Kommunikationstheorie braucht
(Baecker 2005: 15ff.).
Der entscheidende Zug, der die Mathematik des Formkalküls für eine Soziologie der
Kommunikation öffnet beziehungsweise im Rahmen einer Soziologie der Kommunikation
lesbar macht, ist eine Setzung, die ich die Spencer-Brown-Transformation nenne (Baecker
2021: 11). Gegenläufig zur Fourier-Transformation, die aperiodische Signale in ein
kontinuierliches Spektrum übersetzt (wikipedia.org 2022), besteht die Spencer-Brown-
Transformation darin, aus einem kontinuierlichen Spektrum beziehungsweise medialen
Substrat diskrete Signale beziehungsweise Differenzen oder Formen zu gewinnen, deren
Operationen ihrerseits das kontinuierliche Spektrum anreichern. Mathematisch schlichter als
die Fourier-Transformation, allerdings im Medium einer nicht numerischen, sondern
strukturellen Mathematik, ist dafür nur ein Wechsel des Ausgangspunkts vom aristotelischen
Identitätsprinzip zum Spencer-Brown’schen Differenzprinzip erforderlich (Baecker 2013):
Aristoteles:
A = A.
–8–
Spencer-Brown:
Stellte Aristoteles dem mit der Einführung und Durchsetzung der Schrift grenzenlos
werdenden Kosmos das Telos der sich in ihrem Wesen, ihrer Substanz vollendenden Identität
entgegen, „so daß kein Teil mehr außerhalb zu finden ist“ (Aristoteles 1970: 1021b 20), so
formuliert Spencer-Brown eine Differenzgleichung, die einen Sachverhalt a als das Resultat
seiner Unterscheidung (cross) von einem unmarked state sowie der Reflexion (re-entry)
dieser Unterscheidung in der Form der Unterscheidung versteht: „Distinction is perfect
continence“ (Spencer-Brown 1969/2008: 1). Eine Unterscheidung ist „perfekte Kontinenz“,
das heißt Beinhaltung ihrer Innenseite und Außenseite, ihrer selbst und des Raums, den sie
durch ihre Operation hervorruft. Die (mindestens) Zwei-Seiten-Form (Luhmann 1993b:
199ff.) ist eine (mindestens) Vier-Werte-Form: (1) Innenseite, (2) Außenseite, (3) Operation
der Unterscheidung und (4) dadurch hervorgerufener Raum der Unterscheidung.
Mit der Spencer-Brown-Transformation betritt man den Raum der Differenz und der
Oszillation, aber auch des Gedächtnisses und der Reflexion. Elementar rekursiv wird ein im
Rahmen des Formkalküls symbolisierter und modellierter Sachverhalt durch seine
Bezeichnung in der Form einer Unterscheidung, die auf ihrer Innenseite nichts anderes ist als
die Bezeichnung ihrer Außenseite. Das cross ist ein Negativitätsoperator, der eine
Unterscheidung als Zusammenhang definiert, indem die Negation von der Innenseite einer
Unterscheidung auf ihre Außenseite verweist. Die Negation, mit der man es hier zu tun hat,
ist nicht antinomisch oder gar annihilierend zu denken, sondern generalisierend und reflexiv
(Spencer-Brown 1961/2021; Luhmann 1975). Spencer-Brown (1969/2008: 91) denkt die
Negation logisch als Implikation. Mit ihrer Hilfe spiegeln Innenseite und Außenseite einer
Unterscheidung, was auf der jeweils anderen Seite der Unterscheidung geschieht, inklusive
der jeweiligen Setzung der Unterscheidung und des Raums, den sie hervorruft.
Hegel wäre nicht überrascht. Für ihn ist der („absolute“) Unterschied „die Negativität,
welche die Reflexion in sich hat, das Nichts, das durch das identische Sprechen gesagt wird,
das wesentliche Moment der Identität selbst, die zugleich als Negativität ihrer selbst, sich
bestimmt und unterschieden vom Unterschied ist“ (Hegel 1813/1999: 33). Bestimmt sich
dieser Unterschied zum Gegensatz, so wird aus der Reflexion die bestimmte Reflexion, die
den Unterschied „vollendet“ (ebd.: 42). In Spencer-Browns Kalkül nimmt diese Vollendung
–9–
die Form einer Markierung auch der Innenseite der Unterscheidung an, die jedoch nichts
anderes ist als das Korrelat der bereits indizierten Außenseite.
III.
Die Oszillation zwischen den beiden Seiten der Differenz von Medium und Form ist eine
Oszillation im Medium des Sinns. Ebenso wie die Form kommt somit auch das Medium in
der Ausgangsform,
zweimal vor. Die Form steht auf der Innenseite der Differenz und beschreibt die Differenz
insgesamt. Und das Medium steht auf der Außenseite der Differenz und stellt den
Zusammenhang des Unterschiedenen her. Die kommunikative Differenz prozessiert die Form
des Unterschieds und das Medium des Unterscheidens. Die kommunikative Differenz ist
selbstähnlich und somit nach Belieben beziehungsweise je nach empirischen Anlässen und
theoretischem Zugriff skalierbar.
Auf der Seite der Form wird die Unterscheidung in sich selbst wiedereingeführt, so dass
auf dem Umweg über die Form über das Medium Auskunft gegeben werden kann. Das
Medium selbst erhält eine Form und wird so beobachtbar, wenn auch nur unter der
Voraussetzung eines neuen Mediums, zum Beispiel der Theorie, aber auch der Kunst, in dem
das geschieht. Wenn Heider unterstreicht, dass Medienvorgänge an sich „unwichtig“ und „für
sich selbst (…) meist ‚Nichts‘“ sind (Heider 1926/2005: 66), so gilt das aus der Perspektive
des Mediums, das darauf wartet, dass sich Dinge, Formen in es einprägen, aber nicht aus der
Perspektive der Form, die wissen will, in welchem Medium sie zustande kommt. Anders wäre
der Satz von Marshall McLuhan (1964/1994: 21f.), dass das Medium die „Botschaft“ ist und
dass diese Botschaft in der „Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es [das
Medium, db] der Situation des Menschen bringt“, besteht, nicht tragfähig, weil man gar nicht
wüsste, worauf die Frage nach dem Medium zielt.
Aber es bleibt dabei, dass nur die Oszillation das Medium erschließt. Das Medium, jenes
Umgebende (periechon) und Dazwischen (metaxy), von dem Aristoteles (1995: 419a; vgl.
Hagen 2008) sprach, ist nur indirekt erschließbar: Man sieht nicht das Licht, sondern den
Gegenstand, auf den es fällt; man hört nicht den Schall, sondern den Klang, den er trägt. Man
ist auf die soziologische Medientheorie angewiesen (Parsons 1980; Luhmann 1974, 1997:
– 10 –
untersuchen. Die Unterscheidung von a als Verweis auf b, c und so weiter bis n wird als
Verschachtelung von Unterscheidungen notiert:
Das ist in jedem Einzelfall empirisch zu untersuchen. Der unmarked state ist hier mit u
notiert. Er verweist auf den nicht zu erschöpfenden Überschuss an Verweisungen im Medium
des Sinns von a. So kann ein Kunstwerk a, um nur ein Beispiel zu geben, von einer Serie
weiterer Kunstwerke, b, derselben Künstlerin abhängig sein, die in ihrem Kunstwerk im
Kontext einer Fülle möglicher Objekte n nach einer Unterscheidung c sucht, die in ihrer
ungreifbaren Offenheit auf das Medium selbst verweist, es jedoch nur als Bestimmtes, eben
als c, zu fassen bekommt (Luhmann 1990a).
Da selbstreferentielle Systeme grundsätzlich als nichtlineare rekursive Funktionen zu
verstehen sind, deren Stabilitätsbedingungen als Eigenwerte notiert werden können (von
Foerster 1976/1993), ermöglicht es die Notation oszillierender Formen, diese Eigenwerte als
Katjekte, als sich selbst zugrunde liegende Subjekt/Objekt-Komplexe, zu verstehen und
anzuschreiben (Baecker 2021). Die Oszillation zwischen Form und Medium – oder auch: die
Oszillation der Form in ihrem Medium – erschließt mehrwertige Mannigfaltigkeiten
(Lehmann 2002), in denen sich strukturell und semantisch, das heißt in Unterscheidungen und
Bezeichnungen, Beobachtungen unterschiedlicher Art und Herkunft verdichten und
wechselseitig konditionieren. Solange sich der Eigenwert reproduziert, sind die involvierten
Unterscheidungen konstant, auch wenn die Bezeichnungen als Variablen zu verstehen sind,
die je nach Bewegungen im Sachverhalt, Verschiebungen des Moments und Perspektiven der
Beobachtung eine unterschiedliche Färbung annehmen können. Die Komplexität eines
Sachverhalts wird auf Bezeichnungen reduziert, bleibt jedoch in den Unterscheidungen
erhalten. Denn keine der Unterscheidungen kann auf eine andere reduziert werden. Sie
ergänzen, stützen und fördern sich gegenseitig.
– 12 –
IV.
Die Spencer-Brown-Transformation erschließt nicht nur die Oszillation einer Form in ihrem
Medium, sondern eröffnet auch einen Weg, die rekursiven Operationen eines Systems im
Zusammenhang einer Netzwerkstruktur der beteiligten Unterscheidungen von Beobachtern zu
untersuchen. Harrison C. White (1992, 2008) hat mit seinem Begriff der netdoms eine
entsprechende Netzwerktheorie vorgelegt, die beschreibt, wie heterogene Elemente aus
wechselseitigen Kontrollbeziehungen eine Identität gewinnen, die sich zum Profil eines
Netzwerks zwar nicht addiert, aber doch ergänzt und wechselseitig herausfordert und
unterstützt. Networks beschreiben einen Sinn, der sich in domains jeweils zu spezifischen
Bedeutungen verdichtet und in einer netdom zu einer Struktur gerinnt, die von einem System
produziert und reproduziert wird. Im Netzwerk ebenso wie im Sinn und seinem Überschuss
an Verweisungen ist eine Offenheit an weiteren Bezügen impliziert, die auch die Differenz
von System und Umwelt übergreift und erst in der Form eines konkreten Geltungs- oder
Definitionsbereichs die Struktur eines Systems ergibt. Im Eigenwert eines Systems oder in
der netdom eines Netzwerks überschneiden sich die, wenn man so will, statische Achse einer
Struktur und die dynamische Achse eines Systems, wobei Statik hier ganz im Sinne von
Auguste Comte (1839/1995: 99) als Bedingung der Gleichzeitigkeit von Verschiedenem, das
heißt der Ausdifferenzierung in einer Umwelt, und Dynamik als Produktion, Reproduktion
und Veränderung eines Systems im Zeitablauf verstanden werden.
Die Form oszilliert nicht nur im System, sondern auch im Netzwerk. Das Netzwerk wird
damit ebenso zum Produkt und zur Voraussetzung der Produktion und Reproduktion eines
Systems, wie es jedes Element, jede Operation dieses Systems ist. Humberto R. Maturana
(1981: 21f.) hatte das in seiner Definition der Autopoiesis eines Systems bereits entsprechend
vorgesehen:
We maintain that there are systems that are defined as unities as networks of
production of components that (1) recursively, through their interactions,
generate and realize the network that produces them, and (2) constitute, in the
space in which they exist, the boundaries of this network as components that
participate in the realization of the network. Such systems we have called
autopoietic systems, and the organization that defines them as unities in the
space of their components, the autopoietic organization.
Das Netzwerk besteht aus Beobachtern oder „Akteuren“ (Latour 1996, 2007)
unterschiedlicher Art (Praktiken, Konventionen, Artefakten, Technologien, Institutionen,
– 13 –
Geschichten, Lokalitäten, Personen…), die nicht nur ihre Unterscheidungen treffen, sondern
sich in diesen Unterscheidungen aufeinander beziehen und voneinander abgrenzen und so im
Medium einer Beobachtung zweiter Ordnung wiedererkennbare („profilierte“) Phänomene
generieren. Die Netzwerktheorie sortiert bestimmte Sachverhalte und die in jedem Einzelfall
unbestimmten (Latour 2007: 39ff.), weil medialen Verbindungen zwischen ihnen, während
die Systemtheorie Systemreferenzen unterscheidet und diese Sachverhalte zurückbezieht auf
organisch-leibliche, neuronale, mentale, soziale, technische und physisch-materielle
Dynamiken der beteiligten Systeme sowie ihre jeweils mehr oder minder fragile und
jedenfalls temporäre Synchronisation (Luhmann 1990b; Kassung/Macho 2013; Simon 2018;
Baecker 2019).
Das System hat Grenzen, das Netzwerk nicht. Die Unruhe des Systems in seiner
Reproduktion dieser Grenzen trifft auf ein switching zwischen den verschiedenen domains
eines Netzwerks (Fontdevila/Opazo/White 2011; Lehmann 2011), die jede Beobachtung
zwingen, sich entweder ihrer Anschlüsse laufend zu vergewissern oder den Anschluss zu
verlieren. Im Netzwerk werden die Strukturen eines Systems, das heißt die Eigenwerte seiner
Reproduktion, in eine innere und äußere Komplexität verlängert, die den Kalkül der Form als
einen „uncertainty calculus“ (White 1992: 17f.) zu interpretieren zwingt. Denn die offenen
Grenzen des Netzwerks verweisen auf eine Welt der Komplexität, in der laufend Elemente
neu auftreten, aber auch verloren werden sowie ihre Identität wechseln können. Umgekehrt
stellt sich damit die Frage, wie die Operationen eines Systems zu verstehen sind, die dieser
Komplexität und Ungewissheit Rechnung tragen können. Immerhin müssen Beobachter oder
Akteure mit Unterscheidungen und Bezeichnungen rechnen, in denen diese Komplexität und
Ungewissheit ihre eigene Stelle haben. Eben das leistet der mitlaufende unmarked state,
immer wieder neu gefasst als Medium einer möglichen Form.
Herbert A. Simon (1981: 131) hat vorgeschlagen, ein System, natürlich oder artifiziell, als
„thin interface“ zwischen einer inneren und einer äußeren Umwelt zu verstehen. Das nimmt
Bezug auf Walter B. Cannons (1929) Konzept der Homöostase, der Anpassung eines Systems
an einer äußere Umwelt durch seine Fähigkeit der Aufrechterhaltung einer inneren Umwelt,
lässt sich aber auch durch die strukturelle Mathematik des Formkalküls aufnehmen, die es
erlaubt, die Idee der Schnittstelle zur Vorstellung einer komplexen Grenzzone auszubauen
(Karafillidis 2009), in der Beobachter/Akteure laufend daran arbeiten, ihre Beobachtungen
aneinander zu orientieren und die innere Komplexität einer Varianz ihrer Unterscheidungen
im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der äußeren Komplexität einer Varianz von
Gelegenheiten sowohl zu reduzieren als auch zu erhalten – zu reduzieren für die eigenen
Anschlüsse und zu erhalten für die Sicherstellung der Attraktivität des eigenen Profils. An der
– 14 –
Schnittstelle treffen diskrete Unterscheidungen auf kontinuierliche Welten oder auch digitale
Operationen auf analoge Widerstände (Watzlawick/Beavin/Jackson 1969: 61ff.; Wilden
1972: 168ff.). Im Formkalkül kann symbolisiert und modelliert werden, wie jede Form im
Medium ihrer eigenen Möglichkeit ein Außen von einem Innen unterscheidet, die beide Teil
desselben Raums, wenn auch unterschiedlich tief gestaffelter Unterscheidungen sind. Jacques
Lacan (1966: 320f.; vgl. Ragland 2004; Kunze 2018) hat sich mit dem Verweis auf die Torus-
Struktur von Lebewesen, innerhalb derer innere und äußere Umwelt Teil derselben Region
sind, eine ähnliche Topologie zur Beschreibung der Psyche vorgestellt.
Für die soziologische Theorie bedeutet dieses Zusammenspiel von instabiler Form und
stabilem Medium, dass sie jede Kommunikation, jedes Handeln und Erleben als eine
Oszillation zwischen Wissen und Nichtwissen betrachten kann, die an Beobachtungen zweiter
Ordnung einen Halt findet, der sich jederzeit als trügerisch erweisen kann. Das Gespräch
unter Anwesenden, die Entscheidung einer Organisation, die Inanspruchnahme von Macht
oder Geld, Liebe oder Wahrheit, Glaube oder Kunst oszilliert zwischen der jeweils gewählten
Möglichkeit und ihren greifbaren und ungreifbaren Alternativen. Der Wiederaufruf von
bereits getroffenen Unterscheidungen konstituiert ein Gedächtnis, das als Modulation
weiterer Anschlüsse zur Verfügung steht und vernachlässigt werden kann. Jederzeit
konfrontiert die Aufhebung einer Unterscheidung mit einem unmarked state, in dem nichts
möglich ist, solange nicht eine neue Unterscheidung getroffen wird. Nicht zu unterschätzen
ist daher die ideologische Operation, in jeder Kommunikation einen „empty signifier“
(Laclau 1994) vorzusehen, der auf ambivalente Weise eine Grenze des Sagbaren markiert, die
verstanden zu haben und respektieren zu wollen mehr Zugehörigkeit signalisiert als jeder
explizite Wert. Nicht zu unterschätzen ist außerdem, dass derselbe empty signifier, einmal
durchschaut, eine Exit-Option bereitstellt, einen Rejektionswert gegenüber den getroffenen
Unterscheidungen (Günther 1976: 287ff.), die ins Freie führt, wo neue Optionen warten. Ein
solcher Nullwert der Kommunikation (wie gesagt, Lévi-Strauss 1978: 39f.) oszilliert
seinerseits: zwischen einem Bann, bei den einmal offerierten Unterscheidungen zu bleiben,
einerseits und der Suche nach alternativen, „utopischen“ sozialen Formen andererseits.
V.
eine Kontinuität schafft, indem sie als diskrete und insofern digitale Operation eine Form in
ein Medium prägt und diese Form als Oszillation prozessiert. Das cross ist Leibniz‘ Falte,
sowohl materialisierte Operation als auch operative Materie (Friedman/Schäffner 2016: 10;
Deleuze 2000). Das cross definiert eine „Lage“ als eine „Beziehung des Zugleichseins“
(Leibniz 1715/1992: 367f.), die beides zugleich ist, eine Unterscheidung und eine Beziehung.
Wie man weiß, arbeitete Leibniz an einem Kalkül, der von einem algebraischen Kalkül
unterschieden wäre und als Theorie der Ähnlichkeiten oder Formen weiter reichen würde als
die Mathematik (Leibniz 1693/1996: 71). Er wäre aus der Metaphysik abzuleiten, weil er es
mit Unterscheidungen im Ununterscheidbaren zu tun hätte, die aus dem Verhältnis des
Unterschiedenen abzuleiten wären (ebd.). So mysteriös das klingt, so genau trifft diese
Beschreibung Spencer-Browns Formkalkül, wenn man davon ausgeht, dass jedes cross die
Bezeichnung-und-Unterscheidung erst hervorbringt, die es trifft, und damit für jede seiner
Operationen die Frage aufwirft, was die beiden Seiten der Unterscheidung, die es trennt, in
einem Raum miteinander zu tun haben, der durch die Unterscheidung erst hervorgebracht
wird. Mit der Oszillation trägt das cross diesem Mysterium Rechnung.
Aber es bleibt nicht bei der Metaphysik. Leibniz‘ Falte ist ebenso wie Spencer-Browns
Form der Unterscheidung eine Bewegung, nämlich eine Operation, die eine Lage definiert.
Diese Lage kombiniert Abgeschlossenheit mit Offenheit. Sie ist geometrisch kein Kreis (auch
wenn Spencer-Brown 1969/2008: Kap. 12, zur Veranschaulichung mit Kreisen arbeitet) und
kein Rechteck, sondern ein Winkel, der den Raum aufnimmt, von dem er sich abhebt. Es geht
um eine digitale Operation in einem Material, die neues Material schafft. Weitere
Operationen können anschließen. Allerdings ist in diese Operation eine
Ebenenunterscheidung eingebaut. Während die Operation des cross mit einer Bezeichnung
rechnet, wird die Unterscheidung, die sie trifft, beobachtet. Sie wird als Beobachtung
beobachtet. Erst so gewinnt sie im analogen Material ihren diskreten, digitalen Status. Das
Geheimnis der Bezeichnung-und-Unterscheidung, das heißt der einen Operation, die aus zwei
Elementen besteht, wie sie Spencer-Brown im ersten Kapitel der Laws of Form beschreibt,
kann daher erst im elften Kapitel gelüftet werden. Es besteht in Operationen zweiter und
höherer Ordnung, die die Lage, die sie rekursiv schaffen, zugleich reflexiv beobachten. Der
Bruch, der die Oszillation zwischen Form und Medium freisetzt, ist das Ergebnis der
Einführung eines Beobachters beziehungsweise einer Beobachtung. Die Beobachtung
reflektiert sich als Prägung einer Form in einem Medium, dem sie sich selbst verdankt.
Bekannt ist dieser Sachverhalt am Beispiel der Sprache. Die Sprache, schreibt Lévi-
Strauss (1978: 38), „hat nur auf einen Schlag entstehen können.“ Ihre Referenzstruktur
enthält eine Komplikation, eben jene der Selbstbeobachtung, die jedes Symbol zwischen
– 16 –
Willke 2005), das die Schwächen irreflexiver Technik zu kompensieren vermag. Eine
Kommunikation, die die oszillierende Differenz von Form und Medium prozessiert,
konstituiert eine Gesellschaft, die zwar alle ihre Operationen beobachtet, aber zunächst
einmal operieren muss, um sich beobachten zu können.
VI.
Mit der Einführung der Idee einer Spencer-Brown-Transformation ist es möglich, mehrere
Ziele zugleich zu verfolgen. Erstens kommt man der Idee, dass der menschlichen
Kommunikation „ein noch nicht interpretierter pragmatischer Kalkül“
(Watzlawick/Beavin/Jackson 1969: 43f.) zugrunde liegt, ein Stück näher. Im Rahmen einer
strukturellen Mathematik kann die Idee weiterverfolgt werden, dass die auffällige
Rekursivität aller Kommunikation auf eine Gesetzlichkeit verweist, die durch Axiome des
Typs der beiden laws of form, des law of calling und des law of crossing, unter Einschluss der
Möglichkeit eines re-entry der Unterscheidung in die Form ihrer Unterscheidung abgebildet
werden kann. Die Bildung von Identitäten, das heißt die Konstitution eines Gedächtnisses der
Kommunikation, ist ohne die mitlaufende Möglichkeit der Oszillation nicht zu haben.
Identität beruht auf der wie immer prekären und variierbaren Setzung einer Differenz.
Zweitens ist es möglich, Luhmanns Hypothese, dass Kommunikation mur möglich ist,
wenn und weil sie die Differenz von Form und medialem Substrat nicht nur beiläufig
mitkommuniziert, sondern voraussetzt, aufruft und instantiiert, als Vorschlag eines konkreten
Kalküls der Kommunikation zu prüfen, in eine bestimmte soziologische Tradition (nicht
zuletzt Simmel 1918/1994) einzubetten und weiterzuverfolgen (Lehmann 2018; Karafillidis
2010). Eine solche Möglichkeit ist umso attraktiver, als Standardformen sozialer
Differenzierung (Stämme, Schichten, Imperien, Funktionssysteme) in einer
„Netzwerkgesellschaft“ (Castells 1996) unzuverlässig (was nicht heißt: weniger real) werden
und man einen zugleich abstrakteren und konkreteren Ausgangspunkt braucht, um die
rekurrente Einheit der aktuellen Gesellschaft, ihre Fähigkeit zur Bildung von Eigenwerten, zu
untersuchen.
Und drittens und damit zusammenhängend gewinnt man einen Ausgangspunkt für eine
allgemeine Theorie der Digitalisierung, die die Differenz von Medium und Form, verstanden
als Verhältnis analoger Kontinuität und diskreter Unterscheidung, als Voraussetzung einer
Bildung sozialer Systeme jeglicher Art diskutiert und für eine Untersuchung des Sonderfalls
einer technischen Digitalisierung im Medium der Elektronik nutzt. Das ist umso interessanter,
als die alten Vorstellungen eines Turing-Tests für eine bewusstseinsanaloge Intelligenz durch
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neuere Vorstellungen eines Durkheim-Tests für eine soziale Intelligenz ersetzt worden sind
(Star 1989: 40f.; Gießmann 2015), der es erlaubt, auf den beiden Seiten der Differenz von
Gesellschaft und Maschine jeweils unterschiedliche Medien der Digitalisierung, etwa
symbolische, statistische und hermeneutische, und unterschiedliche Möglichkeiten der
Programmierung und Institutionalisierung zu untersuchen.
Die Bezugnahme der soziologischen Theorie auf eine strukturelle Mathematik des Typs
von Spencer-Browns Formkalkül bleibt mit all dem gewöhnungsbedürftig. Vielleicht hilft es,
deutlicher als in bisherigen Traditionen der mathematischen Soziologie (Rapoport 1980;
Fararo 1973; Coleman 1964) zwischen Arithmetik, Algebra und Analysis zu unterscheiden
und von einem Kalkül immer nur dann zu sprechen, wenn erstens die dritte Ebene der
Analysis und zweitens die Übergänge zwischen diesen Ebenen gemeint sind. Dann könnte
man die Ebenen der Zahl, der Funktion und der Rekursion unterscheiden als den eigentlichen
Gegenstand soziologischer Theorie jene Typen von Rekursion (auch der Zahl und auch der
Funktion) bestimmen, der geeignet ist, Kommunikation in der Kommunikation zu
reflektieren, also das zu tun, was wir hier tun.
Es schadet nicht, dass den drei mathematischen Ebenen im Formkalkül von Spencer-
Brown eine primitive Ebene vorausgeht, auf der allererst markiert und unterschieden wird, in
welchem Raum man sich bewegt. Dann kann man nämlich auch mit einer anderen
Markierung und Unterscheidung starten und schauen, auf welche Axiome man sich damit
einlässt.
Dank: Für Hinweise zu einer früheren Fassung des Texts und zum Verhältnis von Arithmetik,
Algebra und Kalkül danke ich Florian Grote, Franz Hoegl, Fritz B. Simon und Walter
Tydecks.
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