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Arcadia 2016 0007 - v1
Arcadia 2016 0007 - v1
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Karin Neuburger
Uri Zvi Grinbergs Auseinandersetzung mit
Rainer Maria Rilkes Cornet
DOI 10.1515/arcadia-2016-0007
Abstract: First published in 1899, the Cornet played a role in Rilke’s endeavor to
re-introduce subjectivity into poetry. In the Cornet, Rilke conflated the romantic
paradigm of lyrical speech with Christology. He thereby reinforced the Cornet’s
potential for identificatory reading and the inwardness of the subjectivity expres-
sed in lyrical speech (Hegel). Concomitantly, Rilke enhanced a dimension of
cultural policy inherent in the lyrical subject and manifest in Fichte’s account of
modern subjectivity.
This reading of the Cornet is evidenced by a comparison of Rilke’s prose poem
with two works by the young Galician poet Uri Zvi Greenberg (1897–1981), later
one of the most important representatives of Modern Hebrew verse. Greenberg’s
writing was informed by the romantic paradigm of lyrical speech from the start.
This paradigm proved problematic in three main aspects: 1. Promising self-fulfill-
ment, it celebrated the void left behind by a self which failed to come into being.
2. Confining itself to the expression of its speaker’s inner world, it repressed its
political impact. 3. Its strong tendency to aestheticism inhibited access to political
reality through the artistic agency of writing poetry. Greenberg discerned all of
these problems in Rilke’s Cornet, while its dimension of cultural policy suggested
to him an alternative to obviating them. Using the Cornet as a negative foil for his
poetical endeavors, he engaged in writing Ergetz oyif Felder (Somewhere in the
Fields, 1915) and Krig oyif der Erd (War On Earth, 1919/1923). Viewing the develop-
ment of this extraordinary lyrical voice in Yiddish also illuminates our under-
standing of Rilke’s Cornet and its resoundingly successful reception.
Keywords: Rilke, Uri Zvi Grinberg, romantic paradigm of lyrical speech, sub-
jectivity, Schlegel, Hegel, Fichte, Christology, politics
Kontaktperson: Karin Neuburger, The Van Leer Jerusalem Institute, 43 Jabotinsky Street,
Jerusalem 9214116, Israel, E ˗ Mail: drknt2016@gmail.com
2 Karin Neuburger
Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke zeichnet die Ereignisse im
Leben eines achtzehnjährigen Fahnenträgers nach, kurz bevor es in einer ersten
Liebesnacht und gleich darauf im Tod auf dem Schlachtfeld seinen Höhepunkt
erreicht. Das zu den politisch anfechtbarsten Werken Rilkes zählende Prosage-
dicht entstand im Herbst 1899, wurde aber im Oktober 1904 und dann nochmals
im Frühsommer 1906 überarbeitet. Die dritte und letzte Fassung des Werkes
diente als Vorlage für die Ausgabe des Inselverlags im Jahr 1912, in deren Rahmen
der Cornet zu einem der meist verlegten deutschsprachigen Literaturprodukte
avancierte (Simon 71).1
In den ersten Jahren des Großen Krieges, in denen der Cornet seinen Sieges-
zug weit über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes antrat, griff Uri Zvi
Grinberg dieses Werk Rilkes auf. 1897 bei Lemberg geboren und in der von
verschiedenen Bevölkerungsgruppen bewohnten Stadt aufgewachsen wird sich
Grinberg in den frühen 1920er Jahren nach Zwischenstationen in Warschau und
Berlin schließlich in Palästina/Eretz Israel niederlassen, wo er als einer der
bedeutendsten und seiner politischen Ausrichtung2 wegen umstrittensten Dichter
der neuen hebräischen Literatur hervortreten wird.3 Zu Beginn des zweiten Jahr-
zehnts des 20. Jahrhunderts hatte Grinberg eine Erzählung geschrieben und erste
Gedichte in jiddischer und dann vor allem hebräischer Sprache publiziert, in
denen er sich ähnlich wie Rilke in seinen ersten Veröffentlichungen als Dichter zu
positionieren suchte. Als der Krieg ausbrach, arbeitete Grinberg, der im Sommer
1915 von der österreichisch-ungarischen Regierung zum Militärdienst eingezogen
wurde, an seinem ersten Gedichtband, Ergetz oyif Felder (Irgendwo auf Feldern).
1 Die drei Fassungen des im Folgenden mit dem Kürzel Cornet bezeichneten Werkes finden sich
in Simon (7–74).
2 Grinberg schloss sich der revisionistischen Bewegung um Ze’ev Jabotinski an und redete einer
aggressiven, messianisch unterlegten Politik gegen die arabische Bevölkerung das Wort.
3 Ein wichtiger Aspekt der Gegenüberstellung von Grinberg und Rilke, den ich hier allerdings nur
anreißen kann, besteht darin, dass die Komplexität des Verhältnisses von Dichtung und Politik
über die üblichen Etikettierungen hinaus sichtbar gemacht wird. Während Rilke in verschiedenen
Zusammenhängen als kosmopolitischer Dichter hervortritt – in Prag geboren lebte er in verschie-
denen Ländern Europas, unterhielt enge Beziehungen zu Intellektuellen und Künstlern in Russ-
land, Skandinavien, England, Italien, Österreich, Deutschland, der Schweiz, und schrieb Dich-
tung in verschiedenen europäischen Sprachen, aus denen er auch übersetzte – gilt Grinberg als
nationalistisch, wenn nicht faschistisch orientierter Poet. In Bezug auf den Cornet allerdings
erscheinen beide beinahe als ihr Gegenteil: Rilke als nationalistisch-romantischer Kriegshetzer
und Grinberg als Repräsentant einer Minderheit, der eine pazifistisch ausgerichtete Position
vertritt. Das In- und Gegeneinander der Werke dieser beiden Dichter scheint ein über diese
Etikettierung hinausgehendes, tieferes Verständnis der Poesie und ihrer Verflechtungen in politi-
schen und gesellschaftlichen Zusammenhängen herauszufordern.
Uri Zvi Grinbergs Auseinandersetzung mit Rainer Maria Rilkes Cornet 3
4 In seinem 1898 gehaltenen Vortrag „Moderne Lyrik“ hatte Rilke diese Tendenzen für die
deutschsprachige Dichtung zusammenfassend vorgestellt (siehe vor allem Rilke 360, 370).
5 Ya’akov Abramowitsch („Mendele Moicher Sforim“, 1836–1917); Y. L. Peretz (1852–1915); Sha-
lom Rabinowitsch („Sholem Aleichem“, 1859–1916).
4 Karin Neuburger
keit der Lebenswelt, die in dieser Lyrik vorgestellt wurde, einherging. Beträchtlich
gesteigert wurde sie durch einen Ästhetizismus, der selbst noch aus dem romanti-
schen Paradigma lyrischen Sprechens herzuleiten ist (Wellbery 13) und gegen den
anzukämpfen Grinberg gewillt war. Dieser Ästhetizismus bestimmte Grinbergs
eigene dichterische Arbeit und war mit seinem Selbstverständnis als politischem
Dichter nicht zu vereinbaren.6
Von politischer Bedeutung war in dieser Konstellation nun allein schon Grin-
bergs Bewegung weg vom Hebräischen und hin zum Jiddischen, dem er bis kurz
vor seiner Einwanderung nach Palästina/Eretz Israel im Dezember 1923 als Spra-
che seines Schaffens deutlichen Vorzug gab. Einher ging mit dieser Bewegung zu
der Sprache, die aus der Geschichte jüdischen Lebens in Europa hervorging, die
bewusste Öffnung Grinbergs vor allem der deutschsprachigen Literatur gegen-
über und die Auseinandersetzung mit seiner Position als Jude und damit als
Angehöriger einer Minderheit mit dem von der Mehrheit beherrschten Diskurs.
Rilkes Cornet bot eine willkommene Gelegenheit, diese Bewegung zu forcieren
und ihrem politischen Impetus Nachdruck zu verleihen.
Rilkes Prosagedicht führte die Problematik lyrischen Sprechens, für die Grin-
berg schon in der Auseinandersetzung mit Bialiks Dichtung Lösungen suchte,
beinahe exemplarisch vor. Der Cornet setzte den fatalen Mechanismus ins Werk,
der sich aus dem Paradox ergab, dass die höchste Erfüllung mit der Preisgabe des
Lebens erkauft wurde: das Werk erzählt den Tod des Cornets und hat in diesem
Tod seinen Grund. Indem es aber die Gestalt des Cornets mit der Gestalt Christi in
engste Verbindung brachte, war es weit mehr als eine programmatische Ausfor-
mung7 des romantischen Paradigmas lyrischen Sprechens und der sich in diesem
Sprechen formierenden Subjektivität. Rilke transponierte die Botschaft vom Sohn
Gottes, der sich aus Liebe der Menschheit opferte und sie so erlöste, mit dem
Cornet in eine Erzählung, in der sich einer in Liebe verging und bereit war, sich
auf dem Schlachtfeld für die christliche Welt zu opfern. Aufgrund der Verqui-
ckung von romantisch geprägter Subjektivität und christologischem Narrativ
erreichte der Cornet einen kulturpolitischen Status, dessen identifikatorische
Wirksamkeit nach „innen“, d. h. in die Mehrheitsgesellschaft hinein, eingehend
bezeugt ist (s. Wagner-Engelhaaf, Brunotte, Mandić und Theel). Grinberg dagegen
nahm wahr, dass der Ästhetizismus des Cornet nicht nur deswegen politisch
brisant war, weil er den Tod des Soldaten verdeckte, sondern auch, weil er Selbst-
6 Eine ausführliche Darstellung des oben skizzierten Kontexts, in dem Grinberg zu schreiben
begann, findet sich mit den entsprechenden Hinweisen auch auf wichtige wissenschaftliche
Arbeiten in Neuburger (2012).
7 Thomas Nolden hat auf den poetologischen Aspekt des Cornet deutlich hingewiesen, wobei er
die Beziehung des Werkes zum zeitgenössischen Jugendstil hervorhob.
Uri Zvi Grinbergs Auseinandersetzung mit Rainer Maria Rilkes Cornet 5
phenquelle [und] findet in der Liebe seinen Tod. […] [Es] ergießt sich in sein
Spiegelbild, vereinigt sich mit seinem Du und stirbt.“ (2) Der Liebestod des Ich ist
8 Zum besseren Verständnis sei an dieser Stelle das in Sonettform verfasste Gedicht Schlegels
zitiert: „Narcissus / O Nymphe! sprach Narcissus zu der Quelle, / Du Spiegel! Bett des fern und
nahen Lieben! / Du Tafel, wo sich Schönheit eingeschrieben, / Und meiner Wünsch’ unüber-
stiegne Schwelle! // Nicht thöricht mehr umarmend deine Welle / Will ich die zarte Mahlerey dir
trüben, / Laß mich in mich sie fassen, bey dir drüben, / Indem ich weinend dich gelinde
schwelle. // Doch wenn ich nun mich ganz in dich ergossen: / Wer weiß, ob ich dieß Bild in mir
nicht misse, / Und wieder mich aus mir hinweg muß sehnen? // Er sagt’ es, und sein Leben war
entflossen, / Doch neigt, nicht mehr Narcissus, die Narcisse / Den schwanken Stiel noch stets zum
Bach der Thränen.“ (Schlegel 186)
6 Karin Neuburger
ein Tod der Sehnsucht, der neues Verlangen erwachen lässt. In seiner unend-
lichen Wiederholbarkeit ist er Ausgangspunkt der lyrischen Rede: „[H]inter dem
Spiegel, sich wieder aus sich hinwegsehnend, erwacht der Dichter, der nun über
Narziss in der dritten Person spricht“ (2). Aus der Distanz zum „ewigen Zirkel“ des
Liebestodes ist es dem Dichter möglich, „den Stiel der Narzisse in den ewigen
Bach der Tränen der Sehnsucht [zu] tauch[en] und ein Gedicht [zu] verfass[en],
das das Sterben des sehnenden Ich gestaltet“ (2).
Die Einheit und damit auch Geschlossenheit der Lebenswelt dieses Ich wurde
von Hegel in seiner Ästhetik zum unterscheidenden Merkmal der Lyrik im Ver-
hältnis zum Epos erklärt (443–444).9 Im lyrischen Kunstwerk, so Hegel, spreche
sich eine „in sich begrenzte […] subjektive […] Totalität“ aus, die „die vorhandene
Welt in sich hineinzieht, dieselbe in diesem inneren Element durchlebt und erst,
nachdem sie zu etwas selber Innerlichem geworden ist, in Worte faßt und aus-
spricht“ (444). Die Frage nach dem Verhältnis von Innen und Außen stellt sich
Hegel nicht. Dessen Problematik kommt in seinen Ausführungen jedoch dort zum
Vorschein, wo er hartnäckig auf klar bestimmbaren Grenzlinien besteht und
zugleich individuelles Inneres mit universalem Gehalt kurzschließt.10 In Schlegels
Gedicht ergibt sie sich aus der Spiegelfunktion der Nymphenquelle, in der das Ich
sich selbst, darüber hinaus aber kaum eine Außenwelt wahrnimmt.
Um die Jahrhundertwende, als „symbolistische Ästhetik“ und „Weltzuwen-
dung“ sich gegenseitig auszuschließen schienen und jeglicher Versuch einer
Anpassung symbolistischer Poetik an eine anti-dekadente Weltsicht die Gefahr in
sich barg, auf realistische Schreibweisen zurückgeworfen zu werden (Engel 177),
war die Problematik des Verhältnisses zwischen Außen- und Innenwelt äußerst
virulent.11 Sie kommt in der extremen Ausformung von Subjektivität zum Aus-
9 Hegel schreibt wenige Abschnitte vor dem obigen Zitat in Bezug auf die Subjektivität, die sich
im „lyrischen Kunstwerk“, ausspricht: „[W]ill sie sich aber als wahrhaft in sich beschlossenes
Subjekt geltend machen, so liegt in ihr sogleich das Prinzip der Besonderung und Vereinzelung.“
(443)
10 So stellt Hegel zum einen fest, „[I]n der Lyrik ist es eben nicht die objektive Gesamtheit und
individuelle Handlung, sondern das Subjekt als Subjekt, was die Form und den Inhalt abgibt“, um
wenige Sätze später auszuführen, „[d]ie echte Lyrik hat, wie jede wahre Poesie, den wahren
Gehalt der menschlichen Brust auszusprechen“ (431). Zum problematischen Verhältnis von
Individualität und Universalität im modernen lyrischen Subjekt vgl. North (2).
11 Vergleiche zu dieser Problematik Rilkes Ausführungen in seinem am 5. März 1898 in Prag
gehaltenen Vortrag „Moderne Lyrik“ (Rilke 360–394, hier 370). Die Frage der Wahrnehmung wie
auch der Repräsentation und des darin gegebenen Verhältnisses von Innen und Außen wird in
der Tat auf unterschiedlichsten kulturellen Gebieten in der westlichen Welt um die Jahrhundert-
wende verhandelt. Es mag genügen, in diesem Zusammenhang auf die Entwicklungen in Psycho-
Uri Zvi Grinbergs Auseinandersetzung mit Rainer Maria Rilkes Cornet 7
druck, wie sie der Cornet vorführt,12 wobei auch die Problematik des Verhältnisses
von Ich und Anderem deutlich hervortritt.
Aufgrund von Fichtes erkenntnistheoretischer Darstellung eines Ich, das sich
als solches allererst setzt, lässt sich die Position des Anderen in diesem Zusam-
menhang bestimmen.13 Der zentrale Begriff in Fichtes Denken ist Selbstbewusst-
sein. Er bezeichnet die „Thathandlung“, die dem Bewusstsein zugrunde liegt.
Durch sie konstituiert das Ich seine Identität mit sich selbst und schafft somit die
Voraussetzung für jegliche Form des Denkens. Die allem Bewusstsein zugrunde-
liegende Identität des Ich „lässt sich […] so ausdrücken: Ich = Ich; Ich bin Ich“
(94). Diese Gleichung bezeichnet eine Bewegung im Ich, eine Handlung. Zunächst
muss das Ich sich selbst zum Objekt seiner Anschauung machen. Es muss sich ein
Anderes entgegensetzen (Ich ≠ Ich). Will es sich seiner Identität mit sich selbst
wieder vergewissern, kann das Ich sich jedoch nicht damit begnügen, das, was
auseinandergenommen wurde, einfach zusammenzufügen. Vielmehr muss es an
seinen Ursprung, d. h. dorthin zurückkehren, wo seine Identität mit sich selbst
immer schon gegeben war. Dieser Ursprung entzieht sich ihm jedoch in dem
Moment, in dem es ihn erreicht. In dem Moment, in dem das Ich sich über sein
Anderes hinwegsetzt und sich selbst gleich wird, verliert es sein Bewusstsein von
sich selbst. Es erlischt. Um es wiederzubeleben, braucht das Ich wiederum jenes
Andere, das ihm im Prozess der Selbstsetzung zum Hindernis gerät: Nur wenn das
Ich sein Anderes überwindet, ja geradezu eliminiert, kann es zu sich selbst, zu
seinem Ursprung, finden, um ihn sofort wieder zu verlieren.
Als Dichter im Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts war Grinberg von
Anbeginn auf den Diskurs lyrischer Innerlichkeit eingeschworen. Dessen politi-
sche Dimension, die an die von Fichte bezeichnete Funktion des Anderen gekop-
pelt ist, erkannte er als Dichter in der Sprache einer Minderheit sehr früh. Davon
zeugt eine Erzählung, die Grinberg vierzehn- oder fünfzehnjährig verfasst hatte
und auf der seine ersten Gedichte aufbauten. „Zikhroyines (Oyiz dem Wander-
Album)“ (Erinnerungen [Aus dem Wander-Album]) zeichnet die Entwicklung
eines in einem traditionellen Schtetl aufgewachsenen Jugendlichen zum Poeten
nach, der – der Titel der Erzählung deutet dies schon an – auch ein Wanderer ist.
Bei dem Versuch, ein unabhängiges Ich zu etablieren, sieht sich der Erzähler
unweigerlich jener Dynamik ausgesetzt, die eben aufgezeigt wurde. Immer wenn
es ihm gelingt, zwischen „Ich“, d. h. traditionellem Judentum, und Anderem, d. h.
europäischer Kultur, zu vermitteln, verliert er sich und muss sich erneut auf den
Weg machen, sein Ich zu suchen (Neuburger 2011).
Auch Rilke brachte sein Dichtertum von Anfang an mit dem Topos des
Wanderers in Verbindung. Wenige Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag am
4. Dezember 1893 verfasste er einen Aufsatz zu Goethes Gedicht „Der Wanderer“
(Rilke 283–287), der auf die Identifikation des Schreibers mit der Gestalt des
„arme[n], – rastlose[n] Wanderer[s]“ (287) hinausläuft, des Dichters eben, der von
der „Unruhe, die durch das Streben nach Wissen in die Seele gepflanzt wird“
(286), geplagt und zugleich durch sie geadelt ist. Für den jungen Rilke wurde der
persönliche Verzicht des Dichter-Wanderers auf Heim und Familie durch seinen
Dienst an der Menschheit („Streben nach Wissen“, 286) aufgewogen. Rilkes Inter-
pretation von Goethes Gedicht bewegt sich demnach in den von Hegel vorgezeich-
neten Bahnen. Sie vollzieht den Sprung vom Besonderen zum Allgemeinen, durch
den Leben und Tod des Ich universale Bedeutung erlangen. Ähnlich verhält es
sich im Cornet. Wie schon in Schlegels Narcissus14 ist in Rilkes Prosagedicht der
Andere vor allem weiblich konnotiert, wodurch das Verhältnis zwischen Ich und
dem Anderen in geschlechtlichen und damit universalen Zusammenhang gestellt
ist. Zugleich aber werden Ich und Anderer im Cornet deutlich mit Religion
(Christentum/Islam) und Nationalität (deutsch-europäisch/türkisch-arabisch) in
Verbindung gebracht. Angezeigt ist damit die Übertragbarkeit individueller Iden-
titäten auf eine kollektive Ebene, wie sie auch in Grinbergs erster Erzählung zur
Sprache kommt. Anders aber als Rilke war Grinberg aufgrund seiner Minderhei-
tenposition und mehr noch angesichts der sich zuspitzenden politischen Lage der
Juden in Europa15 nicht nur für die prekäre Situation des Sprecher-Ich, sondern
auch des zu überwindenden Anderen sensibilisiert. Für Grinberg war das Ver-
mögen, den „ewigen Zirkel“, in den Ich und Anderer gebannt sind, zu durch-
brechen, gleichbedeutend mit dem Vermögen, sich als Jude in Europa eine
Existenz zu sichern. Noch existenziellere Bedeutung gewann dies Unternehmen,
als Grinberg aufgerufen war, als Soldat für jene Kultur zu kämpfen und sein
Leben hinzugeben, die sich über ihn als Anderen hinwegsetzte.
14 Susanne Asche geht in ihrer Studie diesem Aspekt unter Berücksichtigung des Geschlechter-
verhältnisses nach.
15 Die Auflösung der traditionellen Lebenswelt des osteuropäischen Judentums, des Schtetls,
und der wieder auflebende Antisemitismus im Osten wie im Westen Europas (man denke an die
Pogrome im Süden des russischen Reiches oder an die Dreyfuss-Affäre) sind in diesem Zusam-
menhang zu nennen.
Uri Zvi Grinbergs Auseinandersetzung mit Rainer Maria Rilkes Cornet 9
Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke setzt ein mit einem
vermeintlichen Zitat aus – wie es in der ersten Fassung heißt – „alten Regesten“
(9), denen zufolge der jüngste von drei Söhnen der Familie Rilke im Jahre 1664 im
Alter von achtzehn Jahren in Ungarn im Krieg gegen die Türken gefallen sei. Eine
der Aufgaben dieses Vorspanns besteht darin, den Sprecher in Distanz zum
Geschehen zu setzen, das im Folgenden zur Darstellung gebracht werden wird. Es
wird historisiert. Der Tod des Cornets Rilke, von dem sich nun in dritter Person
sprechen lässt, wird zeitlich und räumlich in weite Ferne gerückt. Damit wird eine
der Voraussetzungen für dessen Ästhetisierung geschaffen, gegen die sich Grin-
berg zu wenden suchte, indem er seinen Sprecher in die Gegenwart des Ersten
Weltkrieges versetzte (19), auf Schlachtfeldern umhergehen und dort mit den
Toten sprechen ließ (19–20). Auch die Frauengestalt, die im zweiten Teil von
Ergetz zur Sprache kommt und den Tod ihres Geliebten beweint (23–26), stellt sich
von vonherein dem Verlust, der im Cornet im Grunde an keiner Stelle als solcher
zugegeben wird.
Grinberg konfrontiert seine Sprecher mit den Toten und verdrängt so jenes
sehnsuchtsvolle Verlangen nach Erfüllung im Anderen aus seinem Werk, das die
Poetik des Cornet von Anfang an bestimmt und die Engführung von Kriegs- und
Liebesgeschehen motiviert. Die Erzählung beginnt mit der Beschreibung des
Weges zum Kriegsschauplatz in Ungarn, den die Reitertruppe, zu der Christoph
Rilke gehört, zurücklegt, wobei innere und äußere Landschaft analog gesetzt
werden. Die Umgebung spiegelt den Seelenzustand der Reiter wider. Ihr Mut,
heißt es, sei „so müde geworden und die Sehnsucht so groß“ (9/25/43), wobei die
Vergleichspartikel „so“ auf die anschließende Landschaftsbeschreibung ver-
weist. Sie zeichnet sich durch Flachheit aus: „Es gibt keine Berge mehr, kaum
einen Baum. Nichts wagt aufzustehen.“ (9/25/43)16 – so die Beschreibung, in der
die Flachheit der Landschaft nicht nur als Ausdruck von Mutlosigkeit und Er-
schöpfung, sondern auch von mangelndem Eros bedeutet wird. Der „Andere“ der
Soldaten, das weibliche Gegenüber des im Text mit „wir“ bezeichneten kollekti-
ven Subjekts, ist in der Heimat in beinahe unüberwindbarer Distanz zurück-
geblieben. „Die Sonne ist schwer, wie bei uns tief im Sommer. Aber wir haben im
16 Die verschiedenen Seitenzahlen verweisen auf die drei verschiedenen Fassungen des Werks,
die in dem von Walter Simon herausgegebenen Band in der Folge ihrer Veröffentlichung abge-
druckt sind. Wenn nur eine Seitenzahl vermerkt ist, so verweise ich allein auf die dritte Fassung.
10 Karin Neuburger
Sommer Abschied genommen. Die Kleider der Frauen leuchteten lang aus dem
Grün. Und nun reiten wir lang. Es muß also Herbst sein. Wenigstens dort, wo
traurige Frauen von uns wissen.“ (9/25/43)
Schon in den ersten Zeilen der Erzählung werden Krieg und Liebe – sozusa-
gen ex negativo – miteinander in Relation gestellt (Brunotte 52). Doch Rilke
beließ es nicht dabei. Eine Vielzahl der Änderungen, die er bei der Erstellung der
endgültigen Fassung des Werks vornahm,17 bezog sich darauf, die christologische
Dimension offenzulegen,18 die in der Weise des Cornet und darüber hinaus in der
lyrischen Tradition, in der sie steht, angelegt war. Schon in Schlegels Gedicht ist
die Hinwendung Narcissus’ zur Nymphenquelle eine Hinwendung zu Mutter und
Geliebter in einem. Sie ist Urquell der Natur, aus der der Sohn, der sich in ihr
spiegelt und sich so seiner selbst bewusst wird, allererst hervorgeht und in die er,
indem er sich ihr liebend hingibt, sterbend eingeht, um letztendlich als Blume in
ihr zu verbleiben. Die suggerierte Natürlichkeit und damit unumgängliche Not-
wendigkeit des Vorgangs, die in der Geschlossenheit des Gedichtes ihr ästheti-
sches Pendant hat, verdeckt, dass das Gedicht im Opfertod des Sohnes gründet.
Indem er den zum Opfertod ausersehenen Sohn mit Christus gleichsetzte, stellte
Rilke diesen Gründungsaspekt moderner lyrischer Subjektivität in den Vorder-
grund.
Grinberg griff diese Denkbewegung auf und stellte den Mythos des Sohnes-
opfers in den Mittelpunkt seiner Kritik europäischer Kultur. Er entgegnete ihm in
seinen ersten Dichtungen unter anderem dadurch, dass er die Gestalt der Mutter
aussparte. Rilke führte sie im zweiten Absatz seines Werkes ein, wo er den Cornet
sagen lässt, er glaube, der „Herr Marquis“ – ein Kamerad des Cornets, der im
Rahmen der Handlung des Werkes eine wichtige Funktion erfüllen wird – sehe
seiner Mutter gewiss ähnlich (10/26/44). Im Weiteren wird die Gestalt der Mutter
der Madonna gleichgesetzt (11/27/47), der Gottesmutter, die die Mutterschaft an
sich verkörpert, und die Soldaten, die allesamt auch Söhne sind, unter sich vereint
(11/27/46). Unter ihre Obhut gestellt bilden sie eine Jüngerschaft, aus deren Mitte
der einzig wahre Sohn hervorgehen wird. Zu erkennen gibt er sich dadurch, dass
er dem Auftrag, der mit Marias Mutterschaft einhergeht, nachkommt.
Rilke entwickelte Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke
anhand weniger Stationen im Leben Christi, wie es in den neutestamentlichen
Büchern erzählt wird, wobei es zumindest im Nachhinein betrachtet so scheint,
als sei die Auswahl und Neugestaltung derselben unter Berücksichtigung des
romantisch geprägten Diskurses der Lyrik seiner Zeit geschehen. Die Änderun-
gen, die Rilke an seiner biblischen Vorlage vornahm, betrafen vor allem die
Gestalt der Geliebten, die er mit Maria Magdalena gleichsetzte (12/27/49). Er
konnte sich dabei auf alte Traditionen stützen, denen zufolge Maria Magdalena
nicht nur Jüngerin, sondern auch Geliebte Jesu war.19 Zudem kam Rilke die
Namensverwandtschaft der beiden Frauen im Leben Jesu, der Mutter und der
Geliebten, entgegen.20
Eingeführt wird das Motiv der geschlechtlichen Liebe im Cornet durch einen
Mann, von dem gesagt wird, er trage weibliche Züge (11/27/47). Der Marquis hat
die Liebe einer Frau erfahren, die ihn zum Abschied mit einer Rose beschenkt hat.
Ähnlich Johannes dem Täufer führt der ältere und erfahrenere Franzose den
jüngeren Deutschen, der wie er zu den Söhnen Mariae zählt, in die Geheimnisse
der liebenden Sehnsucht ein. Als sich ihre Wege trennen, entnimmt der Marquis
der Rose ein Blütenblatt. „Als ob man eine Hostie bricht.“ (13/29/50) Der Erzähl-
modus der erlebten Rede lässt es offen, wem dieser Gedanke zuzuschreiben ist. In
jedem Falle aber wird, indem das Abendmahl aufgerufen wird, die Gestalt des
Marquis noch enger mit der biblischen Figur des Johannes in Zusammenhang
gebracht. Er ist es, der den Cornet dem Tode weiht, indem er ihn auf seine erste
und letzte Liebesnacht vorbereitet. Der Cornet verbringt sie mit einer Frau, die
ihm Mutter, Schwester und Geliebte zugleich ist. „Fast wie Kinder, die sich vor der
Nacht ängstigen, drängen sie sich in einander ein. Und doch fürchten sie sich
nicht. Da ist nichts, was gegen sie wäre: kein Gestern, kein Morgen; denn die Zeit
ist eingestürzt. Und sie blühen aus ihren Trümmern.“ (35/62)
Vorgezeichnet ist in dieser Beschreibung einer Liebesnacht die vernichtende
Kraft, die in einem zweiten Aufeinandertreffen von Ich und Anderem in ihrer
ganzen Macht zum Tragen kommen wird. Als das Schloss, in dem der Cornet mit
seinem Regiment die Nacht verbringt, in Brand gesteckt wird, stürzt sich der von
Liebe entbrannte Christoph in die Reihen der Feinde. Dort findet er, der Aus-
erwählte, seine Erfüllung im Tod:
19 Vgl. hierzu die Ausführungen in dem von Pfarrer Joachim Schäfer entwickelten Ökumenischen
Heiligenlexikon.
20 Zur Verbindung von Mutter und Geliebter in der Gestalt der Maria s. Koschorke (51–56).
12 Karin Neuburger
Der von Langenau ist tief im Feind, aber ganz allein. Der Schrecken hat um ihn einen
runden Raum gemacht, und er hält, mitten drin, unter seiner langsam verlodernden Fahne.
Langsam, fast nachdenklich, schaut er um sich. Es ist viel Fremdes, Buntes vor ihm.
Gärten – denkt er und lächelt. Aber er fühlt, daß Augen ihn halten und erkennt Männer und
weiß, daß es die heidnischen Hunde sind –: und wirft sein Pferd mitten hinein. Aber, als es
jetzt hinter ihm zusammenschlägt, sind es doch wieder Gärten, und die sechzehn runden
Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl, sind ein Fest. Eine lachende Wasserkunst.
(37/68)
Diesem tönenden Schlussakkord des Cornet hält Grinberg in Ergetz (19) eine
beißende Satire entgegen:
ס'איז נאַכט...פֿון ביידע זײַטן פֿעלד איז שטיל.
זאַפּט די ער,בײַם בלייכן שײַן פֿון שטערן
וואָס האָט געקוואַלט אויף איר,דאָס בלוט,
...פֿון פֿרי – ביז אָוונטצײַט
– און דער וואָס איז פֿון טויט פֿאַרגעסן נאָך
ער שטייט אויף קני פֿאַרשטומט אין זײַן אָקאָפּ
און אויגן בלאָנדזשען שטיל אין טיפער נאַכט.
היימלאַנדס ווײַט פֿאַרגעסענע בילדער – גלײַך
– – פֿון טיפֿסטן תּהום – זיי שווימען אויף
...זיי זינקען שטיל
...!און שאַ
נאָר שוועבט דער גאָט פֿון טרוימען אום אין פֿעלד,
זיס – פֿאַלט מיד אַ יונגער העלד-אין חלום,
– – אין זײַן אָקאָפ
בײַם טאַטנס טיש ער זיצט אין רעכטער זײַט,
און מאַמעס גוטע אויגן גלאַנצן צו:
ווען ס'גליט די גינגאָלדקרוין אים אויפֿן
...קאָפּ
Grinbergs Soldat trifft anstatt auf einen Anderen – die Geliebte oder den Feind –
auf die Wirklichkeit des Schlachtfelds, das ihm alles andere als die Erfüllung
seiner selbst bietet. Zwar stirbt auch er, doch ist sein Tod dem des Cornets in
vielerlei Hinsicht entgegengesetzt. Er ist nicht der Eine, der Einzigartige, der noch
vor dem eigentlichen Kriegsgeschehen in völliger Selbstaufgabe über sich hinaus-
geht und allen anderen, die nach ihm kommen, ein Zeichen setzt. Grinbergs
Soldat ist Einer unter Vielen. Er ist Zeuge der brutalen Kriegswirklichkeit, nach-
dem die eigentliche Schlacht vorüber ist. Er stirbt, wo alle schon tot sind und alles
schon entschieden ist. Bei aller Klischeehaftigkeit machen die Eingangszeilen von
Grinbergs Gedicht die Sinnlosigkeit dieses Todes deutlich. Dabei wird dem Tod
ein Leben in der fernen Heimat entgegengesetzt, ein Leben, wie es hätte gelebt
werden können, wäre der Krieg nicht gekommen. Eingeholt wird hier die Sinn-
haftigkeit eines Lebens, das im Cornet, wie wir gesehen haben, schon ganz zu
Anfang in eine Distanz gesetzt wird, die es letztendlich ermöglicht, es gegen das
Phantasma paradiesischer Gärten einzutauschen.22
Dem schönen Schein setzte Grinberg – zunächst in Weiterführung des Rea-
lismus heimatlichen Lebens – einen Abendbrottisch entgegen, um den Vater,
Mutter und Sohn sitzen. Es handelt sich dabei um mehr als um eine Satire auf
den christlichen Auferstehungsglauben, auf den der Gedichttext mit einem Zitat
aus dem Glaubensbekenntnis („Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen
Vaters“23) anspielt. Rilke hatte in der dritten Fassung des Cornet, in der er auch
die Umbenennung der Hauptfigur von „Otto“ zu „Christoph“24 vollzog (Brief an
Clara Rilke vom 1. Februar 1906; Simon 79), zunächst den abschließenden Ab-
satz gestrichen. In diesem Abschnitt war von der Geburt eines Sohnes die Rede
(21/38), der aus der Liebesnacht des Cornets hervorgegangen sein soll. Anstelle
der Wiedergeburt im Sohn evozierte er nun die Möglichkeit einer Auferstehung
21 Grinberg 19. Marc Caplan hat sich die Mühe gemacht, meine Übersetzungen vom Jiddischen
ins Deutsche zu überprüfen und einige wichtige Änderungen vorzuschlagen. Ich danke ihm
hiermit sehr herzlich für seine wertvolle Unterstützung.
22 Wellbery definiert die Lyrik, wie sie in der frühen Romantik zur Ausformung kam, als „phan-
tasm“ (13).
23 Diese Zeile lautet in den autorisierten Übersetzungen der evangelischen wie der katholischen
Kirche gleich. S. Das apostolische Glaubensbekenntnis.
24 Rilkes Christoph trägt Christus nicht auf seiner Schulter. Er ist auch kein Schutzheiliger.
Vielmehr lebt er – wie die von Rilke vorgenommene Änderung der Schlusszeilen des Cornet, auf
die ich hier eingehe, nochmals verdeutlicht – gewisse Aspekte des christologischen Narrativs
nach und kommt in dieser Hinsicht Christus gleich.
14 Karin Neuburger
des Sohnes, indem er den Vorspann um den Zusatz erweiterte, die Erbanteile
Christophs am Gut der Eltern seien auf seinen Bruder Otto übertragen worden –
unter der Auflage allerdings, dass sie zurückzuerstatten seien, wenn „Christoph
(der nach beigebrachtem Totenschein als Cornet in der Compagnie des Freiherrn
von Pirovano des kaiserl. oesterr. Heysterschen Regiments zu Ross …. verstorben
war) zurückkehrt…“ (41). Auf diese Weise war der Bogen zu dem mit der Kürzung
neu gewonnenen Schlussabsatz geschlagen, in dem berichtet wird, „[i]m Früh-
jahr“ sei „ein Kurier des Freiherrn von Pirovano langsam in Langenau“ einge-
ritten. „Dort“, so heißt es endlich „hat er eine alte Frau weinen sehen.“ (21/38/
68)
Suggeriert wird in dieser Verknüpfung von Schluss und Anfang nicht nur,
die Mutter, die den Tod des Sohnes nicht zu verwinden vermochte, tröstete sich
mit einem wie immer gearteten Auferstehungsglauben. Vielmehr bestätigt der
Text in seiner Geschlossenheit die Möglichkeit der Auferstehung des Sohnes, d. h.
dessen, dass Christoph Christus sei, und bildet auch auf der Ebene seiner Makro-
struktur den „ewigen Zirkel“ (Asche 2) ab, der dadurch zustande kommt, dass im
Tod der Sehnsucht immer neues Verlangen erwacht.25 Sein Pendant hat dieser
Zirkel nicht nur im natürlichen Kreislauf der Jahreszeiten – Christoph verabschie-
dete sich im Sommer von der Heimat und der Kurier mit der Todesnachricht
erreichte das Gut der Eltern im darauffolgenden Frühjahr. Sinnbildlich vor-
geführt wird er vielmehr auch in der „lachenden Wasserkunst“ (37/68), die dem
Aufeinanderstoßen von Ich und Anderem entspringt, in einer Fontäne also, die
sich aus ihren eigenen Wassern speist, welche fallen, um sich sofort wieder zu
erheben. Aus den imaginierten Gärten steigend evoziert sie noch einmal die
Liebesnacht. Alles Gegensätzliche ist somit glücklich vereint: Kunst und Natur,
Wirklichkeit und Phantasie, Krieg und Liebe, Leben und Tod – doch nur zum
Schein.
Die Abwesenheit des Sohnes in Grinbergs Tischszene sticht durch den
Schmuck der Goldkrone ins Auge. Ihr Schein spiegelt sich in den Augen der
Mutter, deren Tränen weniger Trauer als Rührung und Stolz über das Opfer
ausdrücken, das sie in der Gestalt ihres Sohnes dargebracht hat. Neben der
Offenlegung von Scheinheiligkeiten wird in der Spiegelung des Sohns in der
Mutter der Ausschluss der Vatergestalt in Rilkes Cornet in den Blick genommen.
Rilkes Text erwähnt weder den biologischen Vater Christophs bzw. Christi, die
25 Auf der sprachlichen Ebene des Werkes entsprechen dieser Zirkelbewegung die gehäuften
Parallelismen (Jakobson 110), die ihm seinen lyrischen Charakter und einiges an Suggestivkraft
verleihen. Vgl. hierzu Wittmer (921), der auch die vielen elliptischen Wortauslassungen und die
dadurch entstehende Intensität der Dichtung betont, und Nolden (446–447), der die Kreisform mit
dem Jugendstil in Verbindung bringt.
Uri Zvi Grinbergs Auseinandersetzung mit Rainer Maria Rilkes Cornet 15
biblische Josefsgestalt, noch den Gottvater.26 Auf diese Weise verdrängt der Text
seine hierarchische Struktur und begründet in der Jüngerschaft eine Gemein-
schaft der Gleichen, in die Leser und Leserin gleichermaßen hineingezogen
werden, wo sie sich zur Identifikation mit dem männlich-weiblichen Helden
aufgefordert sehen. In Vergessenheit gerät die Existenz des Schöpfers, sprich: die
Gestalt des Autors, die sich – wie Susanne Asche hervorgehoben hat (2) – in
Distanz hält, um den ewigen Zirkel des Todes der Sehnsucht und deren Wieder-
erwachen zu gestalten. Der Autor allein hätte die Macht, den Zirkel zu durch-
brechen. Da aber seine Macht, d. h. seine Autorschaft, und so letztendlich seine
Existenz in dem immer wieder neu entfachten Verlangen des Ich nach dem
Anderen gründet, hat er keinerlei Interesse, dies zu tun.
An anderer Stelle von Ergetz macht Grinberg den politischen Aspekt dieser
poetischen Konstellation deutlich. Er lässt seinen Sprecher einen Verantwort-
lichen für den Krieg benennen: den „König“ (20). Ein Wort aus seinem Munde
genügte, dem Gemetzel ein Ende zu bereiten. Doch komme jenes Wort nicht über
seine Lippen. Er ziehe es vor, so Grinbergs Sprecher, seinen Mund mit Nektar zu
füllen, um zur Abendzeit selig in seine Kissen zu sinken (20). Die Darstellung des
Königs erinnert nicht zufällig an Zeus, der dem Kriegsgeschehen vom Olymp aus
teilnahmslos zuschaut. Sie zeigt an, dass der Text seinen politischen Anspruch im
Weiteren nicht halten kann. So wenig, wie der Sprecher Einfluss auf die grie-
chische Gottheit hat, kann er den Lauf der Natur verändern, der den Wechsel von
Leben und Tod bestimmt:
Auf diese Zeilen folgt die Beschreibung eines Soldaten, der an einem Herzschuss
verblutet und betend um Erlösung im Tod fleht. An wen genau er sich im Gebet
wendet, bleibt unklar: an jenen König, der ihn ins Feld geschickt und ihn dort
sich selbst überlassen hat? An die Natur? An Amor, der sich in seinem Tempel
verschanzt hält und die liebenden Seelen nicht bei sich aufnimmt (20–21)? An den
26 Wie der Marquis ist auch Spork, der Christoph zum Cornet ernennt (13/29/52), nichts weiter als
eine Initiationsfigur, die den Cornet auf die richtige Bahn lenkt und darin ihren Auftrag erfüllt. Sie
wird dann im Weiteren auch nicht mehr erwähnt. Eine andere Interpretation dieser Szene bietet
Wagner-Engelhaaf (548).
16 Karin Neuburger
Sprecher, der zu Anfang des Gedichtzyklus seine Stube mit einem Tempel ver-
glich, in dem er einsam sitzt, und der wie jener König mit einem Wort den
Soldaten in seinem Gedicht ins Leben rufen könnte? An den (jüdischen?) Gott, der
im darauffolgenden Gedicht Erwähnung findet und sich als Deus absconditus
gibt (21)? Den Gedichtzeilen, die die Frage nach dem Verantwortlichen für den
Tod des Soldaten verhandeln, ist noch anzumerken, dass sich Grinberg bei der
Entwicklung seiner Dichtung im Angesicht des Soldatentodes an Rilkes Cornet
orientiert und sich von ihm abzusetzen sucht. Sie rufen die Angebote auf, die der
Cornet macht, um diesen Tod bedeutungsvoll erscheinen zu lassen – den Jahres-
zyklus, die Liebe, das von Gott oder vom Autor gewollte Sohnesopfer und selbst
die Familie, derer der sterbende Soldat gedenkt (20). Keines dieser Angebote wird
angenommen, zugleich aber auch keines von der Hand gewiesen. Grinbergs
poetisches Sprechen tritt so in empfindliche Nähe zu Rilkes Cornet. Das hat damit
zu tun, dass der erste Teil von Grinbergs Ergetz ähnlich wie Rilkes Werk dem
romantischen Paradigma lyrischen Sprechens verpflichtet ist.
Im Grunde vollzieht der erste Gedichtzyklus in Ergetz die Bewegung einer
Selbstsetzung wie sie an Schlegels Narcissus exemplifiziert wurde. Grinberg eröff-
net den ersten Teil seines ersten Buches damit, dass er Ich und Anderes gegenüber-
stellt. Auf der einen Seite steht der Großvater des Sprechers, der das traditionelle
Judentum repräsentiert. Von ihm wird gesagt, er habe zwar gewusst, ein Schwert zu
führen, habe dieses aber gegen sich selbst gewendet. Mit dem eigenen Blut habe er
dann Klagelieder geschrieben und an seine Nachfahren weitergereicht (17). Grin-
berg spielt hier auf die vor allem während der Kreuzzüge von Juden praktizierte
Selbsttötung an, durch die sie sich der Zwangstaufe entzogen (Kiddusch Haschem),
und auf die in biblischer Tradition stehenden Schriften, in denen derlei Ereignisse
bezeugt und betrauert wurden. Diesem Ich, der Tradition der Selbsttötung, setzt
Grinbergs Gedichttext ein Anderes gegenüber. Im gegenwärtigen Europa rufen die
Menschen, so Grinbergs Sprecher, Zeus und Mars an. Im Rückgriff auf die in grie-
chische und römische Antike zurückreichende Kriegskunst wird die Welt in einen
Altar verwandelt, auf dem in paganer Manier Söhne geopfert werden (17, 18).
Vorgeworfen wird der westlichen Kultur – und gemeint ist damit sicherlich auch
Rilkes Cornet – sie habe die jüdische Lehre Jesu mit Elementen antiker Mythen
vermengt und auf diese Weise entstellt. Wie jedoch die obige Auflistung der
möglichen Bedeutungen des Wortes „König“ anzeigt, kann Grinbergs Text die
Differenz zwischen Ich und Anderem nicht aufrechterhalten. Der Versuch, das, was
in der Gegenüberstellung von Selbst- und Sohnesopfer als jüdische Tradition und
christlich-pagane Kultur vorgestellt wurde, zu überwinden und sich dennoch dem
Soldatentod zu stellen, mündet in der Anrufung Jesu, der sich als Sohn Gottes der
Menschheit geopfert hat. „O Sohn von Gottes Gnaden und Weltengüte!“ hebt das
den ersten Teil von Ergetz abschließende Gedicht an (21), in dem noch einmal auf
Uri Zvi Grinbergs Auseinandersetzung mit Rainer Maria Rilkes Cornet 17
den Cornet Bezug genommen wird. Zum einen klagt der Sprecher, „Deine [Jesu]
Fahne wird von Mörderhand hoch / in den Krieg getragen“. Zum anderen identifi-
ziert er sich ähnlich dem Cornet mit der Gestalt Jesu, die in einem Traumbild
sozusagen zu ihrem Ursprung im Osten27 geführt wird:
Enden konnte Grinberg seinen Gedichtband nicht mit diesen Zeilen, in denen der
güldene Schein um das Haupt des göttlichen Sohnes seine satirische Kraft ein-
büßt und einem an den Schluss des Cornet gemahnenden Kitsch Raum gibt. Er
tauschte den gefallenen Sprecher aus und ersetzte ihn im zweiten Teil von Ergetz
durch eine Sprecherin, eine junge Frau, die ihren Liebsten im Krieg verloren hat.
In ihrer Rede, in der sie sich auf Motive wie das der Rose aus dem Cornet bezieht,
besteht sie darauf, Krieg und Liebe auseinanderzuhalten, um letztendlich fest-
zustellen, ihr Liebesgesang erübrige sich in Zeiten des Krieges (26).
27 Das jiddische, aus dem Hebräischen entlehnte Wort für „Ost“ ist „Misrech“; es bezeichnet
nicht allein die Himmelsrichtung, sondern darüber hinaus den Tempelberg, auf den man sich im
Gebet ausrichtet.
18 Karin Neuburger
הײַנט. שײַן פֿון שטערן פֿאַרבלענדט מײַן כּתבֿ. ס'איז טיפעטיפֿע נאַכט אַצינד, פרײַנדפֿרײַנד,שרײַב איך דיר
שרײַב! אנדערע שטייען און שאַרפֿן: און ס'פאָלגטס'פֿאָלגט די האַנט דעם רצון,לעבט נאָך דער מענטש אין מיר
און אַנדערע מענטשן עפּעס גראָבן. אַ לוסטיקער קוואַל פֿאַלט ווייסווײַס אין טאָל אַראָפּ.די שווערדן בײַם שטיין
קבֿרים אין פינצטערנישפֿינצטערניש.
און אַז קולות פֿון מענטשן וועלן אין האַלב נאַכט הוראַ,כ'וועל שפּעטער בײַם שטיין מײַן שווערד שאַרפֿן
הוראַ! און אַז כ'וועל לעבן בלייבןבלײַבן ― וועט אַ, הוראַ: וועל איך אויפֿשטיין און מיטשרייעןמיטשרײַען,רופֿן
,ליכטיקער מזרח ווייזןווײַזן מײַנע אויגן אַ טייכלטײַכל בלוט פֿאַר מײַנע פיספֿיס און שאַרבנס פֿון מענטשן דערין
טויט:רויטקייט- וועל איך זען בייםבײַם מאָרגן...פֿערד און זאָטל פֿון פֿייל און שפּיז געטראָפֿן
ער שפּילט מיט: איך וועל הערן זײַן איינגעהאַלטןאײַנגעהאַלטן לאַכן און וויסן.דערווייטערטדערווײַטערט זיך
און דאָך וויל איך מיך קלאַמערן אַרום דעם איינם ציטערדיקן געדאַנק וואָס בינדט מיך מיטן לעבן אויף אַ...מיר
: כ'וועל מײַנע אויגן צו דער ווייטקייטווײַטקייט ווענדן,דערוויילדערווײַל
... היים,היים
28
― ― און כ'וועל דיך געדענקן און ווידער שרײַבן
Man kann sich sicherlich vorstellen, dass Grinberg als Soldat ähnliche Briefe nach
Hause geschrieben hat.29 Doch ergibt sich der Realismus dieses Abschnitts wie in
dem oben zitierten satirischen Gedicht aus Ergetz auch aus der Entgegnung auf
Rilkes Cornet:
28 Ich schreibe Dir, Freund, es ist jetzt tiefe Nacht. Sternenschein überblendet mein Schreiben.
Heute lebt noch der Mensch in mir, und die Hand folgt dem Willen: Schreib! Andere stehen und
schleifen ihre Schwerter am Stein. Eine lustige Quelle stürzt weiß ins Tal hinab. Und andere
Menschen wiederum graben Gräber in der Finsternis.
Ich werde später mein Schwert am Stein schleifen und wenn um Mitternacht Menschenstimmen
Hurra rufen, werde ich aufstehen und mitschreien: Hurra, Hurra! Und wenn ich am Leben bleiben
werde – wird der aufleuchtende Osthimmel meinen Augen einen Strom von Blut vor meinen Füssen
zeigen und Menschenschädel darin, Pferd und Sattel von Pfeil und Spieß getroffen… Bei Sonnen-
aufgang werde ich sehen: Tod greift um sich. Ich werde sein verhaltenes Lachen hören und wissen:
er spielt mit mir… Und doch will ich mich an den einen zitternden Gedanken klammern, der mich
mit dem Leben derweilen verbindet, ich werde meine Augen in die Ferne richten: Heim, heim…
29 Vgl. Mirons Herleitung des realistischen Stils in Krig aus den Erfahrungen des Autors (21, 24).
Uri Zvi Grinbergs Auseinandersetzung mit Rainer Maria Rilkes Cornet 19
Der von Langenau schreibt einen Brief, ganz in Gedanken. Langsam malt er mit großen,
ernsten, aufrechten Lettern:
Meine gute Mutter,
seid stolz: Ich trage die Fahne,
seid ohne Sorge: Ich trage die Fahne,
habt mich lieb: Ich trage die Fahne –
Dann steckt er den Brief zu sich in den Waffenrock, an die heimlichste Stelle, neben das
Rosenblatt. Und denkt: er wird bald duften davon. Und denkt: vielleicht findet ihn einmal
Einer… Und denkt:…
Denn der Feind ist nah. (15/31/54)
Wie der Cornet bereitet sich Grinbergs Ich-Erzähler in seinem Schreiben auf die
nahe Schlacht vor. Doch während der eine schreibt, um zu überleben, tut es der
andere, um zu sterben. Anders als der Cornet, schreibt Grinbergs Erzähler
keinen Abschiedsbrief. Vielmehr ist sein Schreiben dazu angetan, sich der Ver-
bindung zu seinem „Heim“ (43) zu vergewissern. Er hat vor, den Brief an seinen
Freund abzuschicken, während der Cornet das Schreiben an die Mutter bei sich
behält. Christoph steckt den Brief zum Rosenblatt, berichtet der Erzähler und
spielt damit auf die Verbindung von Mutter und Geliebter an. Von der Erotik,
die den Brief des Cornets bis in die „aufrechten Lettern“ hinein durchzieht,
nimmt der Brief in Krig bewusst Abstand. An eine männliche Person gerichtet
setzt er an die Stelle von Rosenblatt und Fahne Schaufel und Schwert. Wie das
Schleifen des Schwerts soll ihn das Briefschreiben vor dem Tod schützen, stellt
es doch die Beziehung zum Leben, zu seinem Leben her. Und wie das Begraben
der Toten wird es bestätigen, dass er noch lebt. Es stellt den Briefschreiber in
den Lauf der Zeit, dem sich der Cornet entzieht. Im Präsens verfasst verweist
dessen Brief auf eine überzeitliche Wirklichkeit, die im Imperativ nachklingt,
der sich auf eine Zeit richtet, in der der Cornet schon nicht mehr oder in aller
Ewigkeit sein wird. Dem entspricht auch die Selbstreferenzialität seines Schrei-
bens, die in den gehäuften Parallelismen zum Ausdruck kommt. Dagegen sind
die Handlungen und auch die Worte von Grinbergs Briefschreiber auf die kon-
krete Wirklichkeit gerichtet, deren Kontinuität durch den Tod zwar gefährdet,
letztlich aber nicht aufgehoben wird. Auf dieser Kontinuität beruht Grinbergs
Prosa in Krig. Gewahrt wird sie durch eine Vielzahl von Anderen. Exemplifizie-
ren lässt sich dies am folgenden, aus dem dritten Teil des Werkes entnommenen
Abschnitt:
.אויסדערוויילטע- מײַן האַרצענס,― ― פֿון אַלע מײַנע צען ווײַבער ביסטו די געליבטסטע
[...]
[ די נײַן ווײַבער מײַנע און שפּילן אויף די גוסלעס...] צווישן די ווײַסע קאַרשנביימער זיצן,אין גאָרטן מײַנעם
...השמשות לידער-בין
20 Karin Neuburger
און ס'קלינגט מײַן נאָמען אין מיטן. זיי ווילן מײַן האַרץ מיט ניגונים באַפֿאַנגען.זיי העלפֿן מיט מיט זייערע קולות
:געזאַנג-דעם הייסן ווײַבער
――!מוסטאַפֿאַ
[...] פֿלאַטערן אויף די ווייכע לילאַ גאַרדינען אין דײַן קעמערל, ווייס איך,דעמאָלט.
.פֿאַ! רופֿסטו-מוסטאַ
30
.[...] איך גיי נאָך דײַן קול,און איך
30 – Von all meinen zehn Frauen bist Du die am meisten Geliebte, Auserwählte meines Herzens.
[…] In meinem Garten zwischen den weißblühenden Kirschbäumen sitzen […] meine neun Frauen
und spielen auf der Gusla Dämmerungslieder… Ihre Stimmen helfen mit. Sie wollen mein Herz mit
Melodien umgarnen. Und mein Name erklingt inmitten dem heißen Frauengesang: Mustafa! – Ich
weiß dann, dass in Deiner Kammer die weichen lilafarbenen Gardinen flattern […] Musta-fa! rufst
Du. Und ich, ich gehe Deiner Stimme nach […]. (Übersetzung K. N.)
31 Allerdings bedeutet „Hanuma“ nichts anderes als „Frau“ oder „Angetraute“ und „Mustafa“
ist als Name beinahe stereotyp.
Uri Zvi Grinbergs Auseinandersetzung mit Rainer Maria Rilkes Cornet 21
Text hinauszuheben. Verhindert wird in Krig auf diese Weise ein Schluss wie in
Ergetz, d. h. ein Abbrechen der poetischen Rede aufgrund der Aufhebung der in
32 Grinberg wird sich der Leere und der Kurzatmigkeit seines Schreibens im Weiteren erneut mit
Rekurs auf die Gestalt Jesu (Neuburger 2015) und in Anlehnung an den Expressionismus (Neubur-
ger 2008) zu entziehen suchen.
33 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die zum Großteil vierzeilige Strophenform, Reim
und Versmaß.
34 So in der dritten Version. In der ersten und zweiten Fassung des Cornet dagegen ist von einem
„Mädchen“ die Rede (14/30).
22 Karin Neuburger
Frauengestalten in sich vereint und schließlich mit der Gestalt des Cornets ver-
bindet. Mit dieser Staffelung der Anderen einher geht der Übergang vom Pro-
saisch-Metonymisch-Horizontalen zum Lyrisch-Metaphorisch-Vertikalen, der im
Bild der „lachenden Wasserkunst“ (37/68) kulminiert, um schließlich im Ritt des
Kuriers auszulaufen und zugleich, auf der Ebene der Makrostruktur des Werkes,
den Kreis geschlossen zu halten.
Diese Geschlossenheit des Cornet ergibt sich in erster Linie aus der Engfüh-
rung von romantischem Paradigma lyrischen Sprechens und christologischem
Narrativ, die Rilke gerade in Bezug auf den Schluss des Werks in dessen dritter
Fassung bewusst und konsequent betrieb. Diese Engführung bildet den poetolo-
gischen Kern des Cornet. Sie begründet seine kulturpolitische Bedeutung und
zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen erklärt sie von literaturwissenschaftlichem
Standpunkt aus und in Ergänzung zu soziologisch ausgerichteten Ansätzen die
Sogwirkung, die von ihm auf seine europäischen Leser ausging. Sie sahen sich
zur Identifikation mit dem Cornet aufgefordert und folgten dieser Aufforderung
wie selbstverständlich. In eine zweihundertjährige Tradition lyrischen Sprechens
gestellt entsprach Rilkes Werk den längst eingefleischten Erwartungen an Dich-
tung, die als solche vom Großteil der Leserschaft nicht mehr reflektiert wurden.
Im Verein mit der zweijahrtausendealten Tradition des Christentums sanktionier-
te der Cornet vielmehr den Identifikationsmodus eines Lesens, das es dem Leser
erlaubte, sich in der Spiegelung dem lyrischen Ich anzuverwandeln. Sanktioniert
wurde auf diese Weise auch der universale Anspruch einer Subjektivität, die sich
in der Spiegelung im Anderen konstituiert. Indem der Cornet – wie anhand der
Staffelung der Frauenfiguren dargestellt – ‚seine‘ Anderen in sich aufnimmt,
weitet er sich beinahe ins Unendliche aus. Über sich selbst hinausgehoben
erscheint sein Tod groß und erhaben und dessen Ästhetisierung als angemessene
poetische Umsetzung eines christlichen Auferstehungsglaubens. An dieser Stelle
aber, an der die lyrische Subjektivität ihren Höhepunkt erreicht, ist das kritische
Potenzial erkennbar, das der Engführung von christologischem Narrativ und
lyrischem Sprechen dann innewohnt, wenn man sich bewusst macht, unter welch
massiver Ausblendung narrativer Momente sie allein möglich war. In Ergetz
bezeichnete Grinberg dieses Verfahren Rilkes mit Verweis auf das Leiden Jesu,
das er in den Abschlusszeilen des ersten Teiles seines Buches aufruft. In Krig
stellte er sich mit einer Poetik, die auf der Bildung von Differenzen zwischen Ich
und Anderem beruht, dem Cornet entgegen, in dem das Verhältnis zum Anderen
auf zunehmende Gleichheit ausgerichtet ist. Unter dem Diktat der Gleichheit
konnte aus den neutestamentlichen Büchern nur das ins Werk gesetzt werden,
was dem Paradigma lyrischen Sprechens entsprach. Die Engführung von christo-
logischem Narrativ und lyrischem Sprechen verdeutlicht so den Ausgrenzungs-
mechanismus, der der lyrischen Subjektivität bei aller Universalität inhärent ist.
Uri Zvi Grinbergs Auseinandersetzung mit Rainer Maria Rilkes Cornet 23
In diesem Sinne entwickelt sich aus der Verschränkung von Christologie und
Lyrik im Cornet jenes „Moment selbstanalytischen Widerstands“, das sich im
„Einspruch gegen die […] Ästhetisierung“ (Brunotte 52) des Todes äußert. Nach-
zugehen wäre diesem Moment im Kontext des Jugendwerks Rilkes, dem der
Cornet zwar zugeordnet,35 in dessen Zusammenhang er aber bisher kaum bespro-
chen wurde.36
Danksagung: Dieser Artikel ist während eines Gastaufenthalts an der Freien Uni-
versität Berlin entstanden. Ich danke Herrn Prof. Joachim Küpper dafür, mich
eingeladen und mir den Zugang zu untentbehrlichen Forschungsressourcen ver-
schafft zu haben. Danken möchte ich ihm wie auch Prof. Hans-Jürgen Schings für
Begleitung und Rat und Prof. Dorothea von Mücke (Columbia University) für das
kritische Lesen dieser Arbeit, die durch ihre Anmerkungen an Präzision und
Konsistenz gewonnen hat.
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35 Braungart ordnet den Cornet zwar als Jugenddichtung ein (210), stellt diese Einordnung aber
zugleich auch in Frage (211).
36 Keine der einschlägigen Forschungsarbeiten zum Jugendwerk Rilkes (Naumann; Pagni; Rol-
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24 Karin Neuburger
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