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MASTERARBEIT / MASTER’S THESIS

Titel der Masterarbeit / Title of the Master‘s Thesis

„Platon und die Dekonstruktion.


Zur Revision des Platonbildes in Jacques Derridas
Grammatologie“

verfasst von / submitted by


Severin Julian Gotz, BA BA

angestrebter akademischer Grad / in partial fulfilment of the requirements for the degree of
Master of Arts (MA)

Wien, 2018 / Vienna 2018

Studienkennzahl lt. Studienblatt / A 066 881


degree programme code as it appears on
the student record sheet:
Studienrichtung lt. Studienblatt / Masterstudium Klassische Philologie (Gräzistik)
degree programme as it appears on
the student record sheet:
Betreut von / Supervisor: Univ.-Prof. Dr. Stefan Büttner, MA
2
Danksagung
Ich möchte mich ganz herzlich bei meinen Eltern bedanken, ohne deren vielfältige
Unterstützung mein Studium nicht möglich gewesen wäre. Außerdem danke ich meinem
Masterarbeitsbetreuer, Herrn Univ.-Prof. Dr. Stefan Büttner, der durch seine
Lehrveranstaltungen mein Interesse an der antiken Philosophie geweckt hat, sowie Herrn Univ.-
Prof. Dr. Georg Danek, durch dessen Vorlesungen zur griechischen Literatur ich ebenfalls viele
wertvolle Anregungen erhalten habe.

Severin Gotz, Mai 2018

3
4
Inhaltsverzeichnis
Danksagung ................................................................................................................................ 3
1. Einleitung ........................................................................................................................... 7
2. Grammatologie – Derridas Wissenschaft von der Schrift................................................ 10
2.1. Phonozentrismus, Logozentrismus ............................................................................ 10
2.2. Die différance ............................................................................................................ 14
2.3. Platon in der Grammatologie .................................................................................... 19
3. Schriftkritik und Entwurf einer idealen Rhetorik in Platons Phaidros ............................ 27
3.1. Die Ausgangsfrage im zweiten Teil des Dialogs ....................................................... 27
3.2. Rhetorik als Seelenleitung ......................................................................................... 28
3.3. Die Schriftkritik ......................................................................................................... 31
3.3.1. Der λόγος in der Seele und die Schrift als Spiel ................................................ 35
3.3.2. Die τιμιώτερα ..................................................................................................... 41
3.4. Die Uneindeutigkeit mündlicher Signifikanten ......................................................... 43
3.5. Derridas Fehlinterpretation des Phaidros .................................................................. 45
4. Platons Sprachphilosophie im Kratylos ........................................................................... 49
4.1. Kratylos’ These von der natürlichen Wortrichtigkeit ................................................ 49
4.2. Hermogenes’ These von der konventionellen Wortrichtigkeit .................................. 50
4.3. Sokrates’ Relativierung beider Thesen ...................................................................... 52
4.3.1. Der Name als Werkzeug .................................................................................... 52
4.3.2. Der Wortbildner und das Worteidos .................................................................. 56
4.3.3. Etymologische Betrachtungen ............................................................................ 62
4.3.4. Die Rolle der Konvention .................................................................................. 65
4.3.5. Erkenntnistheoretische und metaphysische Konsequenzen ............................... 68
4.4. Ὄνομα und λόγος ...................................................................................................... 71
4.5. Die Wahrheit des gesprochenen Wortes bei Platon und Derrida .............................. 72
5. Platons Erkenntnistheorie im VII. Brief ........................................................................... 74
5.1. Der mühevolle Weg zur Erkenntnis .......................................................................... 74
5.2. Der VII. Brief als Kontrast zur Grammatologie ........................................................ 79
6. Conclusio .......................................................................................................................... 81
7. Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 83
7.1. Verwendete Textausgaben und Übersetzungen ......................................................... 83
7.2. Hilfsmittel .................................................................................................................. 83
7.3. Sekundärliteratur ....................................................................................................... 83
8. Abstract ............................................................................................................................ 88

5
6
1. Einleitung
Jacques Derridas Theorien mögen zwar heute nicht mehr so populär sein, wie sie es noch vor
einigen Jahrzehnten gewesen sind, doch üben sie auf vielen Gebieten der Geisteswissenschaft
nach wie vor großen Einfluss aus. Erst 2010 urteilte Peter Zima: „Spuren von Derridas
Philosophie sind in nahezu allen Bereichen der Kultur- und Sozialwissenschaften zu finden.
Sein Denken hat auf Debatten in so verschiedenen Disziplinen wie Literaturwissenschaft,
Geschichtswissenschaft, Soziologie und Rechtswissenschaft eingewirkt und in diesen
Wissenschaften neue Perspektiven eröffnet.“1 Wenngleich nun das Schaffen neuer
Perspektiven grundsätzlich zu begrüßen ist und im Falle Derridas zweifellos auch zu vielen
positiven Veränderungen im Wissenschaftsbetrieb geführt hat,2 macht man es sich dennoch
allzu leicht, wenn man sich damit begnügt, Derridas Methode der Dekonstruktion unkritisch
auf einen beliebigen Text oder Sachverhalt anzuwenden, ohne zunächst die philosophischen
Grundlagen seines Ansatzes geprüft zu haben.
Diese formulierte Derrida im Wesentlichen bereits in seiner Grammatologie, die zuerst 1967
in Paris erschien, und in der er fundamentale Kritik an der abendländischen Metaphysiktradition
übte. Demnach sei die gesamte (europäische) Philosophiegeschichte „von Platon (über Leibniz)
bis Hegel“ eine Geschichte, „(…) die trotz aller Differenzen den Ursprung der Wahrheit im
allgemeinen von jeher dem Logos zugewiesen hat.“3 Charakteristisch für diese Denkungsart,
die von Derrida als „Logozentrismus“ bezeichnet wird, sei die Abwertung der Schrift und die
unangemessene Privilegierung des gesprochenen Wortes vor dem geschriebenen.4 Die Rolle,
die Platon dabei zugewiesen wird, ist stets die eines Urhebers: Er habe mit seiner Schriftkritik
im Phaidros die logozentrische Epoche gleichsam begründet. Derrida spricht diesbezüglich in
seinem Werk Randgänge der Philosophie sogar davon, dass „(…) die Geste Platons die (…)
philosophische Bewegung schlechthin ist.“5
Aus Sicht der Klassischen Philologie ergibt sich damit die Notwendigkeit, Derridas
Platonbild kritisch zu prüfen. Angesichts der eminenten Bedeutung, die Platon als dem
angeblichen Archegeten des Logozentrismus zukommt, ist es angebracht, seine Dialoge genau
auf das hin zu untersuchen, was ihm vonseiten der Dekonstruktion vorgeworfen wird.6 Auch
für die philosophischen Überlegungen, die Derrida in der Grammatologie und anderswo

1
Zima 2010, 336.
2
Ebenso zu teils bedenklichen Vorkommnissen wie der „de Man-Affäre“, vgl. Schmitz 2002, 148 ff.
3
Derrida 2013, 11 f.
4
Vgl. Kimmerle 2008, 35 ff.
5
Derrida 1999, 334.
6
Dies ist bisher allenfalls sporadisch geschehen, vgl. die Aufsätze von Borsche 1986, Koschorke 1995 sowie von
Rinon 1992 und 1993.

7
darlegt, ist eine solche Untersuchung von Relevanz. Denn sollte sich herausstellen, dass
Derridas Analyse im Falle Platons nicht zutrifft, so kommen notwendig auch Zweifel an der
Gesamtthese seines Werkes auf. Wie sinnvoll wäre es, an dem Glauben festzuhalten, dass die
abendländische Philosophiegeschichte durchwegs von einem ungerechtfertigten
Logozentrismus geprägt ist, wenn sich die Vorwürfe gegen den Urheber dieser Bewegung als
nichtig erweisen sollten? Freilich mag Derridas Philosophie davon unbenommen ihre
Bedeutung behaupten können, doch eine Korrektur ihres Platonbildes könnte zumindest zur
Relativierung mancher Thesen beitragen.
Als Rechtfertigung für die folgende Untersuchung mag dies genügen. Die Natur einer
Masterarbeit bringt es allerdings mit sich, dass gewisse Einschränkungen nicht zu vermeiden
sind. Obwohl es zielführend wäre, als Textgrundlage jeweils auf das Gesamtwerk Platons und
Derridas zurückzugreifen, habe ich mich auf eine Auswahl beschränkt: Es soll primär das
Platonbild der Grammatologie geprüft werden, und da wiederum das des ersten Teils des
Werkes („Die Schrift vor dem Buchstaben“), da der zweite Teil („Natur, Kultur, Schrift“) vor
allem von Rousseau handelt und für unsere Zwecke nur bedingt relevant ist. Andere Schriften
Derridas können höchstens ergänzend berücksichtigt werden. Zu erwähnen ist hier vor allem
die Dissemination, in deren erstem Teil Derrida eine ausführliche Interpretation des Phaidros
und anderer Platondialoge vorlegt. Die Tatsache aber, dass in der Dissemination, die fünf Jahre
nach der Grammatologie erschienen ist, der Fokus weniger auf der Bedeutung Platons für die
Philosophiegeschichte liegt, sondern mehr auf gewissen Detailproblemen, hat die Wahl auf
letztere als unseren Hauptbezugspunkt fallen lassen. Zwar sind hier die Platon-Referenzen nicht
so zahlreich wie dort, doch bietet die Grammatologie – auch weil in ihr das grundlegende
philosophische Konzept der Dekonstruktion entwickelt wird7 – eine bessere Möglichkeit, die
Rolle Platons im Gesamtdenken Derridas nachzuvollziehen.
Von Platon andererseits sollen die Dialoge Phaidros und Kratylos sowie der VII. Brief
herangezogen werden. Diese Auswahl eignet sich sehr gut, um die platonische Schriftkritik und
Sprachphilosophie zu beleuchten und sie mit der Darstellung Derridas zu vergleichen. Freilich
wäre die Miteinbeziehung weiterer Dialoge, wie etwa des Sophistes oder des Theaitetos, sehr
wünschenswert, doch würde dies den Rahmen der Arbeit sprengen. Es wird auch auf Grundlage
der ausgewählten Texte zweifelsfrei deutlich werden, dass Derridas Platonbild durchaus nicht
im Einklang mit der tatsächlichen Philosophie Platons steht und dringend einer Revision
bedarf.

7
Vgl. Dreisholtkamp 1999, 123: „De la grammatologie gehört von der Thematik und Argumentation her in die
Reihe jener Arbeiten des Philosophen, die den Schlüssel zu wesentlichen Aspekten seines Gesamtwerks liefern
und deshalb besonders gewürdigt werden müssen.“

8
Zur Begründung dieser These hält sich die Arbeit an folgenden Aufbau: Zunächst soll kurz
die wesentliche Argumentation Derridas in der Grammatologie nachgezeichnet und das dabei
entstehende Platonbild herausgearbeitet werden. Anschließend sollen anhand der oben
genannten Werke die tatsächlichen Positionen Platons zu den in der Grammatologie
besprochenen Themen erörtert werden. Am Ende der Analyse der einzelnen Werke soll jeweils
auf die Frage eingegangen werden, ob die Darstellung Derridas dem Denken Platons gerecht
wird. In dem zusammenfassenden Urteil am Ende der Arbeit wird diese Frage schließlich klar
mit nein zu beantworten sein. Die Tatsache, dass Derrida die Epoche des Logozentrismus
ausgerechnet mit Platon beginnen lässt, der in Wahrheit eine wesentlich kritischere Haltung zur
Sprache (auch zur gesprochenen) hatte als viele Denker nach ihm, wird sich dabei als besonders
absurd erweisen.
Die Werke Derridas werden im Folgenden in deutscher Übersetzung gemäß der im
Literaturverzeichnis angeführten Ausgaben zitiert; das Zitieren der griechischen Textstellen
erfolgt teils im Original (nach der Edition Burnets8), teils in meiner Übersetzung.

8
Burnet 1900−1907.

9
2. Grammatologie – Derridas Wissenschaft von der Schrift
2.1. Phonozentrismus, Logozentrismus
Grundlage von Derridas Argumentation in der Grammatologie ist die Auffassung, dass die
Schrift in der bisherigen abendländischen Geistesgeschichte eine fortwährende und
unrechtmäßige Abwertung erfahren habe und im Gegenzug der Stimme und dem gesprochenen
Wort eine Vormachtstellung eingeräumt worden sei. Diese These versucht Derrida mit
verschiedenen Zitaten zu untermauern: Er nimmt Bezug auf Platon, Aristoteles, Rousseau,
Hegel, Saussure und andere. Die Rolle, die Platon dabei spielt, wird naturgemäß noch zu
untersuchen sein; zunächst wollen wir aber kurz auf Derridas Auseinandersetzung mit Saussure
eingehen, weil sie für das Verständnis des Logozentrismus-Begriffs von zentraler Bedeutung
ist.
Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale war nicht nur grundlegend für die
Allgemeine Sprachwissenschaft und den Strukturalismus, sondern bot später auch dem
Poststrukturalismus und der Dekonstruktion einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Derridas
Positionen in der Grammatologie sind zu einem beträchtlichen Teil als Gegenreaktion auf den
Cours oder als radikale Weiterentwicklung mancher dort im Ansatz schon vorhandener
Konzepte zu verstehen. Es ist deshalb angebracht, kurz die für Saussures Sprachverständnis
wesentlichen Punkte in Erinnerung zu rufen: Nach Ansicht Saussures sollte die Linguistik jede
konkrete sprachliche Äußerung (vom ihm parole genannt) aus ihrem Beschäftigungsfeld
ausschließen und stattdessen nur das abstrakte System einer Sprache, welches den einzelnen
Sprechakten zugrunde liege (die langue), als Gegenstand ihrer Wissenschaft anerkennen.9 Ein
solches Sprachsystem bestehe aus Zeichen, die jeweils eine Ausdrucks- und eine Inhaltsseite
haben, von Saussure Signifikant (signifiant) und Signifikat (signifié), oder auch Lautbild (image
acoustique) und Konzept (concept) genannt.10 Für diese beiden Bestandteile eines Zeichens ist
wesentlich, dass nach Saussure ihre Verknüpfung arbiträr zustande kommt, es also keine
naturwüchsige Bindung eines Signifikanten an ein Signifikat gibt. Freilich bedeutet das nicht,
„(…) der Signifikant unterliege der freien Wahl des Sprechers (…); wir wollen damit sagen,
dass er unmotiviert ist, d. h. arbiträr hinsichtlich des Signifikats, zu dem es keinen natürlichen
Anknüpfungspunkt in der Realität gibt.“11 Der entscheidende Gedanke, den später Derrida
aufgreifen und weiterentwickeln sollte, ist Saussures damit einhergehendes Konzept von
Bedeutungskonstitution: Die arbiträr miteinander verknüpften Signifikanten und Signifikate

9
Vgl. Saussure 2013, 70 ff.
10
Vgl. ebd., 168 ff.
11
Ebd., 173.

10
haben nach Saussure selbst keine absolute Bedeutung, sondern einen nur relativen Wert. Sie
seien als Elemente eines Gesamtsystems nur insofern bedeutungstragend, als sie von allen
anderen Elementen des Systems verschieden sind. Diese differenzielle Natur von Sprache sei
letztlich wieder auf die Arbitrarität der Signifikanten zurückzuführen:

„Weil es kein Lautbild gibt, das besser als irgendein anderes geeignet wäre, das auszudrücken,
was es auszudrücken gilt, ist es selbst a priori offensichtlich, daß in letzter Analyse nie ein
sprachliches Fragment auf etwas anderem beruhen kann, als auf der Nicht-Koinzidenz mit dem
ganzen Rest. Arbiträr und differentiell sind zwei korrelierende Eigenschaften.“12

Es scheint allerdings, dass Saussure diesen Gedanken nicht konsequent weiterverfolgt hat.
Obwohl er hier die Differenz zwischen den sprachlichen Zeichen als bedeutungskonstituierend
auffasst, finden sich an anderen Stellen des Cours Argumente, bei denen er eine fixierte,
nichtrelative Bedeutung der einzelnen Zeichen vorauszusetzen scheint.13 Tatsächlich war es erst
Derrida, der die ganze potenzielle Tragweite von Saussures Ansatz erkannte und das, was im
Cours nur angedeutet scheint, in seiner Philosophie konsequent zu Ende dachte.
Vor allem dürfte es aber Saussures Geringschätzung der Schrift gewesen sein, die Derrida
dazu veranlasste, als Gegenreaktion seine Grammatologie zu verfassen. Im Cours wird nämlich
ausgeführt, dass Sprache und Schrift „zwei unterschiedliche Zeichensysteme“ seien, dass es
aber „die einzige Existenzberechtigung des zweiten ist (…), das erste darzustellen.“ 14 Das
geschriebene Wort wird als bloßes Abbild des gesprochenen Wortes charakterisiert, und das
Resümee gezogen, dass „(…) die Schrift den Blick auf die Sprache verschleiert; sie ist keine
Einkleidung, sondern eine Verkleidung.“15 Derrida kritisiert diese Argumentation Saussures
und setzt es sich zum Ziel, die Schrift im Gegenteil als primäres Moment von Sprache zu
erweisen, nicht als bloß sekundäre Repräsentation. Er formuliert dies folgendermaßen:

„Die Exteriorität des Signifikanten ist die Exteriorität der Schrift im allgemeinen. Wir werden zu
zeigen versuchen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge. Ohne diese
Exteriorität bricht selbst die Idee des Zeichens zusammen.“16

Dabei geht es Derrida freilich nicht darum, die Schrift im materiellen Sinn als etwas der
mündlichen Sprache Vorgeordnetes aufzufassen, sondern darum, dass das abstrakte
Grundkonzept von Schrift keine wesentlich anderen Charakteristika aufweist als die, welche
Saussure für Sprache an sich definierte. Die arbiträre Verknüpfung zwischen Signifikat und
Signifikant ist im Falle der Schrift ebenso gegeben wie bei der mündlichen Sprache, und die

12
Saussure 2013, 255.
13
Vgl. Engelmann 2013, 161.
14
Saussure 2013, 97.
15
Ebd., 107.
16
Derrida 2013, 29.

11
Tatsache, dass Schrift einem Zeichen Dauer verleiht, ist in Wahrheit eine notwendige
Eigenschaft für jegliches Zeichen. Thomas Schmitz fasst zusammen:

„Damit aber erfüllt Schrift die Voraussetzungen einer Sprache, (…) ja mehr noch: ein
sprachliches Zeichensystem in Saussures Sinn ist ohne Lautbilder vorstellbar, (…) nicht aber
ohne diese Qualitäten von Schrift. Der Laut einer menschlichen Stimme ist ein flüchtiges, nur
wenige Bruchteile einer Sekunde dauerndes Phänomen. Damit es als mit sich selbst identisch
erkannt werden kann, damit also etwa verstanden werden kann, dass die flüchtige, in Einzelheiten
voneinander verschiedene Realisierung des Lautbilds „Hut“ von zwei Menschen tatsächlich
denselben Wert hat, muss die Vorstellung einer Schrift schon möglich sein.“17

Derrida folgert deshalb: „Noch ehe das sprachliche Zeichen überhaupt »aufgezeichnet«,
»repräsentiert«, in einem »Schriftsystem« »dargestellt« wird, impliziert es eine Ur-Schrift.“18
Die mit dem Postulieren dieser Ur-Schrift (archi-écriture) einhergehenden Implikationen
werden im nächsten Kapitel noch genauer zu erläutern sein. Zunächst wollen wir aber vor dem
Hintergrund des bisher Gesagten Derridas Phonozentrismus- bzw. Logozentrismus-Begriff
genauer bestimmen.
„Die Exteriorität des Signifikanten“ heißt es im obigen Zitat aus der Grammatologie, sei
„die Exteriorität der Schrift im allgemeinen“.19 Hier klingt an, was Derrida an der bisherigen
geistesgeschichtlichen Tradition stört: Bei Saussure ebenso wie bei vielen seiner Vorgänger sei
die Illusion vorherrschend gewesen, dass ein mündlicher Signifikant – anders als ein
schriftlicher – nicht als äußerlich aufzufassen ist, sondern als mit seinem Sinn/Signifikat mittels
der menschlichen Stimme innerlich verbunden. Derrida zitiert in diesem Zusammenhang auch
aus Hegels Ästhetik, um exemplarisch zu illustrieren, wie stimmlich geäußerten Signifikanten
in der abendländischen Philosophie stets eine natürliche Nähe zu ihrem ideellen Sinn unterstellt
worden sei:

„Diese ideelle Bewegung, in welcher sich durch ihr Klingen gleichsam die einfache Subjektivität,
die Seele der Körper äußert, faßt das Ohr ebenso theoretisch auf als das Auge Gestalt oder Farbe
und läßt dadurch das Innere der Gegenstände für das Innere selbst werden. (…) Das Ohr dagegen
vernimmt, ohne sich praktisch gegen die Objekte hinauszuwenden, das Resultat jenes inneren
Erzitterns des Körpers, durch welches nicht mehr die ruhige materielle Gestalt, sondern die erste
ideellere Seelenhaftigkeit zum Vorschein kommt.“20

Ebendiese behauptete Innerlichkeit von stimmlichen Äußerungen sei laut Derrida aber
illusorisch, da in der mündlichen Sprache ein Signifikant de facto nicht weniger äußerlich und
von seiner Bedeutung verschieden ist als im Falle der Schrift. Dementsprechend wird in der
Grammatologie auf die generelle Exteriorität jedes Signifikanten hingewiesen, die

17
Schmitz 2002, 128.
18
Derrida 2013, 92.
19
Vgl. oben, 11.
20
Zitiert nach Derrida 2013, 26.

12
gleichzusetzen sei mit der „Exteriorität der Schrift im allgemeinen.“ Derrida kritisiert die von
der philosophischen Tradition angeblich postulierte „(…) absolute Nähe der Stimme zum Sein,
der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Idealität des Sinns.“21 Dieser von ihm
sogenannte Phonozentrismus stehe nämlich im klaren Widerspruch zu der Tatsache, dass die
Stimme, die phone, in Wahrheit – genauso wie die Schrift – Sinn nur äußerlich repräsentieren
kann und der ideellen Bedeutung eines Wortes keineswegs nähersteht als jene. Vielmehr liegt
nach Derrida auch der mündlichen Sprache die Ur-Schrift als conditio sine qua non zugrunde.
Die traditionelle Höherbewertung der Stimme im Gegensatz zur Schrift gehe laut Derrida
zudem einher mit einer Fokussierung auf das reflexive Denken, das sich aufgrund jener
vermeintlich in der phone vorhandenen Sinnpräsenz einen absoluten Wahrheitsanspruch
anmaßt. Der Phonozentrismus sei deshalb immer auch Logozentrismus, eben weil er „(…) die
Vernunft, das sich denkende Denken selbst, in den Mittelpunkt zu stellen sucht.“22 Derrida
versteht unter Logozentrismus aber offensichtlich nicht nur dieses Primat der Vernunft, sondern
zumindest indirekt auch die damit verbundene Vormachtstellung des gesprochenen Worts,
sodass stets beide Bedeutungen des griechischen λόγος anklingen. Logo- und Phonozentrismus
lassen sich demnach nicht klar voneinander abgrenzen: Die Tendenz, Schrift als etwas
Sekundäres abzuwerten und der Mündlichkeit dafür eine natürliche Sinn-Nähe zuzuschreiben,
steht für Derrida in direktem Zusammenhang mit dem Glauben an einen Absolutheitsanspruch
der Vernunft. Jonathan Culler fasst dies folgendermaßen zusammen:

„This condemnation of writing (…) is of considerable importance because the “phonocentrism”


that treats writing as a representation of speech and puts speech in a direct and natural relationship
with meaning is inextricably associated with the “logocentrism” of metaphysics, the orientation
of philosophy toward an order of meaning – thought, truth, reason, logic, the Word – conceived
as existing in itself, as foundation.“23

Wir müssen somit zur Kenntnis nehmen, dass Phonozentrismus und Logozentrismus
unentwirrbar („inextricably“) miteinander verknüpft sind. Der Begriff des Logozentrismus
schließt stets den Gedanken mit ein, dass die Vernunft ihre Vormachtstellung in der
abendländischen Philosophie nur deshalb behaupten konnte, weil stimmlichen Signifikanten
anders als schriftlichen zugeschrieben wurde, mehr zu sein als bloße Abbilder von Abbildern
von Sinn. Dies geht auch deutlich aus der Grammatologie hervor: „Die Epoche des Logos
erniedrigt also die Schrift, die als Vermittlung der Vermittlung und als Herausfallen aus der
Innerlichkeit des Sinns gedacht wird.“24

21
Derrida 2013, 25.
22
Kimmerle 2008, 38.
23
Culler 2008, 92.
24
Derrida 2013, 27.

13
2.2. Die différance
Nachdem nun geklärt ist, welche Vorwürfe Derrida gegen die abendländische
Philosophietradition erhebt, stellt sich die Frage, welche Konsequenzen er aus seiner Analyse
zieht. Wie wir soeben gesehen haben, ist laut Derrida ein gesprochenes Wort nicht wesentlich
von einem geschriebenen verschieden, da in Wahrheit beide dieselbe Funktion erfüllen und
beiden gleichermaßen der für Signifikanten typische Verweischarakter eignet. Die Meinung,
dass Schrift ein Abbild der mündlichen Sprache sei und somit als sekundär, äußerlich und dem
Sinn ferner stehend behandelt werden könne, erweist sich für ihn deshalb als der Trugschluss
schlechthin, auf dem die gesamte europäische Metaphysiktradition beruhe. Als Gegenposition
zu diesem sogenannten Logozentrismus entwickelt Derrida die These, dass jeder Form von
Sprache – und sollte diese auch nur mündlich geäußert werden − die Ur-Schrift als Konzept
zugrunde liegt. Derrida betreibt damit eine Art Umkehrung der althergebrachten Hierarchie:
Seiner Argumentation zufolge ist nicht die Sprache Voraussetzung für die Schrift, sondern die
Schrift für die Sprache.25 Dieser Punkt betrifft allerdings nicht nur Sprache im engeren Sinn,
sondern konsequenterweise jede Form von letztlich auf Sprache beruhendem Wissen, sodass
sich jene Umkehrung noch viel umfassender formulieren lässt: Die Schrift sei nämlich „(…)
nicht bloß ein Hilfsmittel im Dienst der Wissenschaft (…), sondern (…) allererst die
Möglichkeitsbedingung für ideale Gegenstände und damit für wissenschaftliche Objektivität.
Die Schrift ist Bedingung der episteme, ehe sie ihr Gegenstand sein kann.“26
Wir sehen jetzt, was Derrida mit seiner Grammatologie vorschwebt: Er will eine neue
wissenschaftliche Grundlage schaffen, die freilich „nicht mehr die Form der Logik, sondern die
der Grammatik“27, oder eben der Grammatologie besitzt. Da sich die Schrift als Bedingung der
Möglichkeit von Sprache und wissenschaftlicher Erkenntnis erwiesen hat, bedarf es einer
Wissenschaft von der Schrift, um gewissermaßen den Grundstein für eine Epoche nach dem
Logozentrismus zu legen.
Wie aber gestaltet sich nun diese neue Wissenschaft von der Schrift? Die Frage führt uns zu
dem philosophischen Prinzip der Dekonstruktion, der différance, – wenngleich es sich hierbei
nicht um ein Prinzip im klassischen Sinn handelt. Derrida ist es nämlich wichtig, mit seiner
Philosophie gerade kein herkömmliches metaphysisches System zu schaffen, das sich wie
üblich aus einem Prinzip entwickeln ließe; es geht ihm im Gegenteil um eine fundamentale
Kritik an jeder Form von Metaphysik. Mit seinem Konzept der différance greift Derrida wieder

25
Vgl. Culler 2008, 88: „(…) deconstruction reverses the hierarchical opposition of the causal scheme.“
26
Derrida 2013, 49 f.
27
Ebd., 50. „Grammatik“ ist hier natürlich im wörtlichen, nicht im übertragenen Sinn zu verstehen und meint
„Schriftkunde“ (=Grammatologie).

14
auf strukturalistisches Gedankengut zurück, obwohl er den Strukturalismus damit gleichzeitig
zu überwinden sucht. Wir wollen im Folgenden eine kurze Genealogie und
Begriffsbestimmung der différance zu geben versuchen.
Nach Manfred Frank lässt sich der Begriff „Metaphysik“ auf dreierlei Weise verstehen: als
„Glauben an den Bestand einer übersinnlichen Welt“, als ein „Denken-aus-Prinzipien“, oder
ein „Beherrschungswissen“.28 Man muss sich bewusst machen, dass der Strukturalismus in
diesem Sinne trotz seiner Neuerungen und seiner Ablehnung des Subjektbegriffs immer noch
der Metaphysik verhaftet bleibt:

„Insofern es ihm darum geht, allgemeine Ordnungsprinzipien und universelle Regularitäten


herauszufinden, deren Kenntnis die gesellschaftliche Welt technisch-wissenschaftlich
beherrschbar macht, bleibt sein Erkenntnisinteresse dem großen Begehren der abendländischen
Philosophie verhaftet: Natur theoretisch verfügbar zu machen. Auch ohne ein Subjekt, das die
Gesetze bildet und verändert, bleibt der Strukturalismus ein traditionell-metaphysisches
Unterfangen.“29

So strebt etwa die strukturalistische Textanalyse danach, die einem Text zugrundeliegende
Struktur freizulegen, um ihn dadurch beherrschbar zu machen und erklären zu können. Dabei
ist es in Wahrheit unvermeidbar, eine gewisse strukturelle Sinn-Einheit bzw. ein der Struktur
vorgeordnetes Prinzip anzunehmen, weil ohne ein solches gar keine sinnvolle strukturalistische
Interpretation möglich wäre. Frank macht darauf aufmerksam, dass Strukturalisten wie Lévi-
Strauss implizit stets ein derartiges Prinzip mitdenken und das von ihnen untersuchte System
immer für prinzipiell deutbar und also beherrschbar halten.30 Entscheidend für den Bruch
zwischen Moderne und Postmoderne bzw. zwischen Strukturalismus und (dem von Frank
sogenannten) Neostrukturalismus sei nun eben diese Frage nach der Beherrschbarkeit des
Systems.31 Anders als die Strukturalisten vertritt Derrida nämlich die Meinung, dass das System
schlechthin unbeherrschbar sei, da jede Denkungsart, welche ein Prinzip außerhalb desselben
ansetzt, auf dem Trugschluss des Logozentrismus gegründet wäre. Vielmehr müsste das Prinzip
selbst sich innerhalb der Struktur befinden und in sie verstrickt sein, um nicht wieder ins
Fahrwasser der Metaphysik zu geraten.32 Die Möglichkeit zu einem solchen Prinzip sieht
Derrida in seiner Theorie von der Schrift gegeben. Diese ist somit nicht „Ziel des derridaschen
Projektes“, sondern soll „(…) die Möglichkeit einer nicht metaphysisch strukturierten
Bedeutungskonstitution denkbar machen.“33 Durch die Verkennung des Schriftcharakters von

28
Vgl. Frank 1984, 77f.
29
Ebd., 36.
30
Vgl. ebd., 66 ff.
31
Vgl. ebd., 37.
32
Vgl. ebd., 83.
33
Engelmann 2013, 168.

15
Sprache wird nach Derrida die Metaphysik schließlich allererst möglich; ist aber die Schrift an
ihren rechtmäßigen Platz gesetzt und die natürliche Sinn-Nähe des gesprochenen Wortes als
Illusion entlarvt, wird damit auch der Metaphysik ihre Grundlage entzogen und einer neuen
Epoche der Boden bereitet.
Dafür entscheidend ist die Infragestellung der für alles metaphysische, logozentrische
Denken typischen Vorstellung von Präsenz.34 Wenn in der Tradition des Logozentrismus
mündlichen Signifikanten zugesprochen wird, unmittelbar auf ein Signifikat zu verweisen, so
wird ihr Sinn als präsent und erreichbar gedacht. Demnach wäre also klar, was ein bestimmtes
mündlich geäußertes Wort bedeutet, welcher Idee es korrespondiert. Die Schrift hingegen
verweist dieser Theorie nach – da sie als Abbild der mündlichen Sprache verstanden wird –
nicht direkt auf ein Signifikat, sondern nur auf ein Lautbild, also gewissermaßen auf einen
weiteren Signifikanten. Geht man nun von Derridas These in der Grammatologie aus, wonach
Sprache an sich Schriftcharakter hat und also auch mündliche Signifikanten nicht eigentlich auf
ein (tatsächlich gar nicht präsentes) Signifikat verweisen, sondern genau wie schriftliche nur
auf einen weiteren Signifikanten, so wäre es in Wahrheit unmöglich, jemals zu einem letzten
Sinn zu gelangen. Die Idee eines metaphysischen Prinzips, das die Sinn-Einheit des Systems
gewährleisten könnte, wäre damit ad absurdum geführt. Derrida spricht in diesem
Zusammenhang auch von der „Dekonstruktion des transzendentalen Signifikats“35, deren
Folgen Thomas Schmitz so umreißt:

„Dies aber heißt, dass die Bedeutung eines Wortes nicht einfach in ihm selbst liegt, dass sie nicht
einfach gegeben, präsent ist; vielmehr bedeuten Wörter ebenso durch das, was sie nicht sind, also
durch Abwesendes, wie durch das, was sie sind (…). Beim Durchblättern unseres imaginären
Wörterbuches würden wir vergeblich nach einem Wort suchen, das unserer Suche ein Ende
macht, von dem aus man alle anderen Wörter zweifelsfrei definieren kann. Ein solcher
archimedischer Punkt (…) existiert nicht.“36

An die Stelle der Präsenz ist die Abwesenheit als entscheidendes Moment der
Bedeutungskonstitution getreten. Wir sind hier zu Recht stark an Saussures Konzept des
sprachlichen Werts erinnert, durch welches bereits der differentielle Charakter von Sprache
angedeutet wurde.37 Derrida treibt diesen Gedanken freilich auf die Spitze; das fortwährende
Weiterverweisen eines Signifikanten auf einen anderen − ohne dass dabei eine letzte Bedeutung
erreichbar wäre – wird von Derrida gleichsam zum Prinzip erhoben und mit dem Kunstwort
différance belegt. Die eigentlich korrekte Schreibung des französischen Wortes für

34
Vgl. Derrida 2013, 26: „Der Logozentrismus ginge also mit der Bestimmung des Seins des Seienden als Präsenz
einher.“
35
Ebd., 85.
36
Schmitz 2002, 132.
37
Vgl. oben, 10 f.

16
„Unterschied“, „Differenz“ wäre différence. Durch die Vertauschung des e mit einem a schafft
Derrida ein exakt gleichlautendes Wort, das sich nunmehr aufgrund der Endung -ance als zum
französischen Verb différer gehöriges Verbalsubstantiv zu erkennen gibt. Différer hat sowohl
die intransitive Bedeutung „unterschiedlich sein“ als auch die transitive Bedeutung
„verschieben“ oder „aufschieben“ und bezeichnet damit sehr treffend das durch das Spiel der
Differenzen verursachte Aufschieben der Sinnfülle in der Sprache.38
Eng mit der différance verwandt bzw. ihr gleichgesetzt und nur einen anderen Aspekt von
ihr beleuchtend ist der Begriff der „Spur“ (trace), den Derrida ebenfalls verwendet, um das
Fehlen eines außerstrukturalen, sinngebenden Prinzips zu beschreiben. Die Spur bezeichnet wie
die différance die Abwesenheit einer letzten Bedeutung und die Bewegung, die durch das
ständige Weiterverweisen der Signifikanten auf einander entsteht. Da der Sinn eines
Signifikanten laut Derrida paradoxerweise nur als Abwesendes präsent sein kann, also stets
relativ bleiben muss und nie als Absolutes erreichbar ist, bleibt nur noch die Spur der
Verweisbewegung selbst als Ursprung von Bedeutung übrig. Die Spur bzw. die différance ist
damit das Quasi-Prinzip der Dekonstruktion, welches sich aber nicht wie ein herkömmliches
Prinzip der Metaphysik gleichsam außerhalb des aus ihm zu entwickelnden Systems befindet
und so für die Beherrschbarkeit und Sinnhaftigkeit desselben garantiert, sondern in die Struktur
selbst verstrickt ist und sich damit auch als Prinzip eigentlich selbst verunmöglicht. In einer
zentralen Passage der Grammatologie wird diese Problematik sehr gut deutlich:

„In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was aber bedeutet,
um es noch einmal zu betonen, daß es einen absoluten Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht
gibt. Sie Spur ist die *Differenz, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang
nehmen.“39

Mit „*Differenz“ ist hier das Wort différance wiedergegeben, dessen Übersetzung naturgemäß
Schwierigkeiten bereitet. Es werden an dieser Stelle also Spur und différance gleichgesetzt und
gemeinsam zum Prinzip erhoben, das es aber eigentlich gar nicht geben kann. Noch eine weitere
Passage sei hierzu zitiert:

„Die (reine) Spur ist die *Differenz. Sie ist von keiner sinnlich wahrnehmbaren, hörbaren oder
sichtbaren, lautlichen oder graphischen Fülle abhängig, sondern ist im Gegenteil deren
Bedingung. Obwohl sie nicht existiert [sic!], obwohl sie nie ein Anwesend-Seiendes außerhalb
jeder Fülle ist, geht ihre Möglichkeit all dem zu Recht voran, was man Zeichen (Signifikat /
Signifikant, Inhalt/Ausdruck usw.), Begriff oder Operation, motorisch oder sinnlich nennt.“40

38
Vgl. etwa Schmitz 2002, 133; Culler 2008, 97.
39
Derrida 2013, 114.
40
Derrida 2013, 109.

17
Die différance ist also Derridas Antwort auf den angeblichen Logozentrismus der
abendländischen Philosophiegeschichte. Durch sie wird alles Sprachliche zu einem „Spiel“
(jeu), da jede Bedeutung notwendig relativ bleiben muss. In der Grammatologie heißt es dazu:
„Spiel wäre der Name für die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats als Entgrenzung
des Spiels, das heißt als Erschütterung der Onto-Theologie und der Metaphysik der Präsenz.“41
Derridas Kritik am Logozentrismus mündet somit dem ersten Anschein nach in einen rigorosen
Relativismus, der jede Möglichkeit von Metaphysik im Keim zu ersticken scheint. Doch kann
Derrida nicht umhin, sich diesbezüglich in Widersprüche zu verstricken. Denn obwohl es durch
die différance konsequenterweise keine gesicherte Bedeutung geben kann, scheint es
andererseits doch nötig, die Möglichkeit von zumindest punktuellem Bedeuten nicht ganz
auszuschließen, da man andernfalls zu einer absurden Haltung gezwungen wäre, „(…) die sich
nur wider die Erfahrung des Sprechens und Verstehens behaupten ließe.“42 Wie Manfred Frank
anmerkt, ist Differenz „(…) nie total, sondern stets partiell. (…) Würde sie als totale gedacht,
so löste sie sich von dem ab, von dem sie differiert; d. h. sie hörte auf, eine Differenz zu sein.“43
Frank sieht in Derridas Denken diesem Umstand zwar Rechnung getragen; Derrida habe etwa
in seinen Randgängen der Philosophie deutlich gemacht, dass es durchaus eine minimale
Dauerbarkeit der Zeichen geben müsse, da auch die Bewegung der différance sonst gar nicht
möglich wäre.44 Andererseits bleibe aber die Tatsache bestehen, dass Derrida die différance
absolut setzt, wodurch er sich unweigerlich in Selbstwidersprüchen verliert.45 Denn wie könnte
er für seine Philosophie Gültigkeit beanspruchen, wenn die différance tatsächlich ein absolutes,
und also jede sichere Bedeutung verunmöglichendes Prinzip wäre? Bei Engelmann findet sich
eine prägnante Zusammenfassung dieses Problems:

„Dabei gerät die Metaphysikkritik als Sprachkritik in eine Paradoxie, die bis heute der wichtigste
Einwand gegen diese philosophische Strategie ist. Als radikale Kritik an der Sprache ist die als
Sprachkritik gefasste Metaphysikkritik selbstbezüglich, das heißt, im Akt der Kritik stellt sie auch
zugleich sich selbst, als Sprache, infrage.“46

Dieser Einwand gegen die Dekonstruktion scheint in der Tat stichhaltig. Es soll hier freilich
nicht primär darum gehen, das philosophische System Derridas – sofern es überhaupt
angebracht ist, von einem solchen zu sprechen – infrage zu stellen, sondern darum, die folgende
Untersuchung des Platonbildes in der Grammatologie in ihren philosophischen Kontext

41
Ebd., 87.
42
Frank 1984, 549.
43
Ebd., 550.
44
Vgl. ebd., 536: „Wäre die »différance« tatsächlich absolut, so wäre mit dieser extremen Konsequenz zugleich
die gegeben, dass der Gedanke der Relation aufgehoben wäre (auf dem doch die Differentialität der
Zeichenordnung beruht).“
45
Vgl. ebd., 537.
46
Engelmann 2013, 166.

18
einzubetten, was mit den vorangegangenen Ausführungen geschehen ist. Die schwierige Frage,
inwieweit sich Derrida der mit der Absolutsetzung der différance verbundenen Probleme
bewusst war bzw. inwiefern er imstande war, diese durch Zugeständnisse in späteren Werken
zu entkräften, kann hier naturgemäß nicht weiterverfolgt werden. Stattdessen wollen wir nun
zum eigentlichen Anliegen dieser Arbeit kommen und die Darstellung Platons in der
Grammatologie näher untersuchen.

2.3. Platon in der Grammatologie


Derrida erwähnt Platon im ersten Teil der Grammatologie an verschiedenen Stellen; oft handelt
es sich dabei um eher kürzere Bemerkungen, aus denen sich aber dennoch sehr gut auf das
grundsätzliche Platonbild Derridas schließen lässt. Ausführlichere Detailinterpretationen
platonischer Dialoge liefert Derrida im ersten Teil der Dissemination, doch soll hier, wie schon
in der Einleitung auseinandergesetzt,47 primär das Platonbild der Grammatologie untersucht
werden, da dies einen besseren Eindruck davon vermittelt, wie Derrida die Rolle Platons in der
Philosophiegeschichte bewertet.48 Dabei gilt es stets, die grundsätzliche Argumentationslinie
der Grammatologie im Blick zu behalten und den Kontext der jeweiligen Bezugnahme auf
Platon mit zu berücksichtigen.
Gleich zu Beginn des Werkes macht Derrida klar, dass Platon für ihn ein typischer Vertreter
der logozentrischen Metaphysiktradition ist:

„(…) die Geschichte der Metaphysik von Platon (über Leibniz) bis Hegel und, jenseits ihrer
scheinbaren Grenzen, von den Vorsokratikern bis Heidegger. Eine Geschichte, die trotz aller
Differenzen den Ursprung der Wahrheit im allgemeinen von jeher dem Logos zugewiesen hat.
Die Geschichte der Wahrheit, der Wahrheit der Wahrheit ist, bis auf die verschwindende, aber
entscheidende Differenz einer metaphorischen Ablenkung, immer schon Erniedrigung der Schrift
gewesen, Verdrängung der Schrift aus dem »erfüllten« gesprochenen Wort.“49

Es wird hier sehr gut deutlich, dass für Derrida die Geschichte der Metaphysik und – damit
unmittelbar verbunden – die Geschichte des Logozentrismus mit Platon beginnt. Zwar werden
auch die Vorsokratiker erwähnt, doch spielen diese im weiteren Verlauf der Grammatologie in
Wahrheit keine Rolle. Von Platon an habe man die Schrift erniedrigt und aus der Mündlichkeit
verdrängt, während das gesprochene Wort als „erfüllt“ gedacht worden sei. „Erfüllt“ bezieht
sich hier offenbar auf die angeblich vom Logozentrismus postulierte Sinnfülle der

47
Vgl. oben, 8.
48
Die ausführliche Miteinbeziehung der Dissemination würde an der Gültigkeit der folgenden Ausführungen
nichts ändern. Ich habe das Werk zwar beim Verfassen des Kapitels berücksichtigt, mich aber dagegen
entscheiden, explizite Verweise darauf in den Text aufzunehmen, um eine konzisere Argumentation zu
ermöglichen. Darüber hinaus hat bereits Rinon in zwei Aufsätzen eine kritische Analyse der Dissemination
vorgelegt und ist dabei zu Ergebnissen gekommen, die durchaus im Einklang mit denen dieser Arbeit stehen (vgl.
Rinon 1992 u. 1993).
49
Derrida 2013, 11 f.

19
gesprochenen Signifikanten. Auffällig ist, dass Derrida die Erniedrigung und Verdrängung der
Schrift durch eine „metaphorische Ablenkung“ verschleiert sieht, als ob es der logozentrischen
Tradition darum gegangen wäre, durch eine Metapher von der Diskriminierung der Schrift
abzulenken. Was Derrida damit genau meint, wird von ihm an anderer Stelle ausgeführt, wobei
er auch auf Platons Phaidros zu sprechen kommt:

„Es können also innerhalb dieser Epoche [sc. des Logozentrismus] die Lektüre und die Schrift
(…) in die Sekundarität verwiesen werden. Ihnen gehen eine Wahrheit und ein Sinn voraus, die
bereits durch das Element und im Element des Logos konstituiert sind. (…) Wenn es sich dennoch
anders zu verhalten scheint, so deshalb, weil sich in das Verhältnis eine metaphorische
Vermittlung eingeschlichen und Unmittelbarkeit vorgetäuscht hat: die im Phaidros (278 a) der
schlechten Schrift (der Schrift im „eigentlichen“ und geläufigen Sinne, der „sinnlich
wahrnehmbaren“‚ „räumlichen“ Schrift) gegenübergestellte Schrift der Wahrheit in der Seele, das
Buch der Natur und, besonders im Mittelalter, die Schrift Gottes − all das, was in diesen Diskursen
als Metapher fungiert, bekräftigt das Privileg des Logos und begründet den eigentlichen, damals
der Schrift beigegebenen Sinn − als Zeichen, das einen Signifikanten bezeichnet, der seinerseits
eine ewige, in der Nähe eines gegenwärtigen Logos ewig gedachte und ewig gesprochene
Wahrheit bezeichnet.“50

Laut Derrida besteht die „Ablenkung“ also darin, dass der Schriftlichkeit in der Vergangenheit
auch immer wieder ein metaphorischer Sinn beigelegt wurde, so nicht zuletzt im Phaidros. Die
zitierte Passage 278a wird noch zu untersuchen sein; es geht dort tatsächlich um eine
Gegenüberstellung der äußerlichen, sinnlich wahrnehmbaren Schrift und der Schrift, die im
bildlichen Sinn in die Seele des Wissenden eingeschrieben wird. Diese intelligible, geistige
Schrift ist dabei anders als ihr empirisches Pendant durchaus positiv konnotiert. Derrida
argumentiert somit, dass in der logozentrischen Tradition die Schrift als Metapher zwar
mitunter auch positiv verstanden wurde, dass dies aber nur von der negativen Haltung
gegenüber der eigentlichen Schrift abgelenkt habe. Denn indem die Metapher das Verhältnis
zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit nur scheinbar umkehrt, bekräftigt sie nach Derrida
letztlich das Privileg des Logos. Seiner Auffassung in der Grammatologie gemäß müsste nicht,
wie es bisher geschah, „der eigentliche und der figürliche Sinn“ der Schrift vertauscht werden,
„(…) sondern der »eigentliche« Sinn der Schrift müßte als die Metaphorizität selbst bestimmt
werden.“51 Wir haben bereits gesehen, dass Derrida deshalb sein Konzept der Ur-Schrift
entwickelt, welche angeblich jeder Form von Sprache als deren Bedingung zugrunde liegt. Es
ist schwer zu beurteilen, ob die Erwähnung der „metaphorischen Vermittlung“, welche
„Unmittelbarkeit vorgetäuscht hat“, hier als wirklicher Vorwurf gegen den Logozentrismus
gewertet werden sollte, da es heißt, sie habe sich „eingeschlichen“, und Derrida der
philosophischen Tradition vielleicht gar keine bewusste Verschleierung ihrer Geringschätzung

50
Derrida 2013, 30.
51
Ebd., 31.

20
von Schrift unterstellen will. Jedenfalls scheint er darauf aufmerksam machen zu wollen, dass
auch vor ihm schon ein metaphorischer Schriftbegriff existiert hat, der aber fälschlicherweise
noch nicht als das eigentliche Wesen von Schrift erkannt worden sei, sondern im Gegenteil
indirekt deren Abwertung unterstützt habe. Daran sei auch Platon mit seinem Phaidros beteiligt
gewesen.
Der entscheidende Punkt ist freilich, dass Derrida hier beschreibt, wie die eigentliche,
sinnlich wahrnehmbare Schrift „damals“ (das muss in diesem Kontext die gesamte Epoche des
Logozentrismus meinen) gesehen wurde: nämlich „(…) als Zeichen, das einen Signifikanten
bezeichnet, der seinerseits eine ewige, in der Nähe eines gegenwärtigen Logos ewig gedachte
und ewig gesprochene Wahrheit bezeichnet.“ Durch den Zusammenhang ist eindeutig, dass
dieses Urteil auch für Platon gelten soll, da gerade zuvor auf dessen Phaidros verwiesen wurde.
Derrida behauptet somit von Platon, dass dieser die Schrift als Abbild von mündlichen
Signifikanten aufgefasst habe, die selbst wiederum eine ewige Wahrheit bezeichnen würden.
Und wirklich finden sich noch diverse andere Stellen, die diese Interpretation stützen. So heißt
es etwa:

„Bereits in dem Augenblick, wo im Phaidros episteme und logos an ein und dieselbe Möglichkeit
gebunden werden sollten, begann dieser Ton anzuklingen: die Schrift wurde als Eindringen der
künstlichen Technik, als Einbruch einer ganz eigenen Spezies, als archetypische Gewalt
denunziert; als Einfall des Draußen in das Drinnen, welcher die Innerlichkeit der Seele, die
lebendige Selbstpräsenz der Seele im wahren Logos und das bei sich selbst seiende gesprochene
Wort verletzt.“52

Und einige Seiten später:

„Als mnemotechnisches Mittel ist die Schrift Supplement für das gute Gedächtnis, das spontane
Gedächtnis; sie bezeichnet das Vergessen. Genau dies meinte Platon im Phaidros, wenn er die
Schrift gegen das gesprochene Wort hielt wie die hypomnesis gegen die mneme, die
Gedächtnisstütze gegen das lebendige Gedächtnis. Vergessen: Vermittlung und Aus-sich-
Heraustreten des Logos, der ohne die Schrift in sich verbliebe. Die Schrift ist die Verstellung der
natürlichen und ersten und unmittelbaren Präsenz von Sinn und Seele im Logos.“53

Problematisch an Derridas Formulierungen ist in den zitierten Passagen die Verwendung des
Wortes „Logos“, bei dem auf den ersten Blick oft unklar scheint, ob es die mündliche Rede
oder die Vernunft bezeichnen soll. So könnte etwa der Ausdruck „Präsenz von Sinn und Seele
im Logos“ auf beides referieren. Der Kontext legt allerdings nahe, dass in beiden Abschnitten
eher auf die Mündlichkeit im Gegensatz zur Schriftlichkeit verwiesen werden soll, obwohl
aufgrund der Tatsache, dass für Derrida Phonozentrismus und Logozentrismus in direkter

52
Derrida 2013, 61.
53
Ebd., 65 f.

21
Verbindung stehen und nicht klar voneinander abzugrenzen sind54, auch die andere, hier nicht
hauptsächlich intendierte Bedeutung von „Logos“ (nämlich „Vernunft“) mitschwingen mag.
Jedenfalls habe der „Einfall“ der als künstlich charakterisierten Schrift in das „Drinnen“ – so
heißt es in der ersten Stelle − „die lebendige Selbstpräsenz der Seele im wahren Logos und das
bei sich selbst seiende gesprochene Wort“ verletzt, sodass sich die Gleichsetzung von Logos
und dem gesprochenen Wort aufdrängt. Indem dieses als „bei sich selbst seiend“ beschrieben
wird, wird außerdem unmissverständlich auf dessen vermeintliche Sinnpräsenz angespielt.
Ebenso scheint es auch in der zweiten Stelle vor allem um die Antithese zwischen Schrift und
gesprochenem Wort zu gehen, die Platon gegeneinandergehalten habe „(…) wie die hypomnesis
gegen die mneme, die Gedächtnisstütze gegen das lebendige Gedächtnis.“ Das „lebendige
Gedächtnis“ entspricht dabei offenbar der natürlichen, mündlichen Rede, während die
„Gedächtnisstütze“ mit der künstlichen, nur als Supplement dienenden Schrift assoziiert
werden kann. So wird denn auch der Logos, „der ohne Schrift in sich verbliebe“, hier
(zumindest auch) das gerade zuvor erwähnte „gesprochene Wort“ meinen, und nicht lediglich
die Vernunft. Dieser Logos ist es wiederum, dem dabei eine „unmittelbare Präsenz von Sinn
und Seele“ zugeschrieben wird. Es ist somit offensichtlich, dass Derrida – ganz in
Übereinstimmung mit seiner schon oben beschriebenen generellen Kritik am Logozentrismus
– davon ausgeht, Platon habe dem gesprochenen Wort eine natürliche Sinnpräsenz zuerkannt.
Ferner ist er offenbar der Meinung, dass Platon die Schrift dabei als „Verstellung“ der
natürlichen und unmittelbaren Gegenwärtigkeit von Sinn gesehen und sie als bloßes
mnemotechnisches Mittel gegenüber dem wirklichen Gedächtnis abgewertet habe. Und
schließlich wird aus Derridas Wortwahl einmal mehr klar, dass er Platon gewissermaßen als
den Urheber des Logozentrismus betrachtet, da er davon spricht, dass die schriftfeindliche
Tendenz „bereits in dem Augenblick“ sich abzuzeichnen begann, als „(…) im Phaidros
episteme und logos an ein und dieselbe Möglichkeit gebunden werden sollten (…).“
Eine präzise Interpretation wird freilich dadurch erschwert, dass Derrida vielfach ungenau
formuliert und so auch den Begriff „Wahrheit“ auf eine merkwürdig flexible Art gebraucht.
Wir haben schon oben gesehen, dass er behauptet, mündliche Signifikanten würden im
logozentrischen Denken eine „ewig gedachte und ewig gesprochene Wahrheit“ bezeichnen.55
Daran sind wir erinnert, wenn es heißt, die Schrift habe die „lebendige Selbstpräsenz der Seele
im wahren Logos“ verletzt. Die beiden Stellen weisen darauf hin, dass Derrida Platon eben
nicht nur unterstellt, dass dieser dem gesprochenen Wort eine natürliche Sinnpräsenz

54
Vgl. oben, 13.
55
Vgl. oben, 20.

22
zugeschrieben habe, sondern darüber hinaus einen gewissermaßen unbedingten
Wahrheitsgehalt. Nun ist Wahrheit durchaus nicht dasselbe wie Sinn; ob ein Wort einen Sinn
bzw. eine Bedeutung hat, müsste eigentlich von der Frage nach dessen Wahrheitsgehalt
unterschieden werden. Zudem wäre in diesem Zusammenhang zu klären, inwiefern es
überhaupt angebracht ist, einzelne Signifikanten (und nicht ganze Aussagen) als Wahrheit
bezeichnend zu denken. Derrida bemüht sich dahingehend um keine Differenzierung und führt
nicht weiter aus, wie in den zitierten Stellen „Wahrheit“ bzw. „wahr“ zu verstehen ist. Doch
der Wahrheitsbegriff bei Platon ist hochkomplex;56 es bedürfte deshalb durchaus einer
Erklärung, in welchem Sinne gesprochene Worte für Platon wahr sein sollen, sowie einer
Diskussion des Verhältnisses zwischen der Wahrheit von Aussagen und der Wahrheit einzelner
Worte bei Platon. So aber verunmöglicht Derrida geradezu eine seriöse Beurteilung seiner
Argumentation: Uns bleibt nur, zur Kenntnis zu nehmen, dass er behauptet, Platon habe
gesprochene Worte als unmittelbar wahr aufgefasst, ohne dass daraus erhellt, welches
Verständnis von Wahrheit zugrunde gelegt werden sollte.
Die automatische Verknüpfung von mündlichen Äußerungen und Wahrheit scheint es
jedenfalls zu sein, die nach Derridas Theorie auch dafür verantwortlich ist, dass Wissen bzw.
Erkenntnis (ἐπιστήμη) und Logos bei Platon „an ein und dieselbe Möglichkeit gebunden“57 sein
sollen. Die Möglichkeit, Wahres zu sprechen, ginge demnach einher mit der Möglichkeit,
Wissen zu erlangen bzw. zu vermitteln. Dies scheint zumindest die naheliegendste
Interpretation der oben zitierten Stelle zu sein. Streng logisch betrachtet wäre das Argument
freilich in sich schlüssiger, wenn der (notwendig wahre) Logos als Grund bzw. Bedingung für
das Wissen angesehen würde und nicht als mit ihm an dieselbe „Möglichkeit“ (im Original:
possibilité) gebunden, was immer dies genau heißen mag. Man wird die Passage letztlich aber
nur als ein Beispiel für die unpräzise Darstellungsweise Derridas werten müssen, denn auch
wenn man Logos hier als „Vernunft“ interpretieren sollte, käme man auf keine sinnvollere
Lesart. Schließlich wäre es einigermaßen abwegig, anzunehmen, dass Derrida hier behaupten
will, Platon habe im Phaidros zum ersten Mal Wissen und Vernunft an dieselbe Voraussetzung
geknüpft, wo es doch offensichtlich um den dort diskutierten Unterschied zwischen
Mündlichkeit und Schriftlichkeit gehen soll. Wir halten also fest, dass laut Derrida bei Platon
ein enger Zusammenhang zwischen gesprochenem Wort und Wissen besteht. Dies lässt sich
sinnvollerweise nur so verstehen, dass Derrida meint, Platon habe den unbedingten
Wahrheitsgehalt des gesprochenen Wortes als Grund für die Möglichkeit von Wissen gesehen.

56
Vgl. Schäfer 2013, s. v. Wahrheit, 310 ff.; Szaif 1998, passim.
57
Vgl. oben, 21.

23
Eine weitere Stelle in der Grammatologie greift nochmals die schon zuvor geäußerte
Anschuldigung gegen Platon auf, wonach dieser dem mündlichen Logos eine natürliche
Sinnpräsenz zugeschrieben habe. Derrida spricht dabei zunächst über die Verkehrung des
Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei Saussure und meint dann einmal mehr,
dass der Ursprung dieser Denkungsart schon bei Platon ausfindig zu machen sei. Unter
Bezugnahme auf den Phaidros beschreibt er, wie sehr Platon das gesprochene Wort überschätzt
habe:

„Grundsatzerklärung, frommer Wunsch und historische Gewalt eines gesprochenen Wortes, das
seine erfüllte Selbstpräsenz träumt und sich als seine eigene Resumtion erlebt: sogenannte
Sprache, Selbsterzeugung des lebendig genannten Wortes, welches, nach Sokrates, sich selbst
beizustehen vermag, Logos, der sein eigener Vater zu sein glaubt und sich damit über den
geschriebenen Diskurs erhebt, welcher als schwächliches Kind nicht antworten kann, wenn er
gefragt wird, der also, »ständig auf den Beistand seines Vaters angewiesen« (τοῦ πατρὸς ἀεῖ [sic!]
δεῖται βοηθοῦ − Phaidros 275 d), aus einer ersten Trennung und Expatriierung hervorgegangen
sein muß, die ihn heimatlos und blind werden und in Trauer fallen ließ. Sogenannte Sprache,
jedoch gesprochenes Wort, das lediglich wähnt, im Vollbesitz seines Lebens zu sein, und das
gewalttätig ist, weil es nur dadurch »sich zu verteidigen vermag« (δυνατὸς μὲν ἀμῦναι ἑαυτῶ
[sic!]), daß es das Andere, und allererst sein Anderes verjagt, es als Schrift hinaus- und
hinabstürzt.“58

Der schon bekannte Vorwurf Derridas gegen Platon wird hier unter einem neuen Gesichtspunkt
wiederaufgegriffen: Platon habe im Phaidros von der Schrift behauptet, dass diese stets auf die
Hilfe ihres „Vaters“, also Autors, angewiesen sei, weil sie sich nicht selbst verteidigen könne.
Vom gesprochenen Wort hingegen, so argumentiert Derrida, habe Platon behauptet, dass es
sich selbst beizustehen vermag, wobei es glaube, „sein eigener Vater zu sein“. Dies muss gemäß
Derridas vorigen Äußerungen so gemeint sein, dass die mündliche Rede nach Platons Ansicht
auf einen unmittelbar präsenten Sinn verweise und sich deshalb selbst genüge, während die
Schrift auf die gesprochenen Worte des Autors, der sein Werk erklärt oder verteidigt,
angewiesen sei. Das gesprochene Wort wähne sich dabei durch seine „Selbstpräsenz“
überlegen, ist aber in Wahrheit – so die Meinung Derridas – durchaus nicht „im Vollbesitz
seines Lebens“, sondern „verjagt“ mit der Schrift eigentlich „sein Anderes“, verdrängt also nur
unberechtigterweise seinen eigenen Schriftcharakter. Laut Derrida ist die Mündlichkeit bei
Platon somit einmal mehr dadurch charakterisiert, dass sie vermeint, sich anders als die Schrift
direkt an der Quelle von Wahrheit und Bedeutung zu befinden.
Auffällig ist, dass Derrida dabei nie die Frage behandelt, ob Platon nicht auch für die
Mündlichkeit gewisse Qualitätskriterien fordert. Vielmehr vermittelt er dem Leser den
Eindruck, dass Platon das gesprochene Wort a priori höher bewertet habe als die Schriftlichkeit

58
Derrida 2013, 70.

24
und dafür keinen anderen Grund gehabt hätte als dessen vermeintliche „Selbstpräsenz“. Eine
weitere kurze Passage aus der Grammatologie, in der Derrida ebenfalls ausdrücklich auf den
Phaidros Bezug nimmt, spiegelt letztlich denselben unreflektierten Standpunkt wider:

„Der Gedanke drängt sich auf, daß die Schrift das Spiel in der Sprache sei. (Im Phaidros [277e]
wurde gerade die Schrift als Spiel – paidia – verurteilt und als Kinderei der besonnenen Rede
gegenübergestellt.)“

Wir haben bereits oben59 von Derridas Begriff des „Spiels“ gehört, den er zur Beschreibung des
Zustandes der Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats gebraucht. Da dieser Zustand
angeblich durch den Schriftcharakter der Sprache hervorgebracht wird, kann Derrida nun den
Schluss ziehen, dass „die Schrift das Spiel in der Sprache sei.“ Er verweist darauf, dass Platon
ebenfalls das Wort „Spiel“ verwendet hat, um die Schrift zu charakterisieren. Im Phaidros habe
er die unseriöse „Schrift als Spiel“ der „besonnenen Rede“ gegenübergestellt. Auch hier wird
von Derrida nicht näher auseinandergesetzt, welche Art von „besonnener Rede“ im Phaidros
von Platon eigentlich gelobt wird. Vor dem Hintergrund der vorigen Äußerungen ergibt sich
notwendig der Gesamteindruck, dass Derrida der Meinung ist, Platon habe jede Art von
Mündlichkeit als wahrheitsschwanger und als der Schrift a priori überlegen gesehen.
Die wenigen anderen kurzen Erwähnungen Platons in der Grammatologie sind für unsere
Zwecke vernachlässigbar, sodass wir nun am Ende unserer Analyse angelangt sind. Es scheint
deshalb angebracht, die wesentlichen Elemente von Derridas Platonbild nochmals
zusammenzufassen:

• Derrida sieht Platon als den Urheber des abendländischen Logozentrismus; die
Geschichte dieser Denkungsart habe seiner Meinung nach gleichsam mit Platon
begonnen.
• Platon habe dem gesprochenen Wort unmittelbare Sinnpräsenz und darüber hinaus
einen natürlichen Wahrheitsgehalt zugeschrieben.
• Aus diesem Grund habe Platon im Phaidros die Schrift im Gegensatz zur
Mündlichkeit abgewertet, eben weil jene für ihn nur ein künstliches Abbild des eine
ewige Wahrheit bezeichnenden gesprochenen Wortes gewesen sei.
• Der schlechten, sinnlich wahrnehmbaren Schrift habe Platon eine Schrift der
„Wahrheit in der Seele“60 gegenübergestellt, die von Derrida als sehr eng mit der
Mündlichkeit verbunden gedacht wird. Durch diese metaphorische Verwendung des

59
Vgl. oben, 18.
60
Vgl. oben, 20.

25
Schriftbegriffs habe Platon – bewusst oder unbewusst – von der unrechtmäßigen
Privilegierung der Mündlichkeit abgelenkt.
• Aufgrund des (vermeintlich) unbedingten Wahrheitsgehaltes des gesprochenen
Wortes habe Platon dieses auch als Bedingung für Wissen/Erkenntnis (ἐπιστήμη)
gesehen. Im Phaidros sollten laut Derrida „(…) episteme und logos an dieselbe
Möglichkeit gebunden werden (…).“ 61
• Laut Platon sei die Schrift stets auf die Hilfe ihres Vaters angewiesen, während sich
das gesprochene Wort einbilde, sein eigener Vater zu sein. Derrida scheint damit
behaupten zu wollen, dass die mündliche Rede gemäß Platon keiner weiteren
(interpretatorischen) Hilfe bedürfe, da sie aufgrund ihrer natürlichen Nähe zu einer
ewigen Wahrheit sich selbst genüge.
• Derrida diskutiert an keiner Stelle in der Grammatologie, was für eine Art von
mündlichem Diskurs Platon eigentlich fordert. Er vermittelt den Eindruck, Platon
habe die Mündlichkeit völlig undifferenziert für gut befunden und a priori höher
bewertet als die Schriftlichkeit.

Im Folgenden wird nun zu untersuchen sein, inwiefern dieses Platonbild Derridas zutreffend ist
und inwiefern es vom tatsächlichen Denken Platons abweicht. Dazu soll zunächst der Dialog
Phaidros, auf den Derrida in der Grammatologie immer wieder Bezug nimmt, näher untersucht
werden.

61
Vgl. oben, 21.

26
3. Schriftkritik und Entwurf einer idealen Rhetorik in Platons Phaidros
3.1. Die Ausgangsfrage im zweiten Teil des Dialogs
Um die im Phaidros formulierte Schriftkritik richtig zu verstehen, ist es besonders wichtig, die
einschlägigen Passagen des Dialogs nicht losgelöst von ihrem Kontext zu betrachten. Wie
Jürgen Villers anmerkt, gliedert sich der Dialog „in einen praktischen und einen theoretischen
Hauptteil.“62 Nachdem die erste Phase des Gesprächs zwischen Sokrates und Phaidros vor
allem durch längere Einzelreden geprägt war, folgt im zweiten Teil „die theoretische Reflexion
der Möglichkeiten philosophischen Redens und Schreibens“63, worunter auch das Thema
Schriftkritik fällt. Eingeleitet wird dieser zweite Teil des Phaidros folgendermaßen (258
d1−11):

ΣΩ. Τοῦτο μὲν ἄρα παντὶ δῆλον, ὅτι οὐκ αἰσχρὸν αὐτό γε τὸ γράφειν λόγους.
ΦΑΙ. Τί γάρ;
ΣΩ. Ἀλλ’ ἐκεῖνο οἶμαι αἰσχρὸν ἤδη, τὸ μὴ καλῶς λέγειν τε καὶ γράφειν ἀλλ’ αἰσχρῶς τε καὶ
κακῶς.
ΦΑΙ. Δῆλον δή.
ΣΩ. Τίς οὖν ὁ τρόπος τοῦ καλῶς τε καὶ μὴ γράφειν; δεόμεθά τι, ὦ Φαῖδρε, Λυσίαν τε περὶ τούτων
ἐξετάσαι καὶ ἄλλον ὅστις πώποτέ τι γέγραφεν ἢ γράψει, εἴτε πολιτικὸν σύγγραμμα εἴτε ἰδιωτικόν,
ἐν μέτρῳ ὡς ποιητὴς ἢ ἄνευ μέτρου ὡς ἰδιώτης;

„Sokrates: Dies also ist jedem klar, dass das Schreiben von Reden an sich jedenfalls nichts
Hässliches ist.
Phaidros: Warum denn auch?
So.: Aber jenes, glaube ich, ist schon hässlich, nämlich nicht gut zu reden und zu schreiben,
sondern hässlich und schlecht.
Phai.: Offensichtlich.
So.: Was ist also die Art, gut oder schlecht zu schreiben? Wollen wir, o Phaidros, irgendwie den
Lysias auf das hin prüfen und jeden anderen, der irgendeinmal etwas geschrieben hat oder
schreiben wird, sei es eine politische Schrift oder eine private, im Versmaß als Dichter oder ohne
Versmaß als Privatmann?“64

Hervorzuheben ist an dieser Stelle zunächst die Tatsache, dass Platons Sokrates „das Schreiben
von Reden an sich“ (αὐτό γε τὸ γράφειν λόγους) explizit als „nicht hässlich“ (οὐκ αἰσχρόν)
bezeichnet. Es ist für ihn unbestritten, dass lediglich das nicht gute Reden und Schreiben (τὸ
μὴ καλῶς λέγειν τε καὶ γράφειν) etwas Hässliches ist. Wenn Sokrates also anschließend die
Frage stellt, worin denn nun das gut oder schlecht Schreiben bestehe (Τίς οὖν ὁ τρόπος τοῦ
καλῶς τε καὶ μὴ γράφειν;), und er damit den Anstoß zur folgenden Diskussion gibt, so tut er
das offenbar nicht in der Absicht, die Schrift und den Schreibprozess als etwas grundsätzlich
und absolut Schlechtes darzustellen. Vielmehr ist die Ausgangsfrage für das weitere Gespräch

62
Villers 2005, 103.
63
Ebd., 103.
64
Die Übersetzungen der griechischen Textstellen stammen hier und im Folgenden vom Autor.

27
denkbar offen gestellt: Unter der Vorannahme, dass sowohl Reden als auch Schreiben auf gute
oder schlechte Weise erfolgen kann, soll geklärt werden, was eigentlich die Qualitätskriterien
für gutes Schreiben sind.
Es klingt hier bereits an, dass für Platon mündliche und schriftliche Kommunikation
bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, um als gut bezeichnet werden zu können. Dies wird
noch klarer, wenn einige Zeilen später die soeben zitierte Ausgangsfrage ein zweites Mal
aufgegriffen und leicht variiert wiedergegeben wird (259 e1−2): Οὐκοῦν, ὅπερ νῦν προυθέμεθα
σκέψασθαι, τὸν λόγον ὅπῃ καλῶς ἔχει λέγειν τε καὶ γράφειν καὶ ὅπῃ μή, σκεπτέον („Wir
müssen also untersuchen, was wir uns jetzt vorgenommen haben zu prüfen, nämlich wie es
schön ist, eine Rede zu sprechen oder zu schreiben, und wie nicht.“). Demnach geht es im
weiteren Verlauf des Dialogs nicht nur um die Frage des guten Schreibens, sondern viel
allgemeiner um eine Theorie der richtigen Verwendung von λόγοι, seien sie über das Medium
der Mündlichkeit oder das der Schriftlichkeit vermittelt.
Dabei fällt auf, dass sich der λόγος-Begriff bei Platon durchaus nicht ausschließlich auf die
mündliche Kommunikation bezieht. In den soeben zitierten Passagen ist davon die Rede, dass
λόγοι entweder geschrieben oder gesprochen werden können (γράφειν λόγους bzw. τὸν λόγον
(…) λέγειν τε καὶ γράφειν). Λόγος bezeichnet bei Platon „(…) die sprachliche Äußerung des
Menschen, der ein Vorgang des Denkens entspricht (…).“65 Eine solche sprachliche Äußerung
erfolgt zwar normalerweise mündlich, doch ist aus dem Phaidros eindeutig zu ersehen, dass
λόγοι auch geschrieben werden können. Bei der Analyse des Kratylos und des VII. Briefs wird
sich zudem noch zeigen, dass λόγος bekanntermaßen auch die spezielleren Bedeutungen ʽSatz’
oder ʽDefinition’ annehmen kann. Wenngleich der Begriff also ursprünglich auf die
Mündlichkeit bezogen sein mag, kann er davon abgesehen in einem allgemeineren Sinn jede
sprachliche Äußerung bezeichnen, die zumindest die Länge eines Satzes hat.66
Dem weiteren Gespräch zwischen Sokrates und Phaidros und der sich daraus ergebenden
Schriftkritik ist damit ein Rahmen vorgegeben, der bei der Interpretation nicht ignoriert werden
darf: Gegenstand der Untersuchung ist zunächst nicht eigentlich die Schrift, sondern der
richtige Gebrauch von mündlichen und schriftlichen λόγοι.

3.2. Rhetorik als Seelenleitung


Wie Thomas A. Szlezák betont, ist Sokrates im Phaidros stets darum bemüht, „(…) daß die
Erörterung nicht auf eine bestimmte Art von λόγοι eingeengt wird.“67 Schon in 258d wollte

65
Schäfer 2013, s. v. Logos, 184.
66
Vgl. ebd., 187.
67
Szlezák 1985, 31.

28
Sokrates die Untersuchung nicht auf besondere Schriften beschränken, sondern hat
ausdrücklich von privaten und öffentlichen συγγράμματα, im Versmaß oder ohne Versmaß,
gesprochen (εἴτε πολιτικὸν σύγγραμμα εἴτε ἰδιωτικόν, ἐν μέτρῳ ὡς ποιητὴς ἢ ἄνευ μέτρου ὡς
ἰδιώτης). Da nun auch die gesprochenen λόγοι in die Betrachtung miteinbezogen werden sollen,
fordert er für deren Prüfung dasselbe wie für die schriftlichen: Es soll auch bei ihnen nicht nur
eine bestimmte Sorte untersucht werden. Während sich die konventionelle Rhetorik im
Wesentlichen mit Gerichts- und Staatsreden befasst, postuliert Sokrates eine umfassende
Redekunst, die sich auf alle Bereiche des Lebens erstreckt (261 a7−b2):

Ἆρ’ οὖν οὐ τὸ μὲν ὅλον ἡ ῥητορικὴ ἂν εἴη τέχνη ψυχαγωγία τις διὰ λόγων, οὐ μόνον ἐν
δικαστηρίοις καὶ ὅσοι ἄλλοι δημόσιοι σύλλογοι, ἀλλὰ καὶ ἐν ἰδίοις, ἡ αὐτὴ σμικρῶν τε καὶ
μεγάλων πέρι, καὶ οὐδὲν ἐντιμότερον τό γε ὀρθὸν περὶ σπουδαῖα ἢ περὶ φαῦλα γιγνόμενον;

„Könnte die Rhetorik also als ganze eine Seelenleitung durch Reden sein, nicht nur in den
Gerichtshöfen und anderen öffentlichen Versammlungen, sondern auch in privaten, und dieselbe
sein, wenn es um kleine oder um große Dinge geht, und als richtig durchgeführte Sache um nichts
ehrenvoller, wenn sie von bedeutsamen, als wenn sie von geringen Dingen handelt?“

Der Universalitätsanspruch der hier von Sokrates geforderten Rhetorik ist unverkennbar und
wird wenig später noch weiter unterstrichen (261 d10−e2):

Οὐκ ἄρα μόνον περὶ δικαστήριά τέ ἐστιν ἡ ἀντιλογικὴ καὶ περὶ δημηγορίαν, ἀλλ’, ὡς ἔοικε, περὶ
πάντα τὰ λεγόμενα μία τις τέχνη, εἴπερ ἔστιν, αὕτη ἂν εἴη (…).

„Somit beschränkt sich die Kunst der Gegenrede nicht nur auf die Gerichtshöfe und die
Volksversammlung, sondern, wenn es irgendeine alleinige Kunst gibt, die sich auf alles erstreckt,
was gesagt wird, dann wäre es diese (…).“

Mit ἀντιλογικὴ bezeichnet Sokrates hier einen speziellen Aspekt der Rhetorik: „ῥητορική
can be characterized as ἀντιλογικὴ with respect to rhetoric’s ability to generate discourse in
any context (…).”68 Die sokratisch-platonische Redekunst soll also in allen sprachlichen
Kontexten (περὶ πάντα τὰ λεγόμενα) einen kritischen Diskurs ermöglichen und nicht wie die
herkömmliche Rhetorik auf bestimmte Gesprächssituationen beschränkt sein. Aus dem
bisher Gesagten ist somit klar, dass der Geltungsanspruch der im Folgenden von Sokrates
skizzierten idealen Rhetorik weder auf ein bestimmtes Medium der Kommunikation
begrenzt ist, noch auf eine bestimmte Art von Reden in einem bestimmten Umfeld.69
Das grundsätzliche Merkmal dieser allgemeinen Rhetorik ist die Tatsache, dass sie „eine
Seelenleitung durch λόγοι“ ist (ψυχαγωγία τις διὰ λόγων). Wie etwas später im Dialog von
Sokrates auseinandergesetzt, sind deshalb umfassende Forderungen an den wahren Rhetor
zu stellen: So wie ein Arzt die Natur des menschlichen Körpers genau kennen muss, muss

68
Yunis 2011, 186.
69
Vgl. Heitsch 1997, 130.

29
der Redner die Natur der Seele genau kennen, um seine Kunst auf vollkommene Weise
ausüben zu können (270 b ff.). Dies verbunden mit dem Wissen über den in der Rede
behandelten Gegenstand (262 c1−3) und einer dialektischen Vorgangsweise, die es dem
Redner erlaubt, eine Sache zum Allgemeinen zusammenzufassen und wiederum in
Spezielles zu zerlegen (265 d2−c9), macht erst die wahre Rhetorik aus. In einer längeren
Passage, die wegen ihrer Wichtigkeit hier ausführlich wiedergegeben werden soll, fasst
Sokrates die Anforderungen an den vollendeten Redner nochmals eindrücklich zusammen
(271 c10−272 b2):

Ἐπειδὴ λόγου δύναμις τυγχάνει ψυχαγωγία οὖσα, τὸν μέλλοντα ῥητορικὸν ἔσεσθαι ἀνάγκη
εἰδέναι ψυχὴ ὅσα εἴδη ἔχει. ἔστιν οὖν τόσα καὶ τόσα, καὶ τοῖα καὶ τοῖα, ὅθεν οἱ μὲν τοιοίδε, οἱ δὲ
τοιοίδε γίγνονται· τούτων δὲ δὴ οὕτω διῃρημένων, λόγων αὖ τόσα καὶ τόσα ἔστιν εἴδη, τοιόνδε
ἕκαστον. οἱ μὲν οὖν τοιοίδε ὑπὸ τῶν τοιῶνδε λόγων διὰ τήνδε τὴν αἰτίαν ἐς τὰ τοιάδε εὐπειθεῖς,
οἱ δὲ τοιοίδε διὰ τάδε δυσπειθεῖς· (…) ὅταν δὲ εἰπεῖν τε ἱκανῶς ἔχῃ οἷος ὑφ’ οἵων πείθεται,
παραγιγνόμενόν τε δυνατὸς ᾖ διαισθανόμενος ἑαυτῷ ἐνδείκνυσθαι ὅτι οὗτός ἐστι καὶ αὕτη ἡ
φύσις περὶ ἧς τότε ἦσαν οἱ λόγοι, νῦν ἔργῳ παροῦσά οἱ, ᾗ προσοιστέον τούσδε ὧδε τοὺς λόγους
ἐπὶ τὴν τῶνδε πειθώ, ταῦτα δ’ ἤδη πάντα ἔχοντι, προσλαβόντι καιροὺς τοῦ πότε λεκτέον καὶ
ἐπισχετέον, βραχυλογίας τε αὖ καὶ ἐλεινολογίας καὶ δεινώσεως ἑκάστων τε ὅσα ἂν εἴδη μάθῃ
λόγων, τούτων τὴν εὐκαιρίαν τε καὶ ἀκαιρίαν διαγνόντι, καλῶς τε καὶ τελέως ἐστὶν ἡ τέχνη
ἀπειργασμένη, πρότερον δ’ οὔ· ἀλλ’ ὅτι ἂν αὐτῶν τις ἐλλείπῃ λέγων ἢ διδάσκων ἢ γράφων, φῇ
δὲ τέχνῃ λέγειν, ὁ μὴ πειθόμενος κρατεῖ.

„Weil die Kraft der Rede eine Seelenleitung ist, ist es notwendig, dass derjenige, der beabsichtigt,
ein Redner zu werden, weiß, wie viele Erscheinungsformen die Seele hat. Es sind also soundso
viele und solche und solche, wodurch die einen Menschen solche werden, die anderen solche;
nachdem dies aber so eingeteilt ist, gibt es wiederum soundso viele Formen von Reden, jede von
einer bestimmten Beschaffenheit. Die einen Menschen sind nun aus diesem Grund mit solchen
Reden zu solchen Dingen leicht zu überreden, andere aber aus jenem Grund schwer. (…) Wenn
er aber imstande ist, zu sagen, welcher Mensch von welchen Reden überzeugt wird, und er, wenn
ihm einer begegnet, in der Lage ist, ihn genau zu erkennen und sich selbst klar zu machen, dass
es dieser ist und diese Natur, von der damals die Rede war, nun wirklich vor ihm steht, bei der
diese folgenden Reden angewendet werden müssen, um sie von diesen Dingen zu überzeugen,
wenn er aber das alles schon kann, er außerdem noch die Zeiten weiß, wann er sprechen muss
und wann innehalten, und genau die guten und schlechten Augenblicke erkennt, um kurz oder
mitleidig oder mit Pathos zu sprechen, und das bei allen Formen der Rede, die er gelernt hat, dann
ist seine Kunst schön und vollendet, davor aber nicht; sondern wenn einer irgendetwas davon
nicht hat, wenn er redet oder lehrt oder schreibt, und er behauptet dennoch kunstgemäß zu reden,
dann weiß es der besser, der ihm nicht glaubt.“

Diese Stelle ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie in gewissem Sinn die nachfolgende
Schriftkritik und deren Begründung bereits vorwegnimmt. Denn nach der Beschreibung der
mannigfachen Anforderungen, die an den zukünftigen Rhetor (τὸν μέλλοντα ῥητορικόν) gestellt
werden, weist Sokrates wiederum darauf hin, dass diese unabhängig vom Medium der
Kommunikation zu gelten haben. Es heißt ausdrücklich, dass man keiner der genannten
Kenntnisse ermangeln dürfe, sei es, dass man wahrhaft kunstgemäß reden, lehren oder
schreiben wolle (λέγων ἢ διδάσκων ἢ γράφων). Mithin ist die Frage, ob der jeweils verwendete

30
λόγος verschriftlicht ist oder in mündlicher Form vermittelt wird, sekundär;70 die Kraft der Rede
(λόγου δύναμις) ist in jedem Fall psychagogisch (ψυχαγωγία οὖσα). Dadurch wird nochmals
deutlich, dass die ideale Rhetorik für Platon eine Art Universalwissenschaft der sprachlichen
Kommunikation darstellt. Sofern jemand einen λόγος auf vollkommene Weise gebrauchen will,
muss er die genannten Anforderungen erfüllen.
Nach Festsetzung dieser allgemeinen Qualitätskriterien kann nun die speziellere Frage
beantwortet werden, wie verschriftlichte λόγοι zu beurteilen sind, und „(…) ob es unter dem
Gesichtspunkt der Seelenführung einen spezifischen Unterschied zwischen Reden und
Schreiben gibt (…).“71 Es scheint allerdings schon an dieser Stelle des Dialogs unrealistisch,
dass man mit schriftlichen λόγοι – wie von Sokrates gefordert – in gleicher Weise individuell
auf den jeweiligen Adressaten und die jeweilige Kommunikationssituation eingehen kann wie
mit mündlichen λόγοι. Die Schriftkritik, die im Folgenden entwickelt wird, ist also letztlich
darin begründet, dass Schrift die Bedingungen, die für eine ideale Wissensvermittlung bzw.
Überredung gegeben sein müssen, nur ungenügend erfüllen kann.

3.3. Die Schriftkritik


Das Gespräch, das anfangs unter dem Eindruck der konventionellen Rhetorikauffassung von
überredenden im Sinne von am besten täuschenden λόγοι gehandelt hat (259 e7 ff.), hat sich
mit Fortdauer der Diskussion in eine andere Richtung entwickelt. Da für den wahren Rhetor die
„Einsicht in das (ideelle) Wesen der Sache“72 unabdingbar ist und er Gebrauch von der
dialektischen Methode zu machen hat, fällt die ideale Rhetorik gleichsam mit der
philosophischen Gesprächsführung zusammen.73 Es geht dabei also weniger um Überredung
im herkömmlichen Sinn als um tatsächliche Wissensvermittlung, was auch durch die bereits
zitierte Formulierung λέγων ἢ διδάσκων ἢ γράφων angedeutet scheint. Platon sieht die ideale
Rhetorik als „art, or scientific method, of recommending what is true”.74 So zielt auch seine
Schriftkritik vor allem darauf ab, „die Frage des philosophisch-didaktischen Wertes der
Schriftlichkeit“75 zu klären.
Eingeleitet wird der Abschnitt des Dialogs, der sich im engeren Sinn mit der Schriftkritik
befasst, durch einen von Sokrates erzählten Mythos (274 c7−275 b2): Der ägyptische Gott
Theuth habe seine Erfindungen, unter die auch die Buchstaben zu zählen sind, dem regierenden

70
Vgl. Yunis 2011, 223: „The inquiry just completed concerned the content and style of good discourse without
regard for whether the discourse is produced and received in writing or speech.”
71
Heitsch 1997, 188.
72
Villers 2005, 113.
73
Vgl. Szlezák 1985, 28.
74
Hackforth 1952, 122.
75
Villers 2005, 117; vgl. auch Yunis 2011, 224.

31
Gott Thamus (der mit Ammon gleichzusetzen ist76) präsentiert. Als Theuth dabei die
Buchstaben als eine Erfindung angepriesen habe, die das Gedächtnis (μνήμη) und die Weisheit
(σοφία) der Ägypter fördern würde, habe Thamus ihm Folgendes erwidert (274 e7−275 b2):

Ὦ τεχνικώτατε Θεύθ, ἄλλος μὲν τεκεῖν δυνατὸς τὰ τέχνης, ἄλλος δὲ κρῖναι τίν’ ἔχει μοῖραν
βλάβης τε καὶ ὠφελίας τοῖς μέλλουσι χρῆσθαι· καὶ νῦν σύ, πατὴρ ὢν γραμμάτων, δι’ εὔνοιαν
τοὐναντίον εἶπες ἢ δύναται. τοῦτο γὰρ τῶν μαθόντων λήθην μὲν ἐν ψυχαῖς παρέξει μνήμης
ἀμελετησίᾳ, ἅτε διὰ πίστιν γραφῆς ἔξωθεν ὑπ’ ἀλλοτρίων τύπων, οὐκ ἔνδοθεν αὐτοὺς ὑφ’ αὑτῶν
ἀναμιμνῃσκομένους· οὔκουν μνήμης ἀλλὰ ὑπομνήσεως φάρμακον ηὗρες. σοφίας δὲ τοῖς
μαθηταῖς δόξαν, οὐκ ἀλήθειαν πορίζεις· πολυήκοοι γάρ σοι γενόμενοι ἄνευ διδαχῆς
πολυγνώμονες εἶναι δόξουσιν, ἀγνώμονες ὡς ἐπὶ τὸ πλῆθος ὄντες, καὶ χαλεποὶ συνεῖναι,
δοξόσοφοι γεγονότες ἀντὶ σοφῶν.

„O überaus kunstreicher Theuth, der eine ist zwar fähig, was zu einer Kunst gehört,
hervorzubringen, ein anderer aber, zu beurteilen, welchen Anteil an Schaden oder Nutzen
diejenigen haben, die davon Gebrauch machen werden; auch jetzt hast du, da du der Schöpfer der
Buchstaben bist, aus Wohlwollen das Gegenteil davon gesagt, was sie bewirken. Denn diese
Erfindung wird in den Seelen derjenigen, die sie erlernt haben, wegen der Vernachlässigung des
Gedächtnisses für Vergesslichkeit sorgen, da sie sich aus Vertrauen auf die Schrift durch fremde
Zeichen von außen erinnern werden, nicht von innen durch sich selbst. Du hast folglich nicht ein
Mittel für das Gedächtnis, sondern für die Erinnerung gefunden und verschaffst den Lernenden
damit nur den Schein von Wissen, nicht wirkliches Wissen. Denn die Menschen, die dir ohne
Unterweisung viel aufgeschnappt haben, werden vielwissend zu sein scheinen, obwohl sie
größtenteils nichts wissen, und sie werden schwierig im Umgang sein, da sie scheinweise statt
weise geworden sind.“

Anstatt das Gedächtnis zu fördern, bewirkt die Schrift dem Mythos nach also das genaue
Gegenteil: sie führt zur Vernachlässigung des Gedächtnisses (μνήμης ἀμελετησία) und damit
zu Vergesslichkeit (λήθη). Wie Heitsch betont, bedeutet dies freilich nicht, „(…) daß die Schrift
ohne jeden Nutzen sei: Als Mittel der Erinnerung schafft sie die Möglichkeit, daß eine Fülle
von Informationen gespeichert und dann von beliebigen Lesern aufgenommen werden kann.“77
Entscheidend ist aber, dass durch die Schrift nicht automatisch auch wirkliche Einsicht
vermittelt wird. Vielmehr werden die Menschen πολυήκοοι statt πολυγνώμονες, wenn sie auf
die Schrift zurückgreifen, ohne zuvor eine Unterweisung erfahren zu haben (ἄνευ διδαχῆς).
Szlezák merkt richtig an, dass διδαχή in diesem Zusammenhang nur „das mündliche
Gespräch des Aufnehmenden mit einem kundigen διδάσκων“78 bedeuten kann. Erst wenn
jemand durch eine individuell auf ihn abgestimmte dialektische Unterweisung belehrt worden
ist und er bereits Einsicht in die behandelte Sache erlangt hat, kann er auf sinnvolle Weise von
der Schrift Gebrauch machen. Es ist damit zwar eindeutig, dass die Möglichkeiten der
Mündlichkeit von Platon höher eingeschätzt werden als die der Schriftlichkeit, doch bedeutet

76
Vgl. Heitsch 1997, 189.
77
Ebd., 190.
78
Szlezák 1985, 8.

32
dies, wie schon oben bemerkt, nicht, dass Platon die Schrift ausschließlich negativ gesehen
hätte. Die schriftliche Darstellung ist für ihn „(…) nicht notwendigerweise falsch oder
unvollständig, wohl aber ist sie als Mittel der Vermittlung nicht eindeutig und sicher.“79 Der
Autor ebenso wie der Rezipient von Geschriebenem muss sich deshalb unbedingt der
Schwächen der Schrift bewusst sein, wie Sokrates im Anschluss an die Mythenerzählung
fordert (275 c5−7): Οὐκοῦν ὁ τέχνην οἰόμενος ἐν γράμμασι καταλιπεῖν, καὶ αὖ ὁ
παραδεχόμενος ὥς τι σαφὲς καὶ βέβαιον ἐκ γραμμάτων ἐσόμενον, πολλῆς ἂν εὐηθείας γέμοι
(„Wer also glaubt, in Form von Buchstaben eine echte Fertigkeit zu hinterlassen, und auch wer
etwas Geschriebenes aufnimmt, als ob etwas Klares und Sicheres aus den Buchstaben entstehen
könnte, der dürfte überaus einfältig sein.“). Dem Wissenden kann die Schrift aber immerhin als
Erinnerung dienen (275 d1 τὸν εἰδότα ὑπομνῆσαι).
Der Grund dafür, dass Schrift nicht „klar und sicher“ (σαφὲς καὶ βέβαιον) ein bestimmtes
Wissen vermitteln, sondern nur an ein schon erworbenes erinnern kann, liegt in den zuvor
genannten Anforderungen, die für eine ideale Wissensvermittlung erfüllt sein müssen.80 Indem
die Schrift sich anders als die Mündlichkeit nicht individuell auf das jeweilige Gegenüber
einstellen kann, ist sie weder für ihren Autor noch ihren Rezipienten ein verlässliches Medium.
Dies bedeutet aber nicht, dass im Umkehrschluss die mündliche Rede immer ein eindeutiges
und sicheres Mittel zur Belehrung wäre; vielmehr muss auch sie zunächst dieselben
Qualitätskriterien erfüllen, um erfolgreich zu sein. Es ist lediglich so, dass der mündliche
Unterricht „(…) eher zu der Hoffnung [berechtigt], beim Adressaten wirkliches Verständnis zu
erzeugen.“81
Sokrates verdeutlicht im Folgenden den Vorwurf, dass Geschriebenes unflexibel und für
eine individuell abgestimmte διδαχή ungeeignet ist, und leitet davon weitere Kritikpunkte ab
(275 d4−e5):

Δεινὸν γάρ που, ὦ Φαῖδρε, τοῦτ’ ἔχει γραφή, καὶ ὡς ἀληθῶς ὅμοιον ζωγραφίᾳ. καὶ γὰρ τὰ ἐκείνης
ἔκγονα ἕστηκε μὲν ὡς ζῶντα, ἐὰν δ’ ἀνέρῃ τι, σεμνῶς πάνυ σιγᾷ. ταὐτὸν δὲ καὶ οἱ λόγοι· δόξαις
μὲν ἂν ὥς τι φρονοῦντας αὐτοὺς λέγειν, ἐὰν δέ τι ἔρῃ τῶν λεγομένων βουλόμενος μαθεῖν, ἕν τι
σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί. ὅταν δὲ ἅπαξ γραφῇ, κυλινδεῖται μὲν πανταχοῦ πᾶς λόγος ὁμοίως
παρὰ τοῖς ἐπαΐουσιν, ὡς δ’ αὕτως παρ’ οἷς οὐδὲν προσήκει, καὶ οὐκ ἐπίσταται λέγειν οἷς δεῖ γε
καὶ μή. πλημμελούμενος δὲ καὶ οὐκ ἐν δίκῃ λοιδορηθεὶς τοῦ πατρὸς ἀεὶ δεῖται βοηθοῦ· αὐτὸς γὰρ
οὔτ’ ἀμύνασθαι οὔτε βοηθῆσαι δυνατὸς αὑτῷ.82

79
Heitsch 1997, 192.
80
Vgl. oben, 30 f.
81
Heitsch 1997, 191.
82
Es sei angemerkt, dass in dieser Textpassage die Formulierungen ταὐτὸν δὲ καὶ οἱ λόγοι sowie πᾶς λόγος
eindeutig auf geschriebene Reden referieren. Auch hier ist also wieder deutlich zu sehen, dass der λόγος-Begriff
von Platon nicht nur in Bezug auf die Mündlichkeit gebraucht wird.

33
„Denn dieses Schlimme, o Phaidros, hat doch die Schrift, und ist darin in Wahrheit der Malerei
ähnlich: Auch deren Erzeugnisse treten nämlich auf, als wären sie lebendig, wenn du sie aber
etwas fragst, schweigen sie ganz ehrwürdig. Genauso ist es bei den geschriebenen Reden; du
könntest meinen, sie sprächen, als wären sie verständig, wenn du sie aber etwas von dem Gesagten
fragst, weil du es verstehen willst, bezeichnen sie dir immer nur ein und dasselbe. Wenn sie aber
einmal geschrieben ist, kursiert jede Rede überall gleichermaßen unter denen, die sie verstehen,
wie auch unter denen, für die sie nicht geeignet ist, und weiß nicht, zu wem sie sprechen soll und
zu wem nicht. Wenn sie aber beleidigt und zu Unrecht beschimpft wird, braucht sie immer die
Hilfe ihres Vaters; denn selbst kann sie sich weder verteidigen noch helfen.“

Rafael Ferber hat zurecht darauf hingewiesen, dass in Wahrheit nur durch den ersten der hier
genannten Punkte die Schrift selbst angegriffen wird. Der Rest der Kritik richtet sich nicht
eigentlich gegen die Schrift, sondern gegen eine bestimmte Art des schriftlichen Publizierens.83
Wie schon gesagt, können geschriebene λόγοι der zuvor entworfenen idealen Rhetorik nicht
völlig gerecht werden: Anders als mündliche Reden sind sie nur dem Schein nach lebendig,
sagen de facto immer dasselbe (ἕν τι σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί) und können nicht auf die
spezifischen Bedürfnisse und Nachfragen des jeweiligen Lesers eingehen. Diese „(…)
Unveränderlichkeit des geschriebenen Logos [bildet] den entscheidenden Gesichtspunkt, unter
dem Platon die Schriftlichkeit kritisiert.“84 Die beiden weiteren mit der Schrift verbundenen
Probleme beziehen sich auf den unsachgemäßen Umgang mit ihr: Wenn man für weitere Kreise
publiziert, ist es unvermeidlich, dass das geschriebene Werk auch zu den Menschen gelangt,
„für die es nicht geeignet ist“ (παρ’ οἷς οὐδὲν προσήκει), und es unter Umständen „beleidigt
und zu Unrecht beschimpft wird“ (πλημμελούμενος δὲ καὶ οὐκ ἐν δίκῃ λοιδορηθείς). Dies ist
deshalb problematisch, weil die Schrift sich nicht selbst verteidigen kann und damit stets auf
die Hilfe ihres Vaters, also Autors, angewiesen ist (τοῦ πατρὸς ἀεὶ δεῖται βοηθοῦ). Ist dieser
nicht zugegen, sieht sie sich wehrlos den Angriffen und Fehlinterpretationen der ungeeigneten
Leser ausgesetzt, denen man in einem mündlichen Gespräch ganz anders hätte begegnen
können.
Die letzten Kritikpunkte kommen aber nicht notwendig zum Tragen, sofern man
verantwortungsvoll mit der Schrift umgeht und sich ihrer Mängel bewusst ist. Wie Ferber
betont, lassen sich Probleme vermeiden, wenn man die schriftliche Publikation auf engere
Kreise beschränkt bzw. die Schrift lediglich als persönliches Erinnerungsmittel nützt.85 Denn
wirklich konstitutiv für die Schrift ist nur der erste Kritikpunkt, ihre Unveränderlichkeit und
mangelnde Flexibilität, derentwegen sie für die dialektische Unterweisung schlechter geeignet
ist als das mündliche Lehrgespräch.

83
Vgl. Ferber 2007, 29 ff.
84
Ebd., 31.
85
Vgl. Ferber 2007, 30.

34
3.3.1. Der λόγος in der Seele und die Schrift als Spiel
Nach den vorigen Ausführungen ist zwar offensichtlich, dass Platon das Potenzial von
gesprochenen Reden höher bewertet als das der Schriftlichkeit, doch muss man sich – dies sei
noch einmal betont – davor hüten, ihm deshalb ein generelles und undifferenziertes Lob der
Mündlichkeit zu unterstellen. Wie Sokrates im weiteren Verlauf des Dialogs ausführt, ist der
wahrhaft gute λόγος nicht ein bestimmter mündlicher, sondern derjenige λόγος, der gleichsam
in die Seele des Wissenden eingeschrieben wird. Dabei handelt es sich um den „echtbürtigen
Bruder“ (ἀδελφὸς γνήσιος) des minderwertigen schriftlichen λόγος (276 a1−9):

ΣΩ. Τί δ’; ἄλλον ὁρῶμεν λόγον τούτου [sc. λόγου γεγραμμένου] ἀδελφὸν γνήσιον, τῷ τρόπῳ τε
γίγνεται, καὶ ὅσῳ ἀμείνων καὶ δυνατώτερος τούτου φύεται;
ΦΑΙ. Τίνα τοῦτον καὶ πῶς λέγεις γιγνόμενον;
ΣΩ. Ὅς μετ’ ἐπιστήμης γράφεται ἐν τῇ τοῦ μανθάνοντος ψυχῇ, δυνατὸς μὲν ἀμῦναι ἑαυτῷ,
ἐπιστήμων δὲ λέγειν τε καὶ σιγᾶν πρὸς οὓς δεῖ.
ΦΑΙ. Τὸν τοῦ εἰδότος λόγον λέγεις ζῶντα καὶ ἔμψυχον, οὗ ὁ γεγραμμένος εἴδωλον ἄν τι λέγοιτο
δικαίως.

„So.: Was nun? Sehen wir noch eine andere Rede, den echtbürtigen Bruder von dieser
geschriebenen, und auf welche Art sie entsteht und um wieviel besser und fähiger als diese sie
von Natur aus ist?
Phai.: Welche Rede meinst du damit und wie entsteht sie?
So.: Die Rede, die mit Wissen in die Seele des Lernenden eingeschrieben wird und imstande ist,
sich selbst zu verteidigen, und weiß, zu wem sie sprechen und bei wem sie schweigen soll.
Phai.: Du meinst die lebendige und beseelte Rede des Wissenden, von der die geschriebene
zurecht als Schattenbild bezeichnet werden könnte.“

Es ist die Rede, die „mit Wissen“ (μετ’ ἐπιστήμης) in die Seele des Lernenden eingeschrieben
wird (γράφεται ἐν τῇ τοῦ μανθάνοντος ψυχῇ), gegen die sich der schriftliche λόγος wie ein
„Schattenbild“ (εἴδωλον) ausnimmt. Anders als die geschriebene Rede, die stets auf die Hilfe
ihres Vaters angewiesen ist (275 e4), weiß sich jene Rede zu verteidigen und kann einschätzen,
zu wem sie sprechen soll und zu wem nicht.
Wir wollen versuchen, die hier von Platon verwendete Metapher konsequent auszudeuten:
Es gibt einen Vater, bei dem es sich im engeren Sinn nur um die Seele des Autors bzw.
Sprechers von λόγοι handeln kann; die λόγοι sind gleichsam seine Kinder. Der schriftliche
λόγος ist nun das minderwertigste Kind, er ist ein Bastard, und lediglich ein schwacher Abglanz
seines echtbürtigen Bruders, des ἐπιστήμων λόγος. Dieser wiederum entsteht (γίγνεται), indem
er in die Seele eingeschrieben wird, er ist also, wenn man die Stelle wörtlich nimmt, zunächst
gar kein mündlicher λόγος.86 Wenngleich er sich später auch in mündlicher Form äußern mag,
ist der Ort, wo er ursprünglich entsteht, die Seele des Lernenden. Es sei daran erinnert, dass für

86
Dies ist, soweit ich sehen kann, bisher noch von keinem Interpreten entsprechend berücksichtigt worden. Den
Hinweis darauf, dass der hier erwähnte λόγος nicht einfach mit einer bestimmten Form des mündlichen λόγος
gleichzusetzen ist, verdanke ich meinem Betreuer, Herrn Prof. Büttner.

35
Platon der λόγος-Begriff im weiteren Sinn jede sprachliche Äußerung des Denkens bezeichnen
kann, die zumindest die Länge eines Satzes hat.87 Eine solche Äußerung muss nun nicht
unbedingt in mündlicher oder schriftlicher Form erfolgen, sondern kann auch nur den geistigen
Dialog der denkenden Seele mit sich selbst meinen, womit λόγος gleichsam mit dem
(sprachlichen) Denkprozess zusammenfällt: Im Sophistes wird ausdrücklich gesagt, dass λόγος
und Denken (διάνοια) in Wahrheit dasselbe seien (263 e3−5): Οὐκοῦν διάνοια μὲν καὶ λόγος
ταὐτόν· πλὴν ὁ μὲν ἐντὸς τῆς ψυχῆς πρὸς αὑτὴν διάλογος ἄνευ φωνῆς γιγνόμενος τοῦτ’ αὐτὸ
ἡμῖν ἐπωνομάσθη, διάνοια („Also sind Denken und Rede dasselbe; nur wurde das innere
Zwiegespräch der Seele, das sie mit sich selbst ohne lautliche Äußerung führt, eben so von uns
benannt, nämlich Denken.“).
Es ist somit nur folgerichtig, dass sich im Phaidros der seelische λόγος des Wissenden (τοῦ
εἰδότος) als der beste erweist: Er repräsentiert gleichsam das diskursive Denken selbst, insofern
es mit wirklicher Einsicht verbunden ist, und ist damit die lebendigste und hochwertigste Form
des λόγος. Bei der Verschriftlichung, aber auch schon beim Aussprechen von Gedanken ist es
unmöglich, denselben Grad an Deutlichkeit und Unmittelbarkeit zu erreichen. Denn ist der
λόγος einmal veräußerlicht, kann er gar nicht mehr im strengen Sinn ἐπιστήμων sein, weil nach
Platons Ansicht Wissen nur im Subjekt, niemals im Objekt gegeben sein kann. Nur die
individuelle Seele, nicht die Sprache ist Träger von Wissen.88 Bei der Analyse des VII. Briefs
wird dieser Grundgedanke Platons noch deutlicher zutage treten. Doch auch aus dem Phaidros
ist klar ersichtlich, dass der eigentlich von Platon gelobte λόγος in der Seele ist und nur in dieser
Form mit echtem Wissen verbunden sein kann. Wird er verschriftlicht, erhält er einerseits eine
starre und unveränderliche Gestalt, was ihn für die individuelle Unterweisung ungeeignet
macht, andererseits entfernt er sich so von seinem metaphorischen Vater und ist deshalb immer
auf dessen Hilfe angewiesen, um unter Rücksichtnahme auf das jeweilige Gegenüber verteidigt
bzw. erklärt werden zu können. Aber auch der mündliche λόγος ist entgegen der üblichen Lesart
des Phaidros nicht mit jenem ἐπιστήμων λόγος gleichzusetzen, obwohl er zweifellos gewisse
Vorzüge vor der geschriebenen Rede hat.
Dass der hier gelobte λόγος als ἔμψυχος bezeichnet ist, scheint geradezu ein Wortspiel
Platons zu sein: Zwar heißt das Adjektiv laut LSJ zunächst „having life in one, animate“89, doch
wirkt es, als wolle Platon durch seine Wortwahl zudem andeuten, dass der besagte λόγος
wirklich in der Seele ist.

87
Vgl. oben, 28.
88
Vgl. Wieland 1987, 33.
89
LSJ s. v. ἔμψυχος.

36
Sokrates betont im weiteren Verlauf des Gesprächs, dass aufgrund des besprochenen
Unterschieds zwischen dem schriftlichen und dem mit Wissen verbundenen seelischen λόγος
grundsätzliche Verhaltensregeln für den Umgang mit Reden einzuhalten sind. Er verwendet die
Metapher eines Gärtners, der seine wertvollsten Samen, von denen er sich reichen Ertrag
verspricht, nicht zum vorübergehenden Vergnügen in ein Adonisgärtchen setzen wird, wo sie
in kurzer Zeit wieder verblühen, sondern in einen geeigneten Boden, wo sie nach längerer Zeit
reiche Frucht bringen (276 b1−8). Ebenso wird derjenige, der Wissen vom Gerechten, Schönen
und Guten hat (276 e3−4 τὸν δὲ δικαίων τε καὶ καλῶν καὶ ἀγαθῶν ἐπιστήμας ἔχοντα) dieses
Wissen nicht „im Ernst“ (e7 σπουδῇ) schriftlich zu fixieren versuchen, sondern er wird solche
„Schriftgärtchen“ – wie der echte Gärtner die Adonisgärtchen – nur zum Spiel und zum
Vergnügen anlegen (276 d1−e3):

ΣΩ. (…) τοὺς μὲν ἐν γράμμασι κήπους, ὡς ἔοικε, παιδιᾶς χάριν σπερεῖ τε καὶ γράψει, ὅταν [δὲ]
γράφῃ, ἑαυτῷ τε ὑπομνήματα θησαυριζόμενος, εἰς τὸ λήθης γῆρας ἐὰν ἵκηται, καὶ παντὶ τῷ
ταὐτὸν ἴχνος μετιόντι, ἡσθήσεταί τε αὐτοὺς θεωρῶν φυομένους ἁπαλούς· ὅταν <δὲ> ἄλλοι
παιδιαῖς ἄλλαις χρῶνται, συμποσίοις τε ἄρδοντες αὑτοὺς ἑτέροις τε ὅσα τούτων ἀδελφά, τότ’
ἐκεῖνος, ὡς ἔοικεν, ἀντὶ τούτων οἷς λέγω παίζων διάξει.
ΦΑΙ. Παγκάλην λέγεις παρὰ φαύλην παιδιάν, ὦ Σώκρατες, τοῦ ἐν λόγοις δυναμένου παίζειν,
δικαιοσύνης τε καὶ ἄλλων ὧν λέγεις πέρι μυθολογοῦντα.

„So.: (…) die Schriftgärtchen wird er, wie es scheint, des Spieles wegen besäen und beschreiben,
und wenn er schreibt, weil er damit, falls er das Alter des Vergessens erreichen sollte, einen Vorrat
von Erinnerungen für sich selbst anlegt und für jeden anderen, der derselben Spur folgt, wird er
sich freuen, wenn er sie zart wachsen sieht; wenn aber andere sich an anderen Spielen erfreuen,
indem sie sich bei Gastmahlen den Gaumen benetzen und was dem verwandt ist, dann wird jener,
wie es scheint, stattdessen seine Zeit spielend mit dem verbringen, was ich sage.
Phai.: Ein wunderschönes Spiel nennst du da neben dem minderwertigen Zeitvertreib, o Sokrates,
nämlich das Spiel dessen, der mit Worten spielen kann, indem er von der Gerechtigkeit und
anderen Dingen erzählt, die du erwähnst.“

Der Begriff des Spiels (παιδιά), auf den auch Derrida in der Grammatologie hingewiesen hat,90
wird hier durchaus nicht in einem ausschließlich negativen Sinn gebraucht. Durch den Kontext
ist zwar klar, dass der eigentlich wertvolle λόγος nicht der schriftliche ist, doch wird das
spielerische Verfassen von schriftlichen Werken trotzdem als etwas Positives dargestellt. Der
richtige Umgang mit der Schrift besteht demnach nicht darin, diese völlig zu meiden (das wäre
schon hinsichtlich des Umfanges von Platons schriftlichem Werk absurd), sondern darin, eine
kritische Distanz zum Medium Schrift zu entwickeln und sich ihres εἴδωλον-Charakters
bewusst zu sein.
Zudem hat Luther gezeigt, dass die Worte δικαιοσύνης τε καὶ ἄλλων (…) πέρι μυθολογοῦντα
(„indem er von der Gerechtigkeit und anderen Dingen erzählt“) eine eindeutige Anspielung auf

90
Vgl. oben, 25.

37
Platons eigenes Hauptwerk, die Politeia, enthalten.91 Dort heißt es in 376 d9−10 zur Ausbildung
der Wächter: Ἴθι οὖν, ὥσπερ ἐν μύθῳ μυθολογοῦντές τε ἅμα καὶ σχολὴν ἄγοντες λόγῳ
παιδεύωμεν τοὺς ἄνδρας („Wohlan, wir wollen wie in Form einer Geschichte, indem wir
erzählen und zugleich Muße haben, die Männer in unserer Rede erziehen.“) In der Politeia
werden also die Erläuterungen zur Erziehung der Wächter – möglicherweise sogar der ganze
Staatsentwurf92 – „(…) gewissermaßen spielerisch wie ein μυθολόγημα dargestellt.“93 Die
Tatsache, dass die Gesprächspartner Muße (σχολή) haben, um die Frage nach der Gerechtigkeit
in Form einer Geschichte (ἐν μύθῳ) zu beantworten, erinnert an die Bestimmung des Schreibens
im Phaidros als Spiel (παιδιά); dieses besteht ja ebenfalls darin, unter anderem über die
Gerechtigkeit (δικαιοσύνης πέρι) Geschichten zu erzählen (μυθολογοῦντα). Somit verweist
Platon im Phaidros mit seiner Definition des angemessenen Schreibens eindeutig auf die
Politeia: Er hat die eigene schriftstellerische Tätigkeit im Sinn, wenn er das Verfassen von
Texten als „wunderschönes Spiel“ (παγκάλη παιδιά) bezeichnet.94 Von da her sollte kein
Zweifel daran bestehen, dass Platon nicht die völlige Geringschätzung der Schrift fordert,
sondern nur die Mängel der schriftlichen λόγοι aufzeigen will, um zum adäquaten Umgang mit
ihnen anzuleiten.
Wie aus der folgenden Stelle einmal mehr erhellt, richtet sich seine Kritik freilich nicht nur
gegen die schriftlichen λόγοι (277 e5−278 b2):

ΣΩ. Ὁ δέ γε ἐν μὲν τῷ γεγραμμένῳ λόγῳ περὶ ἑκάστου παιδιάν τε ἡγούμενος πολλὴν ἀναγκαῖον
εἶναι, καὶ οὐδένα πώποτε λόγον ἐν μέτρῳ οὐδ’ ἄνευ μέτρου μεγάλης ἄξιον σπουδῆς γραφῆναι,
οὐδὲ λεχθῆναι ὡς οἱ ῥαψῳδούμενοι ἄνευ ἀνακρίσεως καὶ διδαχῆς πειθοῦς ἕνεκα ἐλέχθησαν, ἀλλὰ
τῷ ὄντι αὐτῶν τοὺς βελτίστους εἰδότων ὑπόμνησιν γεγονέναι, ἐν δὲ τοῖς διδασκομένοις καὶ
μαθήσεως χάριν λεγομένοις καὶ τῷ ὄντι γραφομένοις ἐν ψυχῇ περὶ δικαίων τε καὶ καλῶν καὶ
ἀγαθῶν [ἐν] μόνοις ἡγούμενος τό τε ἐναργὲς εἶναι καὶ τέλεον καὶ ἄξιον σπουδῆς· δεῖν δὲ τοὺς
τοιούτους λόγους αὑτοῦ λέγεσθαι οἷον ὑεῖς γνησίους εἶναι, πρῶτον μὲν τὸν ἐν αὑτῷ, ἐὰν εὑρεθεὶς
ἐνῇ, ἔπειτα εἴ τινες τούτου ἔκγονοί τε καὶ ἀδελφοὶ ἅμα ἐν ἄλλαισιν ἄλλων ψυχαῖς κατ’ ἀξίαν
ἐνέφυσαν· τοὺς δὲ ἄλλους χαίρειν ἐῶν – οὗτος δὲ ὁ τοιοῦτος ἀνὴρ κινδυνεύει, ὦ Φαῖδρε, εἶναι
οἷον ἐγώ τε καὶ σὺ εὐξαίμεθ’ ἂν σέ τε καὶ ἐμὲ γενέσθαι.

„So.: Wer aber glaubt, dass in der geschriebenen Rede über jede Sache notwendig viel Spiel ist,
und dass noch niemals irgendeine Rede im Versmaß oder ohne Versmaß großen Ernstes wert war,
geschrieben zu werden, oder auch gesprochen zu werden wie die Reden, die ohne Untersuchung
und Belehrung um der Überredung willen rhapsodenhaft gesprochen werden, sondern dass in
Wahrheit auch die besten von ihnen nur den Wissenden als Erinnerung dienen, und wer glaubt,
dass einzig in den mit Belehrung verbundenen, um des Lernens willen gesprochenen und wahrhaft
in die Seele eingeschriebenen Reden über Gerechtes, Schönes und Gutes etwas Deutliches,
Vollkommenes und des Ernstes Würdiges ist; und dass solche Reden als seine eigenen
echtbürtigen Söhne gelten müssen, zuerst die Rede in ihm selbst, wenn sie, nachdem sie gefunden

91
Vgl. Luther 1961, 536.
92
Vgl. Rep. 501 e3: ἡ πολιτεία ἣν μυθολογοῦμεν λόγῳ („der Staat, den wir in der Rede erzählend entwerfen“).
93
Luther 1961, 536.
94
Vgl. Yunis 2011, 234.

38
wurde, ihm innewohnt, ferner wenn von dieser irgendwelche Abkömmlinge und Brüder zugleich
in anderen Seelen anderer Menschen nach Gebühr entstehen; und wer die anderen Reden
beiseitelässt – dieser und ein solcher Mann, o Phaidros, könnte es sein, wie ich und du uns
wünschten, dass wir werden.“

Sokrates stellt hier abschließend nochmals fest, dass weder mündliche noch schriftliche Reden
großen Ernstes wert sind (μεγάλης ἄξιον σπουδῆς γραφῆναι, οὐδὲ λεχθῆναι), wenn sie nicht
auf wirkliche Belehrung, sondern nur auf oberflächliche Überredung abzielen. Gelobt werden
die gesprochenen Reden (λεγομένοις), sofern sie gewisse Bedingungen erfüllen: sie müssen (1)
didaktisch aufbereitet werden (διδασκομένοις), was das zuvor besprochene individuelle
Eingehen auf die jeweilige Situation und den jeweiligen Seelentypus des Gesprächspartners
miteinschließt und zudem Kenntnis der Dialektik und des behandelten Gegenstandes erfordert;
sie müssen (2) beim Adressaten wirkliches Lernen bewirken wollen (μαθήσεως χάριν
λεγομένοις), und nicht etwa nur oberflächliche Überredung zu einer Sache, die sich nicht
philosophisch begründen lässt; sie müssen (3) in die Seele des Lernenden eingeschrieben
werden (γραφομένοις ἐν ψυχῇ), d. h. wirkliche Erkenntnis hervorrufen, die in letzter
Konsequenz eben nur in der Seele des Rezipienten entstehen kann; und sie müssen (4) vom
Gerechten, Guten und Schönen handeln (περὶ δικαίων τε καὶ καλῶν καὶ ἀγαθῶν). Damit wird
noch einmal eindrücklich vor Augen geführt, dass mündliche λόγοι von Platon nur unter sehr
bestimmten Umständen positiv gesehen werden, wenngleich er ihnen zweifellos mehr Potenzial
zugesteht als den schriftlichen. Diese können ihrerseits zwar den Wissenden als Erinnerung
dienen (εἰδότων ὑπόμνησιν γεγονέναι) und, wie wir oben gesehen haben, ein wunderschönes
Spiel sein – sie werden also nicht gänzlich negativ dargestellt –, doch glaubt Platon von ihnen
anders als von den mündlichen Reden offenbar nicht, dass sie sich wirklich in die Seele des
Lesers einprägen und dort Wissen hervorrufen können. Letzteres ist nur durch Anwendung der
dialektischen Methode in einem mündlichen und auf den jeweiligen Gesprächspartner
abstimmten Lehrgespräch möglich.
Auffällig ist an dieser Stelle aber wieder, dass diejenigen λόγοι, welche als die echtbürtigen
Söhne (ὑεῖς γνησίους) ihres Urhebers zu gelten haben, nicht eigentlich mündliche λόγοι sind.
Die erste echtbürtige Rede ist die im Sprecher bzw. Autor selbst (πρῶτον μὲν τὸν ἐν αὑτῷ), und
zwar „(…) wenn sie, nachdem sie gefunden wurde, ihm innewohnt (…)“ (ἐὰν εὑρεθεὶς ἐνῇ).
Damit kann nun kein mündlicher, sondern nur ein innerer λόγος gemeint sein. Aus dem
nächsten Satz wird dies noch deutlicher, wenn davon die Rede ist, dass auch „in anderen Seelen
anderer Menschen“ (ἐν ἄλλαισιν ἄλλων ψυχαῖς) „Abkömmlinge und Brüder“ (ἔκγονοί τε καὶ
ἀδελφοί) dieses ersten λόγος entstehen können, die dann ebenfalls γνήσιοι seien. Es ist also
evident, dass hier wieder der seelische λόγος als der beste charakterisiert wird; dieser kann sich

39
später zwar auch in Form eines mündlichen λόγος äußern, er ist zunächst aber weder mit einer
mündlichen noch einer schriftlichen Rede identisch, sondern muss vom und im Subjekt selbst
gefunden werden (εὑρεθείς). Die Formulierung verweist auf die platonische Anamnesis-
Theorie, die in dieser Arbeit freilich nicht erschöpfend behandelt werden kann. Doch sei
angemerkt, dass wir bei der Besprechung des VII. Briefs noch etwas ausführlicher auf gewisse
Aspekte der platonischen Erkenntnislehre eingehen werden. Vorerst muss der Hinweis
genügen, dass Platon im Phaidros zumindest implizit zwischen veräußerlichten λόγοι, seien sie
mündlich oder schriftlich, und dem inneren ἐπιστήμων λόγος unterscheidet, der in der
individuellen Seele gefunden werden muss. Dieser Prozess, bei dem es sich um den Vorgang
der Anamnesis handelt, kann zwar von außen durch einen mündlichen λόγος unterstützt werden
– ebendas scheint Platon zu meinen, wenn er Sokrates sagen lässt, dass eine gesprochene Rede
in die Seele eingeschrieben werden kann –, doch der letzte Schritt zur Erkenntnis kann nur im
und vom Subjekt selbst gemacht werden.
Falsch wäre es, den inneren ἐπιστήμων λόγος, der das Denken des Wissenden repräsentiert,
einfach mit der mündlichen Rede gleichzusetzen. Denn einerseits ist die mündliche Rede
bestenfalls die Verlautlichung jenes seelischen λόγος und, insofern sie dadurch empirisch wird,
schon nicht mehr unmittelbar mit ἐπιστήμη verbunden, die ja nur in der Seele vorhanden sein
kann; andererseits wird der Urheber eines mündlichen λόγος in den meisten Fällen gar nicht
über eine wirkliche Einsicht im Sinne Platons verfügen, sodass seine Reden ohnehin nichts mit
dem von Platon gelobten ἐπιστήμων λόγος gemein haben können.
Szlezák mag recht haben, wenn er behauptet, das Thema des Phaidros sei die Frage, „(…)
welche Art von λόγος überlegen ist (…)“95; doch greift er zu kurz, wenn er das Ergebnis des
Dialogs folgendermaßen zusammenfasst: „(…) der geschriebene λόγος des Philosophen ist den
Schriften anderer überlegen, sein mündlicher λόγος aber seinen eigenen Schriften.“96 Es ist
sicher richtig, dass die λόγοι des Philosophen, d. h. desjenigen, der mit Einsicht und Dialektik
vorgeht, den λόγοι anderer Menschen überlegen sind, und dass seine mündlichen λόγοι –
aufgrund ihrer höheren Flexibilität und größeren Nähe zum Sprecher – seinen schriftlichen
überlegen sind. Andererseits scheint es nicht unwesentlich, dass die eigentlichen γνήσιοι ὑεῖς
des wissenden Dialektikers laut Platon eben weder mündliche noch schriftliche λόγοι sind,
sondern die in der Seele gefundenen ἐπιστήμονες λόγοι. Diese aber werden von Szlezák
kurzerhand mit einer bestimmten Art von mündlichen Reden identifiziert.97 Die meisten
anderen Kommentatoren arbeiten die Besonderheit der seelischen λόγοι ebenfalls nicht klar

95
Szlezák 1985, 30.
96
Szlezák 1985, 30.
97
Vgl. ebd., 17 f.

40
heraus.98 Wir hingegen wollen hier ausdrücklich ihre Verschiedenheit von den mündlichen
λόγοι betonen, zumal dies auch für die Korrektur der derridaschen Interpretation des Phaidros
von Bedeutung sein wird.

3.3.2. Die τιμιώτερα


Was Szlezák andererseits sehr treffend erörtert, ist die Bedeutung des Begriffs der τιμιώτερα,
der gegen Ende des Dialogs von Sokrates gebraucht wird. In der betreffenden Passage geht es
um die Frage, welcher Name demjenigen zusteht, der auf angemessene Weise schreibt und der
Schrift nicht blind vertraut (278 c4−e2):

ΣΩ. (…) εἰ μὲν εἰδὼς ᾗ τὸ ἀληθὲς ἔχει συνέθηκε ταῦτα, καὶ ἔχων βοηθεῖν, εἰς ἔλεγχον ἰὼν περὶ
ὧν ἔγραψε, καὶ λέγων αὐτὸς δυνατὸς τὰ γεγραμμένα φαῦλα ἀποδεῖξαι, οὔ τι τῶνδε ἐπωνυμίαν
ἔχοντα δεῖ λέγεσθαι τὸν τοιοῦτον, ἀλλ’ ἐφ’ οἷς ἐσπούδακεν ἐκείνων.
ΦΑΙ. Τίνας οὖν τὰς ἐπωνυμίας αὐτῷ νέμεις;
ΣΩ. Τὸ μὲν σοφόν, ὦ Φαῖδρε, καλεῖν ἔμοιγε μέγα εἶναι δοκεῖ καὶ θεῷ μόνῳ πρέπειν· τὸ δὲ ἢ
φιλόσοφον ἢ τοιοῦτόν τι μᾶλλόν τε ἂν αὐτῷ καὶ ἁρμόττοι καὶ ἐμμελεστέρως ἔχοι.
ΦΑΙ. Καὶ οὐδέν γε ἀπὸ τρόπου.
ΣΩ. Οὐκοῦν αὖ τὸν μὴ ἔχοντα τιμιώτερα ὧν συνέθηκεν ἢ ἔγραψεν ἄνω κάτω στρέφων ἐν χρόνῳ,
πρὸς ἄλληλα κολλῶν τε καὶ ἀφαιρῶν, ἐν δίκῃ που ποιητὴν ἢ λόγων συγγραφέα ἢ νομογράφον
προσερεῖς;

„So.: (…) wenn er aber im Wissen, wie sich die Sache in Wahrheit verhält, dies abgefasst hat,
und er dem Geschriebenen zu Hilfe kommen kann, indem er sich auf eine Prüfung einlässt über
das, was er geschrieben hat, und er im Gespräch dazu imstande ist, das Geschriebene als
minderwertig zu erweisen, dann soll er nicht danach benannt sein, als ein solcher, sondern nach
jenem, womit es ihm eigentlich ernst war.
Phai.: Welche Benennung teilst du ihm also zu?
So.: Jemanden einen Weisen zu nennen, o Phaidros, scheint mir etwas Großes zu sein und Gott
allein zu gebühren; ihn aber einen Freund der Weisheit (einen Philosophen) zu nennen oder etwas
dergleichen, das dürfte für ihn eher passen und stimmiger sein.
Phai.: Und gar nicht unziemlich.
So.: Wer dagegen nichts Wertvolleres hat als das, was er abgefasst oder geschrieben hat, indem
er es im Lauf der Zeit hin- und hergewendet hat, es an einander leimend und wieder voneinander
trennend, den wirst du wohl mit Recht einen Dichter, Redenschreiber oder Gesetzesverfasser
nennen?“

Wer richtig schreibt, weiß um die Mangelhaftigkeit des Mediums Schrift und wird, eben weil
aus der Schrift nichts „Klares und Sicheres“ (275 c6 σαφὲς καὶ βέβαιον) entstehen kann,
Wertvolleres (τιμιώτερα) zurückhalten und nicht schriftlich publizieren. Diese τιμιώτερα
zeichnen den Philosophen vor dem Nicht-Philosophen aus: Letzterer kann bei einem
mündlichen ἔλεγχος seinem Werk nicht zu Hilfe kommen (βοηθεῖν), da er über keine

98
Hackforth und Yunis argumentieren zwar teilweise in unserem Sinn, doch bleiben sie eine konsequente Deutung
schuldig, vgl. Hackforth 1952, 162 ff.; Yunis 2011, 239. Heitsch geht noch am ausführlichsten auf die
Andersartigkeit dieser inneren λόγοι ein und verweist auch richtig auf die Parallele zum Symposion, wo Diotima
in 209 a−c die Zeugung von geistigen Kindern in der eigenen Seele und in der Seele des Geliebten als die schönste
Erfüllung beschriebt, die man als sterblicher Mensch erfahren kann, vgl. Heitsch 1997, 202 und 211.

41
Rechtfertigung bzw. Begründung verfügt, die über das, was er bereits verschriftlicht hat,
hinausginge. Der philosophische Autor hingegen ist imstande, dem von ihm Geschriebenen im
mündlichen Dialog zu Hilfe zu kommen, weil er im Besitz einer „inhaltlich weiter reichende[n],
genauer begründete[n] Theorie“99 ist. Diese hat er zunächst nicht verschriftlicht, denn „(…) der
Schreibende, der den Leser und seine Seele nicht kennt, kann ihre Eignung, ihre Bereitschaft,
ihre Reaktion nicht berücksichtigen. Da die Bedingungen für die Entfaltung der überlegenen,
auf Dialektik gegründeten Seelenerkenntnis des Philosophen in der Schrift nicht gegeben sind,
wird er sich hüten, seine Darlegung gegen die Regeln der Kunst, nämlich zur Unzeit und vor
Ungeeigneten, vorzulegen.“100 Es bleibt ihm also nur der Ausweg, das, womit es ihm wirklich
ernst ist (ἐφ’ οἷς ἐσπούδακεν), ausschließlich in einem mündlichen Gespräch zu behandeln.
Hier kann er sich auf sein Gegenüber einstellen und gemäß den jeweiligen Umständen
entscheiden, welche Inhalte er aus didaktischen Gründen preisgeben und welche er lieber
zurückhalten will. Ebendas unterscheidet ihn von dem bloßen „Dichter, Redenschreiber oder
Gesetzesverfasser“ (ποιητὴν ἢ λόγων συγγραφέα ἢ νομογράφον).
Szlezák, der mit Nachdruck diese Deutung der τιμιώτερα im inhaltlichen Sinn vertreten hat,
wollte damit allerdings nicht behaupten, dass die platonischen Dialoge – insofern sie selbst
Schriftwerke eines Philosophen sind – überhaupt keine Rückschlüsse auf Platons eigentliche
Lehre zulassen würden; vielmehr enthalten die Dialoge selbst Beispiele, in denen von Sokrates
demonstriert wird, was es heißt, seinem λόγος inhaltlich zu Hilfe zu kommen.101 Zudem betont
Szlezák die Relativität des τιμιώτερα-Begriffs: Es ist durchaus möglich, dass das, was in einem
platonischen Dialog als „Wertvolleres“ zurückgehalten wird, in einem anderen Dialog, der sich
bereits auf einem höheren philosophischen Niveau bewegt, explizit zum Ausdruck kommt.102
Nur Platons Letztbegründung „bis hinauf zu den αρχαί“103 sei tatsächlich in keinem Dialog
ausdrücklich niedergeschrieben, was freilich die mögliche Rekonstruktion dieser
„ungeschriebenen Lehre“ nicht ausschließt.
Andere Interpreten haben Szlezáks inhaltliche Deutung der τιμιώτερα teilweise abgelehnt
und in ihnen eine nur oberflächliche Fähigkeit zur Verteidigung des eigenen Textes sehen
wollen, für die keine inhaltlich weiterreichende Theorie nötig sei.104 Wir wollen uns hier aber
dem Urteil Ferbers anschließen, der für Szlezáks Position eintritt und die Einwände der Kritiker

99
Szlezák 1985, 44.
100
Ebd., 47 f.
101
Vgl. ebd., 19 ff.
102
So bieten etwa die Politeia und der Timaios Inhalte, die im Phaidros aufgrund der mangelnden Eignung des
Gesprächspartners als τιμιώτερα ausgespart geblieben sind, vgl. Szlezák 1985, 44 ff.
103
Ebd., 46.
104
Vgl. etwa Heitsch 1997, 199 f. und 216 f.; Vlastos 1981, 395 ff.

42
glaubwürdig entkräftet: „Würden die timiōtera nur eine okkasionelle mündliche Hilfestellung
bedeuten, so wäre schwerlich einzusehen, weshalb die von Platon als Nichtphilosophen
bekämpften Dichter und Redenschreiber nicht auch zu solcher Hilfestellung imstande und somit
auch Philosophen wären.“105 Denn man muss berücksichtigen, dass Platon hier definiert, wer
als Philosoph bezeichnet werden kann und wer nicht.106 Wenn die τιμιώτερα lediglich eine
inhaltlich nicht über den Text hinausgehende Verteidigung desselben gegen oberflächliche
Missverständnisse meinen sollten, wäre eine an ihnen orientierte Abgrenzung zwischen
Philosophen und Schriftstellern wohl kaum möglich.
Akzeptiert man Szlezáks Interpretation, so folgt freilich auch daraus nicht, dass die Schrift
etwas absolut Schlechtes wäre; denn „(…) aus dem Komparativ τιμιώτερα ist ein relativer Sinn
auch für φαῦλον zu entnehmen: nur im Vergleich mit dem, was beim ‘Helfen’ zutage tritt,
erweisen sich die Schriften des Philosophen als von geringerem Rang.“ Platons Forderung, dass
ein Philosoph über τιμιώτερα verfügen müsse, ändert somit nichts daran, dass im Phaidros die
Schrift nicht völlig abgewertet wird. Vielmehr entspricht es der einhelligen
Forschungsmeinung, dass Platon den Wert der Schrift nur relativieren und ein Bewusstsein für
ihre Defizite schaffen wollte.107 Kritisiert wird von ihm „(…) nicht die Schrift als solche.
Kritisiert wird, wer mit ihr auf unangemessene Weise umgeht und wer ihr Leistungen
abverlangt, die sie nun einmal nicht erbringen kann.“108
Platon macht im Phaidros also darauf aufmerksam, dass man gut oder schlecht reden oder
schreiben kann, und es vor allem wichtig ist, die Stärken und Schwächen des jeweiligen
Mediums zu kennen. Seine Schriftkritik richtet sich nicht gegen das Schreiben schlechthin,
sondern gegen den naiven Umgang mit der Schrift, wie ihn im Dialog zunächst Phaidros
verkörpert, der dann aber von Sokrates eines Besseren belehrt wird.109

3.4. Die Uneindeutigkeit mündlicher Signifikanten


Dass im Phaidros nicht nur schriftliche, sondern auch mündliche λόγοι kritisiert werden, ist
schon hinreichend deutlich geworden. Abschließend sei aber noch auf eine konkrete Stelle
hingewiesen, aus der besonders klar hervorgeht, dass Platon auch die mündliche Rede durchaus
nicht für ein eindeutiges und sicheres Kommunikationsmittel hält (263 a2−11):

ΣΩ. Ἆρ’ οὖν οὐ παντὶ δῆλον τό γε τοιόνδε, ὡς περὶ μὲν ἔνια τῶν τοιούτων ὁμονοητικῶς ἔχομεν,
περὶ δ’ ἔνια στασιωτικῶς;
ΦΑΙ. Δοκῶ μὲν ὃ λέγεις μανθάνειν, ἔτι δ’ εἰπὲ σαφέστερον.

105
Ferber 2007, 35 f.
106
Vgl. ebd., 28.
107
Vgl. Erler 2007, 220.
108
Wieland 1999, 17.
109
Vgl. Heitsch 1997, 212.

43
ΣΩ. Ὅταν τις ὄνομα εἴπῃ σιδήρου ἢ ἀργύρου, ἆρ’ οὐ τὸ αὐτὸ πάντες διενοήθημεν;
ΦΑΙ. Καὶ μάλα.
ΣΩ. Τί δ’ ὅταν δικαίου ἢ ἀγαθοῦ; οὐκ ἄλλος ἄλλῃ φέρεται, καὶ ἀμφισβητοῦμεν ἀλλήλοις τε καὶ
ἡμῖν αὐτοῖς;
ΦΑΙ. Πάνυ μὲν οὖν.

„So.: Ist nun nicht für jeden das Folgende klar, dass wir über einige solcher Dinge dasselbe
denken, über andere aber geteilter Meinung sind?
Phai.: Ich glaube zu verstehen, was du meinst, aber sag es noch deutlicher.
So.: Wenn einer das Wort ‘Eisen’ oder ‘Silber’ sagt, denken wir dann nicht alle dasselbe?
Phai.: Durchaus.
So.: Was aber, wenn einer das Wort ‘gerecht’ oder ‘gut’ sagt? Strebt dann nicht der eine
gedanklich hierhin, der andere dorthin, und sind wir dann nicht uneins mit einander und uns
selbst?
Phai.: Ganz und gar.“

Sokrates kommt auf den Unterschied zwischen ein- und mehrdeutigen Wörtern zu sprechen,
weil seiner Argumentation nach die rhetorische Überredung, die auf Täuschung basiert, im
Bereich der mehrdeutigen Wörter am besten funktioniert. Konsequenterweise muss ein guter
Redner deshalb von jedem Wort wissen, in welche der beiden Klassen es gehört (263b 6−9).
Mit dieser Einteilung wird von Sokrates bereits die Methode der Dihairesis angedeutet und das
Argument vorbereitet, dass der vollendete Rhetor auch die Dialektik beherrschen müsse.110
Aus der Stelle ist jedenfalls offenkundig, dass für Platon ein Wort (ὄνομα) nicht notwendig
eine gesicherte Bedeutung hat. Dies gilt keineswegs nur für geschriebene, sondern genauso für
gesprochene Worte; in der zitierten Passage ist sogar nur von gesprochenen Worten die Rede,
es heißt dort: „Wenn einer das Wort ‘Eisen’ oder ‘Silber’ sagt (…)“ (Ὅταν τις ὄνομα εἴπῃ
σιδήρου ἢ ἀργύρου). Dasselbe „sagen“ (εἴπῃ) ist als Prädikat auch im nächsten Satz des
Sokrates zu ergänzen, in dem er über die mehrdeutigen Wörter ‘gerecht’ und ‘gut’ spricht.
Schon im Phaidros wird also nicht nur die Undeutlichkeit der Schrift, sondern auch die der
Mündlichkeit thematisiert. Dass die Unterscheidung von Wörtern, die präzise auf bestimmte
Signifikate verweisen, und denen, die das nicht tun, in dieser Form von Platon allerdings nicht
ganz ernst gemeint sein kann, wird bei der folgenden Analyse des Kratylos und des VII. Briefs
noch zu erläutern sein. Es sei hier nochmals angemerkt, dass die entsprechende Behauptung des
Sokrates innerhalb des Phaidros nur einen untergeordneten Argumentationsschritt darstellt, der
von Platon womöglich bewusst überzeichnet wurde. Zwar erreicht Sokrates auf diese Art sein
Ziel, die Dialektik als notwendige Voraussetzung für die ideale Rhetorik zu erweisen, doch
bleibt zweifelhaft, warum es eine Gruppe von ὀνόματα geben soll, bei denen wir tatsächlich
alle dasselbe denken (τὸ αὐτὸ πάντες διενοήθημεν). Wir wollen annehmen, dass damit eher auf

110
Vgl. ebd., 138; Yunis 2011, 191.

44
die relativ gesehen größere Deutlichkeit mancher Wörter verwiesen werden soll, nicht auf deren
absolute Eindeutigkeit.
Selbst wenn wir aber vorläufig davon ausgehen sollten, dass gemäß der Aussage des
Sokrates manche mündlich geäußerte ὀνόματα auf genau ein bestimmtes Signifikat verweisen,
bleibt die Tatsache bestehen, dass dies eben nicht für alle Wörter gilt. Mithin ist in jedem Fall
schon aus dem Phaidros ersichtlich, dass mündliche Signifikanten von Platon nicht immer als
verlässlich und eindeutig aufgefasst wurden.

3.5. Derridas Fehlinterpretation des Phaidros


Vergleicht man nun das Ergebnis unserer Analyse mit Derridas Thesen in der Grammatologie,
so ergibt sich eine augenscheinliche Diskrepanz zwischen dem, was Derrida über Platon
behauptet, und dem, was sich bei einer genauen Lektüre des Phaidros als eigentlich
platonisches Gedankengut erweist.
Zunächst ist hervorzuheben, dass im Dialog die Schriftkritik gewissermaßen nur als
Unterpunkt einer größeren Diskussion zu sehen ist, in der es darum geht, wie man auf gute
Weise reden oder schreiben müsse (259 e1−2). Dabei wird von Anfang an vorausgesetzt, dass
das Schreiben per se nichts Schlechtes ist (258 d1). Erst nachdem von Sokrates
Qualitätskriterien für die ideale Wissensvermittlung definiert worden sind, wird offenbar, dass
diese in einem mündlichen Lehrgespräch besser eingehalten werden können als in einem
geschriebenen Werk. Bei Nichterfüllung der besagten Anforderungen ist aber auch durch die
Mündlichkeit keine erfolgsversprechende Kommunikation garantiert. Platon behauptet im
Phaidros also nicht, dass die mündliche Rede grundsätzlich der Schrift überlegen wäre, sondern
schreibt ihr lediglich einen potentiell höheren didaktischen Nutzen zu, was Derrida völlig
verkennt.
Prinzipiell geht es im zweiten Teil des Phaidros um die ideale Kommunikation bzw.
Wissensvermittlung im Allgemeinen (d. h. unabhängig vom Medium), und nicht um eine
einseitige Verdammung der Schrift; Derrida hingegen missachtet den Gesamtkontext des
Dialogs und betont den Aspekt der Schriftkritik über Gebühr. Yoav Rinon hat in zwei Aufsätzen
Derridas Platoninterpretation in der Dissemination untersucht111 und ebenfalls darauf
hingewiesen, dass im Phaidros in Wahrheit viel weniger Wert auf die Differenz zwischen
Mündlichkeit und Schriftlichkeit gelegt wird als später von Derrida behauptet:

„The basic equality of writing and speech, which is prior to moral definitions, is a recurring theme
in the dialogue, not only in 258d4-5 and 259e1-2, but also in the following passages: λεχθήσεται
ἢ γραφήσεται (271b8), λέγωσί τε καὶ γράφωσι (271c4), λέγων ἢ γράφων (272b1). In 273a7

111
Vgl. Rinon 1992 und 1993.

45
Teisias speaks (λέγει), and in 273b4 he writes (ἔγραψεν). These may serve as examples of the
limited importance of binaric oppositions within the Platonic text, which stands in contrast to the
predominance given them by deconstructionists.”112

Schon die grundsätzliche Herangehensweise Derridas an den Phaidros zeigt also seine Ignoranz
gegenüber dem eigentlich dort behandelten Thema. Dass er außerdem die Meinung vertritt,
Platon habe der Mündlichkeit im Gegensatz zur Schriftlichkeit unmittelbare Sinnpräsenz und
Nähe zu einer ewigen Wahrheit zugeschrieben, ist möglicherweise aus einem falschen
Verständnis der von Sokrates erwähnten seelischen λόγοι zu erklären: Wenn man die in die
Seele eingeschriebenen Reden einfach mit den mündlichen λόγοι gleichsetzt, gelangt man
allenfalls zu der Auffassung, dass Platon die Mündlichkeit für ein unmittelbar mit Wahrheit
verbundenes Medium gehalten habe. Bei einer genaueren Betrachtung der einschlägigen
Passagen ist hingegen evident, dass Platon (1) zwischen mündlichen und seelischen λόγοι
unterscheidet und er (2) nur von bestimmten mündlichen λόγοι glaubt, dass sie in die Seele
eingeschrieben werden können. Schließlich muss eine mündliche Rede den besagten
Qualitätskriterien entsprechen, um in der Seele des Rezipienten wirkliches Wissen hervorrufen
zu können. Damit ist klar, dass Platon die Schrift keinesfalls deshalb kritisiert, weil er sie – wie
von Derrida behauptet – für ein Abbild des eine ewige Wahrheit bezeichnenden gesprochenen
Wortes hält; vielmehr ist sie für ihn ein Abbild des inneren ἐπιστήμων λόγος (276 a1−9), der
aber seinerseits nicht einfach mit der mündlichen Rede identifiziert werden darf. Stimme und
Schrift sind für Platon beide nur äußerliche Medien, die nicht mit dem wahren Wissen in der
Seele gleichzusetzen sind oder als damit unmittelbar verbunden gedacht werden können.113
Koschorke kritisiert noch einen weiteren Aspekt an Derridas Interpretation der
Seelenschrift-Metapher; er betont, dass für die Entwicklung der abendländischen Metaphysik
die Vorstellung einer ideellen Schrift eine wesentliche Rolle gespielt habe und dass „(…) der
Primat der Stimme, den er [=Derrida] als grundlegend für die europäische
Philosophiegeschichte ansieht, sich aus der Logik des Literalen ableitet und von dieser Logik
nicht bedroht, sondern stabilisiert wird.“114 Wenn Derrida also in Bezug auf die Seelenschrift
von einer „metaphorische[n] Vermittlung“ spricht, die „Unmittelbarkeit vorgetäuscht hat“,
während der Logozentrismus die Schrift in Wahrheit „in die Sekundarität verwiesen“ habe,115
so zeuge dies von seinem falschen Verständnis der platonischen Metaphorik;116 tatsächlich sei
„(…) das Modell der Seeleneinschreibung auf einem durchaus materialen Niveau Grundlage

112
Rinon 1993, 542, Fußn. 16.
113
Vgl. Borsche 1986, 319.
114
Koschorke 1995, 48.
115
Vgl. oben, 20 f.
116
Vgl. Koschorke 1995, 46 ff.

46
für alle alteuropäischen Wissenstheorien gewesen.“117 Die Vorstellung eines wahren, in der
Seele fixierbaren Logos sei durch die Erfindung und Etablierung der empirischen Schrift, die
dabei als Metapher fungiert, allererst möglich geworden.118 Demnach fordert Derrida in der
Grammatologie zu Unrecht, dass die übertragene Bedeutung der Schrift endlich entsprechend
gewürdigt werden müsse, da sich die von ihm kritisierte „logozentrische“ Metaphysik ebenfalls
auf einen metaphorischen Schriftbegriff stützt. Zudem scheint es etwas weit hergeholt, in
Platons Seelenschrift-Metapher lediglich eine Art Täuschung und Verschleierung von dessen
(vermeintlich) logozentrischem Denken zu sehen. Dass Platon mit dem Bild der in die Seele
eingeschriebenen λόγοι von der Diskriminierung der Schrift ablenken wollte, ist schon deshalb
unglaubwürdig, weil er ohnehin eine wesentlich differenziertere Meinung zur Schriftlichkeit
hatte als in der Grammatologie suggeriert. Es wirkt somit übertrieben, in der Phaidros-Stelle
eine „metaphorische Ablenkung“119 zu sehen (und sei sie auch nur unbewusst verursacht).
Sinnvoller scheint das Argument Koschorkes, wonach die Idee einer geistigen Schrift
konstitutiv für die Entwicklung der abendländischen Metaphysik gewesen sei und als solche
auch bei Platon begegne. Die Annahme einer Täuschung oder Ablenkung dürfte lediglich aus
Derridas Bedürfnis entspringen, die Philosophiegeschichte entsprechend seinen Thesen über
den allesbeherrschenden Logozentrismus umzuinterpretieren.
Derridas Behauptung, dass sich der gesprochene λόγος einbilde, sein eigener Vater zu sein
und keiner weiteren Hilfe zu bedürfen,120 ist ebenfalls nicht mit dem Phaidros vereinbar. Wir
haben gezeigt, dass allein der seelische λόγος keiner väterlichen Hilfe bedarf, weil er das innere
Denken des Wissenden selbst repräsentiert und in dieser Form auch nicht gegen
Fehlinterpretationen verteidigt werden muss. Erst die mündliche oder schriftliche Äußerung des
seelischen Wissens bedarf der Hilfe ihres Vaters. Wenngleich Platon in diesem Zusammenhang
vor allem die Hilfsbedürftigkeit der verschriftlichten λόγοι betont (275 e1−6), sind
grundsätzlich auch mündlich geäußerte Signifikanten nicht immer eindeutig und können auf
unterschiedliche Weise interpretiert werden (263 a2−11). Somit ist implizit klar, dass ein
mündlicher λόγος ebenso auf die Hilfe seines Vaters angewiesen ist wie ein schriftlicher, wenn
seine richtige Interpretation gewährleistet werden soll. Zwar mag es leichter sein, seinen
eigenen mündlichen Ausführungen zu Hilfe zu kommen als seinen schriftlichen Werken, die
auf kaum kontrollierbare Weise zirkulieren und womöglich in falsche Hände geraten; doch auch
gesprochene Reden können falsch verstanden werden und bedürfen somit gegebenenfalls einer

117
Ebd., 47.
118
Vgl. ebd., 53 f.
119
Vgl. oben, 19.
120
Vgl. oben, 20.

47
Hilfestellung durch ihren Sprecher. Damit kann Derridas These von der angeblich sich selbst
genügenden Mündlichkeit, welche vermeint, keine weitere interpretatorische Hilfe zu
benötigen, ebenfalls als widerlegt gelten. Im Folgenden wird dieser Punkt allerdings noch
genauer auszuführen sein.
Nachdem nun bereits aus dem Phaidros deutlich wurde, dass für Platon mündliche und
schriftliche Äußerungen nicht immer verlässlich und deshalb anfällig für Fehlinterpretationen
sind, wollen wir im Anschluss unter Heranziehung des Kratylos weiter der Frage nachgehen,
wie Platon eigentlich die Sprache aus epistemologischer Sicht beurteilt.

48
4. Platons Sprachphilosophie im Kratylos
Wir wollen in diesem Kapitel näher untersuchen, ob bzw. inwiefern Platon in den Namen
(ὀνόματα) eine Möglichkeit zum Erkenntnisgewinn sieht, um dann seine Position wiederum
mit Derridas Darstellung in der Grammatologie zu vergleichen.
Im Kratylos wird zunächst die Frage diskutiert, „(…) whether the correctness of names is a
natural or a conventional matter.“121 Allerdings verschiebt sich das Gesprächsthema gegen
Ende des Dialogs von einer linguistischen hin zu einer ontologischen Fragestellung: Nachdem
die konträren sprachtheoretischen Positionen der Gesprächspartner Hermogenes und Kratylos
(jener vertritt die συνθήκῃ-, dieser die φύσει-These) von Sokrates beide in ihrer Radikalität als
unhaltbar erwiesen worden sind, mündet das Gespräch in eine Gegenüberstellung der
herakliteischen Flusslehre und der platonischen Ideenlehre und schließt mit
erkenntnistheoretischen Überlegungen.122 Wahrscheinlich hat deshalb Konrad Gaiser das
Thema des Kratylos am treffendsten umrissen, wenn er formuliert, „(…) das Hauptproblem des
Dialogs sei der Name als Bedingung für di e Erkenntnis der S ache “.123
Dabei gilt es zu beachten, „(…) dass Name (ὄνομα) im Griechischen nicht nur Eigenname
bedeutet, sondern auch den Bereich von Substantiv, Adjektiv, sowie Partizip umfasst und
‘Wort’ oder ‘sprachliche Bezeichnung’ meint.“124 Im Folgenden sind die Begriffe ‘Name’,
‘Wort’ und ‘Bezeichnung’ alle im Sinne des griechischen ὄνομα zu verstehen.

4.1. Kratylos’ These von der natürlichen Wortrichtigkeit


Gleich zu Beginn des Dialogs stellt Hermogenes dem eben hinzugetretenen Sokrates die These
seines Gesprächspartners Kratylos125 vor, wonach es eine natürliche Richtigkeit der Namen
gebe (383 a4−b2):

Κρατύλος φησὶν ὅδε, ὦ Σώκρατες, ὀνόματος ὀρθότητα εἶναι ἑκάστῳ τῶν ὄντων φύσει πεφυκυῖαν,
καὶ οὐ τοῦτο εἶναι ὄνομα ὃ ἄν τινες συνθέμενοι καλεῖν καλῶσι, τῆς αὑτῶν φωνῆς μόριον
ἐπιφθεγγόμενοι, ἀλλὰ ὀρθότητά τινα τῶν ὀνομάτων πεφυκέναι καὶ Ἕλλησι καὶ βαρβάροις τὴν
αὐτὴν ἅπασιν.

„Kratylos hier behauptet, o Sokrates, dass es eine Richtigkeit des Namens gebe, die von Natur
aus jedem von den seienden Dingen zukommt, und dass nicht dasjenige ein Name sei, was
irgendwelche Leute, nachdem sie sich darauf geeinigt haben, sagen, indem sie es als Teil ihrer
Sprache aussprechen, sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der Namen, dieselbe für alle,
seien sie Griechen oder Barbaren.“

121
Ademollo 2011, 1.
122
Vgl. Ackrill 1997, 33 f.; Gaiser 1974, 7 f.
123
Ebd., 8.
124
Erler 2007, 111.
125
Bei Kratylos handelt es sich historisch gesehen um einen früheren Lehrer Platons, der überzeugter Herakliteer
war und hier als junger Mann porträtiert wird, vgl. Sedley 2003, 16−21; Ademollo 2011, 14−18.

49
Der Ausdruck „Richtigkeit der Namen“ (ὀρθότης τῶν ὀνομάτων) muss auf die Relation
zwischen Name und Sache bezogen werden.126 Wenn ein Name eine Sache treffend bezeichnet,
ist er „korrekt“. Wie aus dem späteren Verlauf des Dialogs deutlich wird, geht Kratylos
allerdings so weit, zu sagen, dass der Begriff ὄνομα immer schon die korrekte Benennung einer
Sache impliziert und ein Name gar nicht im strengen Sinn „falsch“ sein kann (429 b10−11). Es
gibt für ihn nur richtige Namen, die allesamt ideale Abbilder der Dinge sind, sodass mit der
Kenntnis eines Namens immer auch die Kenntnis der benannten Sache einhergeht.127 Aufgrund
dieser Theorie behauptet Kratylos gegenüber seinem Gesprächspartner, dass dessen Name
eigentlich gar nicht Hermogenes sei (283 b6−7): Οὔκουν σοί γε, ἦ δ’ ὅς, ὄνομα Ἑρμογένης,
οὐδὲ ἂν πάντες καλῶσιν ἄνθρωποι („Dein Name zumindest, sagte er, ist nicht Hermogenes,
auch wenn alle Menschen dich so nennen.“). Denn seiner Meinung nach muss ein Name die
Natur der bezeichneten Sache bzw. Person genau abbilden, was ihm bei seinem
Gesprächspartner nicht der Fall zu sein scheint. Wie aus der späteren Bemerkung des Sokrates
erhellt (384 c3−9), besteht nämlich ein Kontrast „(…) between the fact that ‘Hermogenes’
etymologically means ‘offspring of Hermes’, Hermes being the patron god of thieves and
merchants, of lucky stroke and gain, and the fact that Hermogenes is always frustrated in his
economical yearnings.”128 Es ist hier also genauer gesagt die Etymologie eines Namens, die
gemäß Kratylos’ These mit der Natur der benannten Sache übereinstimmen muss. Um die
Richtigkeit dieses Ansatzes zu überprüfen, wird Sokrates im Mittelteil des Dialogs eine lange
etymologische Wortanalyse durchführen.

4.2. Hermogenes’ These von der konventionellen Wortrichtigkeit


Hermogenes hingegen vertritt einen konventionalistischen Standpunkt. Er ist der Ansicht, dass
sich die Richtigkeit der Namen lediglich auf Gewohnheit und Übereinkunft gründet (384
c9−d8):

(…) οὐ δύναμαι πεισθῆναι ὡς ἄλλη τις ὀρθότης ὀνόματος ἢ συνθήκη καὶ ὁμολογία. ἐμοὶ γὰρ
δοκεῖ ὅτι ἄν τίς τῳ θῆται ὄνομα, τοῦτο εἶναι τὸ ὀρθόν· καὶ ἂν αὖθίς γε ἕτερον μεταθῆται, ἐκεῖνο
δὲ μηκέτι καλῇ, οὐδὲν ἧττον τὸ ὕστερον ὀρθῶς ἔχειν τοῦ προτέρου, ὥσπερ τοῖς οἰκέταις ἡμεῖς
μετατιθέμεθα [οὐδὲν ἧττον τοῦτ’ εἶναι ὀρθὸν τὸ μετατεθὲν τοῦ πρότερον κειμένου]·129 οὐ γὰρ
φύσει ἑκάστῳ πεφυκέναι ὄνομα οὐδὲν οὐδενί, ἀλλὰ νόμῳ καὶ ἔθει τῶν ἐθισάντων τε καὶ
καλούντων.

„(…) ich kann nicht glauben, dass es eine andere Richtigkeit des Namens gibt als Übereinkunft
und gemeinsame Zustimmung. Mir scheint nämlich das, was auch immer man irgendeiner Sache
als Name gibt, ihr richtiger Name zu sein; und wenn man stattdessen einen anderen Namen

126
Vgl. Ademollo 2011, 25.
127
Vgl. Baxter 1992, 12.
128
Ademollo 2011, 29.
129
Die von Burnet athetierte Passage bleibt hier unübersetzt; es scheint sich um eine spätere Glosse zu handeln.

50
einsetzt, jenen aber nicht mehr verwendet, scheint mir der spätere um nichts weniger richtig zu
sein als der frühere, wie wir ja auch unsere Sklaven umbenennen; denn mir scheint kein Name
irgendeiner Sache von Natur aus zuzukommen, sondern durch Sitte und Gewohnheit derer, die
ihn in den Gebrauch einführen und verwenden.“

Anders als Kratylos glaubt Hermogenes also nicht, dass Worte Rückschlüsse auf die
Beschaffenheit der damit bezeichneten Dinge zulassen. Seiner Meinung nach kann jede
beliebige Person einen Namen festsetzen, wobei jeder so festgesetzte Name bereits als „richtig“
zu gelten hat (ὅτι ἄν τίς τῳ θῆται ὄνομα, τοῦτο εἶναι τὸ ὀρθόν). Manche Interpreten haben
kritisiert, diese Behauptung lasse sich nicht damit vereinbaren, dass Hermogenes andererseits
die Richtigkeit der Bezeichnungen auf Konvention (συνθήκη, ὁμολογία) gründen will, weil
diese bereits mehr als einen Sprecher voraussetze.130 Gegen diesen Einwand sind zwei
Argumente vorzubringen: Erstens scheint Hermogenes in Wahrheit hauptsächlich den
Sprachgebrauch von Gruppen im Blick zu haben und lediglich zu meinen, dass Namen zwar
zuerst von Einzelpersonen festgelegt werden, dass sie anschließend aber innerhalb einer
Sprechergemeinschaft durch Vereinbarung und Gewohnheit legitimiert werden müssen.131 Er
kommt nämlich noch ein zweites Mal auf die Möglichkeit einer individuell variierenden
Namensverwendung zu sprechen, und auch an dieser Stelle wirkt es, als würde sein Argument
vor allem auf den Sprachgebrauch einzelner Gruppen abzielen (385 d7−12):

Οὐ γὰρ ἔχω ἔγωγε, ὦ Σώκρατες, ὀνόματος ἄλλην ὀρθότητα ἢ ταύτην, ἐμοὶ μὲν ἕτερον εἶναι καλεῖν
ἑκάστῳ ὄνομα, ὃ ἐγὼ ἐθέμην, σοὶ δὲ ἕτερον, ὃ αὖ σύ. οὕτω δὲ καὶ ταῖς πόλεσιν ὁρῶ ἰδίᾳ ἑκάσταις
ἐπὶ τοῖς αὐτοῖς κείμενα ὀνόματα,132 καὶ Ἕλλησι παρὰ τοὺς ἄλλους Ἕλληνας, καὶ Ἕλλησι παρὰ
βαρβάρους.

„Ich für meinen Teil, o Sokrates, kenne keine andere Richtigkeit des Namens als diese, dass es
mir möglich ist, für jede Sache einen Namen zu verwenden, den ich festgelegt habe, und es dir
möglich ist, einen anderen zu verwenden, den wiederum du festgelegt hast. Ich sehe aber, dass so
auch alle Städte ihre eigenen Namen für dieselben Dinge haben, sowohl die Griechen im
Vergleich zu anderen Griechen als auch die Griechen im Vergleich zu den Barbaren.“

Auf Hermogenes’ Behauptung, dass er und Sokrates verschiedene Namen gebrauchen können,
folgt hier unmittelbar die Anmerkung, dass auch einzelne Städte unterschiedliche
Bezeichnungen verwenden würden, und zwar sowohl „die Griechen im Vergleich zu anderen
Griechen als auch die Griechen im Vergleich zu den Barbaren.“ Damit nimmt Hermogenes
implizit auf die zuvor geäußerte These des Kratylos Bezug, wonach es dieselbe natürliche
Richtigkeit der Namen bei Griechen und Barbaren gebe (ὀρθότητά τινα τῶν ὀνομάτων

130
Vgl. Ademollo 2011, 40.
131
Vgl. Heitsch 1984, 12.
132
Ich habe mich hier mit Ademollo gegen die Lesart Burnets entschieden, der stattdessen folgende Variante bietet:
οὕτω δὲ καὶ ταῖς πόλεσιν ὁρῶ ἰδίᾳ [ἑκάσταις] ἐνίοις ἐπὶ τοῖς αὐτοῖς κείμενα ὀνόματα, vgl. Ademollo 2011, 75.

51
πεφυκέναι καὶ Ἕλλησι καὶ βαρβάροις τὴν αὐτὴν ἅπασιν).133 Jene etwas rätselhafte Behauptung
des Kratylos wird von Hermogenes also zurückgewiesen: Die Wortrichtigkeit sei eben nicht für
alle dieselbe, da sie statt auf Natur auf Konvention beruhe und demnach innerhalb einer
Sprechergruppe individuell vereinbart werden könne, was als korrekte Bezeichnung zu gelten
hat.
Noch ein zweites Argument lässt sich gegen den Vorwurf anführen, dass sich Hermogenes
selbst widerspreche, wenn er einerseits die Konvention als Grundlage für die Wortrichtigkeit
annimmt und er andererseits meint, jeder könne Namen individuell festlegen: Wie Ademollo
anmerkt, kann eine Vereinbarung auch von einer einzelnen Person mit sich selbst getroffen
werden und muss gar nicht unbedingt innerhalb einer Gruppe bestehen: „If the correctness of
names consists in a convention among speakers, then a particular case – the limiting case – of
this convention will be that where a single speaker makes, as it were, a convention with himself,
by deciding to impose a certain name on a certain thing.”134 Anders gesagt: die Anzahl der
Sprecher, die sich auf einen gewissen Wortgebrauch geeinigt haben, kann stark variieren; es
kann sich dabei um ganze Völker, Städte oder überhaupt nur um eine einzelne Person handeln;
entscheidend ist für Hermogenes, dass innerhalb dieser Gruppe (bzw. Person) eine
entsprechende Konvention darüber besteht, welche Sache wie benannt wird.
Vor diesem Hintergrund sollte klar sein, dass die jeweiligen Standpunkte des Kratylos und
des Hermogenes fundamental verschieden sind: „Nach Kratylos verdeutlicht (…) das Wort den
Gegenstand, die Bezeichnung das Wesen des Bezeichneten; nach Hermogenes verdeutlicht die
Bezeichnung einem Sprecher, was ein anderer Sprecher meint.“135

4.3. Sokrates’ Relativierung beider Thesen


4.3.1. Der Name als Werkzeug
Um nun Platons eigene Position zur Richtigkeit der Namen ergründen zu können, hat uns vor
allem zu interessieren, wie Sokrates mit den soeben skizzierten Thesen seiner beiden
Gesprächspartner umgeht und welches ὄνομα-Konzept er postuliert. Grundsätzlich ist
anzumerken, dass Sokrates anfangs scheinbar für Kratylos Partei ergreift, um die συνθήκῃ-
These zu widerlegen bzw. einzuschränken, anschließend aber ebenso mit der φύσει-These
verfährt und letztlich eine Mittelposition zwischen den beiden Extremen begründet. Zunächst
schickt er sich jedenfalls an, Kratylos’ Behauptung von der natürlichen Wortrichtigkeit zu

133
Vgl. oben, 49.
134
Vgl. Ademollo 2011, 40.
135
Heitsch 1984, 11.

52
verteidigen und einigt sich dafür in einem ersten Argumentationsschritt136 mit Hermogenes
darauf, dass die seienden Dinge (τὰ ὄντα) ein von uns unabhängiges, beständiges Wesen haben
(385 e4−386 e5). Anschließend meint er, dass unter diese auch die Handlungen zu zählen seien
(386 e7−8) und betont vor diesem Hintergrund den Handlungscharakter des Sprechens und
Benennens (387 b8−c11):

ΣΩ. Ἆρ’ οὖν οὐ καὶ τὸ λέγειν μία τις τῶν πράξεών ἐστιν;
ΕΡΜ. Ναί.
ΣΩ. Πότερον οὖν ᾗ ἄν τῳ δοκῇ λεκτέον εἶναι, ταύτῃ λέγων ὀρθῶς λέξει, ἢ ἐὰν μὲν ᾗ πέφυκε τὰ
πράγματα λέγειν τε καὶ λέγεσθαι καὶ ᾧ, ταύτῃ καὶ τούτῳ λέγῃ, πλέον τέ τι ποιήσει καὶ ἐρεῖ· ἂν δὲ
μή, ἐξαμαρτήσεταί τε καὶ οὐδὲν ποιήσει;
ΕΡΜ. Οὕτω μοι δοκεῖ ὡς λέγεις.
ΣΩ. Οὐκοῦν τοῦ λέγειν μόριον τὸ ὀνομάζειν; διονομάζοντες γάρ που λέγουσι τοὺς λόγους.
ΕΡΜ. Πάνυ γε.
ΣΩ. Οὐκοῦν καὶ τὸ ὀνομάζειν πρᾶξίς [τίς] ἐστιν, εἴπερ καὶ τὸ λέγειν πρᾶξίς τις ἦν περὶ τὰ
πράγματα;
ΕΡΜ. Ναί.

„So.: Ist nun nicht auch das Sprechen eine bestimmte Art von Handlung?
Herm.: Ja.
So.: Wird also einer, der so spricht, wie es ihm gerade gut scheint zu sprechen, richtig sprechen,
oder wird er nur, wenn er so spricht, wie man von den Dingen naturgemäß sprechen soll und sie
gesprochen werden sollen, und mit den Mitteln, womit es naturgemäß ist, erfolgreicher handeln
und sprechen; wenn aber nicht, die Sache verfehlen und nichts erreichen?
Herm.: Es scheint mir so zu sein, wie du sagst.
So.: Ist nun das Benennen ein Teil des Sprechens? Denn die Leute sprechen doch ihre Reden,
indem sie die Dinge durch Namen unterscheiden?
Herm.: Ganz und gar.
So.: Also ist auch das Benennen eine bestimmte Handlung, wenn denn das Sprechen eine
bestimmte Handlung in Bezug auf die Dinge war?
Herm.: Ja.“

Zuvor wurde von Sokrates bereits auseinandergesetzt, dass jede Handlung (πρᾶξις) naturgemäß
verrichtet werden muss, wenn sie erfolgreich sein soll. Will man, dass eine Handlung gelingt,
so kann man sie nicht einfach nach dem eigenen Gutdünken ausführen, sondern muss sich nach
der Natur der jeweils behandelten Sache richten. Der bloße Wille reicht beispielsweise nicht
aus, um einen Gegenstand erfolgreich zerschneiden zu können; vielmehr muss dafür die
Handlung des Schneidens und das Mittel, womit man schneidet, der Beschaffenheit des zu

136
Auf die Passage 385 b2−d1, deren Interpretation, Echtheit und Position im Text umstritten ist, kann hier nicht
näher eingegangen werden; ihre ausführliche Besprechung nimmt allein bei Ademollo 23 Seiten ein (vgl. ders.
2011, 49−72). Er und auch Bagwell 2011 sind zuletzt dafür eingetreten, die ursprünglich im Text überlieferte
Position der Passage beizubehalten, wenngleich die Interpretation der Stelle bei beiden erheblich divergiert. Ich
selbst neige eher der These Sedleys zu, der gute Argumente dafür bringt, dass der Abschnitt wahrscheinlich aus
einer früheren Fassung des Dialogs stammt und deshalb mit unserer heutigen Version nicht mehr vereinbar ist
(vgl. Sedley 2003, 10 ff.). In Anbetracht der Zielsetzung dieser Arbeit kann die Miteinbeziehung der Passage aber
ohnehin keinen wirklichen Gewinn bringen, da sich alles für uns Wesentliche auch anhand anderer Textstellen
zeigen lässt und keine erschöpfende Behandlung des gesamten Kratylos angestrebt ist.

53
schneidenden Gegenstandes angemessen sein (387 a1−8). Vor diesem Hintergrund wird nun
auch das Sprechen (λέγειν) und das Benennen (ὀνομάζειν) von Sokrates als Handlung
klassifiziert, die naturgemäß erfolgen muss und nur dann zum Ziel führen kann, wenn man sich
sowohl in der Art der Durchführung als auch in der Wahl der Mittel nach der gegebenen Sache
richtet (ἐὰν μὲν ᾗ πέφυκε τὰ πράγματα λέγειν τε καὶ λέγεσθαι καὶ ᾧ, ταύτῃ καὶ τούτῳ λέγῃ).
Es ist hier in Parenthese anzumerken, dass die Formulierung διονομάζοντες γάρ που λέγουσι
τοὺς λόγους („Denn die Leute sprechen doch ihre Reden, indem sie die Dinge durch Namen
unterscheiden?“) offensichtlich einen Verweis auf die von den Namen aus betrachtet
nächstgrößere sprachliche Einheit enthält, nämlich auf den Satz bzw. die Rede (λόγος).
Tatsächlich gibt es einige Stellen im Kratylos, aus denen eindeutig hervorgeht, dass das
Konzept vom Satz (λόγος), der aus Subjekt (ὄνομα) und Prädikat (ῥῆμα) besteht, hier schon
vorausgesetzt ist und von Platon durchaus nicht erst im Sophistes entwickelt wurde. Wir wollen
in diesem Zusammenhang später noch näher auf die Frage eingehen, inwiefern Platon im
Kratylos auch sonst Aussagen über die Sprache macht, die über die reine Wortebene
hinausgehen. Der selbstverständliche Übergang vom Sprechen (λέγειν) zum Benennen
(ὀνομάζειν) in Sokrates’ Argumentation, der genau dem Übergang vom λόγος zur kleineren
Einheit ὄνομα entspricht, deutet bereits an, dass die Diskussion im Kratylos zwar oberflächlich
betrachtet auf die Wortebene beschränkt bleibt, dass dabei aber letztlich immer die gesamte
Sprachstruktur mitzudenken ist.
Mit Hermogenes’ Zustimmung, dass das Sprechen und Benennen eine Handlung sei, hat
Sokrates jedenfalls bereits eine Einschränkung von dessen συνθήκῃ-These erreicht. Denn
insofern sich eine Handlung nach der Natur ihres Gegenstandes zu richten hat, kann ihr
Gelingen nicht ausschließlich von Vereinbarung abhängen. Vielmehr, so argumentiert
Sokrates, muss man beim Benennen den Namen gleichsam als Werkzeug (ὄργανον) sachgemäß
gebrauchen, so wie beim Weben das Webgeschirr (388 a4−8). Dieser Werkzeugcharakter des
Wortes wird nun im Folgenden näher bestimmt (388 b7−c1):

ΣΩ. Ἔχεις δὴ καὶ περὶ ὀνόματος οὕτως εἰπεῖν; ὀργάνῳ ὄντι τῷ ὀνόματι ὀνομάζοντες τί ποιοῦμεν;
ΕΡΜ. Οὐκ ἔχω λέγειν.
ΣΩ. Ἆρ’ οὐ διδάσκομέν τι ἀλλήλους καὶ τὰ πράγματα διακρίνομεν ᾗ ἔχει;
ΕΡΜ. Πάνυ γε.
ΣΩ. Ὄνομα ἄρα διδασκαλικόν τί ἐστιν ὄργανον καὶ διακριτικὸν τῆς οὐσίας ὥσπερ κερκὶς
ὑφάσματος.

„So.: Kannst du dies nun auch von dem Namen angeben? Was machen wir, wenn wir mit dem
Namen als Werkzeug etwas benennen?
Herm.: Ich vermag es nicht zu sagen.
So.: Lehren wir nicht einander etwas und unterscheiden die Dinge dem entsprechend, wie sie
sind?

54
Herm.: Ganz und gar.
So.: Der Name ist also ein belehrendes und ein das Wesen der Dinge unterscheidendes Werkzeug,
so wie das Webgeschirr das Gewebe sondert.“

Villers weist darauf hin, „(…) dass die traditionelle Übersetzung „Weberlade“ oder
„Weberschiffchen“ für κερκίς verfehlt ist.“137 Die Alternative „Webgeschirr“ sei vorzuziehen,
weil damit korrekt dasjenige Werkzeug benannt ist, womit beim Weben die
zusammenliegenden Kettenfäden und der Einschlag gesondert werden.138 Auf diese Weise
ergibt sich eine wesentlich sinnvollere Metapher als im Falle einer Übersetzung mit „Lade“
oder „Schiffchen“: Denn „(…) wie es die Funktion dieses Webergeschirrs ist, Klassen von
Fäden auszusondern, soll es analog die des (…) Namens sein, sich gegenseitig zu belehren
(διδάσκειν), indem die Dinge – ihrem Wesen (οὐσία) nach – unterschieden werden.“139 Dass
Worte bzw. Namen eine belehrende Funktion haben sollen, erinnert stark an den Phaidros, wo
Platon ebenfalls vor allem den didaktischen Nutzen der Sprache im Blick hatte. Ob bzw.
inwiefern seiner Meinung nach einzelne Worte tatsächlich lehrhaft sein können, wird im
Folgenden noch zu klären sein. Jedenfalls ist Platons Sprachphilosophie, indem sie die Frage
nach der didaktischen Bauchbarkeit der Sprache ins Zentrum stellt, unmittelbar mit
erkenntnistheoretischen Überlegungen verbunden. Dies äußert sich auch in der hier zitierten
Definition des Namens, der eben nicht nur als „belehrendes“, sondern auch als ein „das Wesen
der Dinge unterscheidendes“ Werkzeug bestimmt wird (διδασκαλικόν τί ἐστιν ὄργανον καὶ
διακριτικὸν τῆς οὐσίας).
Bereits an dieser Stelle des Dialogs beginnt sich abzuzeichnen, dass Sokrates, während er
vorgibt, Kratylos’ These von der natürlichen Wortrichtigkeit zu verteidigen, mit seinen
Argumenten in Wahrheit eine alternative Position ansteuert. So hat Rijlaarsdam darauf
hingewiesen, dass mit der Definition des Namens bereits auf den Dialektiker und dessen
Methode angespielt wird: Der Dialektiker kann den Namen als Werkzeug gebrauchen, mit
seiner Hilfe die seienden Dinge nach Arten unterscheiden (d. h. Dihairesis betreiben) und so
die Leute belehren.140 Aus Kratylos’ Perspektive ergibt sich freilich eine andere Interpretation
von Sokrates’ Formulierung: Er sieht die didaktische Funktion des Namens lediglich darin
begründet, dass man durch die Erforschung der Wortetymologien die benannten Dinge
kennenlernt, wodurch ebenfalls, freilich auf eine unphilosophische (und unkorrekte) Weise, die
seienden Dinge „unterschieden“ werden. Obwohl Kratylos im Dialog erst gegen Ende zu

137
Vgl. Villers 2005, 52.
138
Ebenso Ademollo 2011, 108: „(…) the κερκίς has been identified as a pin-beater, i.e. a tool whose sharp tip
was used to beat up the weft into place and to separate the warp threads from each other.”
139
Villers 2005, 53.
140
Vgl. Rijlaarsdam 1978, 85 f.

55
sprechen beginnt (427 e5) und wir davor nur über Hermogenes von seiner These unterrichtet
sind, hat Rijlaarsdam sicher recht damit, dass von seinem Standpunkt aus betrachtet Sokrates’
Definition des Namens zunächst völlig unbedenklich wirken muss, eben weil sie auf den ersten
Blick gut mit der klassischen φύσει-These vereinbar scheint.141
In Wahrheit impliziert die ὄργανον-Definition des Namens aber bereits gewisse
Einschränkungen der φύσει-These. Denn insofern der Name als Werkzeug bestimmt wird, ist
bereits klar, dass er (1) nicht selbst natürlich ist, sondern im Gegenteil der Natur angepasst
werden muss, dass er (2) wie jedes Werkzeug von jemandem hergestellt werden muss, und dass
(3) dieser Hersteller bzw. Wortbildner Kenntnis von der Natur haben muss, wenn denn das
Benennen – wie gerade auseinandergesetzt – keine beliebige Sache sein soll. Diesbezüglich
wird sich aber unter anderem das Problem ergeben, dass ein entsprechendes Wissen des
Wortbildners gar nicht mit Sicherheit vorausgesetzt werden kann, was zusammen mit anderen
Argumenten große Einschränkungen an der φύσει-These notwendig machen wird.

4.3.2. Der Wortbildner und das Worteidos


Sokrates führt nun weiter aus, dass für die Verfertigung eines Werkzeugs stets ein Fachmann
erforderlich sei (388 c9 ff.) und kommt so auch auf die Herstellung des Werkszeugs ‘Name’ zu
sprechen (388 d6−389 a3):

ΣΩ. Εἶεν. τῷ δὲ τίνος ἔργῳ ὁ διδασκαλικὸς χρήσεται ὅταν τῷ ὀνόματι χρῆται;


ΕΡΜ. Οὐδὲ τοῦτ’ ἔχω.
ΣΩ. Οὐδὲ τοῦτό γ’ ἔχεις εἰπεῖν, τίς παραδίδωσιν ἡμῖν τὰ ὀνόματα οἷς χρώμεθα; ΕΡΜ. Οὐ δῆτα.
ΣΩ. Ἆρ’ οὐχὶ ὁ νόμος δοκεῖ σοι [εἶναι] ὁ παραδιδοὺς αὐτά; ΕΡΜ. Ἔοικεν.
ΣΩ. Νομοθέτου ἄρα ἔργῳ χρήσεται ὁ διδασκαλικὸς ὅταν ὀνόματι χρῆται; ΕΡΜ. Δοκεῖ μοι.
ΣΩ. Νομοθέτης δέ σοι δοκεῖ πᾶς εἶναι ἀνὴρ ἢ ὁ τὴν τέχνην ἔχων; ΕΡΜ. Ὁ τὴν τέχνην.
ΣΩ. Οὐκ ἄρα παντὸς ἀνδρός, ὦ Ἑρμόγενες, ὄνομα θέσθαι [ἐστὶν] ἀλλά τινος ὀνοματουργοῦ·
οὗτος δ’ ἐστίν, ὡς ἔοικεν, ὁ νομοθέτης, ὃς δὴ τῶν δημιουργῶν σπανιώτατος ἐν ἀνθρώποις
γίγνεται.

„So.: Wohlan! Wessen Werk wird aber der Didaktiker verwenden, wenn er den Namen
verwendet?
Herm.: Auch das kann ich nicht sagen.
So.: Und kannst du auch das nicht sagen, wer uns die Namen überliefert, die wir verwenden?
Herm.: Auch das nicht.
So.: Scheint es dir nicht der Gebrauch zu sein, der sie uns überliefert?
Herm.: So scheint es.
So.: Der Didaktiker wird also das Werk des Gebrauch-Setzers, des Nomotheten, verwenden, wenn
er den Namen verwendet.
Herm.: Es scheint mir so.
So.: Scheint dir aber jeder Mann ein Nomothet zu sein, oder der, der die Kunst beherrscht?
Herm.: Der, der die Kunst beherrscht.

141
Vgl. Rijlaarsdam 1978, 85 f.

56
So.: Es ist also nicht jeden Mannes Sache, o Hermogenes, Namen einzuführen, sondern die eines
Wortbildners; dieser aber ist, wie es scheint, der Nomothet, der von den Handwerkern am
seltensten unter den Menschen auftritt.“

Die Übersetzung der Passage bereitet einige Schwierigkeiten, da für den Begriff des νομοθέτης
kein passendes deutsches Äquivalent zur Verfügung steht. Das griechische Wort für
‘Gebrauch’, ‘Sitte’, ‘Gesetz’ ist Nomos (νόμος), und derjenige, der den (Sprach-)Gebrauch
allererst festlegt, ist laut Sokrates der Nomo-Thet (νομοθέτης), also wörtlich der ‘Gebrauch-
Setzer’. Da dieser deutsche Neologismus aber etwas unbeholfen klingt, wollen wir im
Folgenden bei der Bezeichnung ‘Nomothet’ bleiben, oder aber den alternativen Begriff
‘Wortbildner’ (ὀνοματουργός) verwenden.
In dem Argument des Sokrates manifestiert sich ein Gedanke, der uns – mutatis mutandis –
bereits aus der These des Hermogenes bekannt ist: Demnach werden Namen von Individuen
festgelegt und dann durch Vereinbarung (συνθήκη, ὁμολογία) und Sprachgebrauch (νόμος,
ἔθος) legimiert.142 Zwar kann gemäß der hier proponierten Theorie nicht jeder als Nomothet
auftreten – im Gegenteil wird betont, dass dieser der seltenste (σπανιώτατος) unter den
Handwerkern sei –, aber es ist dennoch auffällig, dass Sokrates für die vermeintliche
Verteidigung von Kratylos’ φύσει-Standpunkt ausgerechnet Anleihen bei Hermogenes’
συνθήκῃ-These nimmt und so in Wahrheit eine Verflechtung der beiden Positionen bewirkt.
Dies wird besonders offensichtlich, wenn Sokrates im Folgenden die Herstellung des
Namens durch den Wortbildner genauer beschreibt. Zuerst legt er dar, dass die anderen
Handwerker ihre Produkte stets mit Blick darauf fertigen, was diese eigentlich zu leisten haben;
beispielsweise muss ein Tischler, der ein Webgeschirr (κερκίς) herstellt, bei seinem
Arbeitsprozess geistig auf denjenigen Gegenstand schauen, dem es von Natur aus zukommt, als
Webgeschirr verwendet zu werden (389 a7−8 πρὸς τοιοῦτόν τι ὃ ἐπεφύκει κερκίζειν). Das heißt,
er muss sich an der Idee (εἶδος) des Webgeschirrs orientieren, anstatt sich eine konkrete
empirische κερκίς zum Vorbild zu nehmen, die das Wesen dieses Werkzeugs auf nur
unvollkommene Weise verkörpert (389 b1−3). Jene Idee des Webgeschirrs muss der Tischler
dann in eine empirische Gestalt bringen, indem er sie in Holz formt (389 c9). Dabei kann die
so entstehende konkrete κερκίς je nach der besonderen Aufgabe, die ihr zukommt, auch eine je
unterschiedliche Gestalt bekommen, sei es, dass sie für das Weben von feinen oder groben,
wollenen oder leinenen Stoffen verwendet werden soll (389 b8−9). Trotz dieser verschiedenen
empirischen Konkretisierungen ist ihre ideelle Grundform stets dieselbe (389 b9−10 πάσας μὲν
δεῖ τὸ τῆς κερκίδος ἔχειν εἶδος).

142
Vgl. oben, 50.

57
Ebenso hat nun laut Sokrates auch der Wortbildner bei der Herstellung der Namen zu
verfahren (389 d4−390 a2):

Ἆρ’ οὖν, ὦ βέλτιστε, καὶ τὸ ἑκάστῳ φύσει πεφυκὸς ὄνομα τὸν νομοθέτην ἐκεῖνον εἰς τοὺς
φθόγγους καὶ τὰς συλλαβὰς δεῖ ἐπίστασθαι τιθέναι, καὶ βλέποντα πρὸς αὐτὸ ἐκεῖνο ὃ ἔστιν ὄνομα,
πάντα τὰ ὀνόματα ποιεῖν τε καὶ τίθεσθαι, εἰ μέλλει κύριος εἶναι ὀνομάτων θέτης; εἰ δὲ μὴ εἰς τὰς
αὐτὰς συλλαβὰς ἕκαστος ὁ νομοθέτης τίθησιν, οὐδὲν δεῖ τοῦτο ἀγνοεῖν·143 οὐδὲ γὰρ εἰς τὸν αὐτὸν
σίδηρον ἅπας χαλκεὺς τίθησιν, τοῦ αὐτοῦ ἕνεκα ποιῶν τὸ αὐτὸ ὄργανον· ἀλλ’ ὅμως, ἕως ἂν τὴν
αὐτὴν ἰδέαν ἀποδιδῷ, ἐάντε ἐν ἄλλῳ σιδήρῳ, ὅμως ὀρθῶς ἔχει τὸ ὄργανον, ἐάντε ἐνθάδε ἐάντε
ἐν βαρβάροις τις ποιῇ.

„Also, mein Bester, muss auch jener Nomothet sich darauf verstehen, den jeder Sache von Natur
aus zukommenden Namen in Laute und Silben zu legen und mit Blick auf ebendas, was ein Name
ist, alle Namen zu fertigen und herzustellen, wenn er ein echter Setzer von Namen sein will? Und
wenn nicht jeder Nomothet die Idee des Namens in dieselben Silben legt, darf er dies dennoch
nicht vernachlässigen; denn es legt auch nicht jeder Schmied die Idee eines Werkzeugs in
dasselben Eisen, auch wenn er zu demselben Zweck dasselbe Werzeug herstellt; aber solange er
derselben Idee eine Gestalt gibt, und sei es auch in einem anderen Eisen, ist das Werkzeug
dennoch korrekt, sei es, dass es einer hier oder unter den Barbaren herstellt.“

Während andere Handwerker beispielsweise mit Eisen oder Holz arbeiten, besteht die Materie,
welche der Wortbildner verwendet, aus Lauten (φθόγγοι) und Silben (συλλαβαί). Er muss mit
Blick darauf, was ein Name eigentlich ist (αὐτὸ ἐκεῖνο ὃ ἔστιν ὄνομα), die jeder Sache von
Natur aus zukommende Bezeichnung (τὸ ἑκάστῳ φύσει πεφυκὸς ὄνομα) in eine Lautgestalt
bringen (εἰς τοὺς φθόγγους καὶ τὰς συλλαβὰς δεῖ ἐπίστασθαι τιθέναι). Man hat also zwischen
drei Formen eines ὄνομα zu unterscheiden:144 (1) die Idee des Namens an sich, die darin besteht,
dass dieser ein didaktisches und diakritisches Werkzeug ist, also der Belehrung und
Unterscheidung dient; (2) das spezielle Worteidos, das je nach bezeichneter Sache variiert, aber
immer noch immateriell zu denken ist; sowie (3) die Lautgestalt des Namens, die dadurch
entsteht, dass der Nomothet das spezielle Worteidos mit Lauten und Silben wiedergibt.
Diese Lautgestalt kann nun je nach Sprache oder Dialekt unterschiedlich beschaffen sein;
solange sich der Wortbildner bei seiner Tätigkeit an der allgemeinen Idee des Namens
orientiert, wird das so hergestellte Werkzeug auch seine Richtigkeit haben (ὀρθῶς ἔχει τὸ
ὄργανον), sei es, dass es unter Griechen oder unter Barbaren angefertigt wurde (ἐάντε ἐνθάδε
ἐάντε ἐν βαρβάροις τις ποιῇ). Eben weil es in unterschiedlichen Sprachen zu unterschiedlichen
phonetischen Konkretisierungen eines ὄνομα kommt, kann die Wortrichtigkeit auf dieser Ebene
aber lediglich eine konventionelle sein. Die natürliche Wortrichtigkeit manifestiert sich für
Platon – dies wird im weiteren Verlauf des Dialogs noch deutlicher werden – allenfalls in der

143
Burnet druckt hier ἀ<μφι>γνοεῖν, was eine überflüssige Konjektur zu sein scheint. Vielmehr bezieht sich das
Objekt τοῦτο anaphorisch auf αὐτὸ ἐκεῖνο ὃ ἔστιν ὄνομα, vgl. Ademollo 2011, 132.
144
Vgl. Gaiser 1974, 41; zur strittigen Frage des ontologischen Status dieser Namensformen vgl. Baxter 1992, 43.

58
ideellen Form der Namen.145 Aufgabe der Nomotheten ist es also, ὀνόματα zu bilden, indem
sie jeweils ein möglichst naturgemäßes spezielles Worteidos in eine bestimmte Lautgestalt
bringen und dabei auf das allgemeine Eidos des Namens überhaupt schauen, d. h. versuchen,
die seienden Dinge zum didaktischen Nutzen zu unterscheiden. „Daß dabei der Gegenstand
selbst, wenn die Naturgemäßheit der Namensform gewährleistet sein soll, in normativ-
eidetischer Seinsweise aufgefasst werden muß, wird nicht ausdrücklich gesagt, lässt sich aber
dem Sinne nach ergänzen.“146 Die bei einer solchen Wortbildung entstehende Lautgestalt wird
nun von Sprache zu Sprache variieren und von einer nur konventionellen Richtigkeit sein, doch
das den jeweiligen lautlichen Realisierungen zugrunde liegende spezielle Worteidos wird,
sofern die Nomotheten richtig gearbeitet haben, in allen Sprachen dasselbe sein (τὴν αὐτὴν
ἰδέαν ἀποδιδῷ).147 Entscheidend für die Korrektheit einer Bezeichnung ist demnach gerade
nicht deren phonetische Konkretisierung, sondern die Naturgemäßheit der dahinterstehenden
Idee.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie genau sich das spezielle Eidos eines
Namens mit modernen Ausdrücken beschreiben lässt: Handelt es sich dabei, wie einige
Interpreten meinen, um die ‘Bedeutung’ eines Wortes?148 Eine spätere Erklärung des Sokrates,
die er im Zuge seiner etymologischen Wortanalysen gibt, kann etwas Licht in die Sache bringen
(394 a7−c1):

(…) ὥσπερ ἡμῖν τὰ τῶν ἰατρῶν φάρμακα χρώμασιν καὶ ὀσμαῖς πεποικιλμένα ἄλλα φαίνεται τὰ
αὐτὰ ὄντα, τῷ δέ γε ἰατρῷ, ἅτε τὴν δύναμιν τῶν φαρμάκων σκοπουμένῳ, τὰ αὐτὰ φαίνεται, καὶ
οὐκ ἐκπλήττεται ὑπὸ τῶν προσόντων. οὕτω δὲ ἴσως καὶ ὁ ἐπιστάμενος περὶ ὀνομάτων τὴν δύναμιν
αὐτῶν σκοπεῖ, καὶ οὐκ ἐκπλήττεται εἴ τι πρόσκειται γράμμα ἢ μετάκειται ἢ ἀφῄρηται, ἢ καὶ ἐν
ἄλλοις παντάπασιν γράμμασίν ἐστιν ἡ τοῦ ὀνόματος δύναμις. ὥσπερ ὃ νυνδὴ ἐλέγομεν,
“Ἀστυάναξ” τε καὶ “Ἕκτωρ” οὐδὲν τῶν αὐτῶν γραμμάτων ἔχει πλὴν τοῦ ταῦ, ἀλλ’ ὅμως ταὐτὸν
σημαίνει.

„(…) wie uns die Heilmittel der Ärzte, wenn sie mit Farben und Gerüchen versetzt sind,
verschieden zu sein scheinen, obwohl sie dieselben sind, dem Arzt aber, der auf die Kraft der
Mittel sieht, scheinen sie dieselben zu sein, und er lässt sich von den Zusätzen nicht verwirren; so
betrachtet vielleicht auch der, welcher sich auf Wörter versteht, deren Kraft, und lässt sich nicht
davon verwirren, wenn ein Buchstabe dazugekommen, versetzt oder weggenommen ist, oder auch
wenn die Kraft des Wortes in ganz andere Buchstaben gelegt ist. Wie in dem Beispiel, das wir

145
Diese Lesart des Dialogs scheint mit Abstand die sinnvollste zu sein und wird auch durch meine folgenden
Ausführungen gestützt; in der Forschungsdiskussion ist sie freilich umstritten: Zuletzt hat Ademollo die Meinung
vertreten, eine naturgemäße Wortrichtigkeit werde von Platon wohl auch hinsichtlich des speziellen Worteidos
ausgeschlossen, vgl. Ademollo 2011, 137 f. u. 424. Andere Interpreten sehen genau umgekehrt sogar auf der
Lautebene die eingeschränkte Möglichkeit einer natürlichen Korrektheit, vgl. etwa Sedley 2003, 141 f. Stichhaltige
Argumente für unsere Deutung finden sich aber bei Gold 1978, 245 f. und Heitsch 1984, passim. Zudem weist
Ademollo darauf hin, dass auch die antiken Kommentatoren den Dialog in unserem Sinn verstanden haben,
wenngleich er selbst nicht deren Meinung teilt, vgl. Ademollo 2011, 425 f.
146
Gaiser 1974, 33.
147
Vgl. Baxter 1992, 44; Sedley 2003, 82.
148
Vgl. etwa Gaiser 1974, 42; Ackrill 1997, 44.

59
gerade nannten, ‘Astyanax’ und ‘Hektor’ keinen Buchstaben gemeinsam haben bis auf das Tau,
aber dennoch dasselbe bezeichnen.“

Heitsch hat darauf hingewiesen, dass „die Kraft des Wortes“ (ἡ τοῦ ὀνόματος δύναμις) an dieser
Stelle genau genommen nicht als ‘Bedeutung’ verstanden werden sollte, sondern eher als die
Fähigkeit, „(…) Bestimmtes gegenüber anderem zu differenzieren und identifizieren
(=bezeichnen).“149 Wir müssen demnach zwischen der ‘Bedeutung’ und dem ‘Bezug’ eines
Namens unterscheiden; die Ausdrücke ‘Astyanax’ und ‘Hektor’ bedeuten zwar eigentlich nicht
dasselbe, haben aber beide die Fähigkeit, „(…) auf etwas Identisches hinzuweisen.“150
Ebendiese δύναμις ist es nun, die das spezielle Worteidos ausmacht. Es handelt sich sich dabei
also um die spezifische Verweis- und Unterscheidungsfunktion eines Namens: „Two words
share the same power provided only that they both succeed in descriptively singling out one
and the same entity (…). When they do, we must assume that they both embody the same
species-Form of name.“151
Verfehlt ist die Interpretation Derbolavs, der das spezielle Worteidos „als Platzhalter der
späteren Idee“ auffasst und Platons Theorie von den ὀνόματα gleichsam als Vorstufe zur
Ideenlehre deutet.152 Denn nur weil die Fähigkeit eines Namens, auf eine bestimmte Sache zu
verweisen, durch das Benennen der Idee dieser Sache ermöglicht wird, folgt noch nicht, dass
jene Fähigkeit mit der benannten Idee identisch wäre. Das spezielle Worteidos repräsentiert die
Verweisfunktion eines ὄνομα und sein Vermögen, die οὐσία auf bestimmte Weise zu
differenzieren, während es sich bei der benannten Idee um die οὐσία selbst handelt.
Voraussetzung für eine naturgemäße Bezeichnung war es gerade, dass die spezifische
Namensform der benannten Idee entspricht; es muss sich also um zwei verschiedene εἴδη
handeln. Wenn man das spezielle Worteidos und die klassischen Ideen gleichsetzte, wäre damit
auch der Unterschied zwischen Namen und Sachen nivelliert, was sicherlich nicht im Sinne von
Platons Sprachphilosophie sein kann.153 Ob die im Kratylos entworfene Theorie der
Bezeichnung sich schon mit einem modernen semiotischen Dreieck beschreiben lässt,154 sei
dabei dahingestellt; in jedem Fall haben wir zwischen den Ideen von Sachen und denen von
Namen zu unterscheiden.
Ob ein Name nun richtig und im Hinblick auf sein spezielles Eidos naturgemäß gefertigt ist,
das kann laut Sokrates nicht der Nomothet als der Hersteller desselben beurteilen, sondern nur

149
Heitsch 1984, 72.
150
Ebd., 68.
151
Sedley 2003, 84.
152
Vgl. Derbolav 1972, 99.
153
Vgl. Sedley 2003, 82.
154
So Erler 2007, 112 f.; anders Coseriu 2003, 58 f.

60
derjenige, der den Namen auch zu gebrauchen weiß, nämlich der Dialektiker. Gedacht ist dabei
freilich an einen Gebrauch im idealen Sinn, der dem – aus Platons Sicht – eigentlichen Zweck
der Namen am ehesten gerecht wird: „To be sure, names may be used by other people for other,
less sophisticated purposes. But their ultimate purpose, the highest function they can serve, and
hence (from a strongly teleological perspective) their function simpliciter, is to teach and
separate being; and the dialectician is the one who can use them for that purpose.”155 So wie
ein Zimmermann deshalb einen Steuermann als Aufseher braucht, um ein gutes Ruder
herstellen zu können, eben weil dieser sich anders als er selbst auf den Gebrauch des Ruders
versteht, so benötigt der Wortbildner den Dialektiker als Aufseher über seine Tätigkeit (390
c10−d5):

ΣΩ. Τὸν δὲ ἐρωτᾶν καὶ ἀποκρίνεσθαι ἐπιστάμενον ἄλλο τι σὺ καλεῖς ἢ διαλεκτικόν;


ΕΡΜ. Οὔκ, ἀλλὰ τοῦτο.
ΣΩ. Τέκτονος μὲν ἄρα ἔργον ἐστὶν ποιῆσαι πηδάλιον ἐπιστατοῦντος κυβερνήτου, εἰ μέλλει καλὸν
εἶναι τὸ πηδάλιον.
ΕΡΜ. Φαίνεται.
ΣΩ. Νομοθέτου δέ γε, ὡς ἔοικεν, ὄνομα, ἐπιστάτην ἔχοντος διαλεκτικὸν ἄνδρα, εἰ μέλλει καλῶς
ὀνόματα θήσεσθαι.

„So.: Denjenigen aber, der sich darauf versteht, zu fragen und zu antworten, nennst du den etwa
anders als Dialektiker?
Herm.: Nein, sondern so.
So.: Aufgabe des Zimmermanns ist es also, ein Ruder unter der Aufsicht eines Steuermannes
herzustellen, wenn das Ruder gut sein soll.
Herm.: So scheint es.
So.: Aufgabe des Nomotheten aber ist es, wie es scheint, einen Namen herzustellen, indem er
einen Dialektiker als Sachverständigen dabeihat, wenn er die Namen gut setzen will.“

Der Dialektiker (διαλεκτικός) ist hier als derjenige beschrieben, der zu fragen und zu antworten
weiß (ὁ ἐρωτᾶν καὶ ἀποκρίνεσθαι ἐπιστάμενος). Im Hintergrund steht also die typisch
platonische Auffassung, wonach der Dialog die ideale Form des philosophischen Diskurses
darstellt.156 Nur unter Hinzuziehung eines Fachmannes des Fragens und Antwortens kann
gewährleistet werden, dass die Namen vom Nomotheten richtig und also naturgemäß hergestellt
werden. Damit ist eine Bedingung für die Korrektheit der Namen definiert, die bereits an dieser
Stelle des Dialogs Zweifel daran aufkommen lässt, dass die heute verwendeten Bezeichnungen
wirklich der Natur entsprechend gebildet worden sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Theorie von der Wortherstellung durch den
Nomotheten auf einer merkwürden Verflechtung der φύσει- und der συνθήκῃ-These basiert.
Gaiser merkt dazu richtig an: „Der Gegensatz von Nomos und Physis wird völlig relativiert,

155
Ademollo 2011, 142.
156
Vgl. Sedley 2003, 62.

61
wenn der ‹Namensetzer› bei seinem fachmännischen Wirken einerseits zwar das naturgegebene
Modell berücksichtigen muss, andererseits aber etwas verfertigt, das selbst nicht mehr einfach
von Natur ist und, wie der Sprachgebrauch, gewohnheitsmäßig weitergegeben wird.“157 Laut
Sokrates’ synkretistischem Ansatz ist die Korrektheit eines ὄνομα unter zwei Aspekten zu
sehen: Einem „richtigen“ Namen eignet einerseits hinsichtlich seiner Lautgestalt eine rein
konventionelle Richtigkeit, andererseits hinsichtlich seines speziellen Eidos, das der jeweiligen
Lautgestalt zugrunde liegt, eine naturgemäße Richtigkeit, wenn jenes wirklich der benannten
Sache bzw. Idee entspricht.158 Damit ist spätestens an diesem Punkt des Dialogs das doppelte
Spiel des Sokrates offensichtlich: Während er dem Anschein nach die φύσει-These des Kratylos
verteidigt, ist er eigentlich dabei, seine eigene Theorie der Wortrichtigkeit zu entwickeln.

4.3.3. Etymologische Betrachtungen


Obwohl schon aus den bisherigen Ausführungen klar geworden ist, dass es für Platon auf der
Ebene der Lautgestalt keine naturgemäße Wortrichtigkeit geben kann, wird dies im Zuge des
folgenden etymologischen Exkurses noch evidenter. Eingeleitet wird der Abschnitt durch die
Frage des Hermogenes, was denn nun genau unter der natürlichen Richtigkeit der Namen zu
verstehen sei (391 a1−4). Anders gesagt: Hermogenes hat bis jetzt durchaus nicht begriffen,
worum es Sokrates mit seiner vermeintlichen Verteidigung der φύσει-These eigentlich zu tun
war. Und so liefert dieser nun eine lange Liste von etymologischen Worterklärungen, während
Hermogenes tatsächlich glaubt, er präsentiere ihm damit Argumente für die naturgemäße
Richtigkeit der Namen. Zwar gibt Sokrates schon während seiner Ausführungen einige
Hinweise darauf, dass die etymologische Methode in Wahrheit kritisch zu sehen ist, doch
versteht Hermogenes die ironischen Andeutungen nicht und hält alles für ernst gemeint. Es
bewahrheitet sich somit das Urteil von Heitsch, der über den Kratylos insgesamt resümiert:
„Die ὀρθότης τῶν ὀνομάτων wird von den Dialogpersonen durchweg auf einem Niveau
diskutiert, das jener Gestalt, in der Platon das Problem in Wahrheit sieht, nicht entspricht.“159
Die Interpretation des Etymologienteils ist im Detail umstritten,160 und es kann nicht Ziel
dieser Arbeit sein, die einschlägige Forschungsdiskussion in extenso aufzuarbeiten. Von
einigen Streitpunkten abgesehen scheint im Großen und Ganzen ohnehin ein Konsens darüber
zu bestehen, dass Sokrates mit seinen Ausführungen vor allem zeigen will, wie ungeeignet die
etymologische Wortanalyse als Mittel zum Wissenserwerb ist. So formuliert etwa Baxter:
„What is decided is that etymology is an unreliable tool in seeking knowledge about things.

157
Vgl. Gaiser 1974, 30.
158
Vgl. Gaiser 1974, 33.
159
Heitsch 1984, 60.
160
Vgl. Erler 2007, 112 f.

62
This is the major positive result from the etymological inquiry, and it is here that one should
seek the unifying feature of the etymologies.”161 Wir wollen uns im Folgenden nicht mit der
ausführlichen Kommentierung einzelner Etymologien aufhalten oder der Frage nachgehen,
welches Strukturprinzip den detaillierten Erklärungen des Sokrates möglicherweise zugrunde
liegt,162 sondern uns stattdessen darauf beschränken, kurz einige Passagen hervorzuheben, an
denen gut zu sehen ist, wie kritisch Platon die Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns durch
Worte sieht.
Oberflächlich betrachtet scheint Sokrates mit seinen Etymologien zunächst nachweisen zu
wollen, dass die seienden Dinge alle im Fluss befindlich sind; so behauptet er etwa, dass die
Götter nach ihrer Eigenschaft benannt wurden, fortwährend als Gestirne über den Himmel zu
laufen, da ihr griechischer Name θεοί sich von θεῖν (‘laufen’) herleite (397 c9−d7). Nachdem
Sokrates Hermogenes zahllose ähnliche Etymologien präsentiert hat, flicht er, bevor er seine
Analyse in der gleichen Manier fortsetzt, eine überaus aufschlussreiche Nebenbemerkung ein
(411 b2−c6):

Καὶ μήν, νὴ τὸν κύνα, δοκῶ γέ μοι οὐ κακῶς μαντεύεσθαι, ὃ καὶ νυνδὴ ἐνενόησα, ὅτι οἱ πάνυ
παλαιοὶ ἄνθρωποι οἱ τιθέμενοι τὰ ὀνόματα παντὸς μᾶλλον, ὥσπερ καὶ τῶν νῦν οἱ πολλοὶ τῶν
σοφῶν ὑπὸ τοῦ πυκνὰ περιστρέφεσθαι ζητοῦντες ὅπῃ ἔχει τὰ ὄντα εἰλιγγιῶσιν, κἄπειτα αὐτοῖς
φαίνεται περιφέρεσθαι τὰ πράγματα καὶ πάντως φέρεσθαι. αἰτιῶνται δὴ οὐ τὸ ἔνδον τὸ παρὰ
σφίσιν πάθος αἴτιον εἶναι ταύτης τῆς δόξης, ἀλλὰ αὐτὰ τὰ πράγματα οὕτω πεφυκέναι, οὐδὲν
αὐτῶν μόνιμον εἶναι οὐδὲ βέβαιον, ἀλλὰ ῥεῖν καὶ φέρεσθαι καὶ μεστὰ εἶναι πάσης φορᾶς καὶ
γενέσεως ἀεί. λέγω δὴ ἐννοήσας πρὸς πάντα τὰ νυνδὴ ὀνόματα.

„Und doch, beim Hund, scheine ich mir nicht schlecht vermutet zu haben, was ich soeben bemerkt
habe, dass die ganz frühen Menschen, welche die Namen festgelegt haben, so waren, wie auch
die meisten der heutigen Weisen, die beim Nachforschen, wie sich die seienden Dinge verhalten,
vom vielen Herumdrehen ganz schwindelig werden und denen es dann scheint, dass die Dinge
sich herumdrehen und in alle Richtungen bewegen. Sie halten aber nicht ihr eigenes inneres
Empfinden für die Ursache dieser Meinung, sondern glauben, dass die Dinge selbst von Natur
aus so beschaffen wären, und dass nichts an ihnen beständig und fest sei, sondern dass sie fließen
und sich bewegen und immer voll von Bewegung und Erzeugung sind. Ich sage das, weil ich es
bei allen Namen, die wir gerade besprechen, bemerke.“

Diese Anmerkung des Sokrates befindet sich mit Sicherheit nicht zufällig exakt in der Mitte
des etymologischen Teils.163 Zwar wird sie von Hermogenes nicht weiter hinterfragt, doch gibt
sie in Wahrheit bereits den Schlüssel zum Verständnis des Gesamtdialogs in die Hand: Sokrates
macht damit klar, dass die Beschäftigung mit Etymologien bestenfalls zur Kenntnis der
Meinung der ersten Nomotheten führt, nicht zur Kenntis der benannten Dinge selbst. Denn die
Namen können allenfalls abbilden, wie den früheren Wortbildnern schien, dass sich die

161
Baxter 1992, 96.
162
Vgl. dazu etwa Gaiser 1974, 54 ff.
163
Vgl. ebd., 25.

63
seienden Dinge verhalten würden (ὅπῃ ἔχει τὰ ὄντα), und keine Gewähr dafür geben, dass jene
auch eine richtige Meinung von der Welt hatten. Außerdem ist hier bereits angedeutet, was
Sokrates gegen Ende des Dialogs noch ausdrücklicher sagen wird: Die seienden Dinge sind
seiner Ansicht nach eben nicht im ständigen Fluss befindlich; der Großteil der heutigen
„Weisen“ (τῶν νῦν οἱ πολλοὶ τῶν σοφῶν) vermeine nur, dass alles in Bewegung sei, während
man eigentlich – dies wird die spätere Forderung des Sokrates sein – ein stabiles Sein von
unveränderlichen Ideen ansetzen müsse. Der Etymologienteil ist deshalb jedenfalls auch als
Kritik an Platons Zeitgenossen und Vorgängern zu verstehen,164 die laut Sokrates ihre eigene
subjektive Wahrnehmung der Welt mit dem Sein der Dinge selbst verwechseln, indem sie
gleichsam ihr inneres Schwindelgefühl auf die Außenwelt übertragen.
Dass Sokrates mit den etymologischen Analysen das scheinbare Ziel seiner Argumentation
– nämlich die φύσει-These des Kratylos zu beweisen – eigentlich auf verdeckte Weise
unterminiert, wird aber nicht nur durch die zitierte Stelle nahegelegt, sondern auch durch die
Willkürlichkeit und Beliebigkeit vieler seiner Erklärungen. So kommt es immer wieder zu
mehrfachen Deutungen einzelner Worte und zu abschwächenden Bemerkungen, wie z.B. 401
e3 ἴσως μέντοι οὐδὲν λέγω („Vielleicht sage ich gar nichts Richtiges.“); zudem beruft sich
Sokrates wiederholt auf den Priester Euthyphron als Quelle seiner vermeintlichen Weisheit,
was den Leser ebenfalls nachdenklich stimmen sollte.165 Vollends offensichtlich wird die
Untauglichkeit der etymologischen Methode, wenn Sokrates am Ende des Dialogs im Gespräch
mit Kratylos nochmals auf seine früheren Erklärungen Bezug nimmt (436 a9−b11):

ΣΩ. Φέρε δὴ ἐννοήσωμεν, ὦ Κρατύλε, εἴ τις ζητῶν τὰ πράγματα ἀκολουθοῖ τοῖς ὀνόμασι, σκοπῶν
οἷον ἕκαστον βούλεται εἶναι, ἆρ’ ἐννοεῖς ὅτι οὐ σμικρὸς κίνδυνός ἐστιν ἐξαπατηθῆναι;
ΚΡ. Πῶς;
ΣΩ. Δῆλον ὅτι ὁ θέμενος πρῶτος τὰ ὀνόματα, οἷα ἡγεῖτο εἶναι τὰ πράγματα, τοιαῦτα ἐτίθετο καὶ
τὰ ὀνόματα, ὥς φαμεν. ἦ γάρ;
ΚΡ. Ναί.
ΣΩ. Εἰ οὖν ἐκεῖνος μὴ ὀρθῶς ἡγεῖτο, ἔθετο δὲ οἷα ἡγεῖτο, τί οἴει ἡμᾶς τοὺς ἀκολουθοῦντας αὐτῷ
πείσεσθαι; ἄλλο τι ἢ ἐξαπατηθήσεσθαι;

„So.: Wohlan, o Kratylos, lass uns überlegen: Wenn einer beim Erforschen der Dinge den Namen
folgt, indem er prüft, was jeder Name sein will, merkst du, dass dann keine geringe Gefahr besteht,
dass er getäuscht wird?
Kr.: Wie das?
So.: Es ist offensichtlich, dass derjenige, der als erster die Namen festgesetzt hat, so wie er meinte,
dass die Dinge sein würden, als solche auch die Namen gebildet hat, wie wir sagen. Oder nicht?
Kr.: Ja.
So.: Wenn also jener nicht richtig lag, aber sie festlegte, wie er meinte, was glaubst du, dass wir,
wenn wir ihm folgen, erleben werden? Nicht, dass wir getäuscht werden?“

164
Vgl. Ademollo 2011, 209.
165
Vgl. Heitsch 1984, 44−57.

64
Was in der Passage 411 b2−c6 bereits angeklungen ist, wird von Sokrates hier also ganz
unmissverständlich ausgesprochen: Die Erforschung von Namen kann niemals zu einem
sicheren Wissen über die Dinge führen, da wir auf diesem Weg höchstens die Meinung der
Wortbildner kennenlernen, die immer auch falsch sein kann. Und selbst diese Meinung der
Nomotheten ist mittels etymologischer Wortanalyse nicht gut ergründbar, wie im Folgenden
deutlich wird. Sokrates führt nämlich vor, dass die Namen, die er zuvor im Sinne der
herakliteischen Flusslehre interpretiert hat und deren Etymologien scheinbar darauf
hingewiesen haben, dass alles Sein in ständiger Veränderung begriffen ist, ebenso auf eine
Weise gedeutet werden können, die das genaue Gegenteil nahelegt (437 a2 ff.). Dadurch wird
nochmals die geringe Aussagekraft der Lautgestalt von Namen betont und aufgezeigt, dass die
etymologische Wortanalyse aus Platons Sicht, insofern sie sich auf die empirische
Erscheinungsform der ὀνόματα beschränkt, zu völlig beliebigen Ergebnissen führt und im
Hinblick auf die Erforschung der benannten Sachen ohne Relevanz bleiben muss.

4.3.4. Die Rolle der Konvention


Sokrates deutet aber – wie bereits oben erwähnt – auch schon während der Diskussion mit
Hermogenes ironisch an, dass die Lautgestalt eines Namens in Wahrheit nicht von
naturgemäßer, sondern lediglich von konventioneller Richtigkeit sein kann: Noch bevor er im
Gespräch mit Kratylos die etymologische Methode endgültig desavouiert, weist er Hermogenes
auf folgendes Problem hin: Wenn man beim Etymologisieren Worte stets mit dem Verweis auf
andere Worte erklärt, müsse man irgendwann zu bestimmten Stammwörtern gelangen, die
selbst Grundlage für alle anderen Bezeichnungen sind – andernfalls drohe ein infiniter Regress.
Dadurch ergibt sich freilich die Frage, worin die Richtigkeit der Stammwörter bestehe, wenn
diese ihrerseits nicht mehr auf andere Namen zurückgeführt werden können (421 c3−422 c6).
Sokrates einigt sich schließlich mit Hermogenes darauf, dass die natürliche Richtigkeit der
Bezeichnungen in letzter Konsequenz in den Buchstaben der Stammwörter gegründet sein
müsse; diese würden das Wesen der benannten Dinge nachahmen und so die Sachgemäßheit
der jeweiligen Bezeichnung gewährleisten (422 c7−424 b3). Nachdem Sokrates diese Theorie
entworfen hat, äußert er sich folgendermaßen (425 d1−4):

Γελοῖα μὲν οἶμαι φανεῖσθαι, ὦ Ἑρμόγενες, γράμμασι καὶ συλλαβαῖς τὰ πράγματα μεμιμημένα
κατάδηλα γιγνόμενα· ὅμως δὲ ἀνάγκη. οὐ γὰρ ἔχομεν τούτου βέλτιον εἰς ὅτι ἐπανενέγκωμεν περὶ
ἀληθείας τῶν πρώτων ὀνομάτων, (…).

„Lächerlich, glaube ich zwar, o Hermogenes, wird es scheinen, dass die Dinge, durch Buchstaben
und Silben nachgeahmt, kenntlich werden; aber es ist dennoch nötig. Denn wir haben nichts
Besseres als dieses, worauf wir uns betreffend die Wahrheit der ersten Namen beziehen können,
(…).“

65
Wenngleich diese Stelle unterschiedlich interpretiert worden ist,166 scheint die passendste
Erklärung die zu sein, dass Sokrates mit seiner Bemerkung die Absurdität der soeben
umrissenen Theorie verdeutlichen will. Wenn man die φύσει-These so versteht, dass auch auf
der Ebene der Lautgestalt eine naturgemäße Richtigkeit der Namen gegeben ist, so folgt daraus
notwendig, dass man die materielle Substanz der Worte immer weiter zerlegen muss, um zu
den kleinsten bedeutungstragenden Elementen zu gelangen. Auf solche Art kommt man durch
die etymologische Wortanalyse zunächst auf Stammwörter und schließlich auf einzelne Silben
und Buchstaben. Man hat also, sofern man dem Ansatz des Kratylos folgt, gewissermaßen keine
andere Wahl, als am Ende die Konsequenz zu ziehen, dass einzelne Buchstaben das Wesen der
Dinge nachahmen. Ebendiese Konsequenz hält Sokrates nun für lächerlich (γελοῖα); da er sich
aber einmal darauf eingelassen hat, zum Schein die Position des Kratylos zu verteidigen, stellt
er diese so konsequent dar, wie es der Sache angemessen ist, sorgt andererseits aber durch seine
ironischen Kommentare für die Relativierung der Darstellung. In diese Richtung weist auch
seine Anmerkung, wonach man schlichtweg kein besseres Argument habe, um die Wahrheit
der Stammwörter zu erklären (οὐ γὰρ ἔχομεν τούτου βέλτιον εἰς ὅτι ἐπανενέγκωμεν περὶ
ἀληθείας τῶν πρώτων ὀνομάτων). Anders gesagt: unter der Grundannahme, dass auch der
Lautgestalt eines Namens eine natürliche Richtigkeit eignet, ist die hier skizzierte Theorie nun
einmal die sinnvollste. Eigentlich akzeptiert Sokrates aber das Axiom von einer „Wahrheit“
(ἀλήθεια) der Stammwörter gar nicht, wie schon seine früheren Andeutungen haben erkennen
lassen. Somit sind die Ausführungen zu den Etymologien als ein von ihm bewusst
eingeschlagener Irrweg zu verstehen, der illustrieren soll, welche Folgen die Theorie des
Kratylos hat, wenn man sie konsequent zu Ende denkt.167
Im Anschluss an die etymologischen Untersuchungen wechselt Sokrates denn auch offen die
Seiten und argumentiert nunmehr für den συνθήκῃ-Standpunkt des Hermogenes, um
klarzumachen, dass nicht nur die Natur, sondern auch die Konvention bei der Benennung eine
gewisse Rolle spielen muss. Im Gespräch mit Kratylos greift er unter anderem das Thema von
der natürlichen Richtigkeit der einzelnen Buchstaben nochmals auf und widerlegt die so
verstandene φύσει-These endgültig, nachdem er sie davor nur andeutungsweise durch ironische
Nebenbemerkungen kritisiert hat: Zunächst fragt Sokrates Kratylos, ob dieser der vorigen
Analyse zustimme, wonach der Buchstabe Rho (ρ) im Griechischen für Härte stehe, während
das Lambda (λ) Weichheit symbolisiere; Kratylos bejaht dies (434 b9−c6). Anschließend
konfrontiert ihn Sokrates mit dem Problem, dass in dem griechischen Wort für ‘hart’ (σκληρός)

166
Vgl. Ademollo 2011, 303 u. 315.
167
Vgl. Heitsch 1984, 35.

66
sowohl ein Rho als auch ein Lambda vorkommt, und führt auf diese Weise die Theorie von der
Ähnlichkeit der Buchstaben und der benannten Dinge ad absurdum (434 e1−435 a10):

ΣΩ. (…) νῦν ὡς λέγομεν, οὐδὲν μανθάνομεν ἀλλήλων, ἐπειδάν τις φῇ “σκληρόν,” οὐδὲ οἶσθα σὺ
νῦν ὅτι ἐγὼ λέγω;
ΚΡ. Ἔγωγε, διά γε τὸ ἔθος, ὦ φίλτατε.
ΣΩ. Ἔθος δὲ λέγων οἴει τι διάφορον λέγειν συνθήκης; ἢ ἄλλο τι λέγεις τὸ ἔθος ἢ ὅτι ἐγώ, ὅταν
τοῦτο φθέγγωμαι, διανοοῦμαι ἐκεῖνο, σὺ δὲ γιγνώσκεις ὅτι ἐκεῖνο διανοοῦμαι; οὐ τοῦτο λέγεις;
ΚΡ. Ναί.
ΣΩ. Οὐκοῦν εἰ γιγνώσκεις ἐμοῦ φθεγγομένου, δήλωμα σοι γίγνεται παρ’ ἐμοῦ;
ΚΡ. Ναί.
ΣΩ. Ἀπὸ τοῦ ἀνομοίου γε ἢ ὃ διανοούμενος φθέγγομαι, εἴπερ τὸ λάβδα ἀνόμοιόν ἐστι τῇ ᾗ φῂς
σὺ σκληρότητι· εἰ δὲ τοῦτο οὕτως ἔχει, τί ἄλλο ἢ αὐτὸς σαυτῷ συνέθου καί σοι γίγνεται ἡ ὀρθότης
τοῦ ὀνόματος συνθήκη, ἐπειδή γε δηλοῖ καὶ τὰ ὅμοια καὶ τὰ ἀνόμοια γράμματα, ἔθους τε καὶ
συνθήκης τυχόντα;

„So.: Wie wir jetzt sprechen, verstehen wir einander nicht, wenn einer ‘hart’ [σκληρός] sagt, und
weißt du jetzt nicht, was ich sage?
Kr.: Ich weiß es schon, aufgrund der Gewohnheit nämlich, mein Liebster.
So.: Und wenn du Gewohnheit sagst, glaubst du, damit etwas anderes zu sagen als Übereinkunft?
Oder verstehst du etwas anderes unter Gewohnheit, als dass ich, wenn ich dieses Wort sage, an
jene Sache denke, und du erkennst, dass ich an jene Sache denke? Verstehst du nicht das darunter?
Kr.: Ja.
So.: Wenn du es also erkennst, indem ich es sage, wird es dir von mir bezeichnet?
Kr.: Ja.
So.: Und zwar durch dasjenige, was dem, woran denkend ich meine Äußerung mache, unähnlich
ist, wenn denn das Lambda dem, was du ‘Härte’ [σκληρότης] nennst, unähnlich ist; wenn sich
dies aber so verhält, hast du dann nicht mit dir selbst eine Vereinbarung geschlossen und entsteht
für dich nicht die Richtigkeit des Namens durch Übereinkunft, nachdem dir sowohl die ähnlichen
als auch die unähnlichen Buchstaben etwas bezeichnen, sobald sie der Gewohnheit und der
Übereinkunft entsprechen?“

Wie Sokrates zeigt, verwickelt man sich unweigerlich in Widersprüche, sobald man einzelnen
Buchstaben eine natürliche Ähnlichkeit mit dem Wesen der Dinge zuspricht; denn Worte
bestehen freilich aus mehreren Buchstaben und müssten deshalb unter Umständen auch
mehreren teils gegensätzlichen Ideen ähneln. Wenn dies wahr wäre, könnte man bei vielen
Namen überhaupt nicht entscheiden, was diese eigentlich bezeichnen sollen, und eine sinnvolle
sprachliche Kommunikation wäre unmöglich. Das Wort ‘hart’ (σκληρός) wird aber, wie
Kratylos zugeben muss, verstanden, obwohl das in ihm vorkommende Lambda gemäß jener
Theorie eigentlich für Weichheit statt für Härte stehen müsste. Aus Fällen wie diesem geht
somit eindeutig hervor, dass auch Gewohnheit (ἔθος) und Übereinkunft (συνθήκη) ihren Teil
zur Richtigkeit eines Namens beitragen, eben weil die reine Lautgestalt eines Wortes viel zu
beliebig ist, um anders als durch Konvention verstanden werden zu können. Sokrates weist als
besonders illustratives Beispiel auch auf die Namen der Zahlen hin, welche ohne eine
entsprechende Übereinkunft völlig unverständlich wären (435 b6−c2).
Es wird hier also endgültig klar, was sich schon an anderen Stellen des Dialogs abgezeichnet
hat: Für Platon gibt es nur eine konventionelle und keine natürliche Richtigkeit der Lautgestalt.

67
Im natürlichen Sinne „richtig“ kann ein Name lediglich dann sein, wenn sein spezielles Eidos,
d. h. seine Verweisfunktion, der bezeichneten Idee gemäß ist.168 Dafür war es aber nötig, dass
der Wortbildner die zu benennende Idee bzw. Sache zuerst richtig erkannt hat, bevor er einen
Namen formt; nur unter dieser Bedingung konnte es überhaupt zu einer naturgemäßen
Benennung kommen.

4.3.5. Erkenntnistheoretische und metaphysische Konsequenzen


Die Notwendigkeit einer der Benennung vorhergehenden Kenntnis der Dinge selbst (bei denen
es sich nach Platons Verständnis freilich um die Ideen handeln muss) ist nun auch das
Schlussthema des Dialogs. Da sich bei der Analyse der Lautmaterie unter anderem das Problem
ergeben hat, dass die Namen uns durch ihre Etymologien keine eindeutigen Hinweise darauf
geben können, ob in Wahrheit alles im Fluss befindlich ist oder doch alles ruht,169 muss es laut
Sokrates einen anderen Weg geben, die seienden Dinge zu erkennen (438 d2−e3):

ΣΩ. Ὀνομάτων οὖν στασιασάντων, καὶ τῶν μὲν φασκόντων ἑαυτὰ εἶναι τὰ ὅμοια τῇ ἀληθείᾳ, τῶν
δ’ ἑαυτά, τίνι ἔτι διακρινοῦμεν, ἢ ἐπὶ τί ἐλθόντες; οὐ γάρ που ἐπὶ ὀνόματά γε ἕτερα ἄλλα τούτων·
οὐ γὰρ ἔστιν, ἀλλὰ δῆλον ὅτι ἄλλ’ ἄττα ζητητέα πλὴν ὀνομάτων, ἃ ἡμῖν ἐμφανιεῖ ἄνευ ὀνομάτων
ὁπότερα τούτων ἐστὶ τἀληθῆ, δείξαντα δῆλον ὅτι τὴν ἀλήθειαν τῶν ὄντων.
ΚΡ. Δοκεῖ μοι οὕτω.
ΣΩ. Ἔστιν ἄρα, ὡς ἔοικεν, ὦ Κρατύλε, δυνατὸν μαθεῖν ἄνευ ὀνομάτων τὰ ὄντα, εἴπερ ταῦτα
οὕτως ἔχει.

„So.: Wenn nun die Namen in Streit geraten und die einen behaupten, dass sie die der Wahrheit
ähnlichen wären, die anderen aber, dass sie es sind, auf welcher Grundlage sollen wir dann
entscheiden, oder worauf Bezug nehmen? Doch wohl nicht auf andere Namen als diese, denn es
gibt ja keine, sondern offenbar ist irgendetwas anderes als Namen aufzusuchen, das uns ohne
Namen deutlich macht, welche von diesen beiden wahr sind, offenbar indem es uns die Wahrheit
über die seienden Dinge bezeichnet.
Kr.: So scheint es mir.
So.: Es ist also, wie es scheint, o Kratylos, möglich, ohne Namen die seienden Dinge
kennenzulernen, wenn sich dies denn so verhält.“

Nachdem sich die ὀνόματα als durchwegs unzuverlässiges Erkenntnismittel erwiesen haben –
nicht nur hinsichtlich der Beliebigkeit ihrer Lautgestalt, sondern auch, weil bei ihrer Herstellung
Fehler der Wortbildner nicht auszuschließen waren – sind wir geradezu gezwungen, etwas
anderes als sie aufzusuchen (ἄλλ’ ἄττα ζητητέα πλὴν ὀνομάτων), das uns die Wahrheit über die
Dinge lehren kann. Als alternative Methode schlägt Sokrates im Folgenden vor, die Dinge
durch einander bzw. durch sich selbst (438 e7 δι’ αλλήλλων bzw. αὐτὰ δι’ αὑτῶν)
kennenzulernen. Was damit gemeint sein könnte, wird im Kontext des VII. Briefs noch näher
zu erörtern sein. Wichtig ist jedenfalls, die Stelle nicht so zu verstehen, dass der

168
Vgl. Heitsch 1984, 71 f.
169
Vgl. oben, 65.

68
Erkenntnisgewinn laut Platon ohne jeden Rückgriff auf Namen zu erfolgen habe; es ist lediglich
die etymologische Analyse und die Untersuchung der Lautmaterie, welche Platon hier als
unbrauchbar darstellen will: „All he needs to say here, and all he does say, is that the
investigation of reality is independent of the (etymological) investigation of names – not of
their use.“170 Platon vertritt demnach die Meinung, dass die Namen zwar im dialektischen
Lehrgespräch verwendet werden können, um so Wissen über die seienden Dinge zu erlangen,
dass dieser Wissenserwerb aber keinesfalls in der Richtigkeit der Namen selbst begründet sein
kann und es nicht die etymologische Methode ist, durch die wir zu philosophischer Einsicht
gelangen. Wenngleich im Kratylos also darauf aufmerksam gemacht wird, dass Worte mit
Vorsicht zu gebrauchen sind und für sich genommen kein taugliches Erkenntnismittel
darstellen, ist damit nicht ausgeschlossen, dass sie zur Erlangung von ἐπιστήμη anleiten
können, indem sie den Erkenntnisprozess indirekt unterstützen.
Was nun die Frage betrifft, ob die seienden Dinge in Wahrheit ruhen oder in fortwährender
Bewegung begriffen sind, betont Sokrates die Notwendigkeit eines ruhenden Seins, da eine
Sache gar nicht benennbar oder erkennbar wäre, würde sie sich stets verändern (439 b10−440
a5). Dadurch wird auch klar, dass die jeweiligen Ausgangsthesen des Kratylos und des
Hermogenes aus Sokrates’ Sicht eigentlich eine je falsche ontologische Grundannahme
beinhalten: „Die Position des Kratylos (Richtigkeit von Natur) verlangt – so will es Sokrates –
eigentlich eine eleatische Seinstheorie als Basis; die Position des Hermogenes (Richtigkeit nur
durch Konvention) verträgt sich eher mit einem herakliteischen Relativismus.“171 Im Laufe des
Dialogs hat Sokrates diese merkwürdige Verschränkung aufgezeigt und auch in dieser Hinsicht
die Inkonsequenz der Standpunkte seiner beiden Gesprächspartner bewiesen. Er beschließt den
Dialog nun mit dem nochmaligen Hinweis darauf, dass die Möglichkeit von Erkenntnis eine
gewisse Beständigkeit in den Dingen voraussetzt, und äußert sich ein letztes Mal zu der
Sinnhaftigkeit eines Studiums der Namen (440 a6−c6):

Ἀλλ’ οὐδὲ γνῶσιν εἶναι φάναι εἰκός, ὦ Κρατύλε, εἰ μεταπίπτει πάντα χρήματα καὶ μηδὲν μένει.
εἰ μὲν γὰρ αὐτὸ τοῦτο, ἡ γνῶσις, τοῦ γνῶσις εἶναι μὴ μεταπίπτει, μένοι τε ἂν ἀεὶ ἡ γνῶσις καὶ εἴη
γνῶσις. εἰ δὲ καὶ αὐτὸ τὸ εἶδος μεταπίπτει τῆς γνώσεως, ἅμα τ’ ἂν μεταπίπτοι εἰς ἄλλο εἶδος
γνώσεως καὶ οὐκ ἂν εἴη γνῶσις· εἰ δὲ ἀεὶ μεταπίπτει, ἀεὶ οὐκ ἂν εἴη γνῶσις, καὶ ἐκ τούτου τοῦ
λόγου οὔτε τὸ γνωσόμενον οὔτε τὸ γνωσθησόμενον ἂν εἴη. εἰ δὲ ἔστι μὲν ἀεὶ τὸ γιγνῶσκον, ἔστι
δὲ τὸ γιγνωσκόμενον, ἔστι δὲ τὸ καλόν, ἔστι δὲ τὸ ἀγαθόν, ἔστι δὲ ἓν ἕκαστον τῶν ὄντων, οὔ μοι
φαίνεται ταῦτα ὅμοια ὄντα, ἃ νῦν ἡμεῖς λέγομεν, ῥοῇ οὐδὲν οὐδὲ φορᾷ. ταῦτ’ οὖν πότερόν ποτε
οὕτως ἔχει ἢ ἐκείνως ὡς οἱ περὶ Ἡράκλειτόν τε λέγουσιν καὶ ἄλλοι πολλοί, μὴ οὐ ῥᾴδιον ᾖ
ἐπισκέψασθαι, οὐδὲ πάνυ νοῦν ἔχοντος ἀνθρώπου ἐπιτρέψαντα ὀνόμασιν αὑτὸν καὶ τὴν αὑτοῦ

170
Ademollo 2011, 445. Vgl. auch Sedley 2003, 162.
171
Gaiser 1974, 30.

69
ψυχὴν θεραπεύειν, πεπιστευκότα ἐκείνοις καὶ τοῖς θεμένοις αὐτά, διισχυρίζεσθαι ὥς τι εἰδότα,
(…).

„Aber es ist nicht einmal folgerichtig, o Kratylos, zu sagen, dass es Erkenntnis gibt, wenn alle
Dinge sich wandeln und nichts Bestand hat. Wenn nämlich dieses selbst, die Erkenntnis, sich
nicht vom Erkenntnis-Sein entfernt, dann bliebe die Erkenntnis immer und es gäbe eine
Erkenntnis. Wenn sich aber die Idee der Erkenntnis selbst wandelte, würde sie zugleich eine von
der Erkenntnis verschiedene Idee und es gäbe keine Erkenntnis; wenn sie sich aber immer
wandelte, gäbe es immer keine Erkenntnis, und aufgrund dessen weder ein Erkennendes noch ein
zu Erkennendes. Wenn es aber immer ein Erkennendes gibt, und immer ein Erkanntes, und wenn
es das Schöne gibt, und das Gute, und ein jedes der seienden Dinge, dann scheinen mir diese, die
wir jetzt nennen, keineswegs einem Fluss oder einer Bewegung ähnlich zu sein. Ob sich dies nun
so verhält oder auf jene Weise, wie die Herakliteer und viele andere sagen, das ist womöglich
nicht leicht zu untersuchen, aber es kann durchaus nicht Sache eines verständigen Menschen sein,
sich selbst und seine Seele den Namen zur Pflege zu übergeben, dabei ihnen und denen, die sie
setzten, zu vertrauen, und sich auf sie zu verlassen, als wüsste er etwas, (…).“

Obgleich Sokrates hier eindeutig gegen die herakliteische Flusslehre Stellung bezieht, gibt er
gleichzeitig zu erkennen, dass mit den von ihm vorgebrachten Argumenten das letzte Wort noch
nicht gesprochen ist (ταῦτ’ οὖν πότερόν ποτε οὕτως ἔχει ἢ ἐκείνως (…) μὴ οὐ ῥᾴδιον ᾖ
ἐπισκέψασθαι). Sedley resümiert: „Socrates does not claim to have definitely refuted flux, but
he does claim at the very least to have shown how unwise it would be to believe in it merely on
the say-so of the original name-makers.”172 Die Frage nach Ruhe oder Bewegung des Seins, die
im Theaitetos wieder aufgegriffen und dort genauer besprochen wird,173 kann in dieser Arbeit
allerdings nicht erschöpfend behandelt werden; ihre Beantwortung hängt auch davon ab, ob von
der empirischen Welt oder der intelligiblen Ideenwelt die Rede ist.174 Im Kontext unserer
Kratylos-Stelle ist jedenfalls davon auszugehen, dass Platon auf die Notwendigkeit eines
stabilen Seins der Ideen hinweisen will, da sowohl Erkenntnis als auch sprachliche
Kommunikation unmöglich wären, wenn sich die Ideen als das zu Erkennende und zu
Benennende ständig veränderten. Eine detaillierte Analyse des Problems wird im Kratylos aber
nicht geliefert, was seinen Grund zweifellos in der Ungeeignetheit der Gesprächspartner des
Sokrates hat. Offenbar hält Platon auch hier wieder gewisse Inhalte als τιμιώτερα zurück, weil
sie den Rahmen des Dialogs sprengen und das Verständnis der von ihm kreierten
Dialogteilehmer übersteigen würden.175
Platons Hauptanliegen im Kratylos scheint ohnehin ein anderes zu sein: Er will das Studium
der Namen als eine fruchtlose Tätigkeit erweisen und die rein konventionelle Richtigkeit der
Lautgestalt hervorheben. Wie bereits oben auseinandergesetzt, lässt sich die Naturgemäßheit

172
Sedley 2003, 171.
173
Vgl. Ademollo 2011, 468−73.
174
Vgl. Sedley 2003, 101 f.
175
Vgl. Szlezák 1985, 220.

70
eines ὄνομα seiner Meinung nach nur daran erkennen, ob dessen δύναμις bzw. spezielles
Worteidos der benannten Idee entspricht oder nicht. Dies wiederum kann laut Platon aber nur
seriös beurteilen, wer bereits zuvor ein von den Namen unabhängiges Wissen über die benannte
Idee erworben hat. So ist es nur folgerichtig, dass Sokrates am Ende des Dialogs betont, es sei
„durchaus nicht Sache eines verständigen Menschen“ (οὐδὲ πάνυ νοῦν ἔχοντος ἀνθρώπου), sich
den Namen und Wortbildnern anzuvertrauen und sich auf dieser Basis einzubilden, über
wirkliches Wissen zu verfügen. Denn: „Wesenserkenntnis allein mittels Sprachbetrachtung ist
nach Platon ausgeschlossen.“176

4.4. Ὄνομα und λόγος


Konrad Gaiser hat darauf hingewiesen, dass Platon im Kratylos eigentlich den semantischen
Seinsbezug von Sprache überhaupt untersucht und diesen nur paradigmatisch anhand der
ὀνόματα erörtert; die Ergebnisse des Dialogs hätten demnach, so seine Argumentation, auch
eine über die bloße Wortebene hinausgehende Bedeutung.177 In der Tat scheint Platon, wie wir
schon oben angemerkt haben,178 an einigen Stellen anzudeuten, dass die Diskussion im Kratylos
in Wahrheit nicht nur für alleinstehende Worte, sondern ebenso für aus Worten
zusammengesetzte Sätze (λόγοι) von Relevanz ist. Eine Stelle aus dem Gespräch zwischen
Sokrates und Kratylos illustriert besonders gut, dass aus Platons Sicht für ῥήματα und λόγοι im
Grunde dasselbe zu gelten hat wie für die im Dialog vorrangig untersuchten ὀνόματα. In dem
besagten Abschnitt erläutert Sokrates Kratylos zunächst, dass Namen den benannten Sachen
immer auch falsch zugeordnet werden können, wenn sie deren Nachahmungen sein sollen, und
macht dann folgende Bemerkung (431 b2−c3):

ΣΩ. (…) εἰ δὲ τοῦτο οὕτως ἔχει, καὶ ἔστι μὴ ὀρθῶς διανέμειν τὰ ὀνόματα μηδὲ ἀποδιδόναι τὰ
προσήκοντα ἑκάστῳ, ἀλλ’ ἐνίοτε τὰ μὴ προσήκοντα, εἴη ἂν καὶ ῥήματα ταὐτὸν τοῦτο ποιεῖν. εἰ
δὲ ῥήματα καὶ ὀνόματα ἔστιν οὕτω τιθέναι, ἀνάγκη καὶ λόγους· λόγοι γάρ που, ὡς ἐγᾦμαι, ἡ
τούτων σύνθεσίς ἐστιν· ἢ πῶς λέγεις, ὦ Κρατύλε;
ΚΡ. Οὕτω· καλῶς γάρ μοι δοκεῖς λέγειν.

„So.: (…) Wenn sich dies aber so verhält, und es möglich ist, die Namen nicht richtig zuzuordnen
und nicht die für jede Sache passenden anzugeben, sondern manchmal auch die nicht passenden,
dann wäre es möglich, mit den Zeitwörtern dasselbe zu machen. Wenn es aber möglich ist, die
Zeitwörter und Namen so zu setzen, dann notwendig auch die Sätze; denn Sätze sind doch, wie
ich glaube, die Zusammensetzung aus diesen; oder was meinst du, o Kratylos?
Kr.: Ich meine auch, dass das so ist; denn du scheinst mir gut zu sprechen.“

Wir sehen hier, dass die Untersuchung der Frage nach der korrekten Zuordnung von Namen
bzw. Hauptwörtern ebenso für Zeitwörter (ῥήματα) gültig ist und deshalb in letzter Konsequenz

176
Erler 2007, 113.
177
Vgl. Gaiser 1974, 8 u. 98−101.
178
Vgl. oben, 54.

71
auch Sätze (λόγοι) betrifft, da diese eine Kombination (σύνθεσις) aus ὀνόματα und ῥήματα
sind. Platon macht also ausdrücklich darauf aufmerksam, dass das im Kratylos diskutierte
Problem der Wortrichtigkeit von grundlegender Bedeutung für die Sprachbetrachtung
überhaupt ist, insofern jede sprachliche Äußerung aus Worten bestehen muss, die die benannten
Sachen entweder korrekt oder fehlerhaft bezeichnen. Mithin wird durch die Analyse der
Satzstruktur, die Platon im Sophistes nachliefert, „(…) das, was im ›Kratylos‹ über den
möglichen Aussagegehalt und Realitätsbezug der Sprache ausgeführt worden ist, ergänzt, aber
nicht aufgehoben.“179
Wenn nun bereits für einzelne ὀνόματα gilt, dass deren Lautgestalt keine naturgemäße
Nachahmung der Ideen sein kann, so impliziert dies auch die grundsätzliche Verschiedenheit
der λόγοι von den Ideen. Wir können somit als Ergebnis des Dialogs festhalten, dass für Platon
sprachliche Äußerungen jeder Art nicht unmittelbar auf das Wesen der Dinge schließen lassen
und bestenfalls indirekt zum Wissenserwerb anleiten können. Wie sich zeigen wird, stimmt
diese Interpretation auch mit den erkenntnistheoretischen Betrachtungen des VII. Briefs
überein.

4.5. Die Wahrheit des gesprochenen Wortes bei Platon und Derrida
Bei der Lektüre des Kratylos hat sich gezeigt, dass Platon – anders als von Derrida suggeriert
– dem gesprochenen Wort durchaus keinen natürlichen Wahrheitsgehalt zuerkennt: Die φύσει-
These wird im Dialog eindeutig zurückgewiesen und widerlegt; sie behält nur insofern eine
eingeschränkte Gültigkeit, als die mögliche Naturgemäßheit des speziellen Worteidos von
Platon nicht generell ausgeschlossen wird. Da dieses aber nur im Falle einer vorhergehenden
Erkenntnis der benannten Idee korrekt festgelegt werden kann und es höchst unsicher ist, ob
die ersten Nomotheten bei der Wortbildung überhaupt eine solche Erkenntnis hatten, ist auch
das spezielle Eidos eines Namens nicht unbedingt mit einer natürlichen Richtigkeit verbunden.
Es ist deshalb, so lässt sich vermuten, kein Zufall, dass Derrida in der Grammatologie an keiner
Stelle auf den Dialog Kratylos Bezug nimmt, der im eindeutigen Widerspruch zu seinen über
Platon vertretenen Ansichten steht. Während im Falle des Phaidros von einer Fehlinterpretation
Derridas auszugehen ist, muss man annehmen, dass der Kratylos in der Grammatologie
entweder bewusst ignoriert wurde oder Derrida schlichtweg nicht (ausreichend) bekannt war.
Auffällig ist in diesem Zusamenhang auch Derridas unpräzise Verwendung des λόγος-
Begriffs, bei dem oftmals nicht klar ist, ob er auf die Wort- oder Satzebene bezogen werden
soll. In der Grammatologie entsteht der Eindruck, dass Derrida mit dem Begriff λόγος ganz

179
Gaiser 1974, 101.

72
allgemein auf mündliche Äußerungen referiert, unnabhängig davon, ob es sich um Worte oder
ganze Sätze handelt. Nach Platons Verständnis kann λόγος hingegen sowohl eine mündliche
als auch eine schriftliche Äußerung bezeichnen, wie schon aus dem Phaidros deutlich wurde;
entscheidend für seine Auffassung von λόγος ist nur – soviel wird aus dem Kratylos klar –, dass
dieser aus ὄνομα und ῥῆμα zusammengesetzt ist (unabhängig von dem Medium, durch welches
er geäußert wird). Zudem geht aus dem Kratylos zumindest indirekt hervor, dass aufgrund der
Unzuverlässigkeit der einzelnen Worte auch die aus Worten zusammengesetzten Sätze nicht
unmittelbar mit Wahrheit verknüpft sein können180 und die Wirklichkeit nicht direkt abbilden
können. Welches Verständnis von λόγος also bei Derrida auch immer vorauszusetzen ist, in
jedem Fall scheint seine Darstellung im Widerspruch zu Platons Denken zu stehen: Denn weder
entspricht seine grundsätzliche Auffassung von λόγος der Platons, noch hat er recht damit,
überhaupt von gesprochenen Worten oder auch Sätzen zu behaupten, sie wären von Platon als
unmittelbar mit Wahrheit verbunden gedacht worden. Alles in allem erhärtet sich damit unser
bereits aus der Besprechung des Phaidros gewonnenes Urteil, wonach mündliche und
schriftliche sprachliche Äußerungen für Platon entgegen der Ansicht Derridas kein
verlässliches Mittel zum Erkenntnisgewinn darstellen und keine direkten Rückschlüsse auf das
Sein der Dinge zulassen. Die Behauptung, Platon hätte dem gesprochenen Wort eine natürliche
Sinnpräsenz und einen unmittelbaren Wahrheitsgehalt zugeschrieben, ist mit dem Kratylos
unvereinbar.

180
Gemeint ist hier freilich eine Wahrheit hinsichtlich des Seinsbezugs der Wörter und Sätze, nicht die logisch-
syntaktische Wahrheit von Aussagen. Jene erste Form von Wahrheit scheint es auch zu sein, die Derrida in der
Grammatologie vor allem im Blick hat.

73
5. Platons Erkenntnistheorie im VII. Brief
Als letzten Text Platons wollen wir noch den VII. Brief in unsere Untersuchung miteinbeziehen,
um zu einem abschließenden Urteil über die Rolle der Sprache in der platonischen
Erkenntnistheorie zu gelangen. Was die Echtheitsfrage des VII. Briefs betrifft, sei hier nur Erler
zitiert, der meint: „Der Brief kann solange als authentisch gelten, bis ein wirklich schlagendes
Argument gegen seine Echtheit vorgetragen wird.“181 Wir konzentrieren uns im Folgenden auf
den philosophischen Exkurs des Briefs (342 a7−344 d2) und auf die Frage, ob bzw. inwiefern
laut Platon die Sprache zur Erlangung von Erkenntnis dienlich sein kann.

5.1. Der mühevolle Weg zur Erkenntnis


Die philosophische Digression des VII. Briefs beginnt mit einer Aufzählung von fünf Instanzen,
die beim Erkenntnisprozess zu unterscheiden sind (342 a7−b3):

Ἔστιν τῶν ὄντων ἑκάστῳ, δι’ ὧν τὴν ἐπιστήμην ἀνάγκη παραγίγνεσθαι, τρία, τέταρτον δ’ αὐτή
– πέμπτον δ’ αὐτὸ τιθέναι δεῖ ὃ δὴ γνωστόν τε καὶ ἀληθῶς ἐστιν ὄν – ἓν μὲν ὄνομα, δεύτερον δὲ
λόγος, τὸ δὲ τρίτον εἴδωλον, τέταρτον δὲ ἐπιστήμη.

„Jedes der seienden Dinge hat drei Erscheinungsformen, durch die die Erkenntnis zustande
kommen muss, als Viertes aber ist sie selbst anzusetzen – als Fünftes muss man das ansetzen, was
Gegenstand der Erkenntnis und wahrhaft seiend ist – das eine ist der Name, das Zweite die
Definition, das Dritte das Abbild und das Vierte die Erkenntnis.“

Die drei Elemente (τρία), durch welche die Erkenntnis einer Sache zustande kommen soll,
müssen tatsächlich als Erscheinungsformen oder Auftretensweisen des Seienden verstanden
werden, nicht als „Stufen“ der Erkenntnis, da durch sie kein wirklicher Fortschritt im
Erkenntnisprozess markiert wird.182 Es handelt sich bei ihnen um den Namen (ὄνομα), die
Definition (λόγος) und das Abbild (εἴδωλον) einer Sache. Alle drei werden eindeutig von der
Erkenntnis selbst (ἐπιστήμη αὐτή) unterschieden, welche Platon gesondert als vierte Instanz
anführt. Der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis (γνωστόν τε καὶ ἀληθῶς ὄν), bei dem es
sich freilich um die Idee handeln muss, ist ebenfalls sowohl von seinen empirischen
Erscheinungsformen als auch von dem Wissen, das man über ihn erwerben kann, abgegrenzt.
Λόγος ist hier mit ‘Definition’ übersetzt, weil dies am besten mit den folgenden
Ausführungen Platons zusammenstimmt. Die Erklärung aus dem Kratylos, wonach der λόγος
ein aus ὄνομα und ῥῆμα zusammengesetzter ‘Satz’ sei, ist damit aber nicht überholt; es wird
nur ein anderer Aspekt des λόγος betont, da dieser als ‘Satz’ freilich auch die ‘Definition’ einer
Sache zum Ausdruck bringen kann. Ebensowenig steht die Bedeutung ‘Rede’, die uns vor allem
im Phaidros begegnet ist, im Widerspruch zu den Bedeutungen ‘Satz’ oder ‘Definition’: Dabei

181
Erler 2007, 315.
182
Vgl. Gadamer 1964, 11; Dönt 1967, 25.

74
wird gleichfalls nur ein anderer Aspekt des λόγος ins Auge gefasst, insofern längere Reden
ebenso wie einzelne Sätze aus ὀνόματα und ῥήματα bestehen und freilich auch als Definition
dienen können.
Im Zuge der weiteren Erklärungen zu den besagten fünf Instanzen werden die jeweiligen
Unterscheidungsmerkmale derselben näher erläutert (342 b4−d1):

κύκλος ἐστίν τι λεγόμενον, ᾧ τοῦτ’ αὐτό ἐστιν ὄνομα ὃ νῦν ἐφθέγμεθα. λόγος δ’ αὐτοῦ τὸ
δεύτερον, ἐξ ὀνομάτων καὶ ῥημάτων συγκείμενος· τὸ γὰρ ἐκ τῶν ἐσχάτων ἐπὶ τὸ μέσον ἴσον
ἀπέχον πάντῃ, λόγος ἂν εἴη ἐκείνου ᾧπερ στρογγύλον καὶ περιφερὲς ὄνομα καὶ κύκλος. τρίτον
δὲ τὸ ζωγραφούμενόν τε καὶ ἐξαλειφόμενον καὶ τορνευόμενον καὶ ἀπολλύμενον· ὧν αὐτὸς ὁ
κύκλος, ὃν πέρι πάντ’ ἐστὶν ταῦτα, οὐδὲν πάσχει, τούτων ὡς ἕτερον ὄν. τέταρτον δὲ ἐπιστήμη καὶ
νοῦς ἀληθής τε δόξα περὶ ταῦτ’ ἐστίν· ὡς δὲ ἓν τοῦτο αὖ πᾶν θετέον, οὐκ ἐν φωναῖς οὐδ’ ἐν
σωμάτων σχήμασιν ἀλλ’ ἐν ψυχαῖς ἐνόν, ᾧ δῆλον ἕτερόν τε ὂν αὐτοῦ τοῦ κύκλου τῆς φύσεως
τῶν τε ἔμπροσθεν λεχθέντων τριῶν.

„Es gibt etwas, das Kreis genannt wird, dem ebendies als Name eignet, was wir soeben
ausgesprochen haben. Seine Definition aber, die sich aus Namen und Zeitwörtern zusammensetzt,
ist das Zweite; denn ‘das von den Rändern zum Mittelpunkt hin überall gleich weit entfernt
Seiende’ wäre die Definition jener Sache, die den Namen ‘rund’, ‘ringförmig’ und ‘Kreis’ trägt.
Das Dritte aber ist das, was gemalt und wieder weggewischt, was gedrechselt und wieder zerstört
wird; davon erleidet der Kreis selbst nichts, um den herum all dies geschieht, weil er von diesen
Erscheinungsformen verschieden ist. Das Vierte aber ist die Erkenntnis und das geistige Erfassen
und die wahre Meinung über dies; all das ist in Eins zusammenzufassen, da es weder in der
Stimme, noch in körperlicher Gestalt, sondern in der Seele ist, woraus erhellt, dass es etwas
anderes ist als die Natur des Kreises selbst und als die drei zuvor genannten Erscheinungsformen.“

Aus dieser Stelle ist – einmal mehr – eindeutig ersichtlich, was Platon im Folgenden noch klarer
sagen wird: Sprachliche Äußerungen und Erkenntnis sind zwei grundverschiedene Dinge und
können keinesfalls als direkt miteinander verbunden aufgefasst werden. Die Erkenntnis bzw.
das Wissen (ἐπιστήμη) hat laut Platon den Sitz in der Seele (ἐν ψυχαῖς), während ὄνομα und
λόγος hier unter die empirischen Erscheinungsformen gezählt werden und sich in lautlicher (ἐν
φωναῖς) oder – im Falle ihrer Verschriftlichung – in körperlicher Gestalt (ἐν σωμάτων
σχήμασιν) manifestieren. Die Stimme (φωνή) ist für Platon somit kein Garant für eine wie auch
immer geartete Wahrheitsnähe, sondern ganz im Gegenteil ein Merkmal, anhand dessen
sprachliche Äußerungen vom wirklichen Wissen unterschieden werden können, da letzteres
eben nicht in der Stimme, sondern in der Seele zu finden ist. Dass dabei ὄνομα und λόγος
ausschließlich als empirische Phänomene gedeutet werden, stellt keinen direkten Widerspruch
zum Kratylos dar. Gaiser merkt an: „Weil sich der Briefexkurs zunächst an die Lautgestalt der
Sprache hält, die arbiträr ist, bleibt hier die innere Sachgemäßheit der Onomata und Logoi im

75
Hintergrund.“183 Eine mögliche eidetische Wortrichtigkeit wird also nicht ausgeschlossen,
sondern findet lediglich im gegebenen Kontext keine spezielle Beachtung.184
Wie Platon jedenfalls am Beispiel des Kreises erklärt, ist dessen Idee als Fünftes wesentlich
von den anderen vier Elementen des Erkenntnisprozesses verschieden und „erleidet nichts“
(οὐδὲν πάσχει), wenn etwa ein sinnlich wahrnehmbarer Kreis (d. h. ein εἴδωλον) gemalt und
wieder weggewischt oder gedrechselt und wieder zerstört wird. Als vierte Instanz (τέταρτον)
nennt Platon anstatt der zuvor alleine angeführten ἐπιστήμη nun drei psychische Medien, die
allerdings, eben weil sie alle in der Seele zu verorten sind, in eins zusammengefasst werden
können (ὡς δὲ ἓν τοῦτο αὖ πᾶν θετέον). Unter ihnen besteht anders als unter den empirischen
Erscheinungformen eine eindeutige Rangordnung: Am niedrigsten ist die „wahre Meinung“
(δόξα ἀληθής) einzustufen, gefolgt von der eigentlichen „Erkenntnis“ (ἐπιστήμη) und
schließlich dem „geistigen Erfassen“ (νοῦς), welches der Idee am nächsten kommt.185 In 342
d1−3 heißt es dazu: τούτων δὲ ἐγγύτατα μὲν συγγενείᾳ καὶ ὁμοιότητι τοῦ πέμπτου νοῦς
πεπλησίακεν, τἆλλα δὲ πλέον ἀπέχει („Von diesen aber ist das geistige Erfassen durch
Verwandschaft und Ähnlichkeit dem Fünften am meisten angenähert, die anderen aber sind
weiter davon entfernt.“). Die hier der sinnlichen Welt zugeordneten Medien ὄνομα, λόγος und
εἴδωλον weisen – soviel ist aus dem Kontext evident – am wenigsten Ähnlichkeit mit der Idee
selbst auf und stehen dieser somit ontologisch am fernsten.186
Wie im Folgenden ausgeführt wird, müssen auf dem Weg zur Erkenntnis aber stets alle vier
Auftretensweisen einer Idee erfasst werden (342 d8−343 a4):

οὐ γὰρ ἂν τούτων μή τις τὰ τέτταρα λάβῃ ἁμῶς γέ πως, οὔποτε τελέως ἐπιστήμης τοῦ πέμπτου
μέτοχος ἔσται. πρὸς γὰρ τούτοις ταῦτα οὐχ ἧττον ἐπιχειρεῖ τὸ ποῖόν τι περὶ ἕκαστον δηλοῦν ἢ τὸ
ὂν ἑκάστου διὰ τὸ τῶν λόγων ἀσθενές· ὧν ἕνεκα νοῦν ἔχων οὐδεὶς τολμήσει ποτὲ εἰς αὐτὸ τιθέναι
τὰ νενοημένα ὑπ’ αὐτοῦ, καὶ ταῦτα εἰς ἀμετακίνητον, ὃ δὴ πάσχει τὰ γεγραμμένα τύποις.

„Wenn man nämlich von diesen [sc. zuvor genannten Erkenntnisgegenständen] nicht wenigstens
irgendwie jene vier Instanzen erfasst, wird man niemals vollends der Erkenntnis des Fünften
teilhaftig werden. Denn überdies zielen jene nicht weniger darauf ab, die Wie-Beschaffenheit
über ein jedes zu bezeichnen als das Sein eines jeden, wegen der Kraftlosigkeit der Worte; deshalb

183
Gaiser 1974, 114.
184
Dass die Sprache im VII. Brief nur in ihrer empirischen Form berücksichtigt ist, zeigt sich auch in 343 a9−b6,
wo die Namen und Definitionen aufgrund der Beliebigkeit ihrer Lautgestalt als unzuverlässiges Erkenntnismittel
charakterisiert werden.
185
Vgl. Gaiser 1974, 112.
186
Es sei darauf hingewiesen, dass Platon andernorts auch den nicht-sinnlichen Aspekt von λόγος und ὄνομα
berücksichtigt, wie wir bei der Besprechung des Phaidros und des Kratylos gesehen haben. So konnte etwa λόγος
im Phaidros das innerseelische Denken des Wissenden bezeichnen (vgl. oben, 35 ff.). Das εἴδωλον ist ebenfalls
nicht nur als außerseelische Instanz zu sehen, sondern kann auch als subjektiver Erkenntnisgegenstand in der Seele
auftreten (Vgl. etwa das Liniengleichnis, Rep. 509 d−511 e). Auch im VII. Brief selbst weisen die ὄψεις und
αἰσθήσεις in 344 b auf einen möglichen innerseelischen Gebrauch des εἴδωλον hin (s.u.). Wichtig ist aber, dass es
sich bei den drei genannten Instanzen gleichsam um Hilfmedien handelt, die von der Erkenntnis selbst zu
unterscheiden sind.

76
wird kein Verständiger es jemals wagen, das von ihm Gedachte dieser Kraftlosigkeit
anzuvertrauen, zumal wenn sie unveränderlich ist, was bei dem mit Buchstaben Geschriebenen
der Fall ist.“

Es äußert sich hier wieder Platons Skepsis betreffend die Möglichkeiten von Sprache: Wie wir
schon im Phaidros gesehen haben, sind λόγοι für ihn – zumal in erstarrter, geschriebener Form
– ein höchst unzuverlässiges Medium, weshalb ihnen das Gedachte (τὰ νενοημένα) nicht ohne
Weiteres anvertraut werden sollte. Allerdings ist aus der zitierten Stelle klar ersichtlich, dass
Platon den λόγοι deshalb nicht jeglichen Nutzen im Erkenntnisprozess abspricht, sondern nur
einen möglichst umsichtigen Gebrauch derselben einfordert. Schließlich vertritt er die
Meinung, dass alle vier Instanzen (darunter auch die λόγοι) erfasst werden müssen, wenn eine
Erkenntnis des Fünften (ἐπιστήμη τοῦ πέμπτου) zustandekommen soll. Die Aussage, kein
verständiger Mann würde das von ihm Gedachte der „Kraftlosigkeit“ (ἀσθενές) der Worte
anvertrauen, ist wohl als etwas überspitzt formulierte Mahnung anzusehen.187 Letztlich ist
Platon durchaus der Auffassung, dass es trotz der Unzuverlässlichkeit von Sprache nötig ist,
die λόγοι im dialektischen Gespräch zu gebrauchen, eben weil nur durch den Einsatz aller zur
Verfügung stehenden Mittel wirkliches Wissen von den Ideen erworben werden kann. Dies war
bereits aus dem Phaidros klar und wird auch im Folgenden noch deutlicher werden.
Ein besonderes Problem, das sich auf dem Weg zur Erkenntnis ergibt, besteht allerdings
darin, dass nicht nur die λόγοι, sondern alle vier zuvor genannten Medien niemals in reiner
Form das Sein (τὸ ὄν) einer Sache verdeutlichen können: Sie alle offenbaren immer auch eine
bloß äußerliche Beschaffenheit, ein „Wie“ (τὸ ποῖόν τι) des Fünften. In 343 b8−c5 kommt
Platon nochmals auf diese Schwierigkeit zu sprechen:

μυρίος δὲ λόγος αὖ περὶ ἑκάστου τῶν τεττάρων ὡς ἀσαφές, τὸ δὲ μέγιστον, ὅπερ εἴπομεν ὀλίγον
ἔμπροσθεν, ὅτι δυοῖν ὄντοιν, τοῦ τε ὄντος καὶ τοῦ ποιοῦ τινος, οὐ τὸ ποιόν τι, τὸ δὲ τί, ζητούσης
εἰδέναι τῆς ψυχῆς, τὸ μὴ ζητούμενον ἕκαστον τῶν τεττάρων προτεῖνον τῇ ψυχῇ λόγῳ τε καὶ κατ’
ἔργα, αἰσθήσεσιν εὐέλεγκτον τό τε λεγόμενον καὶ δεικνύμενον ἀεὶ παρεχόμενον ἕκαστον,
ἀπορίας τε καὶ ἀσαφείας ἐμπίμπλησι πάσης ὡς ἔπος εἰπεῖν πάντ’ ἄνδρα.

„Ferner gibt es aber unzählige Begründungen für jedes der Vier, dass es unsicher ist, die
gewichtigste aber ist die, welche wir kurz zuvor nannten: Da es zwei verschiedene Dinge sind,
das Sein und die Wie-Beschaffenheit, und da die Seele nicht das Wie, sondern das Was zu wissen
sucht, erfüllt jedes von den Vieren, indem es der Seele das nicht Gesuchte in Worten und
gegenständlich vorhält, und jedes das Gesagte und Gezeigte immer für die Sinne gut überprüfbar
darbietet, sozusagen jeden Mann mit völliger Ratlosigkeit und Unsicherheit.“

Platon macht hier offenbar auf das Paradox aufmerksam, dass die Seele zwar die Idee in ihrer
reinen und objektiven Gestalt schauen will, dass sie aufgrund der Defektivität aller vier
Erkenntnismittel aber immer nur eine „perspektivisch getrübte Erkenntnis“ des Fünften

187
Vgl. Ferber 2007, 55 f.

77
erlangen kann.188 Demnach ist sogar der νοῦς nicht dazu in der Lage, die Idee in gänzlich
ungetrübter Form zu erfassen; ein gewisser Unterschied zwischen Erkennendem und
Erkanntem bleibt unvermeidlich bestehen: „Eine reine intellektuelle Anschauung, die den
Gegenstand nicht in seinem poion, sondern in seinem on wiedergäbe, wäre eine Erkenntnis
ohne die vier Erkenntnismittel.“189 Obwohl Platon also grundsätzlich an die Möglichkeit von
Erkenntnis glaubt, ist er sich andererseits der Grenzen bewusst, die den Menschen dabei gesetzt
sind; eine völlig ungetrübte Einsicht in das Wesen der Dinge bleibt den Göttern vorbehalten.190
Nichtsdestoweniger können die Menschen, soweit es ihren Möglichkeiten entspricht, durch die
mühevolle Prüfung der sinnlichen Erscheinungen eine gewisse Form von Einsicht erreichen
(344 b3−c1):

μόγις δὲ τριβόμενα πρὸς ἄλληλα αὐτῶν ἕκαστα, ὀνόματα καὶ λόγοι ὄψεις τε καὶ αἰσθήσεις, ἐν
εὐμενέσιν ἐλέγχοις ἐλεγχόμενα καὶ ἄνευ φθόνων ἐρωτήσεσιν καὶ ἀποκρίσεσιν χρωμένων,
ἐξέλαμψε φρόνησις περὶ ἕκαστον καὶ νοῦς, συντείνων ὅτι μάλιστ’ εἰς δύναμιν ἀνθρωπίνην.

„Indem aber jedes von ihnen mühevoll aneinander gerieben wird, Namen und Definitionen,
Anblicke und Sinneseindrücke, und es in wohlwollenden Prüfungen geprüft wird, von Leuten,
die ohne Missgunst fragen und antworten, leuchten Einsicht und geistiges Erfassen über jedes
auf, wenn man sich, soweit es einem Menschen möglich ist, anstrengt.“

Wie aus dieser Stelle klar hervorgeht, ist das geistige Erfassen der Idee laut Platon einerseits
nur durch Vermittlung der λόγοι möglich, andererseits muss dabei die Ebene der λόγοι
überwunden werden: „Zur Erkenntnis der Idee gelangt man dadurch, daß man die von der
Sprache ‹vorgestreckten› Eindrücke (343C) mit Hilfe der Sprache kritisch in Frage stellt, bis
im langen dialektischen Prozeß die Wahrheit, soweit es das menschliche Vermögen zuläßt,
evident wird (344B).“191 Obwohl also die den Menschen zur Verfügung stehenden
Erkenntnismittel, darunter auch die Sprache, selbst defizitär sind, ist man auf sie angewiesen,
um Einsicht in das Wesen der Dinge zu erlangen. Der letzte Schritt zur Erkenntnis bzw. die
Ideenschau selbst, die Platon hier als plötzliches Aufleuchten eines inneren Feuers beschreibt
(ἐξέλαμψε), ist dann als „grundsätzlicher Wechsel der Erkenntnisperspektive“ zu verstehen.192
Es handelt sich dabei um den Erwerb eines für sich genommen unsagbaren Wissens, das sich
nicht objektivieren und eins-zu-eins in sprachlicher Form fassen lässt. Gemeint ist die
Wiedererinnerung an die früher geschauten Ideen, die im erkennenden Subjekt selbst erfolgen
muss und die zu einem Wissen führt, das als solches nur in der individuellen Seele existieren
kann. Diese wahre Ideenerkenntnis ist nicht einfach propositionalisierbar und ohne Weiteres in

188
Vgl. Ferber 2007, 59.
189
Ebd., 60; vgl. auch Gadamer 1964, 13−17; Dönt 1967, 25.
190
Vgl. Ferber 2007, 60.
191
Gaiser 1974, 115.
192
Vgl. Villers 2005, 180.

78
Form eines λόγος vermittelbar.193 Wer im Sinne Platons wirkliche Einsicht in eine Sache
gewonnen hat, der kann eben nicht nur bestimmte Formulierungen reproduzieren, für die er
keine weitergehenden Begründungen anzugeben vermag; vielmehr verfügt ein echter
Sachverständiger über eine Art Fachkompetenz und kann diese unter Beweis stellen, indem er
seinen Äußerungen argumentativ zu Hilfe kommt. Er ist also im Besitz von τιμιώτερα und
deshalb dazu in der Lage, seinen Standpunkt philosophisch zu verteidigen und über seine
Ansichten und Handlungen Rechenschaft abzulegen, da er durch die Ideenerkenntnis stets über
weitergehende Begründungen verfügt.
Eine solche Art von Wissen lässt sich nicht einfach in Form eines λόγος ausdrücken, sondern
muss im dialektischen Gespräch hart erarbeitet werden, indem man die zur Verfügung
stehenden Erkenntnismittel mühevoll aneinander reibt (μόγις τριβόμενα πρὸς ἄλληλα), sodass
einem am Ende in der Seele gleichsam ein Licht aufgeht. Die so entstehende wahre Einsicht,
die unabhängig ist von konkreten sprachlichen Formulierungen oder bestimmten empirischen
Erscheinungen, kann freilich niemals direkt, sondern immer nur indirekt vermittelt werden; sie
wird in der individuellen Seele gewonnen und bleibt auch an diese gebunden.
Λόγος und ὄνομα werden somit von Platon im VII. Brief mit dem εἴδωλον auf eine Stufe
gestellt und deutlich vom wahren Wissen unterschieden. Dennoch sind sie für ihn ein
notwendiger Bestandteil des Erkenntnisprozesses, eben weil man letztlich nur durch sie im
dialektischen Gespräch zur Ideenschau gelangen kann.

5.2. Der VII. Brief als Kontrast zur Grammatologie


Derrida behauptet in der Grammatologie, dass im Phaidros von Platon „(…) episteme und logos
an ein und dieselbe Möglichkeit gebunden werden sollten.“194 Nachdem sich schon bei der
Analyse des Phaidros selbst gezeigt hat, dass diese Behauptung nicht durch den tatsächlichen
Inhalt des Dialogs gedeckt ist, wird durch die Miteinbeziehung des VII. Briefs die Unhaltbarkeit
jener These noch offensichtlicher: Platon hebt im philosophischen Exkurs des Briefs die
grundsätzliche Verschiedenheit von λόγος und ἐπιστήμη hervor und betont, dass λόγοι, insofern
sie sich in stimmlicher Form manifestieren, auf einer ganz anderen Ebene zu verorten sind als
das in der Seele befindliche Wissen.195 Die von Derrida unterstellte Nähe der Stimme zu einer
ewigen Wahrheit ist also bei Platon, dem angeblichen Urheber des Phono- und Logozentrismus,
tatsächlich nicht zu finden. Laut Platon sind wir zwar auf die Sprache angewiesen, um zu
Erkenntnis zu gelangen, doch wird diese nicht durch die Eindeutigkeit und unmittelbare

193
Vgl. Wieland 1999, passim.
194
Vgl. oben, 21.
195
Vgl. oben, 75.

79
Sinnpräsenz der mündlich geäußerten Signifikanten möglich, sondern durch die mühevolle
Prüfung und Hinterfragung der sinnlichen und sprachlichen Erkenntnismittel.
Damit ergibt sich ein merkwürdiger zweifacher Kontrast zwischen Platons VII. Brief und der
Grammatologie: Der Inhalt des Briefs widerspricht einerseits dem von Derrida skizzierten
Platonbild, andererseits auch Derridas eigenem Urteil über die (Un-)Möglichkeit von
Erkenntnis. Denn obwohl Platon die Sprache als defizitäres Medium betrachtet, das mit
Vorsicht gebraucht werden muss, glaubt er daran, dass im dialektischen Gespräch durch ein
unvoreingenommenes Fragen und Antworten die Relativität und Bedingtheit der Sprache
überwunden werden kann. Eine Ideenschau ist seiner Ansicht nach trotz der Schwäche der
λόγοι prinzipiell möglich, wenngleich überaus schwer zu erreichen. Derrida hingegen sieht in
der Defizienz der Sprache den Grund dafür, dass Wahrheit niemals erreicht werden kann und
stets alles relativ bleiben muss. Der Vergleich des VII. Briefs mit der Grammatologie zeigt
somit, dass sich Platon und Derrida gewissermaßen beide vor dasselbe Problem – die
Unzuverlässigkeit von Sprache – gestellt sahen, dass sie daraus aber völlig unterschiedliche
philosophische Konsequenzen ableiteten.

80
6. Conclusio
Durch unsere Untersuchung konnten wir zeigen, dass das von Derrida in der Grammatologie
skizzierte Platonbild durchaus nicht mit dem eigentlichen Denken Platons übereinstimmt. Die
einschlägigen Passagen zur Schriftkritik im Phaidros dürfen nicht isoliert betrachtet werden,
sondern sind im Gesamtkontext des Dialogs zu sehen: Platons vermeintlich einseitige
Verdammung der Schrift muss in Wahrheit als Teil seiner allgemeinen Kritik an der
sprachlichen Kommunikation verstanden werden. Es gelten für schriftlich und mündlich
geäußerte λόγοι zunächst dieselben Qualitätskriterien, nur können diese, wie Platons Analyse
zeigt, im mündlichen Gespräch besser erfüllt werden als beim Verfassen schriftlicher Werke.
Die Abwertung der Schriftlichkeit liegt für Platon somit nicht in der apriorischen
Wahrheitsnähe der Mündlichkeit begründet, sondern resultiert aus den allgemeinen
Anforderungen an eine verantwortungsvolle Kommunikation und Wissensvermittlung, denen
man im mündlichen Dialog ebenso genügen muss, wenn man sich über das Niveau der
schriftlichen Publikation erheben will. Zudem wird im Phaidros klar gesagt, dass das Schreiben
auch eine legitime Tätigkeit sein kann, sofern man sich dabei der spezifischen Schwächen der
Schrift bewusst ist.
Aus dem Kratylos und schließlich dem VII. Brief wurde deutlich, warum Platon so viel Wert
auf die umsichtige Verwendung der λόγοι legt: Er weiß um die Beliebigkeit der Lautgestalt
einzelner Worte und ist – entgegen der Ansicht Derridas – der Meinung, dass weder mündlich
noch schriftlich geäußerten ὀνόματα als Teil der Sinnenwelt eine natürliche Sinnpräsenz eignet.
Demnach können auch die λόγοι, da sie aus ὀνόματα zusammengesetzt sind, das wahre Sein
der Dinge nicht naturgemäß abbilden. Vielmehr sind erhebliche Mühen vonnöten, um trotz der
Mangelhaftigkeit der Sprache zu wirklicher Erkenntnis zu gelangen. Nur durch die sorgfältige
Prüfung im dialektischen Gespräch, indem Sinneseindrücke und sprachliche Mittel gleichsam
aneinander gerieben werden, kann ein Funke entstehen, der in der Seele das Feuer der
Erkenntnis entfacht.
Vor diesem Hintergrund stellt sich in der Tat die Frage, ob sich Derrida jemals ausführlicher
mit der platonischen Erkenntnistheorie beschäftigt hat. Der VII. Brief, aber auch der Kratylos
scheint von ihm in der Grammatologie völlig ignoriert worden zu sein. Wie anders lässt es sich
erklären, dass dort ausgerechnet Platon, der eine besonders kritische Haltung gegenüber der
geschriebenen und der gesprochenen Sprache hatte, zum Urheber des Logozentrismus stilisiert
wird? Schließlich ist der eigentliche Grund für Platons Schriftkritik nicht, wie Derrida
suggeriert, ein unreflekierter Glaube an die natürliche Wahrheitsnähe mündlich geäußerter
Signifikanten, sondern gerade das Bewusstsein für die generelle Unzulänglichkeit von Sprache.

81
Platon hat in gewissem Sinn – so könnte man anachronistisch formulieren – die durch die
différance verursachten Probleme bereits erkannt: Eben weil er um die Unzuverlässigkeit von
Sprache weiß, ist ihm daran gelegen, diese so weit wie möglich zu minimieren, was seiner
Meinung nach im mündlichen Dialog besser gelingen kann als in Form von schriftlichen
Publikationen. Der Entwurf einer idealen Rhetorik im Phaidros dient gerade dem Zweck, die
sich bei der Wissensvermittlung notwendig ergebenden Missverständnisse möglichst zu
vermeiden und die grundsätzliche Mangelhaftigkeit der sprachlichen Erkenntnismittel nach
Kräften auszugleichen. Die aus den Forderungen an den idealen Rhetor abgeleitete Schriftkritik
darf also keinesfalls als Folge einer unkritischen Einstellung gegenüber der Mündlichkeit
verstanden werden; vielmehr wird aus Platons Sicht aufgrund der prinzipiellen Unsicherheit,
mit der sprachliche Äußerungen verbunden sind, die Schriftkritik allererst nötig.
Insgesamt ist damit offensichtlich, dass Platon in der Grammatologie völlig zu Unrecht als
Urheber des Logozentrismus dargestellt wird. Ob vor diesem Hintergrund die Annahme einer
logozentrischen Prägung der europäischen Philosophiegeschichte überhaupt sinnvoll ist, darf
bezweifelt werden. Man kann vermuten, dass sich bei einer genaueren Prüfung viele der
vermeintlich logozentrischen Philosophen ähnlich wie Platon als Nicht-Logozentriker erweisen
würden.

82
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8. Abstract
In Derridas einflussreichem Werk Grammatologie wird ein Bild von Platon entworfen, das sich
bei einem genauen Vergleich mit dessen Schriften als überaus irreführend erweist. Ziel dieser
Masterarbeit ist die Revision jener verfälschten Platondarstellung. Dafür wird zunächst die
wesentliche Argumentation Derridas in der Grammatologie nachgezeichnet und das dabei
entstehende Platonbild herausgearbeitet. Anschließend wird durch die Untersuchung von
Platons Phaidros, Kratylos und VII. Brief der Nachweis geführt, dass Derridas Darstellung in
Wahrheit durchaus nicht mit dem tatsächlichen Denken Platons übereinstimmt. Eine genaue
Lektüre des Dialogs Phaidros beleuchtet Platons Meinung zum Verhältnis zwischen
Mündlichkeit und Schriftlichkeit und zeigt, dass seine Haltung diesbezüglich wesentlich
differenzierter ist, als Derrida die Leser der Grammatologie glauben lässt. Aus dem Dialog
Kratylos wird deutlich, dass Platon – anders als von Derrida suggeriert – mündlich geäußerten
Signifikanten durchaus keine unmittelbare Sinnpräsenz zuspricht. Durch die Miteinbeziehung
des VII. Briefs wird schließlich gezeigt, dass für Platon Sprache überhaupt (λόγος und ὄνομα,
mündliche und schriftliche) letztlich defizitär ist und nur mit viel Mühe zur erfolgreichen
Erkenntnisvermittlung bzw. zum wirklichen Wissenserwerb genützt werden kann. Damit ergibt
sich ein Platonbild, das sich stark von Derridas Darstellung in der Grammatologie
unterscheidet.

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