BronsoraN, Phinomenok
cs Denken in Philosophie und Psychiatrie 173
Das Gesamtbild all dieser Atbeiten diirfte wohl als erste Phase in
der Entwicklung von Bryswancurs Lebenswerk angesehen werden,
und zwar als Vor-Phase fiir die folgende seht breite Exposition der
Daseinsanalyse, welche in die Jahre 1930 bis 1960 fallt, Das Hauptwerk
dieser Dascinsanalyse, in der die Orientierung auf Huss. und seine
transzendentale Phiinomenologie nicht verloren ging, dirfte wohl die
Schrift«Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins» aus dem
Jahre 1942 bilden. Das gro8 angelegte Werk handelt ~als Gegenpol zu
Hrrxecnrs Exploration det Sorge in «Sein und Zeit» —_von der Liebe,
der dualenWirheitals Grundform menschlichen Daseins. Dieses’Thema
der Liebe mit all seinen methodologischen Voraussetungen im Sinn
der Daseinsanalyse und der Daseinsanalytik ~ Ontologie und On
beherrscht in prignanter Weise Binswanoxns Denken dieser Period,
Ansittze zu dieser Sicht finden wir in Erérterungen aber das Raum-
problem, die sich in Studien tiber die Symmetric, die manische Lebens-
fotm, die Verstiegenheit, Verschtobenheit und Manietiertheit finde:
Dic hier genannten Gegenstinde phinomenologisch-psychopatholo,
scher Forschung sind die Grundthemen der Daseinsanalyse, Die Dutch-
giingigkeit ihres echten phinomenologischen Gehaltes mu ~ im Ge-
sgensatz:2u JAspERs ~hervorgehoben werden, Bercits in dem erwahnten
Vorteag «(ber Phiinomenologie» wurde die phinomenologische Me-
thode aufgegrifien, nicht wie bei Jasrsns unter Abwehr ihrer Entwick-
lung mur Wesensschau, sondern diese Wesensschau wurde als der
Grundvorgang des phinomenologischen Verfahrens erkannt. Daher
ist es nicht verwunderlich, wenn 1959 BINsWANGER iiber seine cigene
Schrift« Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins»schteibt,
daB darin «...das, was ich Epunp Hussert verdanke, bedeutungs-
voller und wichtiger istals das, was ich Marri Heroxcorn verdanke,
habe ich doch dessen apriorische Freilegung der Sorgestruktut des Da-
seins damals noch villig als anthropologische Lehre miBverstanden
[22]. Die besagte Trennung zwischen Ontik und Ontologie im Bereich
der Daseinsanalyse war offensichtlich nicht konsequent genug durch-
gefiihrt. Darum ist ¢s eine gliickliche Konsequen und ein deutliches
Zeichen der méglichen Verschrinkung von Phinomenologie und
Psychiatrie, wenn um 1959 herum erneut eine Wendung im Denken
BrvswaNrns zu verzeichnen ist, und zwar in Richtung der transzen-
dentalen Phinomenologie Hussertscher Prigung. Diese Wendung,
vollzog sich mit der Schrift «Melancholie und Manie» [1960]. Die De-
sktiption, etwa im Sinne Jaspers oder der Daseinsanalyse, wird 2u-174 Bronio1an, Phinomenologisches Denken in Philosophie und Peychintie
gunsten ciner Wesensschau zurtickgestellt. Die Frage nach der inneren
Gangstruktur (die Beziehung zum friihern Entwurf der Idec ciner
inneren Lebensgeschichte ist offensichtlich) solcher Erlebnisweisen tritt
inden Vordergrund, Das Konstitutionsgeschehen wird von neuem be-
fragt, besonders im Hinblick auf deren egologische Konsequenzen, die
Subjektivitit des Subjektes in den Vordergrund gertickt.
BINsWANGER greift damit auf ‘Themen der transzendentalen Phi-
nomenologie zuttick, die ihm, Szriasr und allen Hussent-Schiilern aus
der Zeit seiner ersten Begegnung mit Husseat im Jahre 1923 noch
ksum bekannt gewesen sein kénnen.
3, Winansrac Szanast
Das philosophische Geleit der Daseinsanalyse gibt Wrussexa Sz1-
Ast, Seine Hinsicht, daB das Ich hinsichtlich seiner Seinsweise fr die
groBen nachkantischen Philosophen das eigentliche Problem wurde
[23], kénnte als Leitfaden seiner Philosophie angeschen werden, Die
Erforschung dieses Ich hinsichtlich seiner Seinsweise wurde nach zwei
Seiten aufgefaBt: einmal, unter dem Einflu8 Epxwp Hussents in
Richtung ciner Auslegung des Intentionalititsgedankens: «zur Auf
gabe der Philosophieals transzendentale Forschung setzte er (Hussent),
die Richtungszeichen zu erforschen, dem Gerichtetscin des Subjekts
auf das Objektive nachzugehen und anfauzeigen, wie in dem Gerichtet-
sein das Objektive in verschiedener Weise belenchtet ist» [24]; zum
anderen wurde unter diesem Leitsatz die Hetpeccxnsche Differenz des
gegliickten oder mifiglickten Daseins weiter entwickelt. Beide Rich-
tungen greifen ineinander, sie sind kaum als selbstiindige Momente
wiederauerkennen,
Fir Brxswancen wie fur Szmast gilt Hussents Motiv: «...die
cigentlich fundamentale und aller frtiheren Psychologie wie transzen-
dentalen Philosophie fremde Erkenntais ist... die, dal jede geradehin
konstituiette Gegenstindlichkeit... entsprechend zuriickweist auf eine
kotrelative Wesensform der mannigfaltigen wirklichen und méglichen
«+ Intentionalitit, die fur sie die konstitutive ist» [25]. Hussxt spticht
jn dem Zusammenhang von einem «flr jedes Ding tberhaupt identi-
schen Wesensstil, sich nur von individuellem zu individuellem Ding
besondernd,.. Die Erforschung dieses gesamten Apriori ist die tiber-
schwiinglich grofe aber durchaus greifbare und stufenweise za lsende
‘Aufgabe der transzendentalen Phinomenologie» [26].
‘Somit kam cine Invatiante gegentiber allen méglichen Verfassungs-
a alia licjai IS
L
BrorkosaN, Phinomenologches Deaken in Philosophie und Pychinsic 175
formen von Welt und Weltlichkeit tberhaupt zu Gesicht und wurde es
midglich, in den Welten der Kranken Variationen der ontologischen
Variante: Ielt 2u etkennen. Auch hier bekommen wir die grund-
liegende Differenzierung det Daseinsanalyse zwischen Ontologie und
Ontik mu Gesicht, Szttasts Kritik an BrswANGeR zielt mehrfach dar-
auf hin, daB diese Differenz im Auge behalten werden muB [27]. Thm {
wichst nimlich die Uberzeugung, daB BINswANGER zwar in seinen
Daseinsanalysen verdienstvolle Forschungen durchgefuhtt, die metho- 3
dische Regel in ihrer ganzen Tragweite aber nicht gentigend geklirt hat.
Auf Hetorccens Charakterisierung des Daseins beruht wie gesagt
Szinasts Unterscheidung von gegliicktem und mifgliicktem Dasein,
Dasein ist nach Hitpzccer als «wesenhaft befindliches je schon in be-
stimmte Méglichkeiten hineingeraten, als Seinkénnen, das es ist, hat
es solche vorbeigehen lassen, es begibt sich stindig der Méglichkeiten
seines Seins, ergteift sie und vergreift sich» [28]. Dasein ist in diesem i
Sinne Méglichsein: «Das Dasein ist die Moglichkeit des Freiscins fiir
das cigenste Scinkénnen» (29). Dadurch ist — wie Pato und Arrsto- ‘
‘rnuns, ja Heraxur bereits zeigten ~ das Dasein von der Kategorie der
Méglichkeit (Krerkxcaxp) bestimmt, Dieses Méglichsein aber ist
dem Dasein «in verschiedenen méglichen Weisen und Graden durch-
sichtigy [30]. Die Bestimmung des Daseins als gegliicktes oder mi8- 4
glticktes ist somit zu bezeichnen als ein systematischer Versuch, dieses
Dasein durchsichtig zu machen. |
‘Als Komplement 2u diesem von Hetpeccer und Szmast hervor-
gchobenen existenzial-ontologischen Hintergrund kamen Brvswan-
Guns ontisch gefiirbte dascinsanalytische Untersuchungen,
4. Juan-Paur Santa, :
‘Mit den oben skizzierten Gedankengingen ist auch JEAN-Paut
Sanrnss Idee einet prychanalyse existentelle wesensverwandt. HussERLs
Einflu8 auf Sawraes Philosophie ist allgemein bekannt. In seinem
‘Hauptwerk «1’Btte et le Néant» findet man tiefgehende Studien tiber
das Verhiltnis von Hussurt, Hiscnt, und Hstpxecee [31]. Im Vorwort
‘au seinem spitteren Buch «Critique de Ia raison dialectiquey bezieht er
sich auf LuxAcs, det in seinem «Die Zerstérung det Vetnunft» die
Arbeit von Sanrnt als bloBe Resultante von Husserr und Scrsnen,
Hexpccen und Jasrens ansieht. Sanrns situiert sein Buch im seht
komplexen Spannungsfeld von Hinfitissen von Brentano, Hussenn
und Hirprccen. «ll y a eu toute une dialectique ~ et fort complex ~1976
BnorioaN, Phinomenologisches Denker
Philosophie wnd Payehiatie
de Brrwrano A Hussurs, et de Hussnns.4 Hetpxccen: influences, op-
positions, accords, oppositions nouvelles, incomptéhensions, malen-
tendus, reniements, dépassements etc, Tout cela compose, en somme,
‘ce qu’on pourrait nommer unc histoire régionale> [32]
In «L?Etse et le Néant» wird anliBlich des Abschnittes tibet Hus-
sent, Hecet und Hetpiccer das Problem der Intersubjektivitit einer
tiefgreifenden Untersuchung unterworfen. SaRrre will das Problem
der Intersubjektivitat in anderer Weise zu lésen versuchen als es Hus-
sent tat, indem er einer Uberwindung des Solipsismus nachstrebt. Da-
bei stellt er sich die Frage, ob die Konzeption des alter ego ein Apriori
bildet [33]. In dem Zusammenhang kommt er wiederholt zu der Ein-
sicht, da man dem Solipsismus nur entkommen kann, wenn man die
Existenz des transzendentalen egos wie diese beispielsweise von Hus-
SHRI angenommen wurde, verneint. Hxceus Lisung wird dabei von
Sanrne bevorzugt: die Existenz des alter ego ist nicht der Konstitution
von Welt oder meinem empirischen ego zu verdanken, sondern det
Existenz meines Bewufitseins als SelbsthewuBtscin: «Le moi saisit Iui-
méme» [34]. Dabei kommt immer wieder die Frage auf, was fir SARTRE
Bewuftsein eigentlich bedeutet. Man kénnte allenfalls im Hinblick auf
das Hauptwerk «L’Etre et le Néant» sagen, da Sarrnes Philosophie
im Grunde eine Bewulitscinsphilosophic ist ~ aber anderer Prigung als
€s Hussears Philosophie war. Dabei mul man bedenken, dal} SARTRES
Standpunkt eine eingehende Anderung esfabren hat in seinem «Cri-
tique de la raison dialectique», Dort tritt das Wort Bewulitsein (cons-
cience) kaum auf. Es ist vielmehs die Rede von einer Praxis. Dies be-
deutet an erster Stelle cine gewisse Radikalisierung der zwischen-
menschlichen Bezichungen: «I n’y a que des hommes ct des relations
séclles entre les hommes» [35]. Dabei ist die Reziprozitit der Perspek-
tive (Lrrr, Gunviron) nie aus dem Auge verloren worden, Weiterhin
wird dort ersichilich, daf das BewoBtsein fiir Santee durch die je-
weilige Kultur, durch die Praxis, die ‘Tatenwelt des Menschen konsti-
tuiert wird, wihrend andererseits diese Kultur von jenem Bewubts
mitkonstituiert wurde, Dies darf man nicht in einem deterministischen
Sinn auffassen, denn beispielsweise Kanpivens ‘Theorie der ‘basic per
sonality’ wird noch von Saxrnn als Determinismus empfunden,
Angesichts der Idee der Existenzanalyse gilt allerdings doch det
Satz, da Sanrnus Philosophie eine BewuBtseinsphilosophie ist. Be-
‘wolitsein — man wird an Brmtano erinnert — bedeutet hier «Bewult-
sein von etwas», aber solches wird von Sante anders interpretiert alsBronk, Phinomenologisches Denken in Philosophie und Paychattie 1777
beispicleweise von Hussui.. Das BewuBtsein ist nach ihm éransdncide,
das heii: durchsichtig fi sich selbst und poniert ein teanszendentes,
das heifit: es selbst tibersteigendes Objekt. Dasist sogarcin Hauptmerk-
mal des BewuBtseins im Sarrneschen Sinn: es ist grundsitzlich trans-
zendietend: «Ia conscience est conscience du monde». Dabei ist die
Position der Reflexivitit besonders hervormuheben, Das Bewubitsein ist
in Bezogensein — aber nicht cin Bezogenscin auf Eirkenntnis des cig
nen BewuBtseins, sondern der sofalen Existenz, «Toute existence cons-
ciente existe comme conscience dexister [36]. So kénnte man sages
Bewubitsein ist bewulit Sein. Erkenntnis des eigenen Bewulitseins wird
also nicht unmittelbat vom eigenen BewuBtscin ervielt, so wie es Be-
‘wolitsein der Lebenswelt ist. Menschliche Bxistenz ist primar welt-
setzend: so liBt sich ihre Transluziditit verstiindlich machen. Sich selbst
aber ist das menschliche BewuBtscin nicht in thematischer Weise un-
mittelbar erkennend. Bewulitsein und Ding stchen einander demnach
in Sarrnes Philosophie gegeniiber.
Es wurde schon erwahnt, daB in diesem Zusammenhang die Stel-
lung der Reflexivitat von besonderer Bedeutung ist. Hier ist cin Ver
gleich mit Hussents transzendentaler Phiinomenologie interessant. Bin
solcher Vergleich muB ausgehen von der Analyse des Satzes: «wihrend
ich bin, wei ich nicht, daB ich bin». Hussznis Ansatz.ur Explikation
dieses Satzes ist ein ganz anderer als Sanrnes Versuch dazu (37). Far
Sanrre entspringt hier die Idee der «psychanalyse existenticlle», denn
diese Analyse soll gerade die Weckung einer Sphiire der Reflexion be-
wirken: Reflexion auf das eigene Sein, welches einer vorreflexiven Phase
entstammt, So erblicken wir auch hier mit dem Binbruch des phino-
menologischen Denkens in cine existentiell-psychoapalytisch orien-
tierte Psychologie eine Binstellungsiinderung im Sinne Hussenrs. Das,
‘was noch nicht war, muB gaveeks werden, indem man den Gang dieser
Phiinomenologie geht. Das ganze Verfahren der Existenzanalyse ist auf
diese Weckung der im vorontologischen Bereich schon existierenden
Selbsterkennbarkeit des Menschen angelegt.
Nach Sanne versteht sich der Mensch beteits vor aller Reflexion
und erst auf Grund dieses Selbstverstiindnisses kann et sich jeweils zum.
Gegenstand werden, Diese Idee mite man im Sinne der Husssarschen
Egologic ausarbeiten ~ von Sanrnx selbst wird dies leider nicht unter-
nommen [38]. Bs ist deutlich, da mit der Annahme jener Sphiite eines
vorteflexiven Selbstverstindnisses das Problem der Intersubjektivitit
‘ma lsen versucht wurde,178 Bross, Phinomenologitches Denken in Philosophie und Psyche
Nicht nur eine Auseinandersetzung mit Hussets Phinomeno-
logie, sondern auch eine Kritik an Farup wire von hier aus zu denken
[39]. An erster Stelle kann man doch als entscheidenden Unterschied
zwischen der iiblichen Psychoanalyse und der psychanalyse exitentelle
‘Santrescher Prigung anfiihren, da6 die ziemlich radikalen und beiallet
Offenheit doch determinierten und determinierenden Unterscheidun-
gen Frnuns bei Sanrki-aufgchoben werden. Wenn SanrRE von Tiefen-
dimensionen der Secle spricht, so meint ex damit nicht etwa Unbewulit-
hhcit im Frsupsehen Sinne. Auch dasjenige, was zu einem solchen Be-
eich gehdren wiirde, wird gelebt, sagt Sanrne, und ist darum mu-
giinglich fir eine Existenzanalyse,
‘Weiterhin kann man einen methodologischen Unterschied ent-
decken, Freup gibt den Psychotherapeuten bestimmte Richtlinien in
die Hand. Diese dienen, um eine Interpretation zu erméglichen. Das-
selbe gilt angesichts der Auslegung von Symbolen, Das alles ist nach
Sanne cine schiere Unméglichkeit. In seiner Existenzanalyse fehlt, wie
Gresr; bemerkt, «die fihrende Hand des analysicrenden Arztes» [40].
Dic empitisch feststellbaren Weisen menschlichen Seins sind nicht dop-
peldeutig, wie siees beispielsweise fiir Frsup sind, sondern bilden einen
Kosmos von verschiedenen méglichen Deutungen. Far sie kann man
keine Richtlinien aufstellen, sie kinnen nur gedeutet werden im Zu-
sammenhang der fotaley Existens
Darum soll die psychanalyse existentelle beruhen auf der durch die
Reflexion geweckten BewuBtheit sowohl als auch auf det Binsicht in
die sogenannte Sphiite einer comprdlension pré-ontologique. Die Entdek-
kungen des existentiellen Psychologen sind dadurch nicht mit beispiels-
weise denen det klassischen Analytiker zu vergleichen: sic sind keine
Entdeckungen im klassischen Sinn des Wortes, sie ziclen vielmehr aut
eine comprébension bumaine, Sarcrne: sagt einmal dazu: Es geht nicht dar-
tum, die Fakten 2u entziffern, sondern man muB sie zu befragen wissen,
Det Mensch, Gegenstand seiner Existenzanalyse, bildet eine Toraliit,
kine Sammlung von Fakten. Diese ‘Totalitit soll erhellt wetden, Die
‘empitisch feststellbaren Gegebenheiten menschlichen Lebens sollen in
«einem klaren Licht erscheinen und so beitragen 2u einer guten Binsicht
sowohl in das priontologisch als das ontologisch Verstindliche,
Von Sanrns selbst besitzen wirzwel Studien, die den Namen ciner
pyychanalyse existentelle verdienen: eine Arbeit tiber BAUDELATRE und
tine andere bet JEAN Guyer [41]. Beide verdienen angesichts ihres
phinomenologischen Verdienstes hier erwihnt zu werden, Beim Stu-1
Bromxatan, Phinomenologaches Denken in Philosophie und Paychiatre 179
dium des Sanraxschen Werkes «Saint Genet, comédien et martyr» fallt
auf, wie schr das oben beschriebene Prinzip der Brhellung von Dimen-
sionen der Lebenswelt der Person eine Rolle spielt. Um eine Biographie
im blichen Sinn des Wortes geht es hier nimlich nicht, Héchstens in
beilitufiger Weise werden bestimmte Daten gegeben, andere werden
murechtgelegt; das Verstehen bleibt gelten: in diesem Sinn wird Gener
mit Gener konftontiert, Der historische Gener begegnet dem existenz-
analytisch heraufbeschworenen Gener umwillen des Verstindnisses
bestimmter Dimensionen menschlichen Daseins. Dabei geht es in der
‘Analyse nicht an erster Stelle um beispielsweise Degenerationserschei-
nungen, bestimmte Bindungen oder sonstige Fixationen, sondern um
die Bedeutung der Vergangenheit als eigenste Vergangenheit ~ cine
‘Vergangenheit, mit der man weiterauleben hat. Die Geschichte eines
Lebens wird somit nicht reproduziert und damit vielleicht sogar zu
den Akten gelegt, sondern erlebt als gelebte und zu lebende Wirklich-
eit ~cin dtamatisches Ereignis, In der Analyse wird somit kein System
von Determinationen konstruiert, sondern es werden die Achsen der
Bxistenz gesucht,
Wr
‘Auch aus der Thematik der anthropologisch orientierten moder-
nen Psychopathologie wird die Uberragende Bedeutung des phiino-
menologischen Denkens fiir die Psychiatrie ersichtlich. So witd von
vornherein dem ‘Thema IV¢/f eine erhebliche Bedeutung, beigemessen,
Dic Idee der Ordhung spielt bereits in Jasrens’ Denken eine groBe Rolle.
In dem Zusammenhang dieser beiden Themen kann eine weitere Be-
trachtung des Zeb nicht feblen, Schon bei JasPrns, aber besondets bei
Bryswanone, wird die Metapher der Rawnlichkeit in thematischerWeise
benutzt, Auch in Sarrres Ausfuhrungen sind solche Themen zu fin-
den, aber tiberdies wird dort das Problem der Hypastasisauffallend. Alle
genannten Themen haben schlicBlich mit dem tiefgriindigsten Problem
des phinomenologischen Denkens in der Psychiatrie zu tun: mit der
Frage nach der Zafersubjeltivitat.
1. Walt
‘Das phinomenologisch ausgerichtete Denken in det Psychopatho-
logie kennzeichnet sich durch eine bestimmte Voraussetzung in bezug
auf das Subjekt. Das Subjekt wird nimlich grundsitzlich betrachtet als
welthabendes Sibjekt (Hlussenn, BiNswancen, Sanvne). Hinter dieser80 Bnonaan, Phinomenologisches Denken in Philosophie und Peyehistle
Formel liegt fiir Hussin. beispielsweise der seine ganze phiinomeno-
logische Konzeption tragende Konstitionsgedanke, Aus BINsWANGERS
Atbeit ber die Liebe wie jene Formel ebenfalls nicht wegaudenken,
‘Auch Sanne untersucht in seiner prychonalyse existentielle dieses Welt-
haben des welthabenden Subjektes, Wenn in dem Sinne von Welt
die Rede ist, dann sollte man nicht sofort an Hussex1s Konzeption der
Lebenswelt denken; es geht wie gesagt vielmehr um das Subjekt als
welthabendes Subjekt, denn die Psychopathologie interessiert sich
grandsitelich fir die Varianten dieses Welthabens und so studiert sic
die Dimensionen der Lebenswelt des Subjektes. Nur auf Grund dieser
Voraussetzung kann die ontologische Betrachtung der Welt als Inv
rlante ubethaupt angestellt werden. Die verschieden méglichen Weisen
des Welthabens jenes welthabenden Subjekts verweisen alle auf ihren
ontologischen Hintergrund, Den Bezirk der Ontik des Welthabens
kénnte man als einen regionalen im Sinne Hussents ansehen, der sich
besonders fiir psychopathologische Untersuchungen eignct.
2. Die Idee der Ordnung
Die Art und Weise, in der das welthabende Subjekt Welt haf (and
zugleich Welt is), ist abhiingig von dem weitergreifenden Prinzip der
‘Ordnung, Alle Weisen des Welthabens sind geordnete Weisen des Welt-
hnabens. Auch die krankhafte Weise des Welthabens kennzeichnet sich
durch eine bestimmte Ordnung,
Begriffe wie Gesundheit und Keankheit sind in dieser Hinsicht
selativ auf dieses Ordnungsprinzip [42]. Wenn die Dimensionen des
‘Welthabens véllig durcheinander geraten sind, sprechen wir sinnvoller-
wweise von werricks. Des metaphorischen Charakters dieses Ausdrucks
sollten wir uns mehr bewu8t sein, Br sollte von dem phinomenologi-
schen Denken in der Psychopathologie erhelle werden. Fur jede Ober-
legung hinsichitich psychopathologischer Fragen gilt, dal das Errei-
chen einer Ordnung mit dem Leben selbst aufs innigste verbunden ist.
Etteichen einer Ordaung und Verfeblen einer Ordaung hingen we-
sensmitig zusammen. In beiden Fallen kann man das in der Philosophie
beheimatete, besonders bei Kanr2u findende, Bild eines Gerichtshofes
heranzichen, Wenn, mit Kan gesprochen, die Zeugenaussagen im
Falle eines Gerichtsprozesses verwitrt sind und tiber deren Wahrheit
‘oder Unwahrheit nicht 2u entscheiden ist oder auch wenn die kritische
Tnstanz sich ihrer Aufgabe entzicht, so kann keine Ordaung hergestellt
‘werden [43, 44]. In diesem Falle ist nicht nur die Wahrheit, sondern