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Anders’ Heidegger – Heidegger anders

Lukas Marcel VOSICKY


Gruppe Phänomenologie

ABSTRACT: The paper discusses the critique of Günther Anders


(1902–1992) against his Doktorvater Heidegger, on the basis of the
studies written in Paris and during his American exile in the thirties
and forties and published in Über Heidegger (2001). Long before
Sloterdijk, Anders rejected Heidegger’s defence against modern
civilisation and technique; on the contrary, it is mankind which
technology made “antiquated.” Anders was also the first one who
drew the attention to Heidegger’s “pseudo-concreteness” as obli-
vion of the origins and of the bodily and economic needs: Dasein
is “the self-made man as a mystic.” Heidegger kept silence on po-
wer mechanisms, and its anti-democratic philosophy is intricately
related to the national-socialism. Anders explained the success of
Heidegger’s individualistic nihilism in the French existentialism
through the basic mistrust caused by the war. In a somewhat simi-
lar light may be understood Heidegger’s revival in the post-socialist
East European countries.
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„Nicht Heideggers Welt sondern Heidegger in der


Welt wird hier gezeigt“
Günther Anders, Über Heidegger

The copyright on this essay belongs to the author. The work is published here by
permission of the author and can be cited as Phenomenology 2005,Vol. IV, Selected Essays
from Northern Europe, ed. Hans Rainer SEPP & Ion COPOERU (Bucharest: Zeta
Books, 2007), available in printed as well as electronic form at www.zetabooks.com.
Contact the author here: lukas.marcel.vosicky@univie.ac.at.

Phenomenology 2005, Volume 4, Part 2 : Selected Essays from Northern Europe, edited by Rainer Hans, and Ion Copoeru,
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Der ungehorsame Schüler Günther Anders erscheint in


Heideggers Biographie nur am Rande als späterer (erster) Ehemann
von dessen Geliebter Hannah Arendt. Sie wäre „fest entschlossen
[gewesen], nie mehr einen Mann zu lieben, und habe dann später
geheiratet, irgendwie ganz gleich wen, ohne zu lieben“, gestand
Hannah Arendt nach dem Krieg 1950 Heideggers Frau.1 So ge-
winnt man den Eindruck, als ob Günther Anders auch für Hannah
Arendt nur am Rande existiert hätte. In Heideggers Denken kom-
men Anders wie Arendt jedoch – wie recht eigentlich alle seine frü-
hen und späten Schüler – nicht einmal am Rande vor. Heidegger
war stets darauf Bedacht gewesen, der schulmeisterliche Meister
von Todtnauberg zu bleiben; für Meisterschüler von Welt fehlte
die Duldsamkeit.
Die Darstellungen von Anders aus der Perspektive der heideg-
gerschen Philosophie begnügen sich demnach zumeist mit dem
Hinweis auf Anders’ fortführende Interpretation der Technik-
Philosophie.2 Sonst war Anders – horribile dictu – in die philoso-
phische Anthropologie abgezweigt, wenn nicht überhaupt konsta-
tiert werden müsse, der Philosoph Anders habe sich im engagement
erschöpft. Damit wäre dann schon das Kapitel Martin Heidegger
und Günther Anders abgeschlossen. Umgekehrt lassen sich na-
türlich Einflüsse Heideggers in den Werken der Schüler untersu-
chen. Wahrscheinlich wäre es angebracht, die Beziehung Heideg-
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ger und Anders ebenso wie im Biographischen auch denkerisch


als Dreiecksbeziehung zu verstehen. Folglich müsste auf das den-
kerische Verhältnis von Anders und Arendt eingegangen werden.
Was gemeinsam begann und vermutlich auch die Gemeinsamkeit
begründete, endete nach dem Weltkrieg – und das heißt: nach
Heideggers Intervention auf Seiten der Nationalsozialisten als
Führer-Rektor der Freiburger Universität und dem nachfolgenden
Sich-Verleugnen vor der Tatsache einstiger politischer Parteinahme

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– in geradezu konträrer Positionierung gegenüber beider Lehrer


Heidegger: Während Hannah Arendt eine zaghafte Rehabilitierung
des späten Heidegger beabsichtigte3 und ihm (mit einem zentralen
Ausdruck der Frühphilosophie von Günther Anders) offenbar sei-
ne „Weltfremdheit“4 verzieh, verschärfte Anders seinen Vorwurf,
Heidegger hätte niemals „auf den rechten Weg der Praxis“ gefun-
den, sondern „sich seitwärts ins Gebüsch der Metaphysik“ geschla-
gen5. Doch ich will es bei diesem Hinweis belassen6 mit der ange-
deuteten Rechtfertigung, dass Günther Anders philosophisch für
beide nur eine Randfigur blieb.
In diesem Sinne können wir uns dem „störrischen Philosophen“7
Günther Anders aussetzen, ohne uns den verschiedenen
Verwicklungen zu widmen, wodurch wir allzu leicht ins Fahrwasser
der Kolportage gerieten. Zugestanden könnte dabei ein durchaus
reizvoller Abschnitt der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts
beleuchtet werden. Und es wäre dann auch nicht von der Hand zu
weisen, den deutschen Philosophie-Tausendsassa Peter Sloterdijk, der
so viele Anleihen bei Günther Anders’ Blick auf Heidegger zu neh-
men scheint, als uneheliches Geisteskind dieser Dreiecksbeziehung
in unser Gesamtbild einzublenden.8 Nur soviel am Rande. Das aber
ergäbe schon eine große Erzählung, die hier nicht ausgebreitet wer-
den kann. Wir beschränken uns vielmehr auf Anders’ Heidegger und
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wollen nicht mehr zeigen, als dass es eine produktive Beschäftigung


mit Heideggers Denken geben kann, die über eine derartige philoso-
phiegeschichtliche Posse hinausgeht. Leider erschöpft sich die heuti-
ge akademische Philosophie zumeist in einer solchen Possenreißerei
und betrachtet die vormalige „Liebe zur Weisheit“ oft nur im Spiegel
des eigentümlich dümmlichen Hasses konkurrierender Philosophen
und Philosophinnen, hinter denen eine Armada von Anhängern ihr
Geschäft betreibt.9

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Nachdem nun dies soweit festgehalten ist, muss ich noch um


die Absolution der Wissenschaftlichkeit bitten, wenn ich an dieser
Stelle nicht in extenso auf die Literatur über Anders eingehen kann,
und das heißt für unser Thema auf die Literatur über „Anders über
Heidegger“.10 Ich werde mich in der eigentlichen Durchführung
beinahe ausschließlich auf den Nachlass-Band von Günther Anders
Über Heidegger beziehen11 und auch dabei nur die Anders’schen
Überlegungen zu Heidegger aus dem Pariser Exil und das von Anders
Publizierte aus dem amerikanischen Exil heranziehen. Wohlgemerkt
kann es sich deshalb nur um den Heidegger von Sein und Zeit han-
deln. Natürlich wäre es auch interessant, ebenso Anders’ weitere
Ausführungen zur Periode der „Trotz-Philosophie: ‚Sein und Zeit‘“,
d. h. die Aufzeichnungen in den USA zwischen 1936 und 1950,
und Anders’ Kritik an Heideggers „Frömmigkeitsphilosophie“
nach 1950 in Europa vorzustellen, doch würde dies den gegebenen
Rahmen über Gebühr sprengen. Meine Einschränkung hinsicht-
lich der Forschungsdiskussion hängt dagegen ursächlich damit zu-
sammen, dass der genannte Nachlass-Band im Jahr 2001 erschien
und zu (sowie auch nach) den großen Feierlichkeiten im Jahr 2002
des hundertsten Geburts- und zehnten Todestages von Günther
Anders nichts wesentlich Neues herauskam.12 Auffällig genug un-
terblieb wiederum selbst die Auseinandersetzung mit Anders’schen
Texten zu Heidegger, die den Heidegger-Rezipienten an sich schon
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zuvor zugänglich gewesen sein müssten, aber ihnen im Nachlass-


Band gleichsam nochmals präsentiert wurden. Ich hoffe, dass ich
auf diese Weise wenigstens auf das aufmerksam machen kann, was
ich der Heidegger-community als korrupte Unterschlagung an-
kreide. Dabei wiederhole ich eigentlich nur eine Untersuchung,
die Anders unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als korrupte
Unterschlagungsaffäre der heideggerschen Philosophie unternom-
men hat und zeige zugleich mit nun im Nachlass-Band erstmals

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 899

zugänglichen Schriften von Anders aus dem Pariser Exil, dass die
Vorverhandlungen gegen den Heidegger von Sein und Zeit durch
Anders längst schon und früher noch geführt worden waren.
Günther Anders promovierte 1924 – darin ganz ein Heidegger-
Schüler der ersten Stunde – bei Heideggers Lehrer Husserl, und
zwar – wie er später einmal sagte – mit einer Arbeit gegen Husserl.13
Gegen Husserl hob er mit Heidegger die Bedeutung der faktischen
Situation hervor und wandte sich damit von der transzendental-
philosophischen Bewusstseinsphänomenologie ab und einer phä-
nomenologischen Spielart von philosophischer Anthropologie zu.
Doch diese Kritik an Husserl, wie sie ja nicht singulär für die phä-
nomenologische Bewegung der zwanziger Jahre in Deutschland war
und eigentlich die allgemeine Tendenz der jüngeren Generation
ausmachte, verband sich in der Folge nicht minder mit einer Kritik
auch an Heidegger. Zwar hatte Anders Heideggers Begriff von der
„Faktizität“ aufgenommen, doch in dem, wie er die Faktizität selbst
fasste, ging er über Heidegger hinaus. Anders machte, grob gesagt,
Heideggers ontologische Phänomenologie genauso wenig mit und
spottete der Verachtung Heideggers für das Konkrete der moder-
nen (durch Technik bestimmten) Welt. Er warf Heidegger schlicht
„Pseudo-Konkretheit“ vor. Anders nahm damit Heidegger gewisser-
maßen beim Wort und gab der Phänomenologie gegen Husserl mit
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Heidegger über Heidegger hinaus das natürliche Leben zurück, das


sie in allen ihren Formen und Prägungen mit Ekel und Scham un-
ter den (bürgerlichen) Teppich gekehrt hatte. Er blieb am Teppich
– denn daraus ist ja unsere Lebenswelt der Technik und Medien
weltweit gewebt – und verklärte nicht die heideggersche „Werkwelt
des Handwerkers“14, die er als „ländliche Schusterwerkstatt“15 be-
lächelte. Für den „ganz altertümlichen“ Heidegger stellte Anders
natürlich seinerseits einen Rückschritt in die philosophische

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Anthropologie dar, während für Anders der Mensch selbst anti-


quiert ist angesichts des Fortschritts der Technik.
Damals hatte sich Günther Anders noch nicht sein Pseudonym
gewählt, es stand ihm noch eine akademische Karriere offen. Viel
ist über den Namen „Anders“ gerätselt worden, den er Anfang
der dreißiger Jahre wählte, als er als Feuilletonredakteur beim
Berliner „Börsen-Courier“ zu arbeiten begann. Die plausibelste
Erklärung lautet, dass er sich von seinen Eltern, dem berühmten
Psychologenehepaar Clara und William Stern, lösen hätte wollen.16
Sie hatten in der Psychologie der frühen Kindheit (1914) schlichtweg
ihre eigenen Kinder zum Objekt ihrer Untersuchungen gemacht und
damit Günthers Heranwachsen bis zu seinem zehnten Lebensjahr
ausführlich dokumentiert. So verwundert es nicht, dass Günther
Stern sich selbst einen eigenen Namen als Günther Anders machen
wollte, wo doch seine Kindheit wie ein aufgeschlagenes Buch vor-
lag und er überdies im Intellektuellen-Milieu der zwanziger Jahre
in Deutschland wohlbekannt war: Edith Stein war eine Schülerin
seines Vaters, bevor sie Assistentin von Edmund Husserl in Freiburg
wurde, mit Walter Benjamin war er gar verwandt … wie bereits ge-
sagt, die Verwicklungen sind nicht nur hinsichtlich Hannah Arendt
vielfältig, die er 1925 in einem Seminar bei Heidegger in Marburg
kennen lernte. Eine Stelle als Sekretär von Edmund Husserl soll er
abgelehnt haben,17 dann hätte er kurzzeitig als Assistent von Max
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Scheler gearbeitet,18 und die Habilitation zur Musikphilosophie


scheiterte augenscheinlich an niemandem anderen als Theodor W.
Adorno19; doch um sich überhaupt in Frankfurt als Privatdozent
bewerben zu können, hatte er 1929 Hannah Arendt geheiratet20.
Jedenfalls schlug er aber zu jener Zeit – er arbeitete zwischen 1930
und 1932 an seinem Roman Die molussische Katakombe (der erst
1992 erscheinen konnte)21 – seinen eigenen, anderen Weg ein –
und dieser führte ihn aus der (akademischen) Philosophie heraus.

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Somit ging Anders Entfernung von Heideggers Philosophie einher


mit der Entfernung von Philosophie überhaupt.22
Das philosophische Frühwerk, auf das Anders in seinen
Schriften beinahe ebenso beharrlich verweist wie auf seinen Roman
(beides zu seinen Lebzeiten nicht oder nicht eigentlich zugäng-
lich), bedenkt die Stellung des Menschen in der Welt. Es besteht
hauptsächlich im mehrmals gehaltenen Vortrag von 1929/30 über
die „Weltfremdheit des Menschen“, der Eingang fand im Aufsatz
„Pathologie de la Liberté“ (1936) und in der zuvor ebenfalls im
Pariser Exil auf Französisch in Recherches philosophiques publizier-
ten Abhandlung „Une Interprétation de l’A posteriori“ (1934).23
Bis heute wartet es auf eine (Neu-)Ausgabe; ihr Erscheinen wird
jedoch endlich angekündigt. Allerdings hat sich seiner bereits der
Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann in seiner
(ergänzten bzw. überarbeiteten) Monographie zu Günther Anders
(1988, 1993, 2002)24 und auch andernorts25 angenommen und
zuvor schon eine extensive Darstellung vorgelegt. Didaktisch ein-
prägsam, wie es seine Art ist, zitiert er zunächst die Anders’sche
These von „Pathologie de la Liberté“: „Künstlichkeit ist die Natur
des Menschen und sein Wesen ist Unbeständigkeit.“ Die negati-
ve Anthropologie des frühen Anders beantwortete folglich die
kantsche Grundfrage jeder Philosophie „Was ist der Mensch?“ da-
mit, dass der Menschen ein Wesen ist, das kein Wesen hat. Schon
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Nietzsche hatte den Menschen als „nicht festgestelltes Tier“ ge-


kennzeichnet, Arnold Gehlen hat später vom Mängelwesen gespro-
chen. Unbehaust, fremd gegenüber der Welt, aber erst dadurch zur
Freiheit befähigt, ist der Mensch gezwungen – ja, zu dieser Freiheit
verurteilt, wie es wohlgemerkt Sartre damals bei Anders hörte
–, sich eine Welt zu schaffen. Für uns ist dieser Homo faber der
Philosophie des Zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr neu. Die
Herstellung von Welt wurde zu seinem Markenzeichen. Die Technik

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hielt Einzug in das Menschenbild. Damit aber macht der Mensch


die Erfahrung der Beliebigkeit und Sinnlosigkeit – „Kontingenz-
schock“ nannte es Anders. Diesen zu bewältigen, gibt es für den
frühen Anders zwei Möglichkeiten: Der historische Mensch ver-
leiht der Zufälligkeit eine Notwendigkeit im Sinne eines vergan-
genheitsorientierten Ursprungsdenkens, das unser Hier und Jetzt
aus der Familie, Religion, Ethnie oder Nation erklärt und recht-
fertigt; dazu zählen auch geschichtsphilosophische Konstruktionen
vornehmlich marxistischer Provenienz. Liessmann ortet eine
Renaissance dieses historischen Denkens, wenn auch nicht in
der geschichtsphilosophischen Variante, sondern im Wunsch der
Rekonstruktion der Vergangenheit, der Wiederentdeckung der
eigenen Wurzeln. Auf diese Weise ließe sich aber doch in dieser
Interpretation mit dem frühen Anders eine interessante Diagnose
der augenscheinlichen Verwandtschaft beider Formen des histori-
schen Typs stellen, die Liessmann, der offenbar an der ideologischen
Polarisierung festhält, unterschlägt, weil er auf die Aktualisierung
des zweiten Typus abzielt: den nihilistischen Menschen, der aus
der Nichtigkeit die Konsequenz zieht, das Hier und Jetzt aufheben
zu wollen, indem er überall und immer sein möchte; omnipräsent,
pathologisch krank an Raum und Zeit giert er letztlich nach totaler
Macht, Territorialmacht. Für Liessmann ist dieser Menschentypus
heute Wirklichkeit geworden im Phänomen der Globalisierung.
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Aus den beiden vom frühen Anders skizzierten Typen lassen sich
so zwei Mittel ableiten, dem „Kontingenzschock“ zu begegnen:
Der historische Mensch möchte die Definitionsmacht über die
Vergangenheit gewinnen, der nihilistische Mensch die Zukunft
bezwingen, indem er quasi unsterblichen Ruhm zu erlangen be-
absichtigt, mit welcher Tat auch immer (Terror); er schreckt da-
bei genauso wenig vor der Destruktion zurück, wie der historische
Mensch die Konstruktion missbraucht, um das Geschehen in sei-

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nem Sinne auszulegen (Lüge). Sicherlich ist auch später für Anders
der Nihilist wichtiger geworden. Jedenfalls baut auf diesem ersten
anthropologischen Entwurf Anders’ weiteres Denken auf. Denn er
hat ihn radikal hinterfragt und gleichsam umgedreht – nicht nur
indem er jeglichem System eine Absage erteilte. Immer noch geht
dieses Modell nämlich von einer Bestimmung des Menschen als
spezielle Spezies unter den Tieren aus, auch wenn es gerade die
„Unspezifität“ ist, die das Spezielle am Menschen ausmacht, die
Freiheit, zu der wir verdammt sind. Wichtiger wurde Anders aber
später eine Dimension, vor der er den Menschen künftig abhob:
die Welt der von ihm selbst geschaffenen Produkte. Wird hier
noch die Größe des Menschen gefeiert, wenngleich als Hybris des
Menschen, Gott gleich werden zu wollen, kritisch beleuchtet, so
ist es nun die Kleinheit des Menschen vor dem von ihm selbst
Hergestellten. Hier kommt die Antiquiertheit des Menschen ins
Spiel. Jetzt erst ist Anders vollends auf seinem anderen Weg.
Anders hat in seinen zu Lebzeiten hauptsächlich im angesehe-
nen Münchner Verlag C. H. Beck erschienenen Schriften durchaus
auch direkt auf Heidegger Bezug genommen, es gab also nicht nur
verschwiegene Übernahmen wie in seinen frühen philosophischen
Aufsätzen, zumeist war es explizite Abneigung bis Ablehnung, vor
allen in den beiden Bänden seines Hauptwerkes Die Antiquiertheit
des Menschen26 und in seinen tagebuchartigen Ketzereien27 sowie in
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der Kosmologischen Humoreske28. Diese Referenzen waren freilich


so vielfältig wie sein gesamtes Œuvre, das neben den philosophi-
schen Abhandlungen, Traktaten und Essays unter anderem auch
Glossen, Fabeln und Gedichte kannte. Er selbst definierte sein un-
akademisches Schaffen schon im ersten Band der Antiquiertheit des
Menschen als „Gelegenheitsphilosophie“, als eine „hybride Kreuzung
von Metaphysik und Journalismus“29. Heidegger schwingt dabei
jedoch bereits (wenn auch diesmal nicht eigens kenntlich gemacht)

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im zentralen Leitgedanken von Günther Anders mit, wenn er ein


„prometheisches Gefälle“ diagnostiziert zwischen dem, was wir
uns „vorstellen“, und dem was wir „herstellen“ können. Unser
„Herstellen“ reicht dabei weiter als unser „Vorstellen“; das zeigt
sich für Anders an der (Atom-)Bombe, die im Zentrum seines
Denkens steht. Die atomare Drohung verwandelt unsere Zeit in
eine „Endzeit“, wir erleben ein „Zeitenende“ als Ende von Zeit
und Sein, so der Apokalyptiker Anders. Aus dem „Geschlecht der
Sterblichen“ werde das „sterbliche Geschlecht“.
Bislang waren als Anders’ unmittelbare Beschäftigung mit
Heideggers Denken eigentlich nur zwei Aufsätze einigermaßen zu-
gänglich: „Nihilismus und Existenz“ (1946) und „On the Pseudo-
Concreteness of Heidegger’s Philosophy“ (1948).30 Sie fungierten
gleichsam als Garant dafür, dass Günther Anders mehr war als bloß
ein anekdotischer Pamphletist.
Doch schon im Pariser Exil und nicht erst in den USA setzte
er sich (auch öffentlich) mit Heidegger auseinander, was – wie be-
reits erwähnt – nicht ohne Einfluss auf die Existenzphilosophie der
Nachkriegszeit bleiben sollte, die Anders dann später im amerika-
nischen Exil bitter aufstieß und derentwegen er sich nochmals über
Heidegger zu Wort meldete.
In seinem 1933 bei Gabriel Marcel gehaltenen Vortrag „Bild der
gegenwärtigen Deutschen Philosophie und ihrer Vorgeschichte“31
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wird in einem rasanten Rückblick auf hundertfünfzig Jahre „religi-


ös oder metaphysisch gebliebene Aufklärung“ (15) in Deutschland
die „Detektivgeschichte, in der der Mörder der Aufklärung die
Aufklärung selbst ist“, (18) erzählt und darin auch Heidegger als ein
solcher aufklärerischer Mörder der Aufklärung entlarvt. Heidegger
entwerfe das Dasein als In-der-Welt-sein, und das heißt zumeist
und zunächst als ein „an die Welt sich Verlieren, also ein sich-
Verlieren“ (22), referiert Anders. Dabei setze er bei „Erlebnissen“

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 905

an, entwerfe gleichsam eine „ontologische Symptomatik“ – wie


Anders die „Hermeneutik des Daseins“ nennt (23): z. B. enthül-
le die Langeweile „ein bestimmtes negatives Verhältnis zur Welt,
das Welt-verlieren-Können“ (23). Doch obwohl das „Normale“
durchaus erlaubt sei, spiele „das Exzeptionelle […] eine besondere
Rolle“; es seien die „hohen Augenblicke“ die aus dreierlei Gründen
untersucht werden: 1. Das Erlebnis sei „ein säkularisierter Rest
des Christentums“: „Gnade ohne Gott“ (23). 2. Die untheoretische
Erlebnisphilosophie ohne Transzendenz habe als „Besonderes“ nur
die „Erhebungen des Lebens aus seinem Alltagsniveau“, worin
„[man] erst glaubt sein eigenes Sein zu erfahren“ (24). Und 3. werde
deshalb zum Erleben ausdrücklich aufgerufen, womit „dem Leben
selbst eine Verdoppelung ohne Geist, eine Art aktivistische Schärfe
ohne Klarheit, eine paradoxe blinde Stoßkraft [gegeben werde].
Die Stoßkraft dessen, der doktrinär, aber unreflektiert ist.“ Anders
schlussfolgert in diesem Schicksalsjahr 1933: „Und es entstanden
diejenigen Theoretiker, die als Ideologen das heutige Deutschland
begleiten.“ (24)
Ebenfalls noch im Pariser Exil befragt Günther Anders 1936 die
Frage nach dem Wesen.32 Er bezeichnet es als eine (heideggersche)
„Pseudorevolution, dass sie Vokabeln weiterverwendet, deren un-
ausgesprochener Gehalt den satzmäßig ausgedrückten Lehrgehalt
dementiert“ (32). Warum diese „Zerfällung“, die Aufspaltung in
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einen eigentlichen Teil und den Rest? Grundsätzlich gäbe es zwei


Fragen: erstens jene nach dem hothen [Woher], zweitens diese nach
dem agathon [Guten]. In der heideggerschen Philosophie seien
beide Fragen „abgeschnitten“ worden (32). Die Was-Frage dient
für Anders hauptsächlich der Einordnung dessen, was als neu er-
fragt wird, in die vertraute Welt („Was ist das?“) – und nicht der
Befragung von bereits Bekanntem („Was ist ein …?“), wo es dann zu
der genannten Zerteilung des Gegenstandes komme. Fragwürdiges

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erscheint überhaupt erst in der agathon-Frage, wozu etwas gut oder


da ist. Sokrates setze dabei jedoch „sonderbarer- und vielleicht re-
aktionärerweise“ (34) ein Wesen (z. B. des Staatsmannes) voraus,
statt (wie etwa die Sophisten) „eine neue Definition in der poli-
tischen Praxis zu installieren“: „Er sucht zu entdecken, was allein
erfunden werden kann“. Und so kommt Anders zur Konklusion:
„’Entdeckung‘ von Wesen ist Konformismus mit den Gesetzen von mor-
gen.“ (34)
Tiefer noch sei die Wesens-Frage eine Ursprungs-Frage, die
genau jenen „Riss“ in dem zu befragenden Seienden zur Folge
habe, und zwar gerade weil Ursprung und Entsprungenes (in der
griechisch-westlichen Tradition) welthaft zusammen gesehen wer-
den, der dann eine Dimension abschneidet, die „mehr ist und
mehr ist“ (35). Heideggers Philosophie operiere vorzüglich mit
solchen Ursprungsvokabeln und derart nehme er etwa nicht nur
den Tod ins Leben, sondern zugleich auch die Geburt ins Leben.
(Nebenbei bemerkt, gebührt diese Entdeckung der Geburtlichkeit
des Daseins mehr noch Anders als Hannah Arendt, der sie philoso-
phiegeschichtlich zumeist zugeschrieben wird.) Für ein sol-
ches Denken stellt das Dasein „gewissermaßen einen pränatalen
Zustand“ dar, der sich genauer in der Daseinsanalytik des Man
als „ein Zustand der Korruption“ erweist; erst durch den „Akt der
Selbstwahl“ „bringt sich das Dasein nachträglich selbst zur Welt.
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Zuvor war es eben noch nicht als es selbst, also noch nicht eigent-
lich gewesen.“ (36)
Diese Beobachtung verknüpft Anders abschließend mit dem
schon aus dem Vortrag bei Gabriel Marcel von 1933 bekannten
Thema der Aufklärung: „Die Theorie dieser Geburt, dieses ‚zum
Licht Kommen‘ hat die große Chance, von den Motiven der
Aufklärung Gebrauch zu machen.“ (37) (Hier lesen wir heute un-
weigerlich Peter Sloterdijk mit.) Aber Heidegger bedient sich nur

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 907

noch schematisch formal und material leer des „Mechanismus


der Aufklärung“: „Die Eigentlichkeit ist eben nichts anderes als
das Zu-sich-selbst-Kommen. Dass er selber kommt, ist ihm wich-
tiger als wohin er kommt. Oder das Selbst-tun ist für ihn bereits
das ‚Wohin‘.“ Anders bissig zum Schluss: „Der selfmade man als
Mystiker.“ (38)
Bevor Günther Anders 1950 nach Europa zurückkehrte und
aller akademischen Philosophie eine endgültige Absage erteilte (das
Angebot von Ernst Bloch für einen Lehrstuhl in Deutschland lehn-
te er in dieser Zeit ab33), hat er nochmals zu Heideggers Philosophie
in zwei Aufsätzen Stellung genommen, die allzu entlegen publiziert
worden waren, um wirklich Wirkung erzielen zu können. Sie wur-
den nunmehr prominent in den Nachlass-Band Über Heidegger
(wieder) aufgenommen.
In „Nihilismus und Existenz“ gibt Anders 1946 einen „negati-
ven Wegweiser“, „in welcher Richtung die Existenzphilosophie liegt,
um den Zeitgenossen zu verhindern, in sie hineinzugeraten“ (44).
Die Existenzphilosophie, als deren maßgeblichen Repräsentanten er
Heidegger sieht, ist eine „Philosophie der absoluten Vereinzelung“
(39). Sie konnte modisch werden, weil „die Vereinzelung das
Kind des Terrors [ist]“ (39) und für die unmittelbare Zeit nach
dem Zweiten Weltkrieg gilt: „hinter uns liegt eine Periode, in der
Misstrauen die einzige Verkehrsform war“ (40). In Frankreich habe
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diese Philosophie der Vereinzelung „die paradoxe Form einer


Massenmode“ (40) annehmen können, getragen von den sich es-
kapistisch in den Existenzialismus flüchtenden Intellektuellen, die
nun in ihm eine „Flucht aus den ernsten Aufgaben der Zeit in den Ernst
als Aufgabe“ (41) finden. Die Kriegsheimkehrer entschlossen sich
„da zu sein“ und endlich „sie selbst“ zu sein – die Hauptvokabeln
Heideggers, der somit eine „Heilslehre“ anbot, „die neben der-
jenigen Hitlers und noch nach dessen Sturz Europa erobert hat“

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(42). Das also diagnostiziert Anders als „Geburtskonstellation“


der Existenzialismus: „[D]ie Bewegung wurde geboren im Schatten
des ersten Nachkriegs; um europäisches Ereignis zu werden in den
Trümmerstätten des zweiten.“ (43)
An dieser Stelle des Referats von Günther Anders Darstellung
der geistigen Situation Europas nach dem Zweiten Weltkrieg lässt
sich eine Beobachtung nicht unterdrücken, die zur Aktualisierung
dienen mag, aber mehr noch vor der analogen Gefahr der Heidegger-
Rezeption in Osteuropa nach 1989, also in einer nicht unähnlichen
Nachkriegssituation nach dem Ende des Kalten Krieges, warnen
möchte. Die Wiederentdeckung Heideggers in den sich aus der
Diktatur des real existierenden Sozialismus befreienden postkom-
munistischen Ländern könnte in der Tat genauso motiviert sein,
endlich „da sein“ und „selbst sein“ zu wollen nach der Periode ge-
genseitigen Misstrauens, was bedeutete, nach dem aufgenötigten
Kollektivismus für eine solche Philosophie der Vereinzelung als
Folge des Terrors anfällig zu sein.
Denn Heideggers Philosophie ist mehr als bloße Ontologie,
wie Anders 1946 aufzeigt, sie verwandelt sich vielmehr unmerklich
„in etwas, was eher eine Anweisung für eine Askese-Technik als eine
Philosophie darstellt“ (43). Was ist darunter zu verstehen? Anders
gibt als Umschlagspunkt die „Erlösung“ (49) vom uneigentlichen
zum eigentlichen Dasein an, wo eine solche „Technik der Ablösung
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von der Welt zum Zwecke des Selbst-werdens“ (48) einsetzt. Was
den „Eigentlichen“ ganz und gar vereinzelt, ist das Dasein als „Sein
zum Tode“. Doch wozu das Dasein derart entschlossen ist, bleibt
offen und ist letztlich wieder nur es selbst. Das sei das Ergebnis
„dieser düsteren nihilistischen Trotztechnik“ (49); und es wird klar,
warum Anders seinen Aufsatz „Nihilismus und Existenz“ nennt.
In der Folge setzt Anders neu an und zeigt wesentliche
Bruchstücke, die Heideggers Existenzialontologie fehlen und insge-

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 909

samt das Bild von einem „hoffnungslos amputierte[n] Dasein [ge-


ben], das die wirklichen Fragen, d. h. die wirklichen Schwierigkeiten
unseres Daseins schon deshalb nicht beantworten kann, weil es sie
gar nicht fragt“ (50). Warum hat Heideggers Dasein nicht Hand
und Fuß? Erstens sei das Dasein „nicht geboren“, sondern in einer
Art „negativem Schöpfungsmythos“ „geworfen“ und doch nicht
„geworden“ (51). Das „stammbaumlose bürgerliche Individuum“
(51) habe sich „selbst zu machen“ – „eine soziale Variante des
Homunkulus“ (52). Zweitens findet sich der aus dem Nichts kom-
mende „kleine Mann“ „in etwas Nichtigem“ (54), dem Man (das
freilich auch von nirgendwo herkommt), und befreit sich „zu sich
selbst, dem Einzelnen“ (55), ohne jedoch dabei auffälligerweise
mit irgendeiner Gruppe in Konflikt zu geraten, rennt vielmehr in
seine eigene Existenz hinein, wie Anders Heideggers „Vorlaufen“
charakterisiert, das aber drittens ganz und gar. Die „Gänze“ seines
Daseins wird jedoch gemäß diesem „inhumanen Trotzritual“ erst
im Tod erreicht, weshalb der Tod dem Leben einverleibt wird, um
das Eigentlichwerden schon zu Lebzeiten gewährleisten zu können.
Dahinter steckt für Anders eine „Versäumnispanik dessen, dessen
Leben keine andere Aufgabe kennt als dieses Leben selbst“ (56). Es
lassen sich nicht alle Bruchstücke beibringen, die Anders zusam-
menfügen möchte; er unternimmt weniger geglückte geschichtli-
che Analogien (zum Buddhismus), zeigt, dass sich die Schuldfrage
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bei Heidegger umkehrt, wenn bisher „Schuld gerade im Selbstsein“


bestand, so sehe Heidegger die Schuld des Daseins gerade darin,
„nicht man selbst zu sein“ (57), wodurch er unterschlägt, „dass eine
dem Menschen angemessene eigentliche Welt zu schaffen auch die
Aufgabe des Menschen sein könnte“ (58), führt an der Beliebigkeit
des Eigentlichkeitsbegriffes vor, wie selbst dieser solcherart leis-
ten könnte, womit „die Eigentlichkeit des politischen Menschen
begründet“ wäre (59), rekurriert bruchstückhaft auf Kant, um

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Heideggers „reformatorischen Anspruch“ (60) zu konterkarieren,


die ontologische Kapitalfrage nach dem Sinn von Sein wieder in
Gang gebracht zu haben, beargwöhnt den Singular des Daseins als
„versteckte Neutralität“ und stößt zum „unterschlagenen Hunger“
vor.
Hier entwickelt Anders in seiner Kritik Heidegger produktiv
weiter. Auch in seinem Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen
findet sich diese aufschlussreiche Beanstandung jener spezifisch
heideggerschen Korruption als Seitenhieb, wonach nicht von
der Bedürftigkeit ausgegangen werde, „sondern ausschließlich
von unserem Tode (der eigentümlicherweise metaphysisch sa-
lonfähiger als unser Hunger [ist])“34. In seinem Aufsatz „On the
Pseudo-Concreteness of Heidegger’s Philosophy“ von 1948 hat
er dann den Gedanken ausführlicher erörtert. Deshalb möchte
ich die Vorführung meines mikroskopischen Blicks auf den Text
„Nihilismus und Existenz“ an dieser Stelle gleichsam schärfer stel-
len und auch die spätere Behandlung des Themas mit hereinneh-
men. (Wenn auch aus anderer Perspektive, nämlich dass Heidegger
„quer zur Alternative ‚Naturalismus–Supranaturalismus‘“ (72)
stünde, wiederholt Anders im Großen und Ganzen im späteren
Aufsatz dieselben Kritikpunkte wie im früheren.) Dabei ist diese
Bestreikung des Hungers bei der Konzeption des heideggerschen
Daseins unter Umständen das (leider zu Wenige), was von Anders
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unmittelbarer Auseinandersetzung mit Heidegger zwar nicht in der


Heidegger-Scholastik, aber doch bei den gemäßigten Vertretern
der Heidegger-Rezeption als am meisten zitierenswürdig gilt bzw.
gelten könnte.
Während in Husserls reiner Bewusstseinsphilosophie das
Vergessen des Phänomens des Hungers für Anders noch irgendwie
in Ordnung ist,35 zumindest nicht weiter schädlich für die Inte-
grität seiner Philosophie, – Heidegger hatte ihm bekanntlich in

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 911

einer oft kolportierten Anekdote das Vergessen der Geschichte


vorgeworfen –, so ist Heideggers Vergessen des Leibes für seine
Daseinsphilosophie weitaus problematischer: einen „unwider-
ruflichen und nicht loszuwerdenden Skandal“36 nennt es Anders
in seinem Nachlass zu Heidegger. Das Gleiche wurde immer-
hin auch von prominenten Kollegen moniert (von Emmanuel
Lévinas etwa zur selben Zeit bis zu Hans Jonas, der seinen Lehrer
Heidegger wie Heidegger einst seinen Lehrer Husserl genauso in
diesem Sinne zur Rede gestellt haben soll)37 und geistert über-
haupt als stehender Vorwurf gespensterhaft herum wie Heideggers
leiblos herumlaufendes Dasein38. Leiblos hat Heideggers Dasein
kein Geschlecht – und keinen Hunger. (In den veröffentlichten
Aufsätzen von 1946 und 1948 hat Anders allerdings den Aspekt
des um sein Geschlecht kastrierten, engelhaften Daseins selbst un-
terschlagen, der sich nur in den Nachlass-Aufzeichnungen findet.
Er führt auch dort die Geschlechterdifferenz nur als erstes Moment
an, um das zweite Moment des Sexus als Geschlechtstrieb für die
Kontinuität der Menschen in der bereits vorgestellten Weise aus-
zuführen, dass nämlich Heideggers Dasein ein ausgesetztes (nicht
geborenes) Waisenkind sei.39 Natürlich ließe sich am Sexus als
Bedürfnis des Menschen (und nicht weniger mit der komplizierten
Genderproblematik) vielleicht heute ‚gelegenheitsphilosophisch‘ ge-
eigneter operieren als mit Anders’ menschlichem Hungerbedürfnis.
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Doch in der unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegszeit, in der


Anders’ Ausführungen zu Heidegger entstanden, war Hunger auch
in der westlichen Welt ein alltägliches Phänomen.)
Obwohl also verglichen mit den „epigonalen
Transzendentalphilosophien“ dem heideggerschen Dasein gera-
dezu ein „ganz phantastischer Reichtum“ zukommt und es „zwar
sehr beschäftigt [ist]: es hämmert und schustert herum und ‚ver-
steht‘ in dieser Sorge seine Leisten“, wird für Anders dabei nicht

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912 LUKAS MARCEL VOSICKY

nach dem Warum dieser Sorge gefragt. Dabei sei es gerade der
Begriff der „Sorge“, „der Heideggers Philosophie ihre besonde-
re Konkretheit verleihen soll“ (81), expliziert Anders in „On the
Pseudo-Concreteness of Heidegger’s Philosophy“. Es käme bei
Heidegger zu einer „originellen Gleichsetzung von ‚Dasein‘ und
‚Interesse‘“ („In-der-Welt-sein“ oder „In-sein“ sei eine fast wörtli-
che Übersetzung des lateinischen „inter-esse“), „Interesse“ freilich
im weitesten Sinne des Wortes, aber dies sei „erst einmal nur eine
ziemlich desinteressierte ontologische Feststellung“. (81) „Die sim-
ple Frage, warum das Dasein sich in tausend Besorgungen stürzt, war-
um es Tag und Nacht herumsorgt, diese Frage […] wird einfach unter-
schlagen.“ (81 f.) Anders’ Vorwurf, in dem sich freilich seine eigene
Philosophie an dieser Stelle besonders klar artikuliert, lautet dem-
nach, dass Heidegger zwar Husserls Begriff der „Intentionalität“ in
„Sorge“ verwandle, doch dann nicht weit genug ginge: „er führt
die ‚Sorge‘ nicht auf ihren untersten Grund oder die elementare
Basislosigkeit des Lebewesens zurück“. (83) „Denn in Wahrheit ist
das Dasein ‚Sorge‘, weil es Hunger ist.“ (63) Das aber habe Heidegger
„auf keinen Fall wahr haben“ dürfen. „Es gibt Themengrenzen für
jede anständige Universitäts-Philosophie. Bei Heidegger verläuft
sie hart vor der Schwelle des Hungers […]“ (63) Das Bedürfnis –
und dafür steht bei Anders der Hunger – sei kein „Können“ wie das
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Beschaffen, dem allerdings durchaus ein Bedürfnis entspricht. Weil


es aber kein „Können“ des Daseins sei, habe es Heidegger schlicht-
weg unterschlagen. Der Mensch sei viel ontischer als es Heidegger
jemals zugestanden hatte, er muss sich Ontisches buchstäblich ein-
verleiben, „um ontologisch, nämlich ‚da‘ zu sein“. Nun ist aber
der Hunger kein Sein, sondern vielmehr zeigt er etwas an, „was ich
nicht bin und nicht habe“. Letztlich besage dies, dass der Mensch
„weltbedürftig“ sei. (63) „Hunger“, „Bedürfnis“, das meint bei

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 913

Anders im weitesten Sinne „Angewiesenheit auf Welt“, wie er im


Aufsatz von 1948 schärfer formuliert: „Hunger nach Welt“. (82)
Obwohl also Heidegger die Abhängigkeit des Begriffs der
„Welt“ oder des „Zeugs“ von der praxis durchschaute, nannte er
das Kind nicht beim Namen; weder nannte er den Motor der
„Sorge“, „Hunger“, noch die vom Menschen gemachten „Sorge-
Instrumente“ von heute, die Wirtschaftssysteme, die Industrie, die
Maschinen beim Namen. Der Bereich von Heideggers Konkretheit
beginnt hinter dem Hunger und hört vor der Wirtschaft und der
Maschine auf: in der Mitte sitzt das „Dasein“ herum, hämmert
sein „Zeug“ und beweist dadurch „Sorge“ und den Neubeginn der
Ontologie. (83)
Wenn man die heideggersche „Sorge“ als „Bedürfnis“ fasst, so
ergeben sich philosophische Konsequenzen für das Zeitproblem,
das immerhin in Heideggers Titel Sein und Zeit als Thema des
Buches genannt ist, so Anders. Ausgerechnet dieses bleibe jedoch bei
Heidegger „undeutlich“, denn es werde nicht klar, „ob das Dasein
in der Zeit ‚gründe‘ oder die Zeit im Dasein“, wenn man auch
schließlich auf die Formel stößt, dass die „Sorge in der Zeitlichkeit
gründe“. Für Anders ist es gerade umgekehrt: „das Bedürfnis stiftet
die ‚Zeit‘.“ (64)40
Wie ist das zu verstehen? Wie sähe „die Deduktion der ‚Zeit‘
aus der Tatsache der ‚Bedürftigkeit‘“ (84) aus? Sie hängt mit dem
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Warum der Sorge zusammen, aber nicht insofern es „die Bedingung


der Möglichkeit“, sondern „die Bedingung der Nötigkeit“ (der
Sorge) betrifft. (Vgl. 81 f.) Das menschliche Dasein hat als „be-
dürftiges“ „nicht, was es haben müsste“ (84). Der Mensch muss sich
Welt einverleiben, um da zu sein. Die Welt ist daher primär „nicht
der Horizont des Vorstellens, sondern des Nachstellens“ (64). In
der Stillung seines Bedürfnisses (von abwesenden oder abgetrenn-
ten Dingen) überwindet („annulliert“, 84) der Mensch stets eine

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914 LUKAS MARCEL VOSICKY

Distanz. Das „Nachstellen“ „hat notwendigerweise eine gewisse


Ausdehnung“: „Es ist die Ausdehnung, die ‚Zeit‘ heißt.“ (84) Oder
anders: „die Konsumtion der Distanz konstituiert die Zeit“ (64).
Sie entfaltet sich in den einzelnen Momenten der Jagd und hört auf,
wenn das Bedürfnis gestillt ist. Anders zitiert dazu das Proverb, wo-
nach dem Glücklichen keine Stunde schlägt. (Vgl. 85) Als weiteren
Beleg seines Gedankens führt er an, „dass diejenigen Aktionen, die
in unmittelbarer (distanzloser) Beschaffung des Benötigten beste-
hen (wie etwa das Atmen), keine Zeit ‚konstituieren‘“ (84). „Damit
ist gesagt: Zeit ist der Weg der Beischaffung des Bedarfs. Nicht
Sorge gründet in der Zeitlichkeit; vielmehr Zeit in der Sorge; und
die Sorge im Bedürfnis.“ (64)
Heidegger hätte nach Anders eine solche „Genealogie der Zeit“
unterschlagen, „weil die Ableitung des ontologischen Charakters der
‚Zeit‘ aus der ontischen Unzulänglichkeit des Lebewesens (oder des
Menschen als Lebewesens) den Primat und die Selbstgenügsamkeit
der ontologischen Sphäre zerschlagen hätte“ (85). Natürlich sei-
en diese Ausführungen nichts Weiteres als eine Skizze, konzediert
Anders, der Unterschied zwischen der tierischen und der mensch-
lichen Zeit werde hier noch nicht gemacht und auch sei noch
keineswegs die Kontinuität der Zeit geklärt, in der Zeit „in aku-
ten Attacken ausbricht“ (64, 85) und dann wiederum stillsteht.
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In „On the Pseudo-Concreteness of Heidegger’s Philosophy“ geht


Anders noch näher auf das zuletzt genannte Ärgernis ein (dem sich
Heidegger nicht aussetzen möchte), „dass der ontische Zustand
des Menschen, richtiger: sein ontischer Defekt, die ‚Bedingung der
Möglichkeit‘ seines ‚Ontologisch‘-seins“ ist. Kurz: Heidegger er-
wähne nirgends, dass Dasein einen Leib hat. Er gelange niemals zur
„Natur“. „Sein Dasein kennt in der Tat keine concupiscentia, keine
Instinkte, keine Zahnschmerzen.“ (85)

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„Das Dasein hat keinen Hunger. Es hat keinen Leib. Seine


Moral hat keinen Gesellschaftsrahmen. Sein Ursprung ist ahnen-
los.“ Derart fasst Anders die bisherigen Glieder des Daseinstorsos
im früheren Aufsatz „Nihilismus und Existenz“ zusammen, zu dem
wir nochmals zurückkehren wollen. „Aber es hat ‚Sinn‘.“ (64) Sinn
war in der Zwischenkriegszeit nach dem Zusammenbruch von
Europas Mitte im Ersten Weltkrieg verloren gegangen und nun
versprach Heidegger die Frage nach dem Sinn von Sein zu beant-
worten. Das dürfte auch ein nicht unbedeutendes Moment der
Faszination sein, die der „heimliche König im Reich des Denkens“
(Hannah Arendt) auf die junge Generation an Philosophinnen
und Philosophen auch im heutigen Osteuropa ausübt. Auch sie ist
„nicht geboren“ und hat sich „selbst zu machen“, auch sie sieht sich
verstrickt in die doxa der nichtigen, öffentlichen Meinungen und
Vorurteile, aus denen sie sich zu befreien trachtet in der Besinnung
auf sich selbst und im Bemühen, möglichst nicht an die anderen
anzustreifen, auch sie agiert in „Versäumnispanik“, wenn alles für
sie und sie für alles zu spät zu kommen scheint, da läuft sie lieber
vor und will gegen die Dekadenz des Westens wenigstens die Fülle
der Existenz, empfindet es als Schuld, „nicht man selbst zu sein“,
und hält sich von der Politik und der gesellschaftlichen Weltge-
staltung besser fern, flüchtet sich vor den sozialen Kämpfen in die
„Neutralität“ als Eigentlichkeit, „aus den ernsten Aufgaben der
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Zeit in den Ernst als Aufgabe“. Sofern sie nicht schon „weg ist“
(emigriert, mit Stipendien, in Wunsch und Sehnsucht), sondern
sich zum „Dasein“ entschlossen hat. Welches Sinnangebot präsen-
tiert nun Heidegger für Anders? „Eine Welt, in der oder für die
Dasein Sinn hätte, konnte er, da der Sinn von Welt (Fortschritt)
zusammengebrochen war, nicht bieten. An eine andere Welt, die
dem Dasein Sinn verliehe, glaubte er nicht mehr. Daher musste
der Sinn des Wortes ‚Sinn‘ völlig verändert werden […]“ Wir ah-

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nen bereits, in welche Richtung: Dasein selbst gab als „Existenz“


(Eigentlichkeit) den Sinn des Daseins ab – „ein Vorgang“, wie
Anders spöttisch bemerkt, „zu dem Münchhausen Modell stand,
als er sich selbst aus dem Graben am Zopfe herauszog“. (67) Die
Freiheit des existenzialistischen Selbst kommt für Anders aber an
eine „Sozialgrenze“, denn Heidegger hätte gänzlich jene überse-
hen, die „de facto für etwas lebten, nämlich für die Zielsetzungen
mächtigerer Gruppen“. Sie waren schlicht „nicht fein genug, um
von Heidegger ontologisiert zu werden“. (67)
Es sind zwei Bemerkungen, mit denen Anders seine
Ausführungen zur Renaissance von Heideggers Denken in der
Existenzphilosophie der Nachkriegszeit abschließt. Erstens wäre
Heidegger ein „echter Häretiker“ gewesen, wie er eingesteht, nur hätte
er den gesamten Säkularisierungsprozess der deutschen Philosophie
gleichsam nochmals in nuce an sich selbst durchgemacht und die
„orientierungslos gewordene Mitwelt“ „missverstand die religiösen
Reste des gerade noch mit religiösen Worten redenden Nihilisten als
die ersten Stücke einer neuen Religiösität“ (69). Solcherlei lässt sich
auch heute in manchen Heidegger-Zirkeln beobachten, wenn es zu
einer eigentümlich missverständlichen Rezeption der Wiederkehr
des Religiösen in der gegenwärtigen französischen Phänomenologie
kommt.
Günther Anders 1946. Ja, und zweitens: Heidegger und
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Hitler. Das Thema mag für uns heute längst schon abgedro-
schen wirken, alles scheint dazu gesagt, 1946 war es hoch ak-
tuell, und im Kontext des bisher Referierten muss es aktuell blei-
ben. Gibt es einen Zusammenhang, eine Verbindung zwischen
der Philosophie des Nationalsozialismus und der heideggerschen
Daseinsphilosophie? Anders bejaht dies mehrfach: „Beide treffen
sich erst einmal im anti-demokratischen Affekt, der in beiden Fällen
nicht der aus der Geschichte bekannte Aristokraten-Affekt, son-

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 917

dern der Emporkömmlingsaffekt ist.“ Beide kommen in „Okkupa-


tions-Doktrinen“ überein, beide verbindet ihre Skrupellosigkeit, bei-
de verherrlichen und bagatellisieren den Tod und beide sind „Anti-
Zivilisationstheorien“ und „gegen jede Art von Universalien“. (70 f.)
Bei allem, was ich als Anders’ Kritik am Heidegger von Sein
und Zeit vorgeführt habe, fällt zugegeben auf, dass Anders hier die
existenzphilosophische Deutung von Heideggers Denkens buch-
stäblich in Angriff nimmt und gerade dieser nach dem Krieg so
wirkmächtigen Bewegung Heideggers Weltbild aus der hehren
Ahnengalerie rauben möchte. Anders zielt demnach mit seiner
Tirade gegen Heidegger zugleich auf ein (Selbst-)Missverständnis der
Existenzphilosophie. Dazu dient ihm die vorgestellte Destruktion
Heideggers. (Das trifft zumindest auf die von uns hier dargestell-
te Periode von Anders’ Auseinandersetzung mit Heidegger bis zu
seiner Rückkehr nach Europa zu.) Besonders deutlich zeigt sich
das am Schluss der Abhandlung „On the Pseudo-Concreteness of
Heidegger’s Philosophy“, wenn dort final der Bezug Heideggers
zur Existenzphilosophie in einer letzten Warnung kulminiert:

„Die verzweifelte Devise aller handelnden Desperados ‚Alles oder


Nichts’ veränderte sich beim existentialistischen Desperado unter
der Hand in ein ‚Alles und Nichts’, das völlig begreiflich macht,
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dass das Buch, das sein Werk fortsetzt, nicht ‚Sein oder Nichtsein’
heißt, sondern ‚Étre et Néant’.“ (115)

Damit erhebt sich zum Abschluss meiner Ausführungen


die Frage, welche Konsequenzen Günther Anders aus seiner
Erkenntnis der Unzulänglichkeit von Heideggers Philosophie
(von Sein und Zeit) zog und ob diese für uns heute vielleicht eine
Handlungsrichtlinie sein könnte.41

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Wie schon des Öfteren bemerkt, hat Anders jegliche Berufung


auf universitäre Lehrstühle abgelehnt, etwa noch 1959 an die
Berliner „Freie Universität“42. Und ebenso habe ich bereits eingangs
darauf hingewiesen, dass diese Absage an das Akademische eine an-
dere Art von Philosophie nach sich zieht. Für Anders ist sie anders
nicht nur hinsichtlich ihres Gegenstandes, die „heutige Situation,
bzw. charakteristische Stücke unserer heutigen Welt“, sondern
das Quere liegt auch in ihrem Ausdruck: „Aus der Hybridität des
Vorhabens ergibt sich ein ungewohnter Stil der Darstellung.“ (Man
beachte dabei die Verwendung des Begriffs der Hybridität, der
heutzutage in aller Munde ist, den jeder und jede gebraucht, aber
niemand so recht weiß, was darunter zu verstehen sei.) Bei Anders
äußert sich diese andere Form im „ständigen Perspektiven-Wechsel“,
dass folglich von den aktuellen Erscheinungen („Gelegenheiten“)
in den Bereich der philosophischen Probleme gesprungen wird;
denn „philosophisch zu sein“ beansprucht Anders im ersten Band
der Antiquiertheit des Menschen noch für sich.43 Daraus ergibt sich
weiters eine Philosophie der „Abschweifung“, wie sie ihre literari-
sche Gestalt etwa bei Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften
gefunden hat44. Der in der Philosophiegeschichte stets geäußerte
Einwand dagegen lautet: Das Kontingente als „Abschweifung“ ver-
rät das „Allgemeine“, und zwar in beiderlei Bedeutung von „ver-
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raten“. Es ist erstens ein Verrat an der Philosophie, der es doch


um das Allgemeine geht, es verrät aber zweitens hinweisend in je-
dem alltäglichen Einzelthema doch wiederum das Allgemeine als
Grund von allem, was ist. So sprechen die Metaphysiker. Anders
sieht es anders: „[…] dass es gerade das Spezifische, Singulare und
Okkasionelle sein kann, was dem Philosophierenden am schärfs-
ten zu schaffen macht“. Wer entscheidet denn, was „philosophisch
salonfähig“45 sei?

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 919

Dass Berufsphilosophen zumeist genau zu wissen glauben, was


an Spezialität erlaubt ist, wie weit sie gehen dürfen, was sich phi-
losophisch noch „schickt“, will ich natürlich nicht leugnen. Aber
ihre Selbstsicherheit ist doch zumeist nur die unphilosophische
Selbstsicherheit derer, die einen Brauch mitmachen. Je selbstsiche-
rer sie in dieser Hinsicht auftreten, umso berechtigter ist es, ihnen
als Philosophen zu misstrauen.46
Für den Philosophen, so Anders in seinen methodischen
Vorbemerkungen zur Antiquiertheit des Menschen, sind „die
Sachen selbst ausschlaggebend“47. Die Phänomenologen unter den
Philosophen verstehen sogleich, dass es hier um eine Radikalisierung
der Phänomenologie geht. Dieses gegen Husserl mit Heidegger über
Heidegger hinaus zeigt sich – zweitens – auch in der Darstellung:
„Übertreibungen in Richtung Wahrheit“, nennt es Anders einmal
später.48 Aufgrund des „prometheischen Gefälles“ zwischen der
perfekten Welt der Produkte (Geräte) und dem diesen gegenüber so
antiquierten Menschen (Leib), bleibt nichts anderes (und ist des-
halb nur allzu gerechtfertigt), als zu übertreiben.49 „Übertreibung“
aber ist gerade auch heute angesagt, wenn sich der Mensch gar so
offensichtlich nicht genug ist. Die Existenzphilosophie hat längst
abgedankt: Es genügt nicht mehr nur, sich „selbst zu machen“,
sich selbst zu verwirklichen, wie einst das Schlagwort lautete.
Heute ist es nicht mehr die „Seele“, die gemacht werden soll als
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eine anima creata de homine, jetzt rückt man auch dem „Leib“
zu Leibe – von den Schönheitsoperationen, die augenscheinlich
die Wettbewerbsfähigkeit am Beziehungsmarkt optimieren, bis zu
allen Formen der Gentechnik, sei es als Klonen für Ersatzteillager
von Organen, sei es als Produktion eines durch Prothetik perfekti-
onierten Menschen (Peter Sloterdijk)50.
Und so scheint schon das zweite Moment unserer
Schlussfolgerungen auf: was sich aus Anders’ Replik auf Heidegger

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für uns heute ergeben könnte (oder sollte). Die Frage ist schlicht,
ob Philosophie – nicht nur in ihrer klassischen Form, sondern
überhaupt – noch reicht, um die Aufgabe zu erfüllen, vor die
uns Anders gestellt hat. Kann Philosophie schlechterdings derart
„up to date“ sein, dass sie selbst mit „Übertreibungen“ die tech-
nokratischen Entwicklungen und ihre mediale Gestaltung ein-
zuholen vermag? Kommt nicht jeder Synchronisierungsversuch
der Philosophie zu spät? Kurz: Ist nicht die Philosophie selbst
antiquiert?51 Anders hat diese Frage in den methodologischen
Nachgedanken zum zweiten Band der Antiquiertheit des Menschen
angeschnitten.52 Es gäbe nun einmal kein „animal philosophans“,
Philosophie sei „schließlich ein geschichtliches Phänomen, das es
nicht immer gegeben hat, und das es […] wahrscheinlich nicht im-
mer geben wird“53. Er dreht die Überlegung freilich im Sinne seiner
Philosophie und meint, dass jeglicher Philosophie die (metaphysi-
sche) Unterscheidung zwischen Wesen und – was allerdings ebenso
zum Wesen gehöre („gleichursprünglich“, um mit Heidegger zu
sprechen) – Unwesentlichem (Kontingenz) zugrunde liege. Wenn
für Anders diese Unterscheidung hinfällig ist, also nicht nur der
einzelne Mensch (Dasein) kontingent ist, sondern vielmehr die
Menschheit als solche (das Dasein von Menschen), dann verzich-
tet er auf Philosophie in diesem Sinne – womit Anders (nicht nur
hier, sondern auch im weiteren Fortgang seiner methodologi-
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schen Überlegungen) in eine überraschende Nähe zu Heidegger


rückt (mit dessen Formel von der Überwindung der Metaphysik).
Heidegger hat sein Tun auch nicht mehr Philosophie genannt; er
wollte lieber vom Sein-Lassen des Denkens sprechen. Doch Anders
schlägt die entgegengesetzte Richtung zu Heidegger ein und for-
dert, dass, wenn man über nichts philosophieren könne oder dürfe,
es deshalb erlaubt sein müsse, „über alles philosophieren [zu] dürfen
und [zu] können“54. Für Heidegger dagegen steht (und nicht nur

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 921

in seiner rückblickenden Selbstinterpretation) alles im Zeichen der


Seinsfrage, er kannte „nur eine einzige Idee, eine idée fixe: die ‚on-
tologische‘ Differenz, die zwischen Sein und Seiendem“, wie Anders
in seinen Ketzereien einmal bemerkte:

„Weitgehend bestehen seine Werke in den ‚Beweisen’ dafür, dass


eigentlich alle Philosophen, es sei denn, sie hätten am Wichtigsten
und Einzigen vorbeiphilosophiert, seine Philosophie (wenn auch
nicht zureichend artikuliert) ‚eigentlich’ gemeint hätten; alle sei-
en also Heideggerianer ‚avant la lettre’ gewesen.“55

Anders aber schlägt in seiner Nähe zu Heidegger nicht nur


eine andere Richtung ein, wie er Heidegger nicht nur anders in-
terpretierte, wird also in keinerlei Weise zu einem Heideggerianer,
sondern entfernt sich zugleich grundsätzlich von Heidegger; er tut
etwas anderes als Heidegger – oder sagen wir besser: anders als es
Heidegger tat, als er glaubte, sich einschalten zu müssen56: Anders
„desertiert in die Praxis“. Im Vorwort zum zweiten Band seiner
Antiquiertheit des Menschen notierte er:

„Ein moralisch ebenso dürftiger wie spekulativ großartiger, un-


terdessen weltberühmt gewordener Philosoph hat mich vor mehr
als fünfzig Jahren mit dem ihm eigenen Genuss am Verachten
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davor gewarnt, ‚je in die Praxis zu desertieren’. Das Wort habe ich
nicht vergessen können, schon damals empfand ich diese mora-
lisierende Warnung vor der Moral als tief unredlich. Gleichviel:
Genau das habe ich getan. Und warum, das bedarf wohl, da sich,
wie man munkelt, ‚das Moralische von selbst versteht’, keiner
Rechtfertigung.“57
Die Philosophen haben Heidegger nur verschieden interpretiert;
es kommt darauf gar nicht an. Einerseits ist Anders’ Heidegger –
Heidegger anders. Doch geht Anders andererseits noch viel weiter,

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922 LUKAS MARCEL VOSICKY

als „nur“ in die Praxis zu desertieren: „Es genügt nicht, die Welt zu
verändern“, lautet das Motto zum zweiten Band der Antiquiertheit
des Menschen. „Das tun wir ohnehin. Und weitgehend geschieht
das sogar ohne unser Zutun. Wir haben diese Veränderung auch
zu interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich
die Welt nicht weiter ohne uns verändere. Und nicht schließlich in
eine Welt ohne uns.“58

Anhang
Günther Anders wird am 12. Juli 1902 in Breslau als Sohn
des Psychologenehepaars Clara und William Stern geboren, stu-
diert in den frühen zwanziger Jahren bei Husserl und Heidegger
in Freiburg i. Br., heiratet 1929 Hannah Arendt und emigriert
1933 nach Paris, 1936 weiter in die USA; im Exil jobbt er u. a.
als Fabrikarbeiter und in den Requisitenkammern von Hollywood,
obwohl er bereits mit Bertolt Brecht und den Vertretern der
Frankfurter Schule befreundet ist (so wohnt er etwa vorüberge-
hend bei Herbert Marcuse); 1945 ehelicht er die österreichische
Schriftstellerin Elisabeth Freundlich, mit der er 1950 nach Wien,
der Stadt zwischen Ost und West, geht; in der Nachkriegszeit ent-
faltet er eine reiche Publikationstätigkeit und wird zum Mitinitiator
der Anti-Atombewegung; 1956 wird der erste Band seines
Hauptwerkes Die Antiquiertheit des Menschen veröffentlicht; er ver-
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zichtet endgültig auf eine akademische Karriere und engagiert sich


in der gesellschaftlichen Praxis; in den nächsten Jahrzehnten reist
er nach Hiroshima und Nagasaki, nach Auschwitz und nach Israel;
1959 beginnt er einen Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten
Claude Eatherly und schreibt 1964 einen offenen Brief an Klaus
Eichmann über den Zusammenhang von Auschwitz und Technik;
1980 bringt er den zweiten Band der Antiquiertheit des Menschen
heraus und löst noch Mitte der achtziger Jahre eine Diskussion zur

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 923

Frage der Gewalt im Kampf gegen die atomare Rüstung aus; am


17. Dezember 1992 stirbt Günther Anders in Wien.

Endnotes
1 Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere
Zeugnisse, aus den Nachlässen hg. von Ursula Ludz; Frankfurt am Main:
Klostermann, 1998, 77. – Obwohl der Briefwechsel zwischen Hannah
Arendt und Martin Heidegger erst 1998 erschien, war dieses Zitat bereits
bekannt aus dem Skandal heischenden, selbst recht skandalösen Buch von
Elżbieta Ettinger, Hannah Arendt, Martin Heidegger. Eine Geschichte, Aus
dem Amerikanischen von Brigitte Stein; [Original: New Haven, London:
Yale University Press, 1995]; München, Zürich: Piper, 1994, 38.
2 Vor allem ist hier die umfassende Studie von Helmuth Hildebrandt zu
nennen, die allerdings schon 1990 vorgelegt worden ist: Ders., Weltzustand
Technik. Ein Vergleich der Technikphilosophien von Günther Anders und
Martin Heidegger, Berlin: Metropol, 1990. Vgl. auch ders., „Günther
Anders und die philosophische Tradition“, in: „Günther Anders“. Text +
Kritik, Heft 115 (Juli 1992), 58–63.
3 Vgl. dazu hauptsächlich: Hannah Arendt, „Martin Heidegger zum 80.
Geburtstag“, in: Merkur 10 (1969), 893–902. Dieser Aufsatz von Hannah
Arendt gewann insofern Bedeutung, als ihn Walter Biemel in seiner
Heidegger-Monographie Martin Heidegger (mit Selbstzeugnissen und
Bilddokumenten; Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1973) seitenlang zitiert
(10–16) und damit Generationen von Heidegger-Leser(innen) gleichsam
entlastend beeinflusst: „Eine zeitgenössische Stimme zum Wirken
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Heideggers sei angeführt, eine Stimme, die Gewicht hat […]“ (ebd., 10).
4 Vgl. dazu den bislang unveröffentlichten, aber zur Publikation vorgesehenen
Vortrag „Die Weltfremdheit des Menschen“ (1930) von Günther Anders;
zu den philosophischen Frühschriften, deren Edition sich in Planung be-
findet, vgl. die Fußnoten 23 und 24.
5 Günther Anders, Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur,
München: C. H. Beck, 1984, 197.
6 Das Verhältnis von Hannah Arendt und Günther Anders in Bezug auf
Martin Heidegger skizziert Dieter Thomä in seinem bemerkenswerten

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924 LUKAS MARCEL VOSICKY

Nachwort „Gegen Selbsterhitzung und Naturvergessenheit. Nachwort zur


Aktualität des Philosophen Günther Anders“, in: Günther Anders, Über
Heidegger, hg. v. Gerhard Oberschlick in Verbindung mit Werner Reimann
als Übersetzer; mit einem Nachwort von Dieter Thomä; München:
C. H. Beck, 2001, 398–433, hier: 407–419.
7 Derart charakterisiert ihn Konrad Paul Liessmann in seinem neuen
Vorwort zur Monographie Günther Anders. Philosophieren im Zeitalter der
technologischen Revolutionen, München: C. H. Beck, 2002, 7–13. (Zu den
verschiedenen Fassungen bzw. Auflagen vgl. Fußnote 12)
8 Interessanterweise wurde gerne Günther Anders’ Nachlass-Band Über
Heidegger, der 2001 in seinem Verlag C. H. Beck in München erschien,
zusammen mit der im selben Jahr veröffentlichten Aufsatzsammlung
Peter Sloterdijks Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 2001, rezensiert: z. B. von Ludger Heidbrink unter dem
Titel „Schwimmen mit dem Strom der Dinge. Günther Anders und Peter
Sloterdijk über Heidegger“, in: Neue Zürcher Zeitung (9. 10. 2001) oder
von Ludger Lütkehaus „In der Mitte sitzt das Dasein. Die Philosophen
Günther Anders und Peter Sloterdijk lesen zweierlei Heidegger“, in: Die
Zeit (Literatur 05/2002). Ludger Lütkehaus geht dabei ziemlich weit in der
Parallelisierung der beiden Denker – zu weit, wie mir scheint, wenn dann
Sloterdijk nahezu als Plagiator von Anders beschrieben wird: „Der Name
Anders wird von Sloterdijk nicht einmal genannt, obwohl häufig Formeln
von Anders anklingen.“ Dennoch sind manche Gegenüberstellungen in der
Tat überlegenswert und die diagnostizierte „wesentliche Gemeinsamkeit“
verdient zumindest Beachtung: „Hat Heidegger seine Fundamentalallergie
gegen die Anthropologie nie verhehlt, so verstehen Anders wie Sloterdijk ihr
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Projekt als Anthropologie neuen Typs: Anders als kritische Anthropologie im


Zeitalter der Technokratie, der Herrschaft der Technik; Sloterdijk mit einer
von Affirmation, manchmal sogar Euphorie getragenen, von gelegentlichen
Bedenken konterkarierten Anthropologie im unabgeschlossenen Horizont
eines machinalen und gentechnischen Selbstentwurfs.“
9 Günther Anders spricht ebenso wie in der „Einleitung“ zum ersten Band
seines Hauptwerkes Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im
Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Bd. I, München: C. H. Beck,
1956 [durch ein Vorwort erweiterte, 5. Auflage, 1980 ff.], 1–20, auch
in den „Methodologischen Nachgedanken“ des zweiten Bandes Die

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 925

Antiquiertheit des Menschen. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter


der dritten industriellen Revolution, Bd. II, München: C. H. Beck, 1980,
411–429, diese Betriebsblindheit des philosophischen Geschäfts an, wenn
er sich etwa explizit darüber mokiert, dass „es wohl kaum etwas [gibt],
was uns beschränkter machte als die ausschließliche Beschäftigung mit der
Philosophie von Kollegen […]“ (418). Doch mir geht es hier nicht um einen
billigen Seitenhieb auf das Berufsphilosophentum, sondern ganz im Sinne
von Anders um etwas Grundsätzlicheres, worauf noch bei den Ergebnissen
der Anders’schen Kritik an Heidegger und den Schlussfolgerungen für
unsere heutige Situation zum Ende meiner Ausführungen zurückzu-
kommen sein wird.
10 Eine ausführliche Anders-Bibliographie von Jan Strümpel findet sich im
Heft 115 von Text + Kritik zu „Günther Anders“, 89–101, allerdings nur bis
zum Jahre 1992.
11 Günther Anders, Über Heidegger, hg. v. Gerhard Oberschlick in Verbindung
mit Werner Reimann als Übersetzer; mit einem Nachwort von Dieter
Thomä; München: C. H. Beck, 2001.
12 Konrad Paul Liessmann veröffentlichte 2002 bei C. H. Beck in
München die Monographie Günther Anders. Philosophieren im Zeitalter
der technologischen Revolutionen – im Grunde genommen die revidierte
Fassung seiner Junius-Einführungen zu Günther Anders (Günther
Anders – Zur Einführung, Hamburg: Junius, 1988 und 21993). Nun,
Liessmann hat wenigstens zum Teil die „Kapitel allerdings an vielen Stellen
überarbeitet, neu ak zentuiert und erweitert“ (vgl. Vorwort, 13). Für unsere
Problematik bringt aber die überarbeitete Neuausgabe tatsächlich keinen
Gewinn. Bezüge auf Anders’ Nachlass-Band Über Heidegger wurden nur
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sporadisch eingeschoben. Für die von uns angezogene Periode von Anders’
Auseinandersetzung mit dem Heidegger von Sein und Zeit, d. h. in der
Zeit seines Pariser und amerikanischen Exils, vgl. die Seiten 23 f., 42 und
44 f., wo Liessmann eigentlich bloß die beiden bereits zuvor – wenn auch
entlegen – zugänglichen Aufsätze „Nihilismus und Existenz“ (1946), in:
Günther Anders, Über Heidegger, 39–71, und „Die Schein-Konkretheit
von Heideggers Philosophie“ (1948), in: Günther Anders, Über Heidegger,
72–115, zitiert. (vgl. Fußnote 30) – Ludger Lütkehaus macht es sich
noch leichter. 1992 erschien bei Fischer in Frankfurt am Main sein Buch
Philosophieren nach Hiroshima. Über Günther Anders. Er brachte es im

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926 LUKAS MARCEL VOSICKY

Jubiläumsjahr 2002 unter dem Titel Schwarze Ontologie. Über Günther


Anders im Faksimile (!) in Lüneburg bei zu Klampen neu heraus, immerhin
doch, aber ver wirrend genug als 2. Auflage gekennzeichnet. Dem Ganzen
fügte er ein feuilletonistisches „Vorwort zur Neuausgabe“ hinzu (VII–IX).
Bei C. H. Beck in München stellte er für das Gedenkjahr 2002 die Anders-
Anthologie Übertreibungen in Richtung Wahrheit. Stenogramme, Glossen,
Aphorismen zusammen, die er ebenfalls mit einem eigenen Vorwort versah
(7–12). – Günther Anders erhielt zu seinem hundertsten Geburtstag
und zehnten Todestag also Überarbeitungen und Vorworte. (Grundton:
Anders sei mitnichten „antiquiert“ – in Anspielung auf Anders’ Hauptwerk
Die Antiquiertheit des Menschen.) Die so genannte Sekundärliteratur
bot demnach bloß einen lauwarmen Aufguss ihrer selbst. Dabei ist
auffällig, dass sich offenbar gerade jene prominent mit dem Technik- und
Medienphilosophen Günther Anders auseinandersetzen, die – wie Anders
selbst – vom Wissenschaftsbetrieb in den Medienbereich wechseln und
daraus einen Gutteil ihres Erfolges lukrieren.
13 Vgl. Fritz J. Raddatz, „Brecht konnte mich nicht riechen. Ein ›Zeit‹-Gespräch
mit Günther Anders“, in: Die Zeit (22. 3. 1985), 65, wiederabgedruckt in:
ZEIT-Gespräche, 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, 9–30, und
auch in Günther Anders antwortet. Interviews und Erklärungen, hg. v. Elke
Schubert, mit einem einleitenden Essay von Hans-Martin Lohmann;
Berlin: Edition Tiamat, 1987, 97–113. Günther Anders legte 1924
als Günther Stern in Freiburg i. Br. seine Dissertation Die Rolle der
Situationskategorie bei den ‚Logischen Sätzen‘. Erster Teil einer Untersuchung
über die Rolle der Situationskategorie vor. In überarbeiteter Form findet sich
Anders’ Doktorarbeit in seinem 1928 erschienenen Buch Über das Haben.
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Sieben Kapitel zur Ontologie der Erkenntnis, Bonn: Cohen, 1928, wo er


allerdings schon die Bezüge auf Heidegger und die Faktizität des Daseins
abschwächte. (Vgl. dazu Helmuth Hildebrandt, „Günther Anders und die
philosophische Tradition“, 62.)
14 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 161986, 117.
15 Günther Anders, Über Heidegger, 80: Heidegger gebe sich nur den Anschein,
„konkret“ und „pragmatisch“ zu sein, er sei vielmehr „ganz altertümlich“,
in einer „sozusagen maschinenstürmerischen Haltung“, „denn seine ganzen
Beispiele stammen aus der ländlichen Schusterwerkstatt“.

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 927

16 Eine ausführliche psychographische Untersuchung legte dazu Detlef


Clemens mit Günther Anders. Eine Studie über die Ursprünge seiner
Philosophie, Frankfurt am Main: Haag und Herchen, 1996, vor, die jedoch
in ihrem interpretatorischen Ansatz problematisch ist, wenn ihr allerdings
auch das Verdienst zukommt, das gesamte Umfeld der „Objektwerdung“
des Kindes Günther Stern durch die psychologischen Arbeiten seiner
Eltern darzustellen. – Die von Anders selbst kolportierte Version seiner
Namensänderung, er sei vom Feuilletonchef des „Börsen-Couriers“
Herbert Ihering aufgefordert worden, dass nicht die Hälfte des Feuilletons
unter dem Namen „Stern“ erscheinen könne, worauf er erwidert habe, ihn
doch einfach anders zu nennen, was Ihering dann wort wörtlich genommen
hätte, ist ins Reich der Anekdoten zu verweisen, weil allein schon ein Blick
auf die Bibliographie zeigt, dass Anders gar nicht so viele Feuilletonartikel
geschrieben hat. Allerdings hat sie – wie Anekdoten bei Anders überhaupt
– für unsere Interpretation eine Bedeutung, denn Anders fügt der Pointe
abschließend hinzu: „Seit diesem Tag habe ich alle nichtphilosophischen
Texte, wie Gedichte und Stories, mit dem Namen Anders gezeichnet.“
(Günther Anders antwortet, 30; Herv. LMV)
17 Vgl. Elke Schubert, Günther Anders, mit Selbstzeugnissen und
Bilddokumenten; Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992, 20.
18 Vgl. Konrad Paul Liessmann, Günther Anders, 19.
19 Vgl. Konrad Paul Liessmann, Günther Anders, 20, und Elke Schubert,
Günther Anders, 27 f.
20 Vgl. Elke Schubert, Günther Anders, 25. – Günther Anders und Hannah
Arendt kannten sich demnach bereits vier Jahre, ehe sie dann in Berlin
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zusammenzuleben begannen und schließlich zu heiraten beschlossen, um


sich nicht in Hinblick auf die von Anders angestrebte Dozentur vor den
konservativeren Kreisen in Frankfurt zu kompromittieren.
21 Günther Anders, Die molussische Katakombe. Roman, München:
C. H. Beck, 1992. – Wer Günther Anders’ Schrifttum kennt, weiß, wie
oft und verstörend dieses fiktive „Mollusien“ parabelhaft durch sein Werk
geistert. Die Leser(innen) zu Lebzeiten konnten es sich nicht erklären und
verstanden es wohl als hinterlistigen Spaß von einem Autor, dem sie jedes
postmoderne Spielchen zutrauen mussten.

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928 LUKAS MARCEL VOSICKY

22 Vgl. dazu auch Dieter Thomä, „Gegen Selbsterhitzung und


Naturvergessenheit. Nachwort zur Aktualität des Philosophen Günther
Anders“, 416. – Einen Zusammenhang von Anders’ Namensänderung,
die doch schon Gegenstand so vieler Spekulationen war, mit seiner
„Entfernung von Philosophie überhaupt“ (ebd.) hat meines Wissens
noch niemand gesehen, was wirklich erstaunen muss. Wahrscheinlich
liegt es daran, dass professionelle Philosophen, die sich mit Anders
beschäftigten, stets darum bemüht waren, Günther Anders allererst
wieder für die akademische Disziplin der Philosophie zurück zu gewinnen.
Interessanterweise ist es gerade Konrad Paul Liessmann, der dies zum
Teil bewerkstelligt hat, wenn er auch in seinem Vorwort „Der störrische
Philosoph“ zur Anders-Monographie (ders., Günther Anders, vgl. Fußnote
7) abwehrt: „Historisierung und Akademisierung wären allerdings das
letzte gewesen, was sich Anders für sein Werk erwartet hätte.“ (7) Oder:
„Diese Exterritoria lität verdankte sich allerdings in hohem Maße einem
Begriff von Philosophie, der ganz bewusst unakademisch sein wollte.“
(9) Und: „Zwischen der Skylla des esoterischen akademischen Jargons
und der Charybdis populärer Verflachung suchte er nach einem Stil,
einer Terminologie und einer Ausdrucksweise, die es ihm gestattete, die
Probleme, um die es ihm ging, präzise, aber verständlich zu formulieren.“
(10 f.) Schließlich zitiert dann Liessmann, der sich wohl unbewusst in dieses
Bild von Anders selbst einzuschreiben versucht, ausführlich Anders: „Ich
befinde mich in der Schusslinie der Kritik beider Fronten: Zwischen dem
Feuer der Menschen, die nicht Philosophen, und dem der Philosophen,
die in gewissen Sinne nicht mehr ‚Menschen‘ sind. Die Einen schießen
auf mich, wenn die Problemstellung unglaubwürdig klingt; die Anderen,
wenn ich den Präzisionsmaßstäben, die sie in ihrer esoterischen Arbeit
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ausgebildet haben, nicht entspreche. Zwischen diesen beiden Linien stehe


ich also, von beiden treff bar. – Ob das wohl als Chance formuliert werden
darf? Also bedeuten könnte, beide Linien kann auch ich treffen?“ (Günther
Anders, Über philosophische Diktion und das Problem der Popularisierung,
Göttingen: Wallstein, 1992, 20, zit. n. Konrad Paul Liessmann, Günther
Anders, 11). Im Übrigen lehnte Günther Anders 1992 auch die Verleihung
des Ehrendoktorats der Universität Wien ab.
23 Günther Anders „Une Interprétation de l’A posteriori“, in: Recherches
philosophiques IV (Paris, 1934–35), 65–80, und „Pathologie de la Liberté.
Essais sur la non-identification“, in: Recherches philosophiques VI (Paris,

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 929

1936–37), 22–54; diese beiden frühen französischen Aufsätze sollen


(ins Deutsche rückübersetzt) gemeinsam mit dem dann erstmals zur
Veröffentlichung gelangenden Vortrag „Die Weltfremdheit des Menschen“
(1930) ebenfalls in die geplante Ausgabe der Anders’schen Philosophischen
Frühschriften aufgenommen werden. – Eine Analyse von Anders’
Frühphilosophie unternimmt Werner Reimann, Verweigerte Versöhnung.
Zur Philosophie von Günther Anders, Wien: Passagen, 1990, 20 ff.; eine
Darstellung findet sich in den Anders-Monographien von Konrad Paul
Liessmann im Kapitel „Von der Weltfremdheit des Menschen“, Günther
Anders, 30–52, und im Kapitel „Exil in Frankreich/Pathologie de la
Liberté“ von Elke Schubert, Günther Anders, 30–35.
24 Liessmann, Günther Anders, 30–52. – Das Kapitel „Von der Weltfremdheit
des Menschen“ stellt freilich eine Interpretation der Frühphilosophie dar, die
sie sich wohlgemerkt an den Vortrag „Die Weltfremdheit des Menschen“
(1930) hält. Solange dieser Vortrag und die beiden erwähnten Frühschriften
„Pathologie de la Liberté“ und „Une Interprétation de l’A posteriori“
nicht neu editiert sind, bleibt leider nicht mehr als die Reliabilität der
liessmannschen Darstellung. Vgl. dazu auch Liessmanns erste Anmerkung
zu diesem seinem Kapitel: „Der Vortrag ‚Die Weltfremdheit des Menschen‘
(1930), dessen Typoskript im Nachlass von Anders gefunden wurde, deckt
sich allerdings nur im ersten Teil mit den französischen Aufsätzen, zu
denen offensichtlich noch eine andere deutsche Fassung existierte. Wo es
möglich ist, zitieren wir deshalb aus dem unveröffentlichten Vortragstypo-
skript, ansonsten aus der Rückübersetzung der französischen Fassung,
die Werner Reimann für die projektierte Ausgabe der ‚Philosophischen
Frühschriften‘ von Günther Anders angefertigt hat.“ (Liessmann, Günther
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Anders, 195). – Eine Verwirrung ergibt sich allerdings durch die offenbar
nicht aufeinander abgestimmten (Neu-)Auflagen von Liessmanns Anders-
Monographie, wenn von „zwei Vorträgen über die Weltfremdheit des
Menschen“ aus den Jahren 1929/30 im Buchtext die Rede ist (ebd., 30).
Vgl. dazu Liessmanns Junius-Einführungen zu Günther Anders, Günther
Anders – Zur Einführung, Hamburg: Junius, 1988 und 21993. Zu den
verschiedenen Editionen vgl. auch Fußnote 12.
25 Eine Erläuterung von Anders’ Frühphilosophie macht zum Großteil auch
Konrad Paul Liessmanns Artikel „Wer zu früh kommt“ im Spectrum, der

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930 LUKAS MARCEL VOSICKY

Feuilletonbeilage der österreichischen Tageszeitung Die Presse, vom 6./7.


Juli 2002 aus (III–IV).
26 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im
Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Bd. I, München: C. H. Beck,
1956; durch ein Vorwort erweiterte, 5. Auflage, 1980 ff.; ders., Die Anti-
quiertheit des Menschen. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der
dritten industriellen Revolution, Bd. II, München: C. H. Beck, 1980 ff.
27 Günther Anders, Ketzereien, München: C. H. Beck, 1982 ff.
28 Günther Anders, Kosmologische Humoreske. Erzählungen, Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 1978.
29 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, 1956, 8.
30 Günther Anders, „Nihilismus und Existenz“, in: Die Neue Rundschau, Heft
V (Stockholm, Oktober 1946), 48–76; Nachdruck in: Die Stockholmer
Neue Rundschau, (Auswahl, Berlin und Frankfurt am Main, 1949), 96–
124; jetzt in: Günther Anders, Über Heidegger, 39–71. – Guenther Stern
(Anders), „On the Pseudo-Concreteness of Heidegger’s Philosophy“, in:
Philosophy and Phenomenological Research, Vol. III, No. 3 (Buffalo, New
York, March 1948), 337–371; jetzt unter dem übersetzten Titel „Die
Schein-Konkretheit von Heideggers Philosophie“ in: Günther Anders, Über
Heidegger, 72–115. Letzterer Aufsatz wurde nach Angabe des Herausgebers
des Nachlass-Bandes Über Heidegger zuerst von Werner Reimann ins
Deutsche rückübersetzt, ehe „im Spätsommer 1993 bei einem Hamburger
Antiquar ein bis dahin verschollener Teilnachlass auf[tauchte], darin das
teilweise getippte, heftig überarbeitete Manuskript einer fast fertigen
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deutschsprachigen Originalfassung“. Gerhard Oberschlick berichtet im


Weiteren, dass „diese Werner Reimann sonach in die eigene Übersetzung
so weit [übernahm], dass er – Bewunderung für seine kongeniale Mühe!
– wieder einen fast originalsprachlichen Text von Anders geliefert hat“.
(Vgl. Gerhard Oberschlick, „Editorische Notiz“, in: Günther Anders,
Über Heidegger, 395–397. 395) Wenn auch in der Folge jene Abhandlung
von Anders nach dem Nachlass-Band zitiert wird, so verwende ich im
Text doch stets den englischsprachigen Titel, da für mich der Ausdruck
„Pseudo-Concreteness“ einprägsamer ist und mir seine Übersetzung mit
„Schein-Konkretheit“ nicht original so gedacht erscheint.

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 931

31 Günther Anders, Über Heidegger, 12–25. Der Seitennachweis der Zitate


erfolgt in Klammern im Text, insofern er sich auf den Nachlass-Band
bezieht.
32 Günther Anders, Über Heidegger, „Wesen und Eigentlichkeit, namentlich
bei Heidegger“, 32–38.
33 Vgl. Elke Schubert, Günther Anders, 60: „Ein von Ernst Bloch
vorgeschlagenes Ordinariat an der Universität Halle lehnte er ab, weil
sich seine Philosophie nach eigener Aussage gegen den gegenwärtigen
Universitätsbetrieb sperrte.“
34 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, 1956, 18.
35 Vgl. Günther Anders, Über Heidegger, 82: „Als Husserl den ‚Hunger‘ nicht
thematisierte, hatte er in seinem bewusst eingegrenzten Forschungsbereich
recht. Heidegger hat es nicht, denn seine ganze Kritik der Philosophie
kreist um dieses Problem. Husserl stand außerhalb desselben. Heidegger
unterschlägt es, obwohl er sich ständig in dessen Nachbarschaft bewegt,
und lässt dadurch sein ganzes Gebäude ohne Fundament sein […]“
36 Günther Anders, Über Heidegger, 255 f.
37 Dieter Thomä berichtet davon in seinem Nachwort „Gegen Selbsterhitzung
und Naturvergessenheit“, 419 f. Er beruft sich dabei auf Hans Blumenberg,
Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000,
63 f., und rekurriert auf Emmanuel Lévinas’, Le Temps et l’Autre [1948],
Paris, 1983, 45.
38 Günther Anders, Über Heidegger, 167: „Aber dass in einer Philosophie,
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die diese Themengrenze [einer reinen Bewusstseinsphilosophie; LMV]


pathetisch zu durchbrechen vorgibt, und die das Bewusstsein durch das
Dasein ersetzt, dieses Dasein leiblos herumläuft, ist ein Beweis für die
falsche Konkretheit des ganzen Ansatzes.“ – Unter dem Titel „Leiblos
umherlaufen. Günther Anders’ kritische Auseinandersetzung mit seinem
Lehrer Heidegger“ erschien in der Frankfurter Rundschau am 13. 4. 2002
die Buchbesprechung von Günther Anders’ Nachlass-Band zu Heidegger
von Rahel Jaeggi.
39 Vgl. Günther Anders, Über Heidegger, 237.

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932 LUKAS MARCEL VOSICKY

40 Im Aufsatz „On the Pseudo-Concreteness of Heidegger’s Philosophy“


(1948) unternimmt Anders den Gedankengang allgemeiner und hebt ihn
nicht nur von der Daseinsanalytik ab, sondern bemängelt vielmehr, dass
das „gegenseitige Fundierungsverhältnis“ von „Sein“ und „Zeit“ „fast das
ganze Buch hindurch undurchsichtig bleibt“ („Die Schein-Konkretheit
von Heideggers Philosophie“, in: Günther Anders, Über Heidegger, 84).
41 Dieter Thomä weist völlig zu Recht in seinem Nachwort „Gegen
Selbsterhitzung und Naturvergessenheit“, 398–433, für die heutigen Leser
des Nachlass-Bandes darauf hin, dass gerade Anders, der sich (in seiner
Philosophie) so radikal als Zeitgenosse sah, immer auf seine Aktualität
befragt werden muss. Für Thomä greift er „auf überraschende Weise in
aktuelle Debatten“ (424) ein. „Die kontextualistische Heidegger-Deutung
kann sich gegen manche, eher improvisierte Seitenhiebe, die Anders gegen
Heidegger austeilt, gut behaupten“, gesteht Thomä ein. „Doch man sollte
dessen Einwände nicht zu schnell abtun; es handelt sich bei ihnen nicht nur
um eine äußerliche Ideologiekritik, die ein paar Reizvokabeln tritt und den
Kern von Heideggers Denken unversehrt lässt.“ (423) Doch vor allem geht
es wohl letztlich nicht darum, ob Anders Heidegger richtig getroffen hat –
ob man es jetzt so sieht, wie ein Jäger seine Beute erlegt, oder ob man lieber
das Bild vom Karikaturisten ver wendet, der sein „Opfer“ zur Kenntlichkeit
entstellt. Wichtig ist, dass Anders’ anderer Heidegger Aktualität für heutige
Zeitfragen bewahrt hat.
42 Dieser Hinweis findet sich im zweiten Band der Antiquiertheit des Menschen,
Bd. II, 1980, 465 [Anm. 6]. Im selben Jahr 1956 kommt allerdings der
erste Band seines Hauptwerkes heraus. Ob allen diesen Ablehnungen von
Berufungen an Universitäten Glauben zu schenken ist, lässt sich schwer
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beurteilen. Die Monographien von Liessmann und Schubert erwähnen


sie in ihren Lebenstafeln und in den biographischen Darstellungen jeweils
nur zum Teil, diese Angabe über die Ablehnung einer Berufung an die
FU-Berlin im Jahre 1956 gar nicht. Damit bleibt als einzige Lehrtätigkeit
von Anders die Zeit in New York vor seiner Rückkehr nach Europa, wo
er an der New School for Social Research Ästhetik unterrichtete. In den
biographischen Tabellen gibt Elke Schubert, Günther Anders, 144, einen
Zeitraum zwischen 1947 und 1949 an, Liessmann, Günther Anders, 201,
die Jahre 1949/50. Welche Daten auch immer nun der Wirklichkeit
entsprechen, eines wird jedenfalls klar: Die von mir behandelten Texte

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 933

zu Heidegger markieren das Ende der (im engeren Sinne) akademischen


Veröffentlichungen und rechtfertigen die Fokussierung auf jene Zeit (mit
der Rückschau auf die Genese der Überlegungen zu Heidegger in der
Zwischenkriegszeit im Pariser Exil, wo Anders auch öffentlich akademisch
Stellung genommen hat und so eine Wirkung auf die spätere französische
Existenzphilosophie entfalten konnte, die – obwohl sie sich engagierte –
dennoch stets auch ein akademisches Standbein hatte, ohne welches die
Protestbewegung von 1968 nicht als eine studentische entstehen hätte
können). Dass Anders ein Konvolut an Aufzeichnungen über Heidegger
auch noch nach 1950 ansammelte, die jetzt im Nachlass-Band vorliegen,
soweit sie aufgefunden werden konnten (vgl. dazu die editorische Notiz
von Gerhard Oberschlick, wo er vorsichtig von „allen bisher bekannten
Nachlass-Schriften der ‚Auseinandersetzung mit Heidegger‘“ spricht, in:
Günther Anders, Über Heidegger, 395; vgl. dazu auch Fußnote 30), hat
eine sonderbare Parallele in Heideggers anfänglichem Wegbegleiter Karl
Jaspers, der sich bekanntlich an Heidegger in ähnlicher Weise abarbeitete
und ein geplantes Buch zu Heidegger zu Lebzeiten nie veröffentlicht hat, so
dass seine Notizen zu Martin Heidegger gleichfalls (erst) als Nachlass-Band
publiziert wurden (hg. v. Hans Saner, München: Piper, 1978). Zu dieser
Parallele Anders–Jaspers vgl. auch Dieter Thomä in seinem Nachwort
„Gegen Selbsterhitzung und Naturvergessenheit“, 417.
43 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, 1956, 8.
44 Robert Musil verschränkt im Kapitel 83 „Seinesgleichen geschieht oder
warum erfindet man nicht Geschichte?“ seines Romans Der Mann ohne
Eigenschaften, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978, 357–362,
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die Darstellung in Abschweifungen und das Thema der Geschichte als


Geschichte der Abschweifungen („Das Gesetz der Weltgeschichte […]
ist nichts anderes als der Staatsgrundsatz des ‚Fortwurstelns‘ im alten
Kakanien.“, 361). Zur Philosophie der Abschweifung und dem Einwand
der Metaphysiker dagegen, vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des
Menschen, Bd. I, 1956, 9 ff.
45 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, 1956, 12.
46 Ebd., 13.
47 Ebd., 14.

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934 LUKAS MARCEL VOSICKY

48 Günther Anders, Philosophische Stenogramme, München: C. H. Beck,


1965, Neuausgabe 1993, 141 f. Unter diesem Titel brachte im Übrigen
Ludger Lütkehaus 2002 bei C. H. Beck in München eine Günther-Anders-
Anthologie heraus.
49 Vgl. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, 1956, 15 f.
50 Peter Sloterdijk knüpft in seinem Aufsatz „Kränkung durch Maschinen“
ganz offensichtlich an Günther Anders an, ohne ihn jedoch explizit zu
nennen. Er bezweifelt aber heute das einstige Anders’sche Diktum von
der „prometheischen Scham“ und führt es im Gegenteil weiter: „Die
Möglichkeiten des zeitgenössischen Menschen, sich durch die Gleichung
mit Maschinen beleidigt zu fühlen, verringern sich angesichts der neueren
Technologie immer weiter. […] Sofern diese Entwicklung [einer Konvergenz
zwischen dem Humanen und dem Maschinellen; LMV] sich bestätigt, so
müsste die humanistische Beleidigungsklage gegen die Maschine eines Tages
zum Freispruch wegen erwiesener Abwesenheit einer Kränkungsabsicht
gegenüber dem Menschen führen.“ (Peter Sloterdijk, „Kränkung durch
Maschinen. Zur Epochenbedeutung der neuesten Medizintechnologie“,
in: ders., Nicht gerettet, 338–366. 354) Daran schließt dann sein Gedanke
der Prothetik an, in dessen Zusammenhang auch die skandalumwitterte
Elmauer Rede gesehen werden muss: „Die Prothetik mochte wohl als
Einbau oder Anbau von Fremdkörpern an den Eigenkörper beginnen, aber
sie verwirklicht sich erst, wo sie Erweiterungskörper schafft, die den alten
Körper nicht nur reparieren, sondern steigern und verklären.“ (Ebd., 360)
Die Elmauer Rede „Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu
Heideggers Brief über den Humanismus“, in: ders., Nicht gerettet, 302–337,
wurde von Sloterdijk im Übrigen bewusst im selben Band dem genannten
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Aufsatz vorangestellt. Zur editorischen Platzierung vgl. ebd., 10.


51 Auch Dieter Thomä verweist in seinem Nachwort „Gegen Selbsterhitzung
und Naturvergessenheit“ auf „zwei Bewegungen“ hin: „eine Entfernung
von Heideggers Philosophie und eine Entfernung von Philosophie über-
haupt, ein ‚philosophisches Verstummen‘.“ (416). Vgl. auch Fußnote 22.
Doch Thomä holt Anders sozusagen wieder in die Philosophie zurück,
was auch Anders im zweiten Band der Antiquiertheit des Menschen meint,
wenn er „in die philosophische Theorie ‚zurückdesertiert‘ sei“ (Bd. II, 1980,
13). Dabei lässt sich jedoch in meinen Augen Anders nicht in die heutige
Gestalt der Schulphilosophie, wie sie an den Universitäten beheimatet ist,

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ANDERS’ HEIDEGGER  HEIDEGGER ANDERS 935

integrieren. Für seine „Philosophie“ müssen neue Orte der denkerischen


Auseinandersetzung geschaffen werden. Ich bezweifle nicht, dass sie bereits
im Entstehen sind. Doch es sind sicherlich nicht die „philosophischen
Fakultäten“, die „über Philosophie philosophieren“, wie Günther Anders in
den „methodologischen Nachgedanken“ im zweiten Band der Antiquiertheit
des Menschen bemerkt (ebd., 418). Sie, die „auch die Existenz von Philoso-
phie für unbezweifelbar halten“, übersehen völlig, dass sich die Philosophie
längst schon in andere Bereiche zurückgezogen hat. Kurz: Anders kommt
für die „Berufsphilosophen“, wie er sie nennt, in der Tat „zu früh“ (ebd., 13).
Weil sie selbst „zu spät“ kommen.
52 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. II, 1980, 414 ff.
53 Ebd., 414.
54 Ebd., 417.
55 Günther Anders, Ketzereien, 226.
56 Karl Jaspers erzählt in Philosophische Autobiographie, erweiterte Neuausgabe;
München: Piper, 1977, 100: „Ende März 1933 war Heidegger zum letzten Mal
zu einem längeren Besuch bei uns. Trotz des in den Märzwahlen siegreichen
Nationalsozialismus unterhielten wir uns wie früher. Er kaufte mir eine
Platte mit Gregorianischer Kirchenmusik, die wir uns anhörten. Schneller
als ursprünglich geplant reiste Heidegger ab. ‚Man muss sich einschalten‘,
sagte er angesichts der schnellen Entwicklung der nationalsozialistischen
Realität. Ich wunderte mich und fragte nicht.“
57 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. II, 1980, 12 f.
58 Ebd.
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