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Die Lykische Ni Mahanahi Griechisch Luw
Die Lykische Ni Mahanahi Griechisch Luw
I N T E R N A T I O N A L J O U R N A L O F A N CI E N T M E D I T ER R A N EA N S T U D I ES
VOLUME 6 • 2020
EDITORS
MUSTAFA ADAK
RIET VAN BREMEN
THOMAS CORSTEN
KORAY KONUK
KONRAD STAUNER
BURAK TAKMER
kım ÖZD
Bandrol Uygulamasına İlişkin Usul ve Esaslar Hakkında Yönetmeliğin 5. maddesinin 2. fıkrası çerçevesinde bandrol taşıması zorunlu değildir.
P H I L I A
INTERNATIONAL JOURNAL OF ANCIENT MEDITERRANEAN STUDIES
VOLUME VI • 2020
EDITORS
Mustafa ADAK
Riet VAN BREMEN
Thomas CORSTEN
Koray KONUK
Konrad STAUNER
Burak TAKMER
P H I L I A is a peer-reviewed journal published once a year. The journal is independent from any
institution, and is owned collectively by the editorial board.
Philia is indexed in L’Année philologique and SOBIAD.
For submission guidelines, please visit philiajournal.com
ISSN 2149-505X
Table of Contents
Doi: 10.36991/PHILIA.202013 Philia 6 (2020) 169–179
Diether SCHÜRR
ZUSAMMENFASSUNG: Die lykische Bezeichnung ẽni mahanahi hat keinen bronzezeitlichen lu-
wischen Vorläufer, wie häufig angenommen wird: Das beruht auf einem Mißverständnis. Auch
zu der altphrygischen, matar (kubileya) genannten Göttin, die später zur griechischen Kybele
und römischen Magna Mater wurde, besteht keine Beziehung, und die Rede von einer ‚anatoli-
schen‘ Muttergöttin ist schon deswegen haltlos, weil Anatolien oder Kleinasien nie eine sprach-
liche und kulturelle Einheit war. Theoretisch könnte ẽni mahanahi das griechische μήτηρ ϑεῶν,
‚Mutter der Götter‘, übersetzen, aber wenn in einer Inschrift von Tlos nach Trqqas, dem lyki-
schen Wettergott, ẽni maha]nahi zu ergänzen ist, dann ist die Gleichsetzung mit der griechischen
Göttin Leto doch wahrscheinlich. Diese dürfte in Lykien zuerst in den griechischen Inschriften
des Dynasten Erbbina um 400 v. Chr. belegt sein, aber schon deutlich früher importiert worden
sein.
SCHLÜSSELWÖRTER: Lykische Sprache und Geschichte, griechische Götter in Lykien,
phrygische Muttergöttin, ‚anatolische‘ Muttergöttin.
I
In der Fluchformel der Grabinschrift TL 134 in Limyra erscheint als Strafinstanz ẽni mahanahi.1 Laroche
1957–58, 190 übersetzte das mit «mère du /des dieu(x)» und sah darin «la Lètô lycienne, mère d’Apol-
lon». Das ist freilich nur eine Annahme, wenn auch die griechische Göttin Leto in Lykien tatsächlich als
‚Mutter‘ bezeichnet wurde: ẽni qlahi ebijehi entspricht in der Fluchformel der bilinguen Grabinschrift TL
56 in Antiphellos Λητώ. Und in der Trilingue vom Letoon bei Xanthos (N 320, s. Metzger et al. 1974)
haben wir 337 v. Chr.:
a, 38f. ẽni: qlahi: ebijehi Pñtrẽñni: se-tideime: ehbije: (Dat.),
b, 34 Λητοῦς καὶ ἐγγόνων (Gen.),
c, 24f. L’TW ’RTMWŠ ḤŠTRPTY
Wie man sieht, haben in der lykischen Version weder Mutter noch Kinder Namen, in der griechischen
nur die Mutter und in der aramäischen alle drei, wobei bei der Mutter der griechische Name gewählt
wurde, bei Artemis die lydische Namenform Artimus und bei Apollon eine iranische Bezeichnung, etwa
‚Reichsschützer‘ (vergleiche Satrap). Viel früher, um 400 v. Chr., erscheint auf der Basis der Erbbina-
Statue im Letoon in A (Symmachos-Poem, Bousquet 1992, 156, Z. 9f.) die Widmung:
Diether Schürr, Katharina-Belgica-Str. 22b, D–63450 Hanau, und Birinci Sokak no. 65, Yağmur apart. no. 6, Kaş-
Andifli, TR–7580 (diether.schuerr@freenet.de | ORCID: 0000-0001-7277-0053).
1 In Christiansen 2019a, 255 revidierte Lesung. Recai Tekoğlu erkennt nun in der Felsgrabinschrift von Sazak (N
349 bei Christiansen 2019b, 69) Z. 6 mahanahi und rekonstruiert plausibel eine Fluchformel (in Westlykien unge-
wöhnlich) mit ẽni] davor (Onur – Tekoğlu 2020, 23).
170 Diether Schürr
2Vergleiche [tukedri? ebẽ]ñnẽ: m’-ẽne hri-tubedẽ N 324, 12f. auf der gleichen Basis (Bousquet 1992, 181ff.) und
zur Annahme von Epu[lẽn- die Gleichung Pulenjda = Ἀπολλωνίδης in TL 6.
Die lykische ẽni mahanahi: griechisch, luwisch oder ‚anatolisch‘? 171
eine nichtgriechische Göttermutter, die dann mit der griechischen gleichgesetzt worden wäre.3 206/5 v.
Chr. behaupteten die Xanthier in einem Volksbeschluß sogar, Leto, «die Gründerin unserer Stadt», hätte
«Artemis und Apollon bei uns geboren», was mit Nollé 2005, 89 sicher so zu verstehen ist, daß die Geburt
im Stadtgebiet verortet wurde.
Außer im Letoon selbst4 und in Antiphellos taucht ẽni: qla[hi] ebijehi TL 94 in Myra auf, wo das Ethnikon
Pñtreñnehi auf das Heiligtum selbst bezogen ist, aber die meisten Belege finden sich in dem am weitesten
vom Letoon entfernten Ort, in Limyra TL 102, 110–112, 131 und 145, mit (TL 102, 112) und ohne das
Ethnikon, dazu einmal auch nur qlajebi: Pñtreñni (TL 109). Etwa zeitgleich ist da auch Leto belegt: eben-
falls in der Fluchformel einer Grabinschrift (Wörrle 2012, 412 H II 2) und in der Inschrift eines Apollon
geweihten Altars, der auf den Dynasten Perikle wie ein Zeus geweihter Altar zurückgehen wird (Mark-
steiner– Wörrle 2007). Es ist also gut möglich, daß ẽni mahanahi auch eine Bezeichnung der Leto ist.
Allerdings wird in der Inschrift des Zeus-Altars dieser als «Kind von Kronos und Rhea» vorgeführt, und
ẽni mahanahi könnte eine Übersetzung von μήτηρ ϑεῶν sein, wie Rhea genannt wurde. Aber die mythen-
kundige Angabe auf dem Altar spricht sicher nicht für eine Verehrung dieser Göttin in Lykien, die da
sonst nirgendwo belegt ist.
Wenn die ẽni mahanahi also wie die ẽni qlahi ebijehi mit Leto gleichzusetzen ist, dann wäre damit die
Mutter von nur zwei Göttern, Apollon und Artemis, gemeint, womit diese Bezeichnung nicht griechischen
Ursprungs wäre. Es gibt sonst nur zwei Belege für das Possessivum mahanahe/i-: In der Inschrift TL 22
links vom Bellerophontesgrab (aber nicht zu ihm gehörig) ist Hriχttbili als mahanahi·uwehi bezeichnet –
kaum als «von göttlichem Geschlecht» (Neumann 2007, 191), sondern wohl als ein Priester, den diese
Bezeichnung eher einer unbestimmten Zahl von Göttern als einem einzigen zuordnen dürfte. Auf dem
Agora-Pfeiler in Xanthos ist in TL 44a, 12 nach der Einfügung eines neuen Fragments durch Laroche
1974, 144 mahanaha belegt, zu dem m. E. als Bezugswort mara zu ergänzen sein dürfte: «welche (strikt)
einhalten die göttlichen [Gebote]» (Schürr 2007, 31). Auch das dürfte sich auf eine unbestimmte Anzahl
von Göttern beziehen. Direkt vergleichbar wäre eine Benennung der Leto als ẽni mahanahi also nicht.
Vermutlich läßt sich diese Bezeichnung mit Carruba 1980, 280 aber auch in einer Inschrift von Tlos
ergänzen: Tl 26, 7 erscheint in m’-ẽne: Trqqas:[ der Wettergott, und Z. 8 folgt nach der Lücke nahi. Da
Zeile 7 nicht mehr als 16 Zeichen fehlen müssen, läßt sich das als Fluchformel mit [tubidi5: se-j-ẽni:
maha]nahi ergänzen:
«dann soll ihn/sie (Pl.) der Wettergott [schlagen und die Mutter] der [Götter]».
Da wäre dann die Göttermutter mit dem Wettergott gepaart, und an vierter Stelle, nach dem Heiligtum
(in) Putu, dürfte nach den Parallelstellen Z. 3 und 17 Iprehi folgen, was m. E. eine Benennung Apollons
sein dürfte, dem die beiden Statuenbasen mit TL 25 geweiht sind, die zusammen mit TL 26 im Theater
von Tlos verbaut worden waren. Danach ließe sich in der Lücke noch Ertemi ergänzen und ebenso in Z.
3 und 17 (Schürr 2006, 122ff.):
Z. 3 se-qla’bi: Putu: se-Iprehi: s[e-j-Ertemi
Z. 8 se-qla-j-ebi: Putu: se-[Iprehi: se-j-Ertemi]
Z. 16f. kbisñ]ni: qla’bi: Putu: kbisñn’: Iprehi: kbi[sñn’: Ertemi]
Demnach wäre hier, wenn tatsächlich ẽni mahanahi zu ergänzen ist, die Identifizierung mit Leto so gut
wie sicher.
3 Schürr 2016a, 770 hat erwogen, daß Leto mit der ursprünglich syrischen Götting Hebat, im Piχre-Poem von An-
tiphellos (TL 55, 4) vielleicht Xaba und Xba, gleichgesetzt worden sein könnte, aber das ist nicht mehr als eine
Möglichkeit, und notwendig ist die Annahme, daß sich hinter Leto in Lykien eine einheimische Göttin verbirgt,
durchaus nicht.
4 Erwähnenswert ist, daß im Letoon auch Pñ]trẽñni in dem Fragment N 327 (Bousquet 1992, 194) belegt ist, weil
das weder bei Melchert 2004 noch bei Neumann 2007 gebucht ist.
5 Sicher nicht die Pluralform tubeiti, wie Carruba angenommen hatte.
172 Diether Schürr
II
Oettinger 2015 will in Leto, Artemis und Apollon oder wenigstens in Leto aus einer nicht-indogermani-
schen Sprache Westkleinasiens übernommene Namen sehen, aber eine solche Sprache ist da nicht belegt,
und daß Apollon, Artemis und Leto im Lykischen «inschriftlich gut bezeugt» (S. 134) seien, ist, wie oben
dargelegt, sehr zu relativieren und spricht keinesfalls für eine solche Herkunft. Das zweite Standbein für
diese Hypothese ist, daß in Lydien Apollon und Artemis «sogar von zentraler religiöser Bedeutung» ge-
wesen seien (S. 134f.), was auf der obsoleten Ansicht beruht, daß sich hinter Qλdãns Apollon (an die
frühere Lesung Pλdãnś anklingend) statt des Mondgotts verbirgt (s. dazu nun auch Schürr, im Druck).6
Er bildete mit der Artemis von Ephesos ein Paar. Es ist viel wahrscheinlicher, daß lykisch Ertemi, lydisch
Artimus und altphrygisch Artimitos (Gen.7) alle aus dem Griechischen übernommen worden sind als aus
einer nicht greifbaren Sprache. Der griechische kulturelle Einfluß ist da ja überall massiv gewesen. Und
die Dynasten Erbbina und Perikle bezogen sich in ihren griechischen Inschriften jedenfalls sehr dezidiert
auf griechische Gottheiten (wobei Erbbina sich nach dem Symmachos-Poem sogar an das Orakel in Del-
phi wandte).
Nun bemerkte Laroche 1957–58, 190 zur ẽni mahanahi aber auch: «Elle représente lettre pour lettre le
louvite anniš maššanaššiš». Er führte aber dafür keinen Beleg an, sondern in Anm. 3 nur den keilschrift-
lich belegten Frauennamen Annimaššani (Laroche 1966, Nr. 73), den er als den Namen der «Déesse
Mère» verstand. Trotzdem ist Laroche sehr oft so verstanden worden, als würde die luwische Entspre-
chung wirklich belegt sein. Keen 1998, 195 dachte, ẽni mahanahi wäre
«more or less a straight transcription from Luwian into Lycian of Anniš Maššanaššis [sic! DS]»
und setzte hinzu:
«the name of the Anatolian mother-goddess, the same goddess who became Cybele further west
(e. g. in Sardis), and Artemis at Ephesos».
Diese Identifizierung mit einer imaginären ‚anatolischen‘ Muttergöttin sowie der griechischen Kybele,
die phrygischen Ursprungs ist, und sogar Artemis – alles andere als eine Muttergöttin – ist reine Phantasie.
Aber auch Neumann 2007, 84 schrieb, allerdings wesentlich vorsichtiger:
«LAROCHE […] deutet die Junktur als ‚Mutter der Götter‘ = Leto (Mutter von Apollo und Arte-
mis) und vergleicht luw. annis massanassis.»
Und so wird letzteres auch in der Tabelle «Théonyms d’origine louvite» bei Lebrun – Raimond 2015,
82ff. als «Déesse-Mère» (nach Laroches Übersetzung des Frauennamens!) angeführt.8 Freilich sind im
Keilschrift-Luwischen zwar annis und massanassis belegt, die wirklich lykisch ẽni und mahanahi ent-
sprechen, aber niemals zusammen.9 Eine wirkliche bronzezeitliche Entsprechung gäbe es in Griechen-
land: in Pylos ist ma-te-re te-i-ja belegt, eine «göttliche Mutter» (im Dativ, s. etwa Rutherford 2013, 260).
Das ist auch eine Umschreibung, und es ist vollkommen unklar, wen sie bezeichnen soll; ein Zusammen-
6 In Högemann – Oettinger 2018, 164 Anm. 112 schließt sich dem S. 162f. wörtlich wiederholten Argument noch
die Umkehrung an: «Angesichts der Bedeutung von Apollon und Artemis in Westanatolien ist es wahrscheinlich,
dass lyd. Qλdãn-, der mehrfach neben Artimuś genannt wird, die lydische Entsprechung Apollons ist». Ganz abwegig
ist dessen Gleichsetzung mit Kroisos durch Euler – Sasseville 2019.
7 Stele von Vezirhan, 5. Jh. v. Chr. mit griechischer und phrygischer Inschrift. B-05, 3 bei Obrador-Cursach 2020.
8 Raimond 2017, 67 schreibt sogar: «Luwian Ani [sic! DS] Massanassi becomes Lycian Êni Mahanahi, which cor-
responds to Greek Leto (the mother of divine twins) and Greco-Anatolian Meter Oreia, as well as Carian [sic! DS]
Meter Sipylene.» Auch Kolb 2018, 700 Anm. 324 spricht von einer «spätbronzezeitlichen luwischen Gottheit» dieses
Namens.
9 Vorsichtshalber sei außerdem angemerkt, daß es äußerst unwahrscheinlich ist, daß añ msñsi in der karischen In-
schrift C.Si 2, 5 ẽni mahanahi entspricht, wie Adiego 2007, 352 erwog, da 1. die alte Lesung Deroys nicht kontrol-
lierbar ist, 2. die Worttrennung unklar und 3. wahrscheinlich en die karische Form des Mutterworts ist (siehe auch
Simon 2019, 290).
Die lykische ẽni mahanahi: griechisch, luwisch oder ‚anatolisch‘? 173
hang mit der lykischen Bezeichnung ist jedenfalls unwahrscheinlich. Der ebenfalls bronzezeitliche luwi-
sche Frauenname Annimassani reicht nicht, um eine luwische Muttergöttin zu belegen, sondern wird eher
als Wunschname zu verstehen sein: Zu vergleichen ist der eisenzeitliche, hieroglyphen-luwisch belegte
Männername AVUS-ha-SARMA-ma-sa = Huhasar(ru)mas (Zehnder 2010, 59), wo der Gott Sarruma
wohl (wie) ein Großvater sein soll.10 So soll in dem Namen vermutlich eine Göttin (wie) eine ‚Mutter‘
sein. Die lykische Göttin hatte also keine luwische Vorläuferin, und es sollte inzwischen auch klar sein,
daß das Lykische nicht das Luwische fortsetzt, wie das Laroche annahm. Schon deswegen ist die von
René Lebrun und Éric Raimond angenommene «continuité de la tradition religieuse louvite dans la Lycie»
(siehe Raimond 2006) nicht gegeben, und an ihrer Liste von angeblich übereinstimmenden luwischen und
lykischen Theonymen sind erhebliche Abstriche zu machen.11 Wir wissen auch nicht, welche Theonyme
die Lykier erst von Spätluwiern übernommen haben; manche sind ja sogar noch weiter nach Westen zu
den Lydern gelangt.
III
Es gab allerdings eine luwische Göttin, die mit einer ähnlichen Umschreibung als Annis Titaim(m)is,
‚Säugende Mutter‘, bezeichnet ist. Sie taucht nur in einem einzigen hethitischen Text aus dem fernen
Boğazköy auf, nach dem sie erst durch eine (anikonische?) Stele, dann auch durch eine sitzende Frau aus
Silber dargestellt war (siehe Cammarosano 2018, 192–204). Das ist also tatsächlich eine Muttergöttin
gewesen. Man darf aber sicher nicht annehmen, daß das die Ahnherrin der lykischen Mutter-Bezeichnun-
gen gewesen war, und Titaim(m)is entspricht im Lykischen tideimi mit der Bedeutung ‚Kind‘ (eigentlich
‚Säugling‘). Sonst gibt es in Kleinasien, wenn man von griechischen Inschriften absieht, nur noch in alt-
phrygischen Inschriften die Bezeichnung einer Göttin (oder mehrerer Göttinnen?) als ‚Mutter‘: matar.
Das ist teilweise ihre einzige Bezeichnung (M-01dI und W-05b), aber es sind auch drei Beinamen belegt:
an verschiedenen Orten kubileya (W-04) und kubeleya (B-01 und 08), und an einer Felsfassade areyastin
im Akkusativ, eveteksetey im Dativ (W-01a und W-01b).12 Zumindest da dürfte die gleiche Göttin ge-
meint sein. Auf dem ersten Beinamen beruht die griechische Bezeichnung der Göttin als Kybele, die aber
meist auch als μήτηρ ‚Mutter‘ und oft mit verschiedenen Beinamen (häufig nach Bergen und Orten, aber
auch als μήτηρ ϑεῶν wie Rhea13) bezeichnet wurde. 204 v. Chr. wurde sie als Magna Mater nach Rom
geholt, von wo aus sich ihr Kult noch weiter verbreitete. Sie wurde übrigens niemals als säugend darge-
stellt, so daß sich keine Verbindung zu der viel früher belegten Annis Titaimmis herstellen läßt. Sie eine
‚anatolische‘ Muttergöttin oder gar „the most significant and earliest goddess of Anatolia“ (Şenyurt –
Akçay 2017, 190) zu nennen,14 ist nicht berechtigt, schon weil Anatolien immer ein Land vieler Völker,
Sprachen und Kulturen war und man daher ‚Anatolien‘ nur in einem geographischen Sinn, Kleinasien
entsprechend, gebrauchen solllte, abgesehen von der Sprachbezeichnung ‚anatolisch‘, die lediglich einen
ausgestorbenen Zweig der indogermanischen Sprachen in Anatolien bezeichnet, der Hethitisch, Luwisch,
Palaisch, Lydisch, Karisch, Lykisch und wohl auch Pisidisch und Sidetisch umfaßt, aber nicht einmal alle
10 Siehe auch Personennamen, wo das Theonym an erster Stelle steht, wie luwisch Arma-nānis, lykisch Erm͂ me-nẽni,
«der Mondgott (soll wie ein) Bruder (sein)»: kaum gemeinsames luwisch-lykisches Erbe, sondern später gewandert,
siehe Schürr 2019, 9.
11 Besonders phantasievoll ist die Zurückführung der Artemis auf ein luwisches *ariyatti-mi (Lebrun – Raimond
13 Schon Hipponax (6. Jh. v. Chr.) soll Rhea Kύβηλις genannt haben (Tzetzes, ad Lyc. 1170).
14 Zur nationalistischen Ideologie des ‚Anatolismus‘ in der Türkei, die da den Hintergrund bildet, siehe Bike
Yazıcıoğlu 2007 und vor allem den Abschnitt «All-feeding Mother-goddess» S. 235ff.: «the mother-goddess image
fits well with what may be named Neo-Anatolianism» (S. 239). Bei dem folgenden Statement scheint mir aber ein
durchgeknallter Feminismus und schlechtes Englisch im Vordergrund zu stehen: «Anatolia is the source of women
and matriarchal family society. The first concept of Mother goddess which emphasizes the superiority and priority
of women on the earth has developed in Anatolia» (Yıldız – Turamberk Özerden 2017, Abstract).
174 Diether Schürr
indogermanischen Sprachen in Anatolien, zu denen auch noch die ebenfalls ausgestorbenen Sprachen
Phrygisch, Thrakisch und Galatisch, dazu die lebenden Armenisch, Griechisch und nordwestiranische
Sprachen (Kurmandschi, Zazaki) zählen. Die Phryger müssen ihre ‚Mutter‘ oder‘ ‚Mütter‘ außerdem
durchaus nicht aus einer irgendwie ‚anatolischen‘ Tradition bezogen haben.
IV
Eine solche Tradition nahm des Courtils 2009, 65, verantwortlich für die Grabungen in Xanthos und dem
Letoon bis 2010, auch für Lykien an, ohne jede Begründung:
«The name of the prehellenic divinity who reigned in this sanctuary before the emergence of the
Greek cults is ‘the mother of this sanctuary’, a title behind which one can recognize the presence
of a Great Anatolian Mother».
Noch erheblich weiter geht Atik-Korkmaz 2016, 186, die zwar Keen 1998 zitiert, der S. 196 zutreffend
angibt, es gebe keine lykische Inschrift, «where the term lada is applied to Leto or Ẽni Mahanahi/Ẽni
Qlahi Ebijehi». Sie behauptet aber trotzdem:
«The Lycian equivalent of the name Leto is lada, meaning woman (lady), which should not be a
mere coincidence for she connotes the ancient mother goddess of Anatolia.»
Das ist ein Ladenhüter;15 in Wirklichkeit bedeutet lada ‚Gattin‘, wie aus zahlreichen Grabinschriften her-
vorgeht, und hat weder etwas mit Leto (die ja gerade nicht die Gattin des Zeus ist) noch mit lady zu tun.
Aber dieser Satz soll offenbar nur die «ancient mother goddess of Anatolia» auf Kosten der Logik ins
Spiel bringen. Und während Keen 1998, 195 spekulierte:
«It seems very likely, therefore, that the sanctuary at the Letoön dates back to the second millen-
nium»,
wird bei Atik-Korkmaz daraus eine Tatsachenbehauptung:
«The early traces of the site date as far back as to the 2nd millennium BC».
Die «merkwürdige Steinfigur», die George E. Bean dort 1946 «auf einer Dornenhecke» liegend vorfand
und in der er «die abgebrochene Übungsarbeit eines Schülers» vermutete (Bean 1986, 61) avanciert unter
Berufung auf Işık 2001 zur womöglich «earliest known sculpture of Leto and the most tangible evidence
of the mother of gods» (S. 187, mit ganzseitiger Fig. 2 «Eni Mahanahi (?)» auf der folgenden Seite).
Übrigens dürfte auch leϑϑi in TL 44b, 61 nichts mit griechisch Leto oder Lato zu tun haben (so noch
Melchert 2004, 35), sondern laϑϑi in TL 83, 9 und 14 entsprechen, dem Possessivum von lada, mit dem
lykischen i-Umlaut16. Vergleiche dazu etwa das vereinzelte etli in TL 117 statt des üblichen atli, Dat. Sg.
von atla-/atra- ‚Person, selbst‘. An dieser Stelle in der Pfeiler-Inschrift in Xanthos heißt es:
se-ti: Teϑϑiweibi: ade-mẽ: leϑϑi qlã,
«Und sich T. (ein Dynast) machte ebenfalls ein Temenos der Gattin»,
siehe dazu im Kontext einer längeren Passage Schürr 2012, 133f. Es wäre ja auch paradox, wenn der sonst
in den lykischen Inschriften vermiedene Name der Göttin hier in einer Possessivform erscheinen würde.
15 Und ein fernes Echo der folgenden Muttergöttinnenphantasie: «An der Spitze alles tellurischen Lebens steht das
weibliche Prinzip, die große Mutter, welche die Lykier Lada, gleichbedeutend mit Latona [lateinischer Name der
Leto], Lara, Lasa, Lala, nennen« (Bachofen 1861, hier nach der Auswahlausgabe 1975, 108). Bei Işık 2019, 52 geht
die Desinformation noch einen Buchstaben weiter: «lata meaning ʽwomanʼ in Lycian». Neumann 2007, 181 be-
merkte zu lada trocken: «Auch der GN Leto bleibt fern».
16 Siehe Neumann 2007, 185f., der freilich annahm, lada würde auch als Titel einer Göttin verwendet. Aber χba ladã
in TL 55, 4 ist sicher nicht «die Dame, Herrin χba» (Neumann 2007, 114 mit Fragezeichen), weil die beiden Wörter
ja nicht kongruieren.
Die lykische ẽni mahanahi: griechisch, luwisch oder ‚anatolisch‘? 175
V
Mit der vereinzelten luwischen Muttergöttin und den phrygischen Mutter-Bezeichnungen sind die beiden
lykischen ‚Mutter‘-Bezeichnungen kaum vergleichbar; sie haben ja auch keine phrygischen Entsprechun-
gen. Und die ‚Mütter‘ verbreiteten sich zwar später in griechischen Inschriften auch in der Nachbarschaft
Lykiens, aber nur bis zur Grenze gegenüber der Milyas im Norden: Unterhalb von Neisa wurde in einer
Höhle die Meter Oreia (‚Bergmutter‘) verehrt (Kalinka 1944, Nr. 737) wie in Höhlen Pamphyliens und
Pisidiens (Talloen et al. 2006, 177f.).17
Dagegen ist Leto mit ihren Kindern Apollo und Artemis und den zusammen mit ihr im Letoon und in
Antiphellos verehrten Nymphen auch in die Milyas vorgedrungen, wo sie ein Felsrelief in der Yu-
karıovacık Yayla zeigt (Tiryaki 2018, Kaiserzeit und ohne Inschrift).
Die beiden lykischen ‚Mutter‘-Bezeichnungen haben in den griechischen Inschriften Lykiens keine Nach-
folger.
VI
So läßt sich also keine Beziehung zwischen den altphrygischen und den lykischen Benennungen erken-
nen. Göttinnen, die als ‚Mutter‘ bezeichnet werden, sind eben nicht einfach Derivate einer großen, über-
zeitlichen und allgegenwärtigen Muttergöttin, weder in Anatolien noch sonstwo. Und in Lykien haben
wir es mit einer zwar stark von der griechischen Kultur beeinflußten, aber auch eigenwilligen Kultur zu
tun. So dürfte lykisch ẽni mahanahi wie ẽni qlahi ebijehi (Pñtrẽñni/Pñtrẽñnehi) die griechische Göttin
Leto bezeichnen, deren Name aus irgendeinem nicht faßbaren Grund in lykischen Inschriften tabu war.
Ob in ihr irgendeine einheimische Göttin aufgegangen ist, läßt sich mangels Indizien dafür nicht feststel-
len. Einleuchtender ist, daß die lykische Benennung der Athene als Malija auf eine nichtgriechische Göt-
tin dieses Namens zurückgeht, was eine Parallele in der Bilingue von Pergamon hat, wo lydisch Ma𝜆is
der Athene entspricht (Payne – Sasseville 2016). Es dürfte außerdem auch eine Beziehung zu der hethi-
tisch-luwischen Göttin Malijas anzunehmen sein. Allerdings läßt sich nicht feststellen, was die lykische
Malija mit dieser Göttin gemeinsam haben könnte,18 und Athene ist schon auf Münzen der Dynasten
Cheriga und Cherẽi auf völlig griechische Weise dargestellt (siehe etwa Müseler – Schürr 2018, 393 Abb.
3 und 394 Abb.4: mit Helm, Schild, Speer und Eule). So haben wir in diesem Fall nur die leere Hülse des
Namens, die eine Beziehung über rund 700 Jahre und eine beträchtliche geographische Entfernung hin-
weg nahelegt.
17 Photos der Höhle und der Stelle der Inschrift bei Şahin 2012, 12. Die Göttin ist aber nach der verbesserten Lesung
der Inschrift bei Şahin 2006, 38 nur als Oreia bezeichnet und wird nach dem Höchsten Gott und vor KEΛE[...] und
allen Göttern und Göttinnen angeführt. Vermaseren 1987, 216 führt lediglich ein sehr kleines Tonrelief mit einer
typischen Kybele-Darstellung an, angeblich «found between Fethiye and Xanthos» (Nr. 726).
18 Serangeli 2015 stellte zwar einige Züge zusammen, die die hethitisch-luwische Malijas mit Athene verbinden
sollen, aber die besagen für die lykische Malija nichts, und die Vermutung, es gäbe «ein gemeinsames indogerma-
nisches Erbe dieser Göttinnen» (S. 377), ist ein frommer Wunsch.
176 Diether Schürr
York 2004.
Metzger et al. 1974 H. Metzger et al., La stèle trilingue du Létôon (Fouilles de Xanthos V),
Paris 1974.
Neumann 2007 G. Neumann 2007, Glossar des Lykischen. Überarbeitet und zum Druck
gebracht von J. Tischler (Dresdner Beitr. z. Hethitologie 21), Wiesbaden
2007.
Nollé 2005 J. Nollé, Beiträge zur kleinasiatischen Münzkunde 1–3, Gephyra 2, 2005,
73–94.
Obrador-Cursach 2020 B. Obrador Cursach, The Phrygian Language (Handbook of Oriental
Studies, Section 1: The Near and Middle East139), Leiden – Boston 2020.
Oettinger 2015 N. Oettinger, Apollo: indogermanisch oder nicht-indogermanisch? MSS
69/1, 2015, 123–143.
Onur – Tekoğlu 2020 F. Onur – Ş. Recai Tekoğlu, The Ancient Routes and New Lycian
Inscriptions around Fethiye, Gephyra 19, 2020, 1–32.
Payne – Sasseville 2016 A. Payne – D. Sasseville, Die lydische Athene: eine neue Edition von LW
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Raimond 2006 E. Raimond, La continuité de la tradition religieuse louvite dans la Lycie
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